Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de Übersetzung aus dem Englischen von Bärbel Arnold und Velten Arnold Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014 ISBN 978-3-492-96803-4 © Paul Finch 2013 Titel der englischen Originalausgabe: »Sacrifice«, Avon, Harper Collins Publishers 2013 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2014 Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Covermotiv: Roy Bishop/Arcangel Images Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Für meine hinreißende Frau, Catherine, deren selbstlose und unerschütterliche Unterstützung das Fundament war, auf dem ich meine Karriere gegründet habe. Man sollte ganz Holbeck plattmachen. So sah es jedenfalls Alan Ernshaw. Na schön, er war erst seit Kurzem Polizeibeamter – gerade mal zehn Monate im Dienst –, damit könnte er diese politisch inkorrekte Äußerung gerade noch so entschuldigen. Begeistert wären seine Vorgesetzten trotzdem nicht. Holbeck, das alte Lagerhausviertel gleich südlich der Innenstadt von Leeds, bestand zwar überwiegend aus Gebäuden, die nur noch leere Hüllen waren, die Reihenhauszeilen im viktorianischen Stil waren inzwischen abbruchreif und die wenigen noch bewohnten zu schäbigen, mit Müll übersäten und mit Graffiti beschmierten betonierten Sackgassen verkommen, doch von so was ließen sich Polizisten nicht beirren. Zumindest sollten sie das nicht. Ernshaw gähnte und kratzte an der verschorften Schnittwunde an seinem ansonsten glatt rasierten Kinn. Im Funkgerät knisterte es. »Drei an 1762.« Ernshaw gähnte erneut. »Was gibt’s?« »Was treibt ihr gerade, Keith und du? Kommen.« »Na ja, ich sag’s mal so: Wir sitzen nicht beim Truthahnessen.« »Willkommen im Klub. Hört mal, wenn bei euch gerade sonst nichts anliegt, könntet ihr mal rüberfahren zur Kemp’s Mill an der Franklyn Road?« Ernshaw stammte aus Harrogate, das etwa fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Leeds lag, und kannte sich in der weitläufigen Hauptstadt von West Yorkshire immer noch nicht richtig aus. Er warf einen Blick nach rechts, wo sich Police Constable Keith Rodwell hinter dem Lenkrad fläzte. Rodwell, ein hängebackiger Veteran, der schon zwanzig Dienstjahre auf dem Buckel hatte, nickte. »Ankunft schätzungsweise in … drei Minuten.« »Alles klar, sind in drei Minuten da. Kommen«, erwiderte Ernshaw in sein Funkgerät. »Super, danke.« »Worum geht’s denn?« »Seltsame Geschichte, ehrlich gesagt. Ein anonymer Anrufer behauptet, wir würden dort was Interessantes finden.« Rodwell sagte dazu nichts und wendete den Transporter in drei Zügen. »Sonst nichts?«, fragte Ernshaw verwundert. »Wie gesagt, die Sache ist merkwürdig. Der Anruf kam von einer Telefonzelle aus der Innenstadt. Keine Namen, keine weiteren Einzelheiten.« »Klingt nach einem Wichtigtuer, aber egal, wir haben an diesem Weihnachtsmorgen eh nichts Besseres vor.« »Besten Dank, Ende.« Es war nicht nur der Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages, es war zudem ein verschneiter Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages. Selbst Holbeck sah aus wie ein kitschiges Ansichtskartenmotiv, als sie durch die schmalen, stillen Straßen rollten. Die verfallenen Häuserfassaden und die rostigen Skelette verrottender Autowracks lagen halb unter dicken, sahneweißen Kissen begraben. Eiszapfen hingen wie glitzernde Speere in leeren Fensterhöhlen und eingetretenen Türen. Die frische Schneeschicht, die Straßen und Bürgersteige bedeckte, war bis auf einige wenige Reifenspuren unberührt. Es waren kaum Autos unterwegs und noch weniger Fußgänger, aber es war auch noch nicht einmal neun, und um diese Uhrzeit waren am fünfundzwanzigsten Dezember nur Deppen wie Ernshaw und Rodwell auf den Beinen. Davon gingen sie zumindest aus. »Was Interessantes …«, grübelte Ernshaw. »Was hältst du davon?« Rodwell zuckte mit den Schultern. Selbst in seinen gesprächigsten Momenten äußerte er sich bestenfalls einsilbig, und jetzt, da er tief in Gedanken versunken war, bestand selbst darauf kaum Aussicht. »Vielleicht ein paar Junkies, die ein Haus besetzt haben«, fuhr Ernshaw fort. »In dem Fall wären sie jetzt alle tot. Waren doch locker minus zehn Grad gestern Nacht.« Rodwell zuckte erneut mit den Schultern. Kemp’s Mill war eine ehemalige Flachsspinnerei, inzwischen aber seit beinahe zwei Jahrzehnten geschlossen und nur noch ein tristes Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Ihr hoher achteckiger Schornstein stand noch unversehrt, die Scheiben der quadratischen Fenster, die sich in gleichförmigen Reihen über die schmutzige Vorderseite des Gebäudes zogen, waren überwiegend intakt. Die ebenerdigen Eingänge sollten eigentlich zugekettet sein, doch wie bei den meisten leer stehenden Gebäuden in dieser Gegend hätten Eindringlinge, die es darauf anlegten, hier leichtes Spiel, sich Zutritt zu verschaffen. Schnee knirschte unter ihren Reifen, als sie auf dem Parkplatz vor der Südfassade der Spinnerei rutschend zum Stehen kamen. Über ihnen ragte das trostlose Bauwerk in den weißen Winterhimmel. Die roten Ziegelsteine, aus denen es errichtet worden war, waren unter einer dicken, schuppig gewordenen Rußschicht verborgen. Die Rohre und Regenrinnen, die nicht bereits abgefallen waren, bogen sich unter der Last alpiner Schneemassen. Auf den ersten Blick gab es kein Lebenszeichen, aber die Anlage war riesig. Sie umfasste nicht nur das zentrale Hauptgebäude, das allein schon tausend Arbeitern als Werkstätte gedient haben mochte, sondern auch noch alle möglichen Anbauten und Nebengebäude. Während der Transporter im Schneckentempo vorwärtskroch, dämmerte es Ernshaw, wie lange es an diesem Ort dauern konnte, »was Interessantes« zu entdecken. Er hielt sich sein Funkgerät vor den Mund. »1762 an Drei.« »Ich höre, Alan.« »Wir sind jetzt in der Franklyn Road. Sieht alles so weit in Ordnung aus. Irgendwelche weiteren Infos zu dem Anrufer? Kommen.« »Fehlanzeige, Alan. War vielleicht nur ein Trottel, der nichts Besseres zu tun hatte, aber seht lieber mal nach. Kommen.« »Verstanden«, erwiderte Ernshaw und fügte leise hinzu: »Könnte allerdings ’ne Weile dauern.« Sie fuhren im weiten Bogen um das in die Jahre gekommene Bauwerk. Die Reifen drehten auf dem vereisten Untergrund immer wieder durch. Ernshaw kurbelte sein Fenster herunter. Draußen war es bitterkalt – der Schnee war noch trocken und pulvrig –, aber wenn sie schon nichts Ungewöhnliches sahen, war es ja möglich, dass sie etwas hörten. Es herrschte absolute Stille. Eigentlich passend für einen Weihnachtsmorgen, aber diese Stille rund um Kemp’s Mill war doch irgendwie unheimlich. Ihr wohnte eine Spannung inne, sie wirkte fragil, als könnte sie jeden Augenblick durchbrochen werden. Sie umrundeten eine Ecke nach der anderen, sahen an kahlen Fassaden aus Fenstern und Backsteinen empor, an Geflechten aus uralten Rohrleitungen und an herabhängenden verrosteten Feuerleitern. Die Reifen des Transporters gerieten immer wieder ins Rutschen und versprühten den Schnee hinter sich. Sie rollten langsam an einer Reihe leerer Garagen entlang, deren Dächer aus Wellplastik nach jahrelanger Verwitterung in sich zusammengefallen waren. Am Ende der Reihe sahen sie einen Eingang. Rodwell bremste vorsichtig, trotzdem rutschte der Transporter noch ein paar Meter weiter, bevor er zum Stehen kam. Der Eingang, der wie ein Lieferzugang aussah, war in eine Nische oberhalb von drei breiten Stufen eingelassen. Die Tür selbst war spurlos verschwunden – vermutlich lag sie unter dem Schnee –, doch nach dem Zustand des Türpfostens zu schließen, der zu morschen Splittern vermodert war, hatte sich schon vor langer Zeit jemand gewaltsam Zutritt verschafft. Dahinter lag das pechschwarze Innere des Gebäudes. »2376 an Drei«, sagte Rodwell in sein Funkgerät. »Ich höre, Keith.« »Wir sind immer noch bei Kemp’s Mill. Spuren von einem Einbruch. Kommen.« »Braucht ihr Unterstützung?« »Im Moment nicht. Sieht nach ’ner alten Sache aus.« Sie stiegen aus, streiften sich Handschuhe über und zogen die Reißverschlüsse ihrer gefütterten Anoraks zu. Ernshaw rückte seine Mütze zurecht, während Rodwell das Auto abschloss. Sie stiegen die Stufen hoch, und die Dunkelheit im Inneren des Gebäudes wich dem hellen Strahlen ihrer Taschenlampen. Oben am Treppenabsatz glaubte Ernshaw, etwas zu hören – vielleicht Gelächter, aber nur ganz kurz, und es klang sehr fern. Er sah Rodwell an. Das mürrische, pockennarbige Gesicht ließ nicht erkennen, dass er ebenfalls etwas gehört hatte. Da Ernshaw sich selbst unsicher war, ob da tatsächlich was gewesen war, beschloss er, es nicht zu erwähnen. Er blickte hinter sich. Dieser Teil des Geländes wurde von einer hohen Mauer umschlossen. Der Transporter stand dicht daneben geparkt, der Eingang zur Garagenzufahrt lag gleich dahinter. Abgesehen von ihren eigenen Reifenspuren war die Schneedecke unberührt. Allerdings hatte es bis vor zwei Stunden heftig geschneit, das musste also nicht heißen, dass während der Nacht niemand dagewesen war. Sie betraten Seite an Seite und mit Taschenlampen bewaffnet das Gebäude. Sie hatten die Wahl: Direkt vor ihnen führte eine Treppe im Zickzack hinauf in unergründliche Finsternis, rechts lag ein langer Gang, auf dem das durch die Erdgeschossfenster fallende Licht ein Zebrastreifenmuster erzeugte, und zu ihrer Linken befand sich ein weiter offener Raum, vermutlich eine der alten Werkhallen. Diesen Weg erkundeten sie zuerst, die Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschten über nackte Backsteinwände und eine hohe zerbröckelte Putzdecke, aus der Tragbalken ragten, als wären es Knochen. Zerstückelte Kabel hingen herab wie Schlingpflanzen im Dschungel. Der Betonboden war mit Brettern und Kachelscherben übersät. Hier und da ragten rostzernagte Stümpfe von Maschinenhalterungen gefährlich in die Höhe. Trotz der schneidenden Kälte lag ein säuerlicher Schimmelgeruch in der Luft. Das Geräusch ihrer Schritte hallte bis in die fernen Winkel des riesigen Gebäudes. Sie blieben stehen und lauschten, hörten jedoch nichts. »Das ist doch völlig sinnlos«, stellte Ernshaw schließlich fest. Seine Worte erzeugten kleine Nebelwölkchen vor seinem Mund. »Ist dir ja wohl klar, oder?« »Vermutlich«, entgegnete Rodwell und leuchtete mit seiner Taschenlampe jeden Winkel der Halle aus. Seit sie den Funkspruch erhalten hatten, schien Rodwell etwas engagierter bei der Sache zu sein als sonst, was Ernshaws Neugier weckte. Keith Rodwell war schon so lange Polizist, dass er Situationen rein nach Gespür einzuschätzen wusste. Sein jetziges Verhalten ließ darauf schließen, dass er tatsächlich glaubte, es sei etwas im Gange. »Schön, ich geb’s auf«, sagte Ernshaw. »Was glaubst du denn, werden wir finden?« »Nicht so laut. Selbst wenn uns nur jemand verscheißern will, will ich ihn schnappen.« »Keith … es ist Weihnachten. Warum sollte irgendwer …« »Pst!« Doch Ernshaw hatte das lang gezogene, leise Knarren über ihren Köpfen auch gehört. Sie sahen einander in der Dunkelheit an und lauschten angestrengt. »Du nimmst die Vordertreppe«, wies Rodwell ihn leise an und setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. »Ich gehe hintenrum … Mal sehen, ob ich noch einen anderen Weg nach oben finde.« Ernshaw ging zu der Tür zurück, durch die sie gekommen waren. Er warf einen Blick zu dem Transporter draußen im Hof, nichts regte sich. Er stieg die Treppen hoch und versuchte, dabei möglichst leise zu sein, aber seine Schritte hallten das Treppenhaus hinauf. In der ersten Etage befand sich eine weitere riesige Werkhalle. Hier oben waren nicht alle Fenster mit Spanplatten vernagelt, aber die Scheiben waren derart verrußt, dass nur ein fahles Winterlicht durchschien. Trotzdem reichte es aus, um einen riesigen, hangarartigen Raum erkennen zu lassen, der sich bis zur anderen Seite des Gebäudes erstreckte. In einem Wald aus Stahlträgern standen übereinandergestapelte Kisten und Werkbänke. Ernshaw zögerte und umfasste den Griff seines Schlagstocks. Zur selben Zeit vor einem Jahr war er ein argloser, junger Student an der Universität von Hull gewesen, und so war er ziemlich schnell dabei, sich einzugestehen, dass es schon schlimm genug war, an Weihnachten zur Arbeit genötigt zu werden – nur den älteren, verheirateten Kollegen blieb dieser unbeliebte Dienst normalerweise erspart –, noch schlimmer aber war es, diesen Tag damit verbringen zu müssen, in den Eingeweiden einer unheimlichen, tiefgekühlten Ruine wie dieser herumstapfen zu müssen. Das laute Knistern seines Funkgerätes ließ ihn hochschrecken. Die Stimme aus der Leitstelle dröhnte Mitteilungen an andere Streifenbesatzungen im Stadtbezirk heraus. Verärgert stellte er das Gerät leiser. Während sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten, ging er weiter. Etwa vierzig Meter geradeaus stand eine Tür offen, die in eine Art Vorraum führte. Aus irgendeinem Grund fiel ein grünliches Licht auf die hintere Backsteinwand dieses Raums. Grün? Ein Windlicht vielleicht? Eine Papierlaterne? Ernshaw blieb stehen, als eine Gestalt an der Tür vorbeihuschte. »He«, zischte er. Dann lauter: »He!« Er machte einen Satz nach vorn, den gezogenen Schlagstock schlagbereit über sich haltend. Als er den Raum betrat, konnte er niemanden entdecken, doch er sah, dass das eigenartige Licht von einem modrigen grünen Tuch herrührte, das vor einem Fenster hing. Eine komplett verrostete Feuertreppe aus genietetem Stahl führte durch eine Falltür in die Tiefe, eine zweite Treppe führte hinauf in die nächste Etage. Diese Treppe war jedoch so schmal, dass ein durchschnittlich gebauter Mann sie kaum besteigen konnte, ohne sich seitwärts zu drehen. Er starrte hinauf und erspähte am Ende der Treppe einen schwachen Strahl Tageslicht. Er lauschte, und obwohl er nichts hörte, konnte er sich gut vorstellen, dass da oben jemand lauerte und seinerseits die Ohren spitzte. »Alan?«, fragte jemand. Mit einem unterdrückten Schrei wirbelte Ernshaw herum. Rodwell, dessen Kopf in der Falltür erschienen war, starrte ihn an, vor allem seinen gezogenen Schlagstock. »Warst du …?« Ernshaw warf erneut einen Blick die Treppe hoch und lauschte angestrengt. »Warst du gerade schon mal hier oben? Ich meine, warst du schon oben und bist wegen irgendwas wieder runter?« Rodwell, der jetzt komplett durch die Falltür stieg, schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, aber …« Je mehr Ernshaw darüber nachdachte, umso weniger real schien ihm die Gestalt. Vielleicht war es ja ein Schatten gewesen, verursacht vom Schein seiner Taschenlampe. »Könnte mich auch geirrt haben …« Rodwell sah ebenfalls die nächste Treppe hoch. Wortlos stieg er die Stufen hinauf und konnte seinen massigen Leib gerade eben so zwischen den Seitenwänden hindurchzwängen. Ernshaw folgte ihm. Auch ihm machte die enge Treppe zu schaffen. Die Etage, die sie über die Treppe erreichten, war in kleine Räume und Verbindungsflure unterteilt. Hier oben waren noch weniger Fenster vernagelt, aber da es insgesamt weniger gab, herrschte auch hier gruftartige Düsternis. Bevor sie mit der Erkundung der Etage begannen, hob Rodwell eine mit einer dicken Staubschicht überzogene Jalousie an und spähte hinunter auf den Hof. Ihnen war beiden einigermaßen verspätet eingefallen, dass sie wie komplette Vollidioten dastehen würden, wenn das alles eine bescheuerte, wenn auch ausgeklügelte Finte war, um sie abzulenken und in der Zwischenzeit ein Polizeifahrzeug zu stehlen. Doch der Transporter stand noch unangetastet da, der Schnee ringsum wies keine neuen Spuren auf. Aus dieser Höhe konnten sie die angrenzenden Straßen überblicken, beziehungsweise das, was von ihnen übrig war. Die meisten Reihenhauszeilen südlich der Kemp’s Mill waren abgerissen worden, doch selbst unter der frischen Schneedecke zeichneten sich die parallelen Umrisse ihrer Fundamente noch ab. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die nächsten Behausungen waren zwei Wohnblocks aus den 1970er-Jahren, die etwa dreihundert Meter entfernt hinter einem verschneiten Berg aus Schrott lagen. In den Fenstern blinkten nur ein, zwei Lichter – quietschbunter, neonleuchtender Weihnachtsschmuck. »Drei an 2376«, knisterte die Stimme aus der Leitstelle aus Rodwells Funkgerät. »Ich höre«, entgegnete Rodwell und ließ die Jalousie wieder fallen. »Schon irgendwas von der Franklyn Road zu vermelden?« »Bisher keine Straftat entdeckt. Suche noch nicht abgeschlossen. Kommen.« »Nachricht von Sergeant Roebuck, Keith: Vergeudet dort nicht zu viel Zeit. Wenn da bloß ein paar Halbstarke Mist bauen, brecht ab. Hier türmt sich schon anderer Kram.« »Verstanden. Ende.« »Das wär’s dann wohl, oder?«, fragte Ernshaw hoffnungsvoll. »Nein«, stellte Rodwell klar. Sie gingen einen Hauptflur entlang, spähten an der ersten Tür in einen Raum, der vermutlich mal ein Büro gewesen war. Schwaches Tageslicht beschien einen mitten im Raum stehenden einzelnen Aktenschrank, aus dem haufenweise Schriftstücke hervorquollen. Ernshaw ging hinein und warf einen Blick auf die Unterlagen: vom Zahn der Zeit vergilbte Schichtpläne und mit Eselsohren versehene Arbeitsablaufstudien. Er ließ von den Papieren ab, ging durch die nächste Tür und landete in einem ähnlichen Raum. Vandalen hatten sämtliche Wände mit Graffitiparolen beschmiert. »Okay, hier waren irgendwelche Sandkastenrocker drin«, stellte er fest, »die außerdem ziemlich versaut waren. Guck dir das an … ›Meine kleine Schwester hat mir als Erste einen geblasen. Für einen Fünfer besorgt sie’s dir auch.‹ Da steht sogar eine verdammte Telefonnummer. ›Ich wichse jeden Tag in Mamas Schlüpfer – jetzt isse wieder schwanger. So ’ne Scheiße.‹« Als keine Antwort kam, drehte er sich um. Rodwell war ihm nicht in den Raum gefolgt. Ernshaw ging zurück zur Tür und warf einen Blick in das Büro mit dem Aktenschrank. Auch dort war er nicht. »Keith?«, fragte er. Hinter sich hörte er einen Schritt. Er wirbelte herum – und war immer noch allein. Doch auf der anderen Seite des Raums stand eine andere Tür einen Spaltbreit offen. War sie nicht eben gerade noch verschlossen gewesen? Ernshaw ging auf die Tür zu. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass sich in dem nächsten Raum jemand befand. Mit gezogenem Schlagstock riss er die Tür auf – und landete auf einem weiteren verlassenen Flur, der mit allem möglichen Kram aus weiteren verwüsteten Büros übersät war, die von dem Flur abgingen. »Keith?« Er erhielt immer noch keine Antwort. Ernshaw ging weiter. Am Ende des Flurs gab es eine weitere Treppe, die, wie er feststellte, nur kurz war und zu einer geschlossenen Tür hochführte, hinter der ein schmaler Streifen helles Tageslicht zu erkennen war. »Keith? Bist du da oben, Kumpel?« Wieder nichts. Er stieg hinauf – langsam, den Körper halb gedreht, damit er nach vorn und hinten alles im Blick hatte. Die Tür am Ende der Treppe ließ sich ohne Weiteres öffnen, und Ernshaw betrat das größte Büro, das er bis zu jenem Tag je gesehen hatte – gut einhundert Quadratmeter groß –, jene Sorte palastartiges Gemach, in dem einst ein Fabrikdirektor residiert haben mochte. Der Raum verfügte über mehrere große Fenster, allesamt intakt und keines mit Spanplatten vernagelt oder mit einem grünen Tuch verhängt. Die Wände waren sogar tapeziert, nur einige Fußbodendielen waren lose, aufgequollen und hochgesprungen. Es gab keine Möbel, nur ein paar herumliegende Backsteintrümmer, und in einer Ecke stand seltsamerweise eine Schubkarre mit zementverkrustetem Rand, an der eine Spitzhacke und ein Vorschlaghammer lehnten. Doch nichts von alledem erregte Ernshaws Aufmerksamkeit so sehr wie das, was er ganz am Ende des Raums sah. Er ging darauf zu. Es schien sich um ein Stück frisch gemauerte Wand zu handeln, ein gut zwei Meter breites, beinahe vom Boden bis zur Decke reichendes Rechteck. Die Tapete und der Putz waren vor nicht allzu langer Zeit entfernt und das dahinterliegende uralte Mauerwerk eingerissen worden. In das entstandene Loch waren neue blassgelbe Backsteine gemörtelt worden. Doch was seinen Blick wirklich fesselte, hing in der Mitte all dessen: ein Bogen weißes Papier, auf dem in leuchtendem Blutrot eine Botschaft prangte. Das Blatt war sauber und unversehrt. Als Ernshaw es von der Wand nahm, sah er, dass es mit einem Batzen Klebegummi angepappt worden war, der noch weich und geschmeidig war, also offensichtlich noch frisch. Die Botschaft stammte aus einem Tintenstrahldrucker. Sie lautete: Ho Ho Ho Ernshaw sträubten sich die Haare. Zweifellos konnte das auch eine hirnlose Schwachsinnsaktion sein. Doch die Tatsache, dass der Zettel erst vor Kurzem angebracht worden war, alarmierte ihn. Er trat einen Schritt zurück und untersuchte die Wand noch einmal. Sie war ohne Frage frisch hochgezogen worden, ganz anders als der Rest des Gebäudes. An ihrem unteren Ende ragten zwei spitz zulaufende schwarze Holzstümpfe aus einem schmalen Spalt unter den Backsteinen hervor, vermutlich irgendeine improvisierte Vorrichtung eines Bauarbeiters, um das Ganze waagerecht zu halten. Eine Hand tippte ihm auf die Schulter. Ernshaw wirbelte herum wie ein Derwisch. »Scheiße, verdammt!«, zischte er. »Was ist das denn?«, fragte Rodwell. »Hör auf, dich an Leute heranzuschleichen!« Er reichte ihm das Blatt. »Keine Ahnung, was das soll. Hing da an der Wand.« Rodwell starrte zuerst die Wand an. »Dieses Mauerwerk ist neu.« »Hab ich auch gedacht. Na ja, die werden wohl über die Jahre hinweg alle möglichen Arbeiten durchgeführt haben, um den Laden hier halbwegs in Schuss zu halten, oder?« »In den letzten zwanzig Jahren nicht mehr.« Rodwell musterte das Blatt mit der Botschaft und sah wieder die Wand an. »Das ist ein Kaminvorsprung. Oder es war mal einer. Ist vermutlich mit einem der Außenschornsteine verbunden.« »Schön, es ist ein Kamin«, sagte Ernshaw. »Einen alten Kamin zuzumauern ist heutzutage ja wohl keine schwere Straftat mehr, oder?« Rodwell las die Botschaft noch einmal. Ho Ho Ho »Herr … im Himmel«, flüsterte er. »Gütiger Herr im Himmel!« Mit schnelleren Bewegungen, als Ernshaw sie je bei ihm gesehen hatte, warf Rodwell das Blatt Papier beiseite, ging auf ein Knie und untersuchte die beiden unter dem Mauerwerk hervorragenden Holzstümpfe. Ernshaw beugte sich herab, um ebenfalls genauer hinzusehen – und begriff auf einmal, was er tatsächlich sah: die abgewetzten Spitzen eines Paars Stiefel. Rodwell schnappte sich die Spitzhacke und Ernshaw den Vorschlaghammer. Sie setzten der frisch gemauerten Wand so kräftig zu, wie sie konnten. Anfangs widerstand sie ihren Bemühungen, doch sie hämmerten wie besessen weiter auf sie ein und unterbrachen ihre Arbeit nur kurz, Rodwell, um ihre Vorgesetzten und einen Krankenwagen anzufordern, und Ernshaw, um den Reißverschluss seines Anoraks aufzuziehen und sich die Mütze vom Kopf zu reißen. Nachdem sie ein paar Minuten lang geächzt und geschwitzt hatten, brach endlich mit jedem Schlag Mörtel weg – dann lockerten sie die Backsteine, zerrten sie mit bloßen Fingern hervor, schlugen weiter und kniffen die Augen zusammen, um sie vor umherfliegenden Bröckchen zu schützen. Stück für Stück fiel die Mauer und gab ihr Geheimnis allmählich preis. Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, verriet es den beiden Polizisten zuerst. Ernshaw würgte und presste sich eine Hand vor die Nase und den Mund. Rodwell legte sich umso härter ins Zeug und zertrümmerte die letzten Überbleibsel des Mauerwerks. Sie traten keuchend zurück, fuchtelten den Staub weg und kämpften angesichts des Gestanks gegen den Brechreiz an. »Großer Gott!«, brachte Rodwell hervor, als er in Augenschein nahm, was sie freigelegt hatten. Die Gestalt stand aufrecht, aber nur deshalb, weil ihre Handgelenke in zwei über dem Kopf befestigten Handschellen hingen. Der Leichnam hatte jenes Stadium einsetzender Verwesung erreicht, in dem er genauso gut eine Wachsfigur hätte sein können, mit einer Hautfarbe irgendwo zwischen kränklich gelb und madig grün. Die Gestalt war einmal ein älterer Mann gewesen – so viel ließ sich aus dem zotteligen weißen Bart ablesen. Außerdem war er mager wie ein Gerippe, was durch die schlabberige, extrem schmutzige Kleidung nur noch betont wurde. Sie bestand aus einem roten Kittel mit dreckig grauem Pelzbesatz, der in übel riechenden Falten an ihm herabhing, sowie einer roten Pluderhose, die vorn steif von gefrorenem Urin war und deren Hosenbeine in ein Paar übergroße Gummistiefel gestopft worden waren. Eine halb verfaulte Leiche zu entdecken war für einen Polizisten keine ungewöhnliche Erfahrung, nicht einmal für einen Neuling wie Ernshaw. Nicht jeder kam damit gut klar, doch Ernshaw hatte es bisher ganz gut hinbekommen. Bisher. Er lachte. Es klang bizarr, fast wie ein Gackern. »D-Der W-Weihnachtsmann«, stammelte er. Rodwell sah ihn verwirrt an. »Das ist der beschissene Weihnachtsmann!« Ernshaw gackerte noch immer, doch sein glasiger Blick enthielt keinerlei Frohsinn. Rodwell betrachtete erneut die Leiche und dachte wieder an die Worte auf dem Blatt Papier – Ho Ho Ho. Er betrachtete die rote Kapuze mit grauem Pelzbesatz, die über den schrumpeligen haarlosen Schädel gezogen worden war. »Herr, erbarme dich!«, flüsterte er. Die Leiche hatte einen gequälten Gesichtsausdruck. Die Augen traten wie Murmeln aus einer Miene hervor, die zu einer starren, fratzenhaften Totenmaske verzerrt war. »Der arme Teufel wurde hier lebendig eingemauert.« M1-Phantom treibt sein Unwesen Polizei gibt zu: Kaum Spuren Wenn es überhaupt möglich war, dass das Anschlagbrett eines Zeitungskiosks schrie, so tat es dieses. Detective Sergeant Mark »Heck« Heckenburg betrachtete es durch das Fahrerfenster seines Fiats, während er an einer Ampel wartete. Vor ihm eilten Pendler auf dem Nachhauseweg über die Straße, dick eingemummelt gegen die Kälte des Februarabends. Ein Großteil der winterlichen Schneemassen war bereits getaut, doch in den Rinnsteinen hielten sich hartnäckig schmutzige, vereiste Überreste. Heck fuhr behutsam an und behielt immer das Navi im Auge. Milton Keynes war eine große Stadt. Sie hatte rund zweihunderttausend Einwohner, und wie in den meisten der sogenannten New Towns – jene auf dem Reißbrett geplanten Ballungszentren, die aus dem Boden gestampft worden waren, um der überschüssigen Bevölkerung Wohnraum zu geben, nachdem der Zweite Weltkrieg so viele britische Städte in Schutt und Asche gelegt hatte – schienen sich ihre Vororte endlos hinzuziehen. Nach einer halben Stunde Fahrt tauchte zu seiner Linken die Einfahrt in den Wilberforce Drive auf. Er bog ab und rollte eine ruhige Mittelschichtstraße entlang. Allerdings waren angesichts des derzeit herrschenden Klimas der Angst nach Einbruch der Dämmerung all diese Straßen ruhig, erst recht in Städten wie Milton Keynes, die so nah an der Autobahn M1 lagen. Die Doppelhäuser reihten sich friedlich hinter niedrigen Ziegelsteinmauern oder Ligusterhecken. Alle hatten Vorgärten und ordentlich gepflasterte Zufahrten. Auf den meisten parkte bereits ein Auto, bei der Mehrzahl der Fenster waren die Vorhänge zugezogen. Vor Nummer achtzehn hielt Heck auf der gegenüberliegenden Straßenseite an und stellte den Motor aus. Dann wartete er. Da es schnell kalt werden würde, zog er den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch und streifte sich seine Handschuhe über. Wilberforce Drive achtzehn wirkte total unverdächtig. Durch das Fenster im Erdgeschoss fiel kuscheliges rosa Licht, am Garagentor lehnte ein Skateboard. Im Vorgarten standen sogar die Überreste eines Schneemanns. Heck nahm seine Notizen aus dem Handschuhfach und überprüfte sie noch einmal. Genau – Wilberforce Drive achtzehn, das Zuhause von Jordan Savage, dreiunddreißig Jahre alt, verheiratet und Geschäftsführer des örtlichen Gartencenters. Die beschauliche Umgebung machte den Ort viel weniger bedrohlich, als Heck es erwartet hatte. Hier würde es ihm leichter fallen als sonst, den Gehweg hinaufzugehen und an die Tür zu klopfen – es war nicht die Sorte Haus, in dem Polizisten normalerweise die Zähne ausgeschlagen wurden. Aber Heck hatte immer noch das mulmige Gefühl, dass er hier möglicherweise falsch war. Wie auch immer, wenn er hinter seinem Lenkrad sitzen blieb, würde er das nie herausfinden. Doch ehe er aus dem Wagen steigen konnte, ging eine andere Tür auf – die Haustür von Nummer achtzehn. Der Mann, der heraustrat, musste Jordan Savage sein: Der kräftige Körperbau, seine ein Meter achtundachtzig und sein roter Kurzhaarschnitt machten ihn unverwechselbar. Aus der Nähe würden ihn zweifellos auch die durchdringenden blauen Augen verraten. Savage trug Jeans, einen Pullover und eine schwere Öljacke. Heck beobachtete, wie er das Skateboard zur Seite stellte, einen Schlüssel aus der Tasche zog und das Garagentor öffnete. Drinnen stand ein Auto, ein grüner Mondeo Sport. Das Kennzeichen passte auch. Es war der gleiche Wagen, der in jener nasskalten Oktobernacht den Verdacht der Verkehrsstreife erregt hatte und angehalten worden war. Der Motor des Mondeo erwachte röhrend zum Leben, die Scheinwerfer flammten auf, und Savage steuerte ihn langsam die Zufahrt hinunter. Falls er Heck auf der gegenüberliegenden Seite in seinem Wagen sitzen sah, ließ er es sich nicht anmerken, sondern bog nach rechts auf den Wilberforce Drive und fuhr auf die Einmündung in die Hauptstraße zu. Als Savage gut hundert Meter Vorsprung hatte, ließ Heck den Motor seines Fiats an und folgte ihm. Einen Verdächtigen zu verfolgen war nie einfach, erst recht nicht, wenn es auch noch außerdienstlich und auf eigene Faust geschah – doch Heck hatte es schon Dutzende Male gemacht. Auf der Hauptstraße blieb er etwa drei Wagen hinter dem Mondeo – nicht zu dicht dran, um aufzufallen, aber nah genug, um sein Ziel im Auge zu behalten. Nach vier Kilometern bog der Mondeo unvermittelt nach links in eine andere Wohnsiedlung ab. Dieses Viertel war nicht so beschaulich wie das vorherige. Die Häuser beherbergten Sozialwohnungen, einige waren durch Gemeinschaftsgänge voneinander getrennt, manche der Eingangspforten hingen in verzogenen Scharnieren. Doch die Hauptstraße der Siedlung hieß Boroughbridge Avenue, und bei diesem Namen klingelte es bei Heck. Er musste nicht erst seine Aufzeichnungen konsultieren, um zu wissen, dass dort Jason Savage wohnte, Jordans Zwillingsbruder. Der Mondeo hielt vor einem zweigeschossigen Haus. Jordan Savage blieb im Wagen sitzen, der Auspuff blies Abgaswolken in die Winternacht. Heck brachte seinen Wagen ebenfalls zum Stehen. In dem Moment offenbarte ein kurzer Lichtschein, dass die Tür der oberen Wohnung geöffnet und wieder geschlossen worden war. Eine Gestalt trottete eine schmale Zementtreppe herunter. Selbst aus fünfzig Metern Entfernung war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern verblüffend. Jason Savage, von Beruf Mechaniker, trug eine alte Donkeyjacke über einer Art schwarzem Arbeitsoverall. Wie sein Bruder war er fast ein Meter neunzig groß und hatte ebenfalls eine rote Stoppelhaarfrisur. Er stieg auf der Beifahrerseite in den Mondeo ein, und sie fuhren los. Heck blieb, wo er war, und wartete ab, ob sie eine Kehrtwende machen würden, doch offenbar gab es noch eine weitere Ausfahrt aus der Siedlung. Der Mondeo fuhr weiter geradeaus, bog um eine Kurve und verschwand. Heck fuhr los. Das lief ja besser, als er gehofft hatte, aber das hieß noch gar nichts. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass zwei Brüder einen Abend miteinander verbrachten und Dart spielten. Trotzdem überkam ihn kurz Panik, als er um die Kurve bog und sich an einer einsamen T-Kreuzung wiederfand. Er verließ sich auf sein Glück, bog nach rechts und trat das Gaspedal durch. Blattlose Bäume rückten von beiden Seiten heran, als er ein öffentliches Waldgebiet durchquerte. Das sah nicht gerade vielversprechend aus, doch dann wichen die Bäume dem hohen Zaun eines Gewerbegebiets, und er sah etwa fünfzig Meter vor sich eine rote Ampel, an der ein einsames Auto wartete. Heck beschleunigte und erkannte zu seiner Erleichterung den Mondeo wieder. Gleich würde er unmittelbar hinter ihm sein, doch darüber durfte er sich im Augenblick keine Sorgen machen. Sein Polizistengespür – sein im Zuge so vieler Ermittlungen geschärftes »Bauchgefühl« (oder wahlweise »seine Einbildungskraft«, wie Detective Superintendent Gemma Piper es nannte) – sagte ihm, dass er an etwas dran war. Als er hinter dem Mondeo zum Stehen kam, sprang die Ampel auf Grün um, und dieser bog nach links ab. Heck folgte ihm, hielt aber etwas Abstand. Sie befanden sich auf einer anderen Hauptstraße, die auf beiden Seiten von Wohnhäusern gesäumt wurde, gefolgt von Ladengeschäften und Kneipen. Mehr und mehr Fahrzeuge reihten sich in den Verkehrsstrom ein. Heck bremste weiter ab und ließ zwei Autos vor sich einbiegen. Jordan Savage bahnte sich seinen Weg durch die Innenstadt von Milton Keynes und manövrierte den Wagen so zielsicher durch Kreisverkehre und Einbahnstraßen, als kenne er den Weg in- und auswendig. Heck, der weder von hier stammte noch je zuvor in Milton Keynes gewesen war, bevor er vor sechs Monaten als Teil des Ermittlungsteams eingetroffen war, fiel es nicht so leicht, sich zurechtzufinden, doch das große Schreckgespenst bei einer verdeckten Beschattung – Trennung von der Zielperson durch eine rote Ampel oder ein Stoppschild – blieb ihm erspart. Um ein Haar wäre es passiert, als sie sich einer belebten Kreuzung näherten, aber Jordan Savage blieb vor der weißen Linie stehen, obwohl er es wahrscheinlich noch über die Kreuzung geschafft hätte, wenn er das Gaspedal durchgetreten hätte. Zu diesem Zeitpunkt befand Heck sich nur ein Auto hinter dem Mondeo. Er bremste ebenfalls und kam zufällig direkt unter einem großen Plakat der gemeinnützigen Verbrechensbekämpfungsorganisation »Crimestoppers« zum Stehen. Neben diversen Telefonnummern einschließlich der Hotline der Sonderkommission in der Hauptwache von Milton Keynes zeigte es ein großformatiges Bild des sogenannten »M1-Phantoms«, einer beängstigenden Gestalt mit gekrümmten, gorillaartigen Schultern und einer bis fast zu den Augen heruntergezogenen Kapuze. Die Augen wiederum waren halb von fransigen Haarsträhnen und von einem bis zur Nase hochgezogenen Kragen verdeckt. Im fahlgelben Schein der Straßenlaternen war es nicht zu erkennen, doch bei Tageslicht hätte man gesehen, dass die Augen durchdringend blau waren und die Haare knallrot. Um diese Merkmale hervorzuheben, hatte der Phantomzeichner, der das Fahndungsfoto am Computer erstellt hatte, nur diese beiden Bereiche farbig dargestellt, der Rest war schwarz-weiß. Heck folgte dem Mondeo über die Kreuzung. Das Auto zwischen ihnen bog nach links ab, doch der Mondeo fuhr geradeaus weiter in eine schmale Straße zwischen Gewerbebetrieben hinter hohen Mauern. Es folgten schäbige Wohnblocks, deren Vorplätze mit Glasscherben übersät waren. In den Parkbuchten standen überwiegend klapprige Schrottmühlen. Heck drosselte das Tempo auf Schrittgeschwindigkeit, behielt den Mondeo aber weiterhin im Blick. Er hatte etwa hundert Meter Vorsprung, als er nach rechts abbog und offenbar eine Rampe hinunterfuhr. Heck fuhr noch fünfzig Meter weiter, dann lenkte er sein Auto an den Bordstein und hielt an. Er nahm sein Funkgerät vom Armaturenbrett, drehte die Lautstärke herunter und schob es sich unter die Jacke. Dann stieg er aus und ging zu Fuß weiter. Die Rampe führte unter einen monströsen Hochhausklotz, der einem rostigen Namensschild zufolge Fairwood House hieß. Heck ging die Rampe vorsichtig hinunter und drückte sich dicht an die Wand zu seiner Rechten. Unten angekommen, blieb er stehen und wartete darauf, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Vor ihm nahm allmählich eine labyrinthartige Tiefgarage Konturen an. Unbeleuchtete Fahrspuren wanden sich zwischen Betonpfeilern hindurch oder verzweigten sich zu engen Gassen zwischen hölzernen, mit Vorhängeschlössern verriegelten Garagentoren. Auf den ersten Blick war von dem Mondeo nichts zu sehen. Er ging die Rampe wieder hoch, stieg in seinen Fiat und löste die Handbremse. Die Versuchung, den Wagen im Leerlauf mit ausgeschalteten Scheinwerfern hinunterrollen zu lassen, war groß, doch wenn er den Savage-Brüdern begegnete, würde dies extrem verdächtig aussehen. Also verhielt er sich so unauffällig wie möglich, ließ den Motor an und fuhr hinab, als wäre er auf der Suche nach einem freien Parkplatz. Unten kurvte er gemächlich umher und bog um eine Ecke nach der anderen. Er entdeckte noch weitere Ausfahrten – einige waren mit Gittern versperrt, andere geöffnet. Ihm kam in den Sinn, dass seine Zielpersonen die Tiefgarage vielleicht längst wieder verlassen hatten. Vielleicht hatten sie gemerkt, dass sie verfolgt wurden, und die Tiefgarage als Ablenkungsmanöver benutzt. Als er eine weitere Gasse zwischen mit Vorhängeschlössern verriegelten Garagentüren entlangrollte, sah er vor sich ein orangefarben flackerndes Licht. Der Schein eines Feuers? Er fuhr noch vierzig Meter weiter, parkte und schlich zu Fuß weiter. Der Feuerschein reflektierte auf einer Wand hinter der nächsten T-Kreuzung. Er rückte vorsichtig die letzten Meter bis zu der Abzweigung vor, linste nach rechts um die Ecke und sah zwei zerlumpte ältere Männer, die in einer der Parkbuchten in einer Öltonne Müll verbrannten. Sie waren bärtig und grauhaarig. Einer sah sich um – sein Gesicht war wieselartig schmal, sein Mund ein zahnloser Schlund. Heck fluchte. Missmutig ging er zurück zu seinem Fiat. Die Dreckskerle waren ihm entwischt. Er schob den Schlüssel ins Zündschloss – und wurde auf einmal hell angestrahlt. Im Rückspiegel sah er zwei grelle Scheinwerfer näher kommen. Er rutschte so tief nach unten, dass er das Auto nicht sehen konnte, als es langsam an ihm vorbeifuhr. Doch als er ihm hinterherspähte, erkannte er den Mondeo. Er erreichte das Ende der Fahrspur und bog nach links ab. Heck sprang aus dem Wagen und rannte zu der T-Kreuzung. Der Mondeo bog erneut nach links ab. Heck hastete hinter ihm her, Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Von der nächsten Ecke aus sah er, dass der Mondeo etwa dreißig Meter weiter neben einer weiteren Reihe Garagen angehalten hatte. Die Savage-Brüder stiegen aus und unterhielten sich leise. Heck drückte sich an die Betonwand und lauschte. Er glaubte, das Wort »Transporter« aufzuschnappen, woraufhin seine Hand unwillkürlich zu seinem Funkgerät wanderte, aber er besann sich dann doch darauf, abzuwarten. Er riskierte einen weiteren Blick. Jason Savage stieg auf der Fahrerseite des Mondeo ein und ließ den Motor wieder an. Währenddessen ging Jordan Savage zu der nächsten Garage, holte einen Schlüssel hervor, öffnete eine schmale Seitentür und trat in die Dunkelheit. Heck wurde von einer intensiven Anspannung erfasst. Es vergingen einige Minuten, bevor Jordan Savage wiederauftauchte. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt eine schwarze wasserdichte Hose und einen schwarzen Kapuzenanorak. Er reichte seinem Bruder durch das Autofenster etwas, das aussah wie eine Pistole. Heck konnte sie nicht genau erkennen, doch bei allen bisherigen acht Morden war eine Ruger Mark II verwendet worden. Jordan Savage ging zurück in die Garage und schloss die Seitentür hinter sich, während der Mondeo etwa zwanzig Meter vorfuhr. Dann wurde das vordere Tor der Garage von innen aufgedrückt. Im nächsten Augenblick fiel helles Scheinwerferlicht nach draußen, und ein zweites Auto kam zum Vorschein. Heck umklammerte die Betonecke mit solcher Kraft, dass ihm beinahe das Blut unter den Fingernägeln hervorquoll. Als ein weißer Ford Transit in sein Blickfeld rollte, zuckte er hinter die Ecke zurück und trat eilig den Rückzug an. Er fischte sein Funkgerät unter seiner Jacke hervor und stellte es etwas lauter. »Detective Sergeant Heckenburg im Sondereinsatz an Sierra Six … Kommen.« »Detective Sergeant Heckenburg?«, meldete sich eine lebhafte Stimme. »Dringende Nachricht. Sofortige Verstärkung erforderlich. Tiefgarage unter Fairwood House. So viele Einheiten wie möglich, alle Ausfahrten blockieren … aber geräuschlos nähern. Außerdem brauche ich ein bewaffnetes Sondereinsatzkommando.« »Könnten Sie das Letzte wiederholen, Sergeant?« Heck hatte Mühe, leise zu bleiben. »Schickt mir ein SEK-Team, verdammt, und zwar sofort! Und die Chefs … Detective Inspector Hunter und Chief Superintendent Humphreys. Ich observiere zwei Zielpersonen, die ich für die M1-Mörder halte, deshalb brauche ich sofortige Verstärkung! Ende und aus.« Er stellte das Gerät wieder leise, während die Nachricht mit der Geschwindigkeit eines Schnellfeuergeschosses durch den Äther jagte. Er pirschte zurück zu seinem Fiat, entsperrte das Lenkradschloss, löste die Handbremse und schob den Wagen an. Als er das Ende der Fahrspur erreichte, zog er die Handbremse wieder an, schlich erneut zu der Ecke und riskierte einen weiteren Blick auf die verdächtigen Fahrzeuge. Der weiße Transporter stand hinter dem Mondeo, beide Motoren liefen und stießen tuckernd Abgaswolken aus. Die Zwillinge standen da und redeten miteinander. Jason Savage hatte seine Donkeyjacke ausgezogen und trug jetzt einen ähnlichen schwarzen Kapuzenanorak wie sein Bruder. Hoffentlich blieben sie noch an Ort und Stelle, bis die bewaffnete Verstärkung eintraf … »Haste ein paar Münzen übrig, Kumpel?«, fragte jemand laut. Heck wirbelte herum. Einer der Penner war um die Ecke getaumelt, stand für jedermann sichtbar da und hielt ihm bettelnd die geöffnete Hand hin. Graue Locken hingen ihm in verfilzten Strähnen vor halb glasigen Augen. Heck warf einen Blick zurück zu den Savage-Brüdern, die auf einmal in seine Richtung starrten. Ein greller Lichtstrahl blitzte auf, als einer von ihnen eine Taschenlampe einschaltete. Heck sprang zurück hinter die Ecke, doch der Penner rührte sich nicht von der Stelle und hielt sich nur die Hand vor die Augen. Wahrscheinlich würden die Savage-Brüder sich nicht weiter an einer der Randgestalten der Gesellschaft, die sich hier aufhielten, stören, denn von ihnen ging keine Gefahr aus, aber in dem Fall war unverkennbar, dass dieser Penner mit jemandem redete. »Nur ein paar Münzen«, wiederholte er flehend und hielt Heck die leere Hand unter die Nase. »Komm schon, Kumpel …« Heck riskierte einen weiteren Blick. Einer der beiden Brüder hatte die Fahrertür des Transporters geöffnet und schien im Begriff einzusteigen. Der andere stand immer noch wie angewurzelt da und spähte in Hecks Richtung. »Runter mit dir, du verdammter Trottel!«, zischte Heck. »Sofort runter auf den Boden!« »Nur ein paar Münzen. Kostet eben, unser Revier zu betreten …« Heck machte einen Satz nach vorn, packte die ausgemergelte Gestalt am Kragen, zerrte sie aus dem Lichtkegel der Taschenlampe und schleuderte sie zu Boden. Gleichzeitig brüllte er: »Bewaffnete Polizei! Sie sind von allen Seiten umstellt! Waffen fallen lassen und mit ausgebreiteten Armen runter auf den Boden!« Die Antwort bestand aus zwei krachenden Schüssen. Die erste Kugel sprengte einen faustgroßen Brocken aus der Betonecke vor Heck, die zweite surrte vorbei. Es folgte das Echo zuknallender Türen. Heck kroch vor und lugte um die Ecke. Der Ford Transit raste bereits die Fahrgasse entlang, die Rücklichter entschwanden. Der Mondeo stand zurückgelassen da. Heck stürmte über den stöhnenden Penner hinweg zurück zu seinem Fiat. »Ganz schön gemein, seine Mitmenschen so zu behandeln«, beschwerte sich eine kraftlose Stimme. Heck schwang sich hinter das Lenkrad, rammte den Schlüssel ins Zündschloss und trat aufs Gas. Der Penner rappelte sich hoch und reckte Heck ein Victory-Zeichen entgegen, wurde jedoch nur von dessen Scheinwerfern geblendet. Er taumelte rückwärts, als Heck den Wagen um ihn herumzog, beschleunigte und mit quietschenden Reifen an den Garagenverschlägen vorbeibretterte. Weiter vorn raste der Transporter so schnell um eine Kurve, dass sein Aufbau an der gegenüberliegenden Wand entlangschrammte und Funken schlug. Auch Heck nahm die Kurve eng. Der Transporter befand sich immer noch weit vor ihm. Am Ende der nächsten Fahrgasse raste er die Rampe einer anderen Ausfahrt hoch in den natriumgelben Schein der Straßenbeleuchtung. Heck drehte mit dem Daumen am Lautstärkeregler seines Funkgeräts und rief aus vollem Hals: »Hier Detective Sergeant Heckenburg! Verfolge zwei Verdächtige für die M1-Morde. Flüchtige sind in einem weißen Ford Transit unterwegs. Verlassen gerade die Tiefgarage unter dem Fairwood House durch die, wenn ich mich nicht irre, Ostausfahrt … Kennzeichen noch nicht erfasst! Dringende Warnung! Mindestens einer der Verdächtigen ist bewaffnet. Hat bereits geschossen … keine Verletzten. Kommen!« Es gab nichts Gefährlicheres und nichts, was die Polizei heutzutage lieber vermied als schnelle Verfolgungsjagden durch bebautes Gebiet, doch Heck wusste, dass ihm keine andere Wahl blieb. So viele Monate lang hatten sie gar nichts gehabt – keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren, keine verwertbaren Aufnahmen aus Überwachungskameras, keine Tatorte, keine Überlebenden (bis auf einen mit schwersten Verletzungen), keinen einzigen Verdächtigen – und jetzt hatten sie auf einmal alles … gerade mal fünfzig Meter vor ihm, allerdings mit hundertzehn Sachen unterwegs durch eine belebte Innenstadt. Hupen ertönten, Fußgänger stoben kreischend auseinander, als der weiße Transporter auf Bürgersteige ausscherte, um Kreuzungen zu überqueren. Andere Fahrzeuge wichen aus und rutschten in Schaufenster und an Laternenpfähle oder verkeilten sich ineinander. Fensterscheiben barsten, Metallsplitter flogen umher. Heck bahnte sich verzweifelt einen Weg durch das Chaos. Er langte durch das Fenster an seiner Seite und schaffte es, das Blaulicht aufs Dach seines Fiats zu pfropfen. Er schrie erneut in sein Funkgerät, hielt die Leitstelle, so gut er konnte, auf dem Laufenden. Dem sich nähernden Heulen der Martinshörner nach zu urteilen, waren die anderen Einheiten nicht mehr weit, doch das Zielfahrzeug drohte immer noch zu entkommen. Er verlor den Transporter völlig aus den Augen, als dieser mit voller Geschwindigkeit eine rote Ampel überfuhr. Andere Autos wichen zu den Seiten aus, eines rammte die Ampel frontal und knickte ihren Mast um, sodass sie Funken sprühend auf den Boden krachte. Einige Autos vor Heck stießen zusammen, andere wurden von ihren Fahrern scharf herumgerissen, um der Massenkarambolage auszuweichen. In dem Versuch, die verstopfte Kreuzung zu umfahren, schoss Heck instinktiv rechts eine Gasse hinunter, doch am Ende der Straße sah er den Transporter vorbeiflitzen, allerdings in entgegengesetzter Richtung. »Detective Sergeant Heckenburg an Sierra Six!«, brüllte er in sein Funkgerät und riss das Lenkrad des Fiats herum. »Zielfahrzeug hat gedreht und ist jetzt in Richtung Westen unterwegs auf der …« Er suchte auf den vorbeiflitzenden Gebäuden nach einem Straßennamen. »Richtung Westen auf dem Avebury Boulevard. Die Verdächtigen sind Jordan und Jason Savage, wohnhaft Wilberforce Drive achtzehn beziehungsweise Boroughbridge Avenue vierzehn. Ich wiederhole: Sie sind bewaffnet und extrem gefährlich!« Vor ihm fuhr der Transporter in eine Fußgängerzone und rammte mehrere Sitzbänke. Heck fuhr ebenfalls in die Fußgängerzone, da zog der Fahrer des Transit die Handbremse, der Transporter schlitterte herum und kam vierzig Meter vor ihm mit quietschenden Reifen zum Stehen. Erst im letzten Moment begriff Heck, dass er in die Falle gelockt worden war. Er duckte sich, als am Fahrerfenster des Transporters Mündungsfeuer aufblitzte. Das Geschoss durchschlug die obere Ecke seiner Windschutzscheibe und hinterließ im Glas ein Spinnennetz von Rissen. »Wo bleibt die bewaffnete Verstärkung?«, rief er, legte den Rückwärtsgang ein und rammte beim Rückwärtsfahren diverse Stapel Kisten. Ein örtlicher Streifenwagen, ein gelb-blauer Vauxhall Astra, kam mit heulendem Martinshorn vom anderen Ende her in die Fußgängerzone gerast. Der Transporter setzte sich schlingernd wieder in Bewegung, raste in eine Seitenstraße und bog links auf eine andere Hauptverkehrsstraße. Der Streifenwagen nahm sofort die Verfolgung auf, wobei seine Reifen beim Anfahren herumliegende Abfälle aufwirbelten. Heck folgte den beiden Wagen und brüllte immer noch in sein Funkgerät. »Zielfahrzeug fährt auf der Saxon Gate in Richtung Norden! Hundertzwanzig und schneller!« Der Transporter schwenkte über die gesamte Straßenbreite, während er mit einer Geschwindigkeit dahinraste, für die er nicht ausgelegt war. Er streifte einen Mülleimer, der krachend in ein Schaufenster flog. Der Astra blieb dicht hinter ihm, als auf einmal die Hecktüren des Transporters aufflogen. Auf der Ladefläche hockte einer der Savage-Brüder und zielte mit einer Pistole. Über das Dröhnen des Motors hinweg hörte Heck die Schüsse kaum, doch die drei rasch aufeinanderfolgenden Mündungsblitze waren deutlich zu erkennen. Die Windschutzscheibe zerbarst, und der Astra krachte mit solcher Wucht über die Umfriedungsmauer eines städtischen Gebäudes, dass die vordere Aufhängung des Streifenwagens abgerissen wurde und er, auf die Nase gestellt, in einem Zierteich landete. »Streifenwagen verunglückt!«, rief Heck. »An der Einmündung in den Portway! Krankenwagen erforderlich!« Er war sich nicht sicher, ob seine Anweisungen überhaupt gehört wurden. Im Äther herrschte wilder Funkverkehr. Vor ihm schlugen die Hecktüren des Transporters auf und zu, während der Wagen von einer Seite zur anderen schlingerte. Der Schütze kniete nach wie vor auf der Ladefläche und schob gerade ein neues Magazin in den Schacht. »Fahren jetzt auf dem Portway Richtung Osten!«, rief Heck. »Diese Typen sind schwer bewaffnet, verdammt noch mal! Schickt mir endlich das SEK, aber schnell!« Die Martinshörner heulten jetzt aus allen Richtungen. Ein Motorrad der Thames Valley Police überholte Heck, ein vorbeihuschender Blaulichtwirbel, begleitet vom heulenden Martinshorn. Der Fahrer versuchte, sich vor den Transit zu setzen, doch dieser schwenkte nach rechts und drängte das Motorrad gnadenlos auf den Bürgersteig, wo es an einem schmiedeeisernen Zaun entlangschrammte, abprallte und wieder auf der Straße landete. Der Fahrer bekam es wieder in den Griff, doch im nächsten Moment bretterte er gegen den Randstein einer Verkehrsinsel. Das Motorrad überschlug sich, und der Fahrer flog mit einem Salto durch die Luft. Heck sah ihn im Rückspiegel durch die Luft fliegen, während er selbst an ihm vorbeiraste. »Detective Sergeant Heckenburg an Sierra Six! Wir haben jetzt zwei verunglückte Polizeifahrzeuge … eins auf der Saxon Gate, eins auf dem Portway! Mindestens zwei verletzte Polizeibeamte! Krankenwagen dringend erforderlich! Setze die Verfolgung fort!« Vor ihm ballte sich zuckendes Blaulicht quer über einer Brücke. Heck hoffte, dass sie eine Nagelsperre errichtet hätten, doch der weiße Transporter schoss ungehindert weiter. Zwei weitere Streifenwagen, ein Opel Vectra und ein Opel Vivaro, rasten den Autobahnzubringer hinunter – zu spät, um das Zielfahrzeug abzufangen, doch genau im passenden Moment, um sich Heck in den Weg zu schieben und sein Vorankommen zu behindern. Er fluchte laut, während er ein Ausweichmanöver durchführte. Der Schütze im Heck des Transit eröffnete erneut das Feuer und nahm zunächst den Vectra unter Beschuss. Die Kugeln rissen zwei radkappengroße Löcher in die Motorhaube. Eine dritte Kugel ging daneben, prallte von der Straßendecke ab und zertrümmerte Hecks Außenspiegel. Der Vectra verlor an Tempo und stieß schwarzen Qualm aus. Heck beschleunigte, stieß in die Lücke vor und fuhr nun mit dem Vivaro auf gleicher Höhe. Auf offener, leerer Straße hätten sie versuchen können, den Transit in die Zange zu nehmen und zum Anhalten zu zwingen. Doch dafür waren zu viele andere Verkehrsteilnehmer unterwegs. Ein Wagen der Royal Mail geriet außer Kontrolle, als das Zielfahrzeug hinten auffuhr, um es aus dem Weg zu rammen. Heck wich erneut aus, um eine verheerende Kollision zu vermeiden. Der Vivaro hatte weniger Glück. Er schlitterte über die Gegenfahrbahn, prallte gegen eine Reihe von Pollern und drehte sich um die eigene Achse. Aus seinem völlig zerbeulten Kühler stieg Dampf auf. Der Transit beschleunigte wieder, da er jetzt freie Bahn hatte. Der Schütze auf der Ladefläche wurde hin und her geschleudert und war außerstande, einen Schuss auf Heck abzugeben, seinen einzigen verbliebenen Verfolger. Die beiden Wagen hingen fast Stoßstange an Stoßstange, als sie über eine Überführung jagten, hinter der Hinweisschilder die Richtung zur M1 anzeigten. Heck fluchte wortreich – auf der Autobahn würde noch viel mehr Verkehr sein, und diese Kerle hatten gezeigt, dass ihnen das Leben Unbeteiligter völlig egal war. Bevor sie die Auffahrt erreichten, landeten sie erneut in einem Kreisverkehr. Dort hatten sich an den Ausfahrten weitere Streifenwagen positioniert – Range Rover der Verkehrspolizei. Doch die Besatzungen der Streifenwagen schienen eher darauf aus zu sein, Unbeteiligte zurückzuhalten, als den Transporter, der inzwischen schwarze Rußwolken ausstieß, zu stoppen, und ließen ihn ungehindert weiterrasen. Möglicherweise hatte die Leitstelle von Milton Keynes die Beamten angewiesen, sich zurückzuhalten. Doch Heck hatte keine derartige Anweisung erhalten, und so setzte er die Verfolgungsjagd fort, schoss den Autobahnzubringer entlang und dann die Auffahrt hinunter. Auf der M1 war in Richtung Süden immer viel los. Jetzt, gegen Ende der abendlichen Rushhour, war es brechend voll. Die Durchschnittsgeschwindigkeit betrug immer noch fast hundert Stundenkilometer, aber es war im Grunde ein sich schnell bewegender Verkehrsstau. Trotzdem drängte sich der Transit rücksichtslos vor, rammte andere Autos und schob sie ungeachtet des erbosten Hupkonzerts und der gereckten Fäuste zur Seite, sodass Heck ihnen ausweichen musste. Heck wurde klar, dass die Scheißkerle es tatsächlich auf eine Massenkarambolage ausgelegt hatten. Ihr Plan war, ein Bollwerk aus Autowracks zu errichten. Und obendrein waren sie immer noch bewaffnet. Im Rückspiegel sah er weitere zuckende Blaulichter, doch sie befanden sich weit hinter ihm, und niemand in der Leitstelle schien seine Funksprüche zu beantworten. In dem Augenblick setzte der Fahrer des Zielfahrzeugs zu dem irrwitzigsten Manöver an, das Heck je gesehen hatte. Auf dem Mittelstreifen der Autobahn verlief eine beidseitige Leitplanke, die an einer Stelle eine kurze Lücke aufwies. Unvermittelt stellte der Fahrer den Transporter schleudernd quer und versuchte, durch die Lücke hindurch eine Kehrtwende hinzulegen. Eine Hundertachtzig-Grad-Wende! Mit hundert Sachen auf der Autobahn! Mehr von seinem Instinkt geleitet als von Vernunft, tat Heck dasselbe. Bis zur nächsten Abfahrt waren es gut fünfundzwanzig Kilometer, und er konnte es nicht riskieren, dass diese Verbrecher entkamen. Doch obwohl Heck voll auf die Bremse stieg, als er das Lenkrad herumriss, verlor er die Gewalt über den Wagen, schlitterte auf zwei Reifen quer über die nach Norden führende Gegenfahrbahn und schlug mit solcher Wucht seitlich auf der Grasböschung auf, dass der Wagen sich überschlug und noch ein Stück bergauf rollte, bevor er wieder herunterrollte und auf dem Dach liegen blieb. Das Fahrgestell ächzte, Glasscherben rieselten auf ihn hinab. Der Fahrer des weißen Transporters hatte ebenfalls die Gewalt über den Wagen verloren, doch waren die Savage-Brüder mit hundert Sachen noch weitaus schneller unterwegs gewesen. Es war dem Fahrer nicht einmal gelungen, den Wagen herumzureißen, sodass er frontal weiter über die Fahrbahn bis gegen den Betonpfeiler einer Autobahnbrücke gerast war. Der Knall des Aufpralls dröhnte in Hecks Ohren. Es kam Heck so vor, als ob das Krachen noch sekundenlang nachhallte, während er benommen im Autowrack kauerte. Schließlich begann er, umnebelt und mit dem schlimmsten Brummschädel, unter dem er je gelitten hatte, mit den Fingerspitzen seinen Körper abzutasten. Alles schien intakt zu sein, allerdings schmerzten sein Nacken und seine Schultern, was auf ein Schleudertrauma hindeutete. Auch sein linkes Handgelenk tat weh, war aber noch voll beweglich und wohl nur verstaucht. Unter gequältem Stöhnen öffnete er die Schnalle seines Sicherheitsgurts, kroch vorsichtig über die Innendecke seines Wagens und versuchte, die Beifahrertür zu öffnen, doch sie war im Rahmen verklemmt und ließ sich nicht bewegen. Einen Augenblick lang war er zu benommen, um eine Lösung zu finden, dann wuchtete er sich unter Schmerzen langsam herum und stieg mit den Füßen voran aus dem geborstenen Fenster. Als er sich schließlich hochgerappelt hatte und stand, blickte er über die Unterseite seines Fiats hinweg, die aufgerissen und verbeult war und mit Grasbüscheln und Erdklumpen überzogen. Aus dem ramponierten Kühler stiegen zischend Dampfwolken auf. Die Fahrer der vorbeifahrenden Autos bremsten ab, Heck nahm die Gesichter der Gaffer als verschwommene weiße Flecken wahr. Etliche sich bereits in der Nähe befindliche Martinshörner näherten sich. Er umklammerte seinen pochenden Nacken und musste sich mitsamt seinem ganzen Körper umdrehen, um die trümmerübersäte Standspur entlangsehen zu können. Dreißig Meter entfernt klebte der schwelende Rumpf des weißen Transporters am Betonpfeiler, zusammengestaucht auf etwa ein Drittel seiner ursprünglichen Länge. Heck humpelte auf das Unfallwrack zu, doch als er bis auf zehn Meter herangekommen war, war der Geruch nach Benzin, Gummi und verbeultem geschmolzenem Blech so beißend, dass ihm übel wurde. Dasselbe galt für den Anblick der Savage-Brüder. Derjenige von den beiden, der von der Ladefläche die Schüsse abgegeben hatte, war durch das Fahrzeuginnere katapultiert worden, hatte die Windschutzscheibe durchschlagen und war mit dem Kopf voraus gegen den Brückenpfeiler gekracht. Über der Aufprallstelle war der Pfeiler bis zu einem Meter hoch mit einem Schwall aus Blut, Hirnmasse und Knochensplittern bespritzt. Der Fahrer war aufs Lenkrad geschleudert worden und hing darüber wie ein schlaffes Lumpenbündel. Den karmesinroten Bächen nach zu schließen, die sich plätschernd unter ihm ergossen, hatte die Lenksäule sein Brustbein durchbohrt und sein Herz und seine Lunge durchstoßen. Heck taumelte mit flauem Magen von dem Wrack weg. Hinter seinem Fiat hielten jetzt weitere Streifenwagen an. Der Fahrer des ersten Wagens, ein junger Beamter der Autobahnpolizei in einem leuchtend orangefarbenen Regenmantel, rannte auf ihn zu. »Ist er das?«, fragte er. »Das M1-Phantom?« Heck ließ sich rücklings ins Gras fallen. »Hoffen wir es«, murmelte er. »Wollen wir es hoffen.« Das M1-Phantom, um den Namen zu verwenden, den die Medien ihm verpasst hatten (beziehungsweise die beiden Phantome, wie sich herausgestellt hatte), hatte während der vergangenen sechs Monate Südengland terrorisiert und es vor allem auf Jungen im Teenageralter abgesehen. Sein Jagdrevier war auf die Umgebung der Autobahn M1 beschränkt, doch es handelte sich um ein ausgedehntes Gebiet. Geografisch gesehen hatte er zwischen Luton im Süden und Northampton im Norden und zwischen Aylesbury im Westen und Bedford im Osten zugeschlagen. Auf sein Konto gingen neun Opfer, allesamt ältere Teenager, die von öffentlichen Orten verschleppt worden waren – meistens auf dem Nachhauseweg von Kneipen oder Nachtklubs. Acht von ihnen wurden später mit Draht gefesselt aufgefunden. Sie waren anal und oral vergewaltigt und schließlich durch einen Schuss in den Hinterkopf hingerichtet worden. Die Leichen waren in Gräben oder Abflusskanälen am Straßenrand entsorgt worden. Das überlebende Opfer war das vierte in der Verbrechensserie. Sein Name war Lewis Pettigrew, ein neunzehnjähriger Student der Universität von Oxford, der seine Eltern in Milton Keynes besucht hatte. Wie die anderen Opfer fand man ihn gefesselt, schwer verletzt und mit einer Schusswunde im Hinterkopf vor, doch in seinem Fall war die Kugel, vielleicht aufgrund des Schusswinkels, im Schädel stecken geblieben, anstatt in das Gehirn einzudringen. Pettigrew hatte zwar die Fähigkeit verloren zu sprechen, doch er war imstande zu schreiben. Er berichtete der Polizei, er habe gegen Mitternacht an einer Bushaltestelle gewartet, als ein weißer Transporter neben ihm angehalten habe. Der mit einer Kapuze vermummte Fahrer war ausgestiegen und hatte ihn mit vorgehaltener Pistole in den Laderaum gezwungen, wo er an den Handgelenken und Knöcheln so fest mit Draht gefesselt worden war, dass er befürchtet hatte, ihm würde die Blutzufuhr abgeschnürt. Dann fuhr der Transporter etwa eine halbe Stunde herum. Als er schließlich anhielt, verließ der Entführer die Fahrerkabine, kam, immer noch mit seiner Pistole bewaffnet, durch die Hecktüren wieder herein und zwang Pettigrew, ihm einen zu blasen. Als dies erledigt war, verließ der Entführer den Wagen, kam jedoch nach ein paar Minuten wieder zurück und vergewaltigte seinen Gefangenen anal. Nach diesem zweiten Sexualakt wurden die Hecktüren des Transporters erneut geöffnet, und Pettigrew wurde gezwungen, sich aufrecht hinzuknien, den Blick nach draußen gerichtet auf ein offenbar einsames Waldstück. Dann wurde ihm in den Hinterkopf geschossen. Er überlebte nur durch ein Wunder, doch es verging ein ganzer Tag, bevor ihn eine Frau, die ihren Hund ausführte, entdeckte. Wie die anderen Opfer war er in einen Graben gezerrt und mit Zweigen und Moos bedeckt worden. Dies war ein großer Durchbruch für die Polizei, denn die Aussage des Studenten klärte den Modus Operandi des M1-Phantoms auf. Wie bei allen anderen Fällen gab es keine DNA-Spuren, da der Mörder immer Handschuhe und Kondome benutzte, aber zumindest war Pettigrew imstande, den Transporter und den Täter zu beschreiben. Nun wussten sie, dass es sich um einen Mann mit blauen Augen und rotem Haar handelte, der eine schwarze Anorakkapuze auf dem Kopf gehabt hatte. Leider trug nichts von alledem dazu bei, der Öffentlichkeit die Angst zu nehmen, denn die Mordserie setzte sich fort. Die Tatsache, dass attraktive junge Männer die Opfer dieser grausamen Überfälle waren, trug zusätzlich zur allgemeinen Beunruhigung bei. Unter ihnen waren Sportler, einer war sogar Juniorenmeister im Boxen gewesen. Noch erschreckender war, dass die Opfer des Phantoms von der Straße aufgegriffen worden waren, während sie ihrer ganz alltäglichen Routine nachgingen. Ein Kriminalpsychologe goss noch weiteres Öl ins Feuer, als er im Radio eine Theorie zum Besten gab, der zufolge es sich bei dem Täter wahrscheinlich nicht um einen Homosexuellen handele. Vielmehr sei dieser heterosexuell und sein Sadismus einfach ein Mittel, seine Dominanz zur Geltung zu bringen. Als Nächstes könnten Frauen dran sein, erklärte er. Natürlich waren sich da andere nicht so sicher, und mit zunehmender Panik ging es mit der allgemeinen öffentlichen Ordnung immer weiter bergab: Wände wurden mit schwulenfeindlichen Parolen beschmiert, Schwulennachtklubs mit Steinen beworfen. Selbstjustiz nahm immer brutalere und willkürlichere Formen an – ein prominenter Vertreter der Homosexuellen wurde von einem Podium gezerrt und geschlagen, während er auf einer öffentlichen Veranstaltung versuchte, eine Rede zu halten. Inmitten dieser aufgeheizten Stimmung geriet die Polizei mehr und mehr in die Kritik. Die Boulevardmedien wiesen darauf hin, dass Geschwindigkeitsüberwachungskameras seit Beginn der Mordserie dazu beigetragen hatten, Tausende Autofahrer zu belangen, jedoch offenbar nicht dazu taugten, auch nur irgendeinen Beitrag zur Festnahme dieses Kriminellen zu leisten, obwohl dieser doch auf den Straßen sein Unwesen trieb. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine derart aufgeladene Stimmung explodierte. Es schien immer unwahrscheinlicher, dass die Jagd nach dem M1-Phantom anders enden würde als in einem Desaster. Allerdings hatte niemand geahnt, in was für einem Riesendesaster, dachte Heck, während er in der Notaufnahme saß und sich zusammenriss, um nicht zu zucken, als ihm vorsichtig eine Halskrause angelegt wurde. Genau in diesem Moment waren die Leichen der Savage-Brüder unterwegs hierher in die Leichenhalle des Milton Keynes Hospital. Er bedankte sich mürrisch, als der Pfleger ihm mitteilte, dass er fertig sei und gehen könne. Abgesehen von der Halskrause war auch noch sein linker Arm bandagiert und in eine Schlinge gelegt worden. Zuvor hatte ein Arzt den Arm untersucht und war zu dem Schluss gekommen, dass er nur verstaucht war, jedoch ruhiggestellt werden musste – was leichter gesagt war, als getan. Heck schlurfte zur Toilette. Als er sich erleichtert hatte, was mit nur einer Hand eine erstaunlich schwierige Prozedur war, betrachtete er sich im Spiegel über dem Waschbecken. Er hatte schon mal besser ausgesehen. Sein schwarzes Haar war verschwitzt und zerzaust, sein schlankes, markantes Gesicht mit Schnittwunden und Prellungen übersät. In diesem Jahr wurde er achtunddreißig und war immer noch ganz gut in Schuss, doch das Rad der Zeit hält niemand auf, und wenn er dieser Tage Prügel einsteckte, schien es immer länger zu dauern, bis er sich wieder erholte. Als er zurückkam in die Notaufnahme, warteten zwei andere Beamte des Dezernats für Serienverbrechen auf ihn. Detective Constable Shawna McCluskey war eine klein gewachsene Frau von Mitte dreißig mit einer wohlgeformten sportlichen Figur – »ein knuddeliges kleines Päckchen« hatte sie mal auf einen Bogen der Personalabteilung geschrieben, als sie aufgefordert worden war, sich selbst zu beschreiben. Sie war hübsch, allerdings in einer eher derben, burschikosen Weise. Ihre Stupsnase war mit Sommersprossen gesprenkelt, ihre Augen waren haselnussbraun, ihr dichtes dunkles Haar trug sie fast immer hochgesteckt. Ihr breiter Manchesterakzent, den sie nie abgemildert hatte, obwohl sie schon seit etlichen Jahren im Süden Englands arbeitete, verriet eindeutig ihre Herkunft aus einer Arbeiterfamilie. Detective Constable Gary Quinnell hatte früher bei der Polizei in South Wales gearbeitet. Er war einen Meter neunzig groß und hatte einen breiten Oberkörper. Hätten ihm beim Rugby nicht ein paar zu viele Stürmer immer wieder die Nase gebrochen, wäre er recht gut aussehend gewesen, ein mustergültiger Familienvatertyp. Obwohl er jünger war als Shawna, lichtete sich sein rötliches Haar obenherum bereits, weshalb er es immer sehr kurz geschnitten trug. Wäre ihm bewusst gewesen, dass ihm dies in Verbindung mit seinen Blumenkohlohren einen leicht kriminellen Touch verlieh, hätte ihn das sicher mehr bestürzt, als er zugeben konnte. Beide Polizisten hatten schon einmal in der Notaufnahme vorbeigeschaut, erstens, um sich zu vergewissern, dass es Heck gut ging, und zweitens, um ihm zu gratulieren – Shawna mit einer Umarmung und Quinnell mit einem kräftigen Schlag auf Hecks Schulter, was wiederum zu einem schmerzerfüllten Aufschrei führte. »Draußen geht die Medienmeute in Stellung«, sagte Shawna. »Scheiße«, stöhnte Heck. »Wie haben die denn schon wieder Wind von der Sache bekommen?« Quinnell lachte. »Was meinst du wohl? Halb Milton Keynes ist gerade zu Schrott gefahren worden.« »Ist immer noch keiner von den Chefs aufgeschlagen?« »Nein«, erwiderte Shawna. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Heck nickte. »Deinen Fiat kannst du abschreiben«, stellte Quinnell fest. »Dann hatte das Ganze ja wenigstens was Gutes.« »Außerdem heißt es, dass sie die Waffe gefunden haben«, fügte Shawna hinzu. Heck blickte auf. »Ach ja?« »Im Laderaum des Transporters.« »Gott sei Dank!« Quinnell lachte erneut. »Falls die beiden also nicht die Mörder sein sollten, hätten wir sie zumindest dafür drankriegen können, dass sie dich und die Polizei von Thames Valley als Zielscheiben zum Übungsschießen benutzt haben.« Heck wollte gerade etwas erwidern, als Shawna mit einem Kopfnicken hinter ihn deutete. Er drehte sich um. Detective Inspector Bob Hunter war im Anmarsch. Hunter war Mitte vierzig und ziemlich gut in Form. Sein kurzes blondes Haar ergraute allmählich, und er hatte etwas Bauch angesetzt, doch er war stiernackig, hatte ein kantiges Kinn, und seine grauen Augen ließen erkennen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Sein Jackett und seine Krawatte waren zerknittert, was für ihn untypisch war, aber auch nicht überraschend. Er hatte an diesem Abend zum ersten Mal seit Monaten dienstfrei gehabt; offenbar war er in einem örtlichen Fitnesscenter aufgespürt worden, wo er sich gerade bereit gemacht hatte, ein paar Runden zu schwimmen und in die Sauna zu gehen. »Guten Abend, Chef«, begrüßte Heck ihn. Hunter sah die anderen beiden Polizisten an. »Die Leute vom Sicherheitsdienst des Krankenhauses haben Probleme mit der Medienmeute. Wie wär’s, wenn ihr ihnen zur Hand geht?« Shawna und Quinnell nickten und gingen. »Setz dich, Heck«, sagte Hunter. Heck zog sich einen Stuhl aus dem Behandlungsbereich heran und ließ sich darauf nieder. Hunter zog den Vorhang halb zu und kam sofort zur Sache. »Wie bist du darauf gekommen, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben?«, fragte er. »War nur so ein Gedanke«, erwiderte Heck. »Es kam mir seltsam vor, dass der Täter immer so schnell zweimal hintereinander Sex haben konnte.« »Manche Typen kriegen das hin.« »Wie gesagt, es war nur so ein Gedanke.« »Und dieser Gedanke hat dich zu den Savage-Zwillingen geführt?« »Nicht sofort.« Heck veränderte seine Sitzposition. Wie es schien, hatte jeder einzelne Teil seines Körpers bei dem Crash etwas abbekommen. »Angesichts der Tatsache, dass wir beide der Meinung waren, dass die Ermittlungen auf der Stelle traten … bin ich die ganzen Unterlagen zu den Fällen noch mal daraufhin durchgegangen, ob wir etwas übersehen haben.« Er musste seine Worte mit Bedacht wählen, denn er wollte Hunter auf keinen Fall unterstellen, die Ermittlungen stümperhaft durchgeführt zu haben. Hunter war nicht der offizielle Leiter der Ermittlung gewesen, doch nachdem das Dezernat für Serienverbrechen eingeschaltet worden war – und das war in einem relativ frühen Stadium der Fall gewesen –, hatte er de facto die Leitung des Falls übernommen. »Bestimmt erinnerst du dich, dass Jordan Savage eine der diversen Personen war, die zunächst unser Interesse geweckt haben, die wir dann jedoch aus dem Kreis der infrage kommenden Täter ausgeschlossen haben«, sagte Heck. Hunter zuckte mit den Achseln. »Sein Name sagt mir nichts.« »Also … wie es aussieht, wurde Savage im vergangenen Oktober vernommen, weil er zu nächtlicher Stunde mit dem Auto in den Randbezirken von Leighton Buzzard unterwegs war, wo sich ja zwei der ersten Morde ereignet haben. Die Streifenpolizisten, die ihn anhielten, fanden, dass die Beschreibung des Tatverdächtigen auf ihn zutraf: blaue Augen, rotes Haar. Jedenfalls wurde er angehalten, und sein Wagen wurde durchsucht. Als sich herausstellte, dass er im Besitz von Einbruchwerkzeugen war, wurde er deshalb verhaftet, doch da es sich um seine erste Straftat handelte und ihn ansonsten nichts mit den Morden in Verbindung brachte, wurde er nur verwarnt und gegen Kaution freigelassen.« »In was für einem Auto war er denn unterwegs, als er angehalten wurde?« »In einem grünen Mondeo, nicht in einem weißen Transporter. Das war das Problem.« »Okay … weiter.« »Ich habe mir den Durchsuchungsbericht noch einmal vorgenommen. Dabei ist mir aufgefallen, dass Jordan Savage konkret im Besitz einer Zange war.« Hunter sah ihn verwirrt an. »Einer Zange?« »Wie du dich sicher erinnerst, hat der Gerichtsmediziner uns darauf hingewiesen, dass die Drahtfesseln der Opfer so fest angezogen waren, dass dabei möglicherweise ein Werkzeug zum Einsatz gekommen sein konnte. Also habe ich … an eine Zange gedacht.« Hunter dachte darüber nach. »Und deshalb habe ich diesen Savage noch mal genauer unter die Lupe genommen«, fuhr Heck fort. »Als ich herausfand, dass er einen Zwillingsbruder namens Jason hatte, fing ich an, mich zu fragen, ob die beiden die Straßen womöglich gemeinsam unsicher machten und vielleicht in unterschiedlichen Fahrzeugen unterwegs waren. Ich stellte die Hypothese auf, dass derjenige von beiden, der den Transporter fuhr, das Opfer fesselte und oral vergewaltigte und der andere kurz darauf hinzukam – in dem grünen Mondeo – und sich anal an dem Opfer verging. Das, so dachte ich, würde auch die offenkundige enorme Manneskraft des Phantoms erklären.« »Und diese Mutmaßungen haben dich zur Haustür von Jordan Savage geführt?« »Es war nur eine Theorie. Ich hatte nichts Handfestes gegen ihn in der Hand. Deshalb wollte ich ihn mir eigentlich nur noch mal zur Brust nehmen, ihm auftischen, dass aufgrund der Durchsuchung seines Wagens noch ein paar Dinge zu klären seien, und dann wollte ich mal sehen, wie er darauf reagiert, immer noch verdächtig zu sein …« »Und du hast die beiden erwischt, als sie gerade losziehen wollten, um sich das nächste Opfer zu schnappen?« »Es war ein Glückstreffer.« »Tja, schon Napoleon hat gesagt: ›Man gebe mir Generäle mit Fortune‹«, sinnierte Hunter. Dann lächelte er, was beunruhigend war, weil es nicht besonders oft vorkam. »Erstklassige Arbeit, Heck. Mit heißer Nadel gestrickt, aber absolut erstklassig.« Heck würdigte das Kompliment, konnte aber nicht umhin zu denken, dass es nicht dazu hätte kommen dürfen, das Ganze »mit heißer Nadel zu stricken«. Als einer von Dutzenden Detectives im unteren und mittleren Dienst, die der Sonderkommission M1-Phantom zugeteilt worden waren, konnte Heck gewiss nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass dieser entscheidende Hinweis auf Jordan Savage in einem frühen Ermittlungsstadium durchs Netz gegangen war, Bob Hunter hingegen sehr wohl. Als stellvertretender Leiter der Sonderkommission war es seine Aufgabe, fortdauernd alles im Blick zu behalten und zu überprüfen. Dass ihm dieser Fehler überhaupt unterlaufen war, war schon schlimm genug, doch dass er ihn nicht einmal erkannte, war noch beunruhigender. »Zwei der übelsten Stücke Abschaum, die die Umgebung von London je gesehen hat, sind also aus dem Verkehr gezogen«, stellte Hunter zufrieden fest. »Wir müssen erst noch sicherstellen, ob die beiden auch wirklich die Täter sind«, gab Heck zu bedenken. »Keine Sorge, das steht außer Zweifel. Der Transporter wurde zur kriminaltechnischen Untersuchung geschleppt – aber man hat mir bereits bestätigt, dass das Innere des Wagens auf die Beschreibung des Fahrzeugs zutrifft, in dem Pettigrew entführt wurde. Außerdem wurden in dem Wagen Drahtrollen und leere Patronenhülsen entdeckt – und natürlich die Waffe, ein nicht gerade unerhebliches Detail.« »Ich dachte, sie hätten sich der Waffe bei der erstbesten Gelegenheit entledigt.« »Wollten wohl mit wehenden Fahnen untergehen.« »Die Verfolgungsjagd war ein bisschen wildwestmäßig. Tut mir leid, Chef. War nicht so geplant.« »Red keinen Stuss. Du hattest mehr als ausreichend Grund dafür. In diesem Transporter finden sich wahrscheinlich tonnenweise physische Beweise. Nicht vorzustellen, wenn sie ihn abgefackelt hätten.« »Das ging mir auch durch den Kopf.« »Wie geht’s dir überhaupt?« »Ein bisschen verspannt, aber das ist auch schon alles.« »Du hast einen Superjob gemacht.« Hunter erhob sich. »Wir stehen alle in deiner Schuld.« Er drehte sich um, als Quinnell durch die Notaufnahme zurückgeschlendert kam. »Da draußen geht’s zu, als gäbe es was umsonst«, stellte der große Waliser fest. »Immer noch kein Lebenszeichen von Humphreys?«, fragte Hunter. »Nee, bisher nicht.« Hunter schnaubte verächtlich, als hätte er auch nichts anderes erwartet. »Warte hier, Heck«, rief er ihm über die Schulter zu, während er den Ausgang ansteuerte. »Und hau mir nicht ab!« »Mach ich nicht, Chef.« Als Hunter weg war, grinste Quinnell. »Hab ich richtig gehört? Er hat behauptet, in deiner Schuld zu stehen? Das hat er bestimmt noch nicht zu vielen Leuten gesagt.« »Das war doch nur eine Floskel. Er hat bestimmt nicht gemeint, dass er persönlich in meiner Schuld steht.« »Jedenfalls freut er sich wie ein Schneekönig, jede Wette.« Heck verlagerte sein Gewicht nach vorn. »Ist ja auch ein Erfolg, aber es wäre doch ganz nett gewesen, ein bisschen mehr über diese Savage-Brüder zu erfahren, oder? Ich meine, warum sie getan haben, was sie getan haben.« Shawna kehrte zurück. »Heck, der Chef will, dass du rauskommst.« »Warum?« »Er hat beschlossen, vor den Medien ein Statement abzugeben.« Heck spürte leichtes Unbehagen in sich aufsteigen. »Wozu? Wir wissen doch noch gar nichts … jedenfalls nichts Sicheres.« »Er muss irgendwas sagen. Da draußen wimmelt es nur so von Pressefritzen.« »Was ist mit Chief Superintendent Humphreys?« »Der steht immer noch nicht zur Verfügung, was dich nicht überraschen dürfte.« »Was will Bob denn sagen?« »Wenn du mit rauskommst, wie er es gewünscht hat, wirst du es erfahren«, entgegnete Shawna. Heck ließ sich von seiner Kollegin auf die Beine helfen und aus der Notaufnahme zur Eingangstreppe des Krankenhauses führen, wo Detective Inspector Hunter vor einer ganzen Batterie von Mikrofonen, Diktiergeräten und Fernsehkameras im Blitzlichtgewitter stand. Mindestens fünfzig Journalisten waren bereits da, weitere strömten über den Parkplatz herbei. Heck verbarg sich nervös hinter Hunters Rücken. Shawna und Quinnell standen noch weiter im Hintergrund. »Sie gehören also der Sonderkommission M1-Phantom an, Sir?«, rief einer der Journalisten. »Das ist richtig. Ich arbeite für das Dezernat für Serienverbrechen bei Scotland Yard«, erwiderte Hunter. »Wie Sie sicherlich wissen, werden wir den örtlichen Polizeidienststellen bei schweren Verbrechen wie diesen oft als Unterstützung zugewiesen.« Es kam selten vor, dass Detective Inspector Hunter sich gestattete, im Dienst Emotionen zu zeigen, doch als erkennbares Zeichen, was für eine gewaltige Last ihm von den Schultern genommen worden war, grinste er wie ein Honigkuchenpferd – und seine Euphorie ging sogar noch ein bisschen darüber hinaus. Heck fragte sich, ob Hunter seinen Saunagang vielleicht schon beendet und bereits in der Bar des Fitnessklubs gesessen hatte, als die Kollegen ihn aufgespürt hatten. »Konnten Sie die beiden Toten schon identifizieren?«, fragte ein anderer Journalist. »Nein, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.« »Können Sie uns denn irgendetwas sagen?« »Sie müssen verstehen, dass ich noch nicht viel sagen kann, diese Ereignisse haben sich schließlich gerade erst zugetragen. Wir sind noch dabei, die Situation einzuschätzen, Beweismaterial zusammenzutragen und so weiter, aber eins will ich Ihnen jetzt schon sagen: Wir sind sehr zufrieden.« »Wenn Sie von ›wir‹ sprechen, Detective Inspector Hunter – meinen Sie dann das Dezernat für Serienverbrechen oder die Sonderkommission M1-Phantom?« »Alle. Es hat zwei Todesopfer gegeben, und das ist tragisch, trotzdem muss ich wiederholen: Bis jetzt sind wir mit den neuesten Entwicklungen sehr zufrieden. Ah …« Er nahm Heck hinter sich wahr und bedeutete ihm, vorzutreten. »Hier haben wir einen der Beamten, die vor Ort waren. Das ist Detective Sergeant Heckenburg, ebenfalls vom Dezernat für Serienverbrechen. Wie Sie sehen können, hat er einen harten Abend hinter sich, aber lassen Sie mich Ihnen eines versichern: Detective Sergeant Heckenburg ist ein erstklassiger Beamter, der heute Hervorragendes geleistet hat.« »Waren Sie bei der Verfolgung dabei, Sergeant Heckenburg?«, rief ein Reporter. Heck zögerte mit seiner Antwort. Er hatte keine Ahnung, wie viel Hunter bereits über die Autoverfolgungsjagd preisgegeben hatte, doch in Anbetracht der massiven Schäden, die dabei entstanden waren, waren die Medien über das meiste wahrscheinlich ohnehin längst im Bilde. »Ich befand mich in einem der Autos, die das verdächtige Fahrzeug verfolgt haben«, räumte er ein. »Erzählen Sie uns, was passiert ist.« »Wie ich Ihnen bereits sagte, können wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht mehr sagen«, ging Hunter dazwischen. »Waren Sie in dem Wagen, der die beiden Verdächtigen auf der Autobahn zur Strecke gebracht hat, Detective Sergeant Heckenburg?«, fragte eine andere Stimme. »Es waren etliche Polizeifahrzeuge im Einsatz«, erwiderte Heck. »Wann wurde Ihnen klar, dass Sie hinter dem M1-Phantom her waren?« »Wie ich Ihnen bereits mehrfach sagte, können wir dazu noch nichts sagen«, antwortete Hunter für ihn. »Wussten Sie von Anfang an, dass Sie es mit zwei Mördern zu tun hatten?« »Bitte, meine Damen und Herren!«, sagte Hunter. »Wir haben Ihnen alles gesagt, was es momentan zu sagen gibt.« »Und das wäre, dass Sie sehr zufrieden sind, dass zwei Männer während eines Verkehrsunfalls ums Leben gekommen sind, Sir?« Hunters Lächeln gefror, aber er bewahrte einen kühlen Kopf. »Ich denke, Sie wissen, was ich damit sagen wollte …« »Sir«, flüsterte Heck ihm zu, »ich denke, wir haben genug gesagt.« Hunter erhob ein letztes Mal die Stimme. »Alles, was Sie der Öffentlichkeit momentan berichten können, ist, dass wir bei den Ermittlungen im Fall des M1-Phantoms einen großen Schritt vorangekommen sind – einen sehr großen Schritt – und dass uns dies hochgradig erfreut.« Hunter und Heck drehten sich um, ignorierten alle weiteren Fragen und betraten erneut das Krankenhaus. Als sie wieder ungestört in der Notaufnahme waren, tupfte Hunter sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, doch er machte immer noch einen zufriedenen Eindruck. »Jetzt haben sie wenigstens was, worauf sie sich stürzen können.« Heck sprach nicht aus, was er dachte: Genau, Chef … auf dich. Todd stand total auf Cheryl, und Cheryl stand total auf Todd. Wenn sie ehrlich waren, waren sie weit über das reine Sich-mögen-Stadium hinaus. Als sie kurz vor Weihnachten Monty, den Labrador von Cheryls Eltern, über die verschneiten Hügelkämme des Rivington Moor ausgeführt hatten, hatte Todd Cheryl zum ersten Mal seine Liebe gestanden. Sie hatte einfach nur geantwortet: »Ich weiß.« Diese Reaktion hatte ihn ein wenig verwirrt. Auf dem Rückweg zum Parkplatz brachte Todd nur belanglosen Small Talk zustande. Doch als Cheryl es dem Hund auf seiner Decke auf dem Rücksitz des lavendelblauen VW Polo ihres Freundes bequem gemacht und sich selber auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, hatte sie Todd einen Kuss auf die Wange gedrückt. Nicht nur ein hingehauchtes, flüchtiges Nullachtfünfzehn-Küsschen, sondern einen langen, feuchten warmen Kuss. Er hatte sich zu ihr umgedreht, ihre Lippen hatten sich berührt, ihre Zungen hatten einander umschlungen, und sie hatten sich leidenschaftlich geküsst. Von da an war es nur noch vorwärtsgegangen. Sie wollten es noch niemandem erzählen, erst recht nicht ihren Eltern, aber sie hatten vor, in etwa zwei Jahren zu heiraten, sofern sie bis dahin etwas Eigenkapital für eine Hypothek zusammengespart hätten. Natürlich war noch genug Zeit für alles, denn sie waren ja erst neunzehn und zwanzig Jahre alt. Doch wenn sie zusammen waren, knisterten zwischen ihnen die Funken. So beschrieb es Cheryl jedenfalls ihren Freundinnen: »Zwischen uns knistern die Funken.« Wenn Todd auch nur ihre Hand berührte, schoss ein warmes Kribbeln durch sie hindurch, und Todd ging es genauso, wie er ihr gestand. An jenem Valentinsabend konnten sie es kaum erwarten, sich zu sehen. Wie immer fuhr Todd pünktlich auf die Minute vor Cheryls Elternhaus vor. In seiner dunklen Jeans, seinem hippen, gestreiften Sporthemd und seinem frisch gebügelten Jackett sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Sein glänzender, frisch gewaschener Polo wartete am Ende der Zufahrt – Cheryls Triumphwagen. Das war etwas, was Cheryls Eltern an Todd besonders schätzten: Er fuhr fast überall mit dem Auto hin, sodass er kaum Alkohol trank, was schon für sich genommen zu begrüßen war und darüber hinaus bedeutete, dass ihre entzückende Tochter immer sicher nach Hause kam. Cheryls Mutter, Marlene, öffnete die Tür. Sie war selber ein ziemlicher Hingucker, wollte an diesem Abend ebenfalls ausgehen und sah mit ihren in Chiffon und schwarze Spitze gehüllten üppigen Rundungen und den aus schwarzen Lackstilettos hervorlugenden rot lackierten Fußnägeln sehr sexy aus. Doch der Star der Show war Cheryl. Sie trug ein metallicblaues Paillettenkleid, eine Glitzerstrumpfhose und dazu Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen. Todd überreichte ihr zehn rote Valentinsrosen und wusste nicht, was er sagen sollte, also sagte er das Gleiche wie immer, nämlich dass er der glücklichste Mensch auf Erden sei. Um halb acht machten sie sich auf den Weg. Nachdem sie einen Zwischenstopp in ihrer Lieblingspizzeria eingelegt hatten, um einen Happen zu essen, fuhren sie zu einem ihrer Stammpubs, wo sie sich mit zwei anderen befreundeten Paaren trafen. Nach ein paar Drinks – die Mädels waren von den Valentins-Spezial-Cocktails der Wirtin schon leicht beschwipst – fuhren sie zusammen nach Manchester, um einen der teuren, exquisiten Nachtklubs zu besuchen. Es war ein großartiger Abend. Die Klubs in der Innenstadt waren manchmal ein wenig überfüllt und zu laut und rochen nach Schweiß, doch in diesem war die Atmosphäre genau richtig. Die Musik war total schnulzig, aber das war Cheryl egal, denn heute war der Tag der Liebe, und sie hatte Todd. Sie tanzten ausdauernd und knutschten viel. Um zwei Uhr morgens konnten sie ihre leidenschaftliche Begierde aufeinander kaum noch unter Kontrolle halten. Deshalb verabschiedeten sie sich von ihren Freunden und eilten Händchen haltend und kichernd nach draußen. Es war eine bitterkalte Nacht, ihr Atem dampfte, die Schweißperlen auf ihren Stirnen prickelten wie Eis. Als sie über die finstere Gasse zum Parkplatz gingen, war das Kopfsteinpflaster mit einer Frostschicht überzogen. Kaum saßen sie im Auto und hatten die Türen geschlossen, legte Todd auch schon begierig die Hand auf Cheryls in Nylon gehüllten Oberschenkel. »Nicht hier«, sagte sie und zog einen Schmollmund. Todd sah sich um. Vermutlich hatte sie recht. Das Kommen und Gehen der Klubbesucher würde noch eine Weile andauern. »Fahren wir zu unserem Lieblingsplatz?«, fragte er und grinste verschmitzt. »Da ist es viel ruhiger«, stimmte sie zu. Also verließen sie Manchester wieder über die Autobahn M61. Bis nach Bolton, wo sie wohnten, waren es nur gut dreizehn Kilometer, doch bevor sie die Stadt erreichten, bogen sie auf die A675 in Richtung der West Pennine Moors ab. Unterwegs schob Cheryl den Saum ihres Kleides hoch und offenbarte, dass sie gar keine Glitzerstrumpfhose trug, sondern glitzernde Strümpfe, die sie an aufreizenden weißen Strumpfbandhaltern befestigt hatte. Sie wackelte mit dem Po, als sie ihren Slip über ihre wohlgeformten Beine streifte. »Achte auf die Straße!«, ermahnte sie Todd streng, der immer wieder zu ihrem Schoß hinabsah und dem beinahe die Augen aus dem Kopf fielen. Zu dieser nächtlichen Stunde waren kaum Autos unterwegs, und schon gar nicht hier in den West Pennine Moors, bei denen es sich nicht wirklich um eine wilde Moorlandschaft handelte, sondern eher um eine ländliche Gegend, in der sich offenes Gelände mit Stauseen und dichten Wäldern abwechselte. Doch durch dieses Gebiet führten nur eine oder zwei Hauptstraßen, und Straßenlaternen waren rar gesät. Schließlich kam Todd zu dem Schluss, dass er es nicht mehr länger aushalten konnte, und er fuhr auf einen Parkstreifen, doch Cheryl sah sich wenig begeistert um. »Hier?«, fragte sie. »Wir sind doch noch auf der Straße.« »Um diese Zeit ist hier draußen niemand mehr unterwegs«, entgegnete er und öffnete seinen Sicherheitsgurt. »Ich dachte, wir wollten zu unserem Platz?« »Bis dahin sind es aber noch mal fünf Minuten …« »Stimmt, aber da sind wir etwas geschützter als hier.« Sie zog erneut einen Schmollmund. »Bitte.« Todd seufzte und ließ den Motor wieder an. Gut drei Kilometer weiter bogen sie nach links in eine kurze Zufahrt zu einem kleinen Parkplatz ab, der tagsüber von Wanderern und Ausflüglern genutzt wurde, die dort ein Picknick machten, nachts aber fast immer verlassen war. Zu dieser nächtlichen Stunde lag er in pechschwarzer Finsternis unter einem dichten Dach ineinander verflochtener Zweige, das nur schwache Strahlen des frostigen Mondlichts hindurchließ. Dennoch fuhr Todd bis zum äußersten Ende des Parkplatzes etwa hundert Meter von der Zufahrt entfernt. Dort hielt er an, zog die Handbremse und schaltete das Licht aus. Neben ihnen erhob sich eine Wand aus kahlem Dickicht, das in der Dunkelheit jedoch kaum auszumachen war. Dahinter lag tiefe Finsternis, in der sich nichts regte, zumindest nichts, was sie sehen konnten. Normalerweise hätte diese totale Abgeschiedenheit ihnen vielleicht ein leicht mulmiges Gefühl bereitet, aber jetzt waren die beiden scharf aufeinander und regelrecht atemlos vor Vorfreude. Zuerst reagierte nur Cheryl auf den kurzen, schrillen Schrei, der irgendwo ganz in ihrer Nähe ertönte. »Was war das?«, fragte sie und richtete sich kerzengerade auf. »Ist das nicht egal?« Todd fummelte ungeduldig am Knopf seiner Jeans herum. »Im Ernst, Todd … Was war das?« »Keine Ahnung … wahrscheinlich ein Vogel.« »Mitten in der Nacht?« »Ein Lockruf. Wie passend.« Er beugte sich zu seiner Freundin hinüber, drückte seinen Mund an ihren parfümierten Hals und versuchte, seine vorwitzige Hand zwischen ihre Oberschenkel zu zwängen, doch sie presste sie zusammen und stieß ihn weg. »Hör auf! Für mich klang das nicht nach einem Vogel.« Todd, der merkte, dass Cheryl sich nicht einfach nur zierte, richtete sich auf. »Was ist denn los mit dir?« Cheryl starrte aus dem Fenster, hinter dem eisige Nebelschwaden zwischen ineinander verflochtenen nackten Zweigen waberten. »Was ist … wenn hier jemand herumgeistert?« »Hier draußen im Nirwana?« Sie dachte darüber nach und stimmte ihm innerlich zu, dass das wohl höchst unwahrscheinlich war, aber sie hatte dennoch ein mulmiges Gefühl. »Also, ich habe definitiv etwas gehört …« »Es gibt ja auch Nachtvögel, weißt du.« »Im Februar?« Todd zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Aber, he … wenn hier wirklich jemand wäre und uns … keine Ahnung … also wenn uns jemand beobachten wollte, würde er sich doch wohl nicht verraten, indem er bescheuerte Laute von sich gibt, oder?« »Uns beobachten?« Allein die Vorstellung ließ ihre Gesichtszüge erstarren. »Du meinst ein Spanner?« »Hm … ja. Aber wie wahrscheinlich ist das schon um diese Uhrzeit?« Genau in dem Augenblick, in dem er dies sagte, glaubte Cheryl eine Bewegung gesehen zu haben: einen dunklen Schatten, der hinter einen noch dunkleren Baumstamm huschte und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Sie schrie auf und griff nach Todds Hand. »Da ist jemand, ich bin mir ganz sicher!« »Cheryl, da ist niemand. Es ist drei Uhr morgens!« Sie starrte in die Dunkelheit, die sie umgab, und Todd sah, dass sie wirklich Angst hatte. »Was glaubst du denn gesehen zu haben?«, fragte er ruhig. »Keine Ahnung. Vielleicht war es auch eine optische Täuschung.« »Das ist unmöglich, weil es stockdunkel ist.« Todd öffnete die Autotür und stieg aus. Sein dampfender Atem umwaberte ihn, als er die Bäume in der Nähe musterte. Für einen kurzen Moment fühlte auch er sich verwundbar. In der Dunkelheit konnte dieser mysteriöse Jemand ganz nah sein, ohne dass er ihn unbedingt sähe. Aber das war doch lächerlich, oder? Niemand würde so weit hier draußen … Am Rand seines Blickfelds bewegte sich etwas. Er wirbelte herum; ein niedrig hängender Zweig am Parkplatzrand wackelte, als ob ihn soeben jemand gestreift hätte. »He!«, rief er und ging mit großen Schritten auf die Stelle zu. »He, du perverses Schwein!« »Todd, nicht!«, zischte Cheryl. »Guck dir doch wieder ein paar Minderjährige im Internet an, und hol dir einen runter!« »Todd!« Er blieb am Rand des Dickichts stehen, direkt neben dem wackelnden Zweig. »Hier gibt es heute Nacht nichts für dich zu spannen … kapiert?« Seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit, während er in das Unterholz spähte, doch schon nach wenigen Metern sah er nichts weiter als neblige Finsternis. In Wahrheit hatte er den schrillen Schrei, der Cheryl aufgeschreckt hatte, nur halb gehört. Doch wenn er jetzt darüber nachdachte, hatte er in der Tat irgendwie leicht unnatürlich geklungen, als ob – wie hatte Cheryl sich ausgedrückt? – jemand herumgeisterte. Todd starrte noch einmal in das undurchdringliche Dickicht und lauschte angestrengt. Es war so still, so ruhig, als würden die Wurzeln, die Zweige und die Rinde der Bäume zurücklauschen. Er blieb noch ein paar Sekunden stehen, forderte wen auch immer dazu heraus, sich zu erkennen zu geben. »Hey, was für eine Nummer ziehst du hier eigentlich ab?«, fragte Cheryl, die sich ihm von hinten näherte. Ihre hohen Absätze klackerten über den Asphalt. Todd zuckte mit den Schultern. »War nur eine Vorsichtsmaßnahme.« »Du provozierst ihn nur.« »Cheryl, da ist niemand, okay? Ich habe einfach nur auf gut Glück in die Dunkelheit gerufen, aber um die Zeit schleicht hier ja wohl niemand mehr rum.« Sie umklammerte fest seinen Arm. »Na gut, schön … das reicht dann, okay?« »Ich ziehe keine Nummer ab.« Sie führte ihn zurück zum Auto. »Das musst du auch nicht, um mir zu imponieren …« Ihre Worte versiegten, und sie blieben ruckartig stehen. Keine siebzig Meter von ihnen entfernt war am anderen Ende des Parkplatzes ein elektrisches Licht zu sehen. Es war eine einzelne, schwach glimmende Glühbirne, die soeben den schmalen Eingang unter ihr beleuchtete, der zu einer kleinen öffentlichen Toilette führte, so viel wussten sie. Doch es war das erste Mal, dass einer von ihnen diese Birne bemerkte. »Seit wann ist das Licht an?«, fragte Cheryl leise. Todd überlegte. »Es muss die ganze Zeit an gewesen sein.« »Als wir ankamen, habe ich kein Licht gesehen.« »Hast du denn darauf geachtet?« »Nein, aber es wäre uns bestimmt aufgefallen?« Todd steuerte auf das Licht zu, zunächst langsam, doch dann entschlossenen Schrittes. »Was machen wir jetzt?«, fragte Cheryl, die ihm folgte und immer noch seinen Arm umklammert hielt. »Wir sehen nach, ob da jemand ist.« »Äh … und warum?« »Weil wir keine Zuschauer haben wollen, wie du gerade selber gesagt hast.« »Aber du hast doch gesagt, dass sich um diese Uhrzeit niemand hier draußen herumtreibt.« Darauf hatte Todd keine schnelle Antwort parat. Natürlich war es möglich, dass sie einfach auf den Parkplatz gefahren waren und das eingeschaltete Außenlicht an dem Toilettenhäuschen nicht bemerkt hatten, aber das bezweifelte er. Das Tappen ihrer Schritte hallte schaurig, als sie sich dem winzigen Gebäude näherten, dessen schlichte quadratische Umrisse langsam sichtbar wurden. Sie waren noch knapp dreißig Meter von dem Gebäude entfernt, da flackerte die Birne und erlosch. Sie blieben wie erstarrt stehen. Dann ging die Birne flackernd wieder an. »Die Birne funktioniert nicht richtig«, stellte Todd fest. Das Außenlicht der Toilette flackerte noch ein paar Male, dann erlosch es schließlich ganz und blieb aus. »Warte hier … Ich sehe mal nach.« Cheryl blieb, wo sie war, während Todd sich die letzten Meter vorwagte, ein Auge auf die halb offen stehende Tür des Toilettenhäuschens gerichtet, hinter der nasskalte Finsternis lauerte, das andere auf das undurchdringliche düstere Dickicht hinter dem Gebäude, das ebenfalls kompakt, reglos und unheimlich dalag. Das Toilettenhäuschen war kaum größer als ein im Freien stehendes Plumpsklo. Das Gebäude war aus roten Backsteinen gebaut und, was man aber nur bei Tag sah, mit unzähligen obszönen Sprüchen beschmiert. Drinnen gab es einen einzigen engen Gang, an dessen Ende sich ein kaputtes Waschbecken befand, und zwei Toilettenkabinen, die, als Todd sich dort einmal erleichtert hatte, so versifft und übel riechend gewesen waren wie Tierställe. Todd lugte zuerst nur mit dem Kopf durch die Tür und suchte neben dem Türpfosten nach einem Lichtschalter. Er ertastete zwei Schalter, und als er auf den ersten drückte, flammte die Glühbirne im Inneren des Häuschens flackernd auf und offenbarte einen schmutzigen Fliesenboden und feuchte Putzwände. Er warf einen Blick in die beiden Toilettenkabinen. Die erste war leer und der Klodeckel geschlossen, doch in der zweiten stand der Deckel offen, und jemand hatte das Holzgebälk über der vollen Kloschüssel über und über mit Kot beschmiert und an einer Stelle offenbar sogar versucht, etwas damit zu schreiben. Es war kaum überraschend, dass es in dieser Zelle bestialisch stank, und Todd war froh, schnell den Rückzug antreten zu können. Als er das Häuschen verließ, fing auch die Innenbeleuchtung an zu flackern und laut zu surren. »Ein Wackelkontakt«, sagte er und ging wieder zu Cheryl. »Wahrscheinlich ist das Licht schon den ganzen Tag an- und ausgegangen.« »Aber warum war das Licht überhaupt angeschaltet?«, fragte sie, als sie über den Parkplatz zurückgingen. »Irgendjemand hat es angelassen … das ist doch keine große Sache.« »Weißt du was, Todd …« Sie betrachtete erneut den im dichten Nachtnebel liegenden Wald, der sie umgab. »Ich glaube, wir sollten einfach nach Hause fahren.« Sie erreichten den Polo, und er sah sie über das Dach hinweg zutiefst enttäuscht an. »Ach … komm schon, Cheryl!« Sie betrachtete ihn eingehend. Todd war der Gentleman in Person – er hatte ihr Unbehagen ohne zu zögern ernst genommen, obwohl sie wahrscheinlich Gespenster gesehen hatte –, aber er war auch ein Mann, und sie waren schon seit mehr als einer Woche nicht mehr intim miteinander gewesen. Kein Wunder, dass er so geknickt aussah. »Dann lass uns wenigstens näher an die Straße heranfahren«, entgegnete sie, »damit wir notfalls schnell abhauen können.« »Ganz wie du willst.« Sie stiegen ins Auto. Todd drehte den Schlüssel um, legte den Rückwärtsgang ein und wendete. Fingerähnliche Zweige griffen zuerst nach der Windschutzscheibe und dann nach den Seitenfenstern, während er den Wagen herummanövrierte. Als sie über den Parkplatz zurückfuhren, nahm Cheryl das Toilettenhäuschen ins Visier. Innen- und Außenbeleuchtung waren aus. »Selbst wenn da jemand sein sollte, könnte er in dieser Finsternis nicht viel sehen«, stellte Todd vergnügt fest. »So was machen nur dreckige alte Säcke«, entgegnete sie angewidert. »Spannen ist heutzutage ein Volkssport. Und den betreiben nicht nur alte Knacker, sondern auch athletische Schönlinge und alle möglichen anderen Typen.« »Du scheinst dich ja gut auszukennen.« »He, ich bin ein Mann von Welt.« Todd versuchte, die angespannte Situation aufzulockern, doch er konnte nicht anders, als sich noch einmal umzudrehen und seinen Blick über den leeren, vom Mondlicht gesprenkelten Asphalt schweifen zu lassen. Es war komisch, wie schwer es war, den Gedanken wieder aus dem Kopf zu bekommen, wenn man sich erst einmal eingeredet hatte, an einem einsamen dunklen Ort nicht allein zu sein. Doch in Anbetracht dessen, dass Cheryl sich gerade mit der Zungenspitze die Lippen benetzte, lenkte ihn dieser Gedanke auch nicht allzu lange ab. »Ich hoffe, du gibst mir gleich eine Vorstellung davon, was für ein Kerl du bist«, sagte sie. Todd grinste, während er fuhr. Diesmal hielten sie an der Einfahrt auf den Parkplatz, etwa dreißig Meter von der Einmündung in die Hauptstraße entfernt. An der Seite, an der die Hauptstraße vorbeiführte, war ein schmaler Streifen Mondlicht zu sehen, ansonsten waren sie von dichtem Gestrüpp umgeben. Todd öffnete hastig den Reißverschluss seiner Hose, zog sie bis auf die Knie herunter und ließ die Unterhose folgen. Als sein angeschwollener Penis zum Leben erwachte, stieg Cheryl über den Schaltknüppel, wandte sich ihm zu und setzte sich rittlings auf ihn. Er drang problemlos und schnell in sie ein. Sie stöhnte leise, während sie ihn ritt, schlang die Arme um seinen Hals, senkte den Kopf und küsste gierig seine Lippen; ihre Zungen umspielten einander. Cheryl schloss die Augen, um sich von nichts anderem ablenken zu lassen und jede Millisekunde des Entzückens so intensiv auszukosten wie nur irgend möglich. Und dann machte sie die Augen aus irgendeinem unerklärlichen Grund wieder auf. Nur ganz kurz und flüchtig – doch in diesem Augenblick stellte sie fest, dass sie nicht allein waren. Im ersten Moment dachte sie, dass die große Gestalt mit den leuchtenden grünen Augen auf dem Parkplatz direkt hinter ihnen stünde, doch dann wurde ihr klar, dass sie das Spiegelbild der Gestalt auf der Innenseite der Heckscheibe sah. In Wahrheit stand sie vor ihrem Auto. Als wäre er telepathisch mit Cheryl verbunden, bemerkte Todd, dass etwas nicht in Ordnung war. Er riss die Augen auf, starrte an Cheryls plötzlich steif gewordener Schulter vorbei und nahm die Gestalt ins Visier, die etwa zwanzig Meter vor ihnen stand. Er konnte nichts weiter erkennen, nur dass sie irgendwie gespannt wirkte, als stünde sie in einer teilweise verdrehten Position. Im gleichen Augenblick wurde Todd auch der Grund dafür klar. Die Gestalt hielt irgendein komplexes, hightechmäßig aussehendes Gerät. Sie schien eine schwer zu spannende Schnur bis zur Schulter nach hinten gezogen zu haben. Todd rang nach Luft, es schnürte ihm die Kehle zu … Es waren Pfeil und Bogen. Es folgte ein gedämpftes Ploing. Und dann zersprang die Windschutzscheibe. Wenn Detective Superintendent Gemma Piper jemanden zur Schnecke machte, dann richtig. Nicht umsonst wurde sie »die Löwin« genannt. Wenn Gemma brüllte, wackelten die Flure im Gebäude des New Scotland Yard, und sie ging dabei sehr kontrolliert und wortgewaltig zur Sache. Auch wenn ihre Stimme noch nett klang, konnten ihre Worte vernichtend sein, sodass selbst unbeteiligte Zuhörer zusammenzuckten. Und was gerade abging, war nicht nett. Heck saß allein vor ihrem Büro und hörte dem durch die Tür dringenden Donnerwetter zu. Aufgrund seines höheren Dienstgrads war Bob Hunter als Erster in das Büro der Superintendentin einbestellt worden. Er hatte es vor einer guten halben Stunde betreten, und Gemma war noch nicht fertig mit ihm. Ihre Stimme drang wie Peitschenschläge durch die geschlossene Tür und hallte über den Hauptflur des Dezernats für Serienverbrechen. Nach allem, was er mitbekam, hatte sie Hunter zunächst für seine Art und Weise abgekanzelt, in der er die Ermittlungen geführt und zugelassen habe, dass sie völlig in den Sand gesetzt worden seien, und war jetzt zu allgemeinen Beschimpfungen übergegangen. Floskeln wie »prahlerische Selbstüberschätzung«, »clowneske Missachtung der Regeln« oder »aus dem Rahmen fallende Unfähigkeit« klangen bewusst unspezifisch. In Anbetracht der Tatsache, dass die M1-Morde offiziell als aufgeklärt galten, schien das in gewisser Hinsicht alles ein wenig unfair. Die Beweise, die in dem Wrack des Transporters gefunden worden waren und unter denen sich auch die Pistole befand, die bei allen Morden verwendet worden war, hatten stark darauf hingedeutet, dass es sich bei den Savage-Zwillingen um die Täter handelte. Darüber hinaus hatte die Untersuchung der Todesursache, die die Rückkehr des Teams aus Milton Keynes zu seiner Basis verzögert hatte, vor zwei Tagen ergeben, dass der Tod der beiden Männer durch einen Unfall verursacht worden war, sodass im Hinblick auf ihr Ende eigentlich keine weiteren Fragen mehr offen sein sollten. Das Problem war, dass die Medien, die sich monatelang wie Haie im Blutrausch auf diese Geschichte gestürzt hatten, auch jetzt, da der Fall der M1-Morde abgeschlossen war, nicht bereit waren, ihn zu den Akten zu legen. Nachdem die Untersuchung der Leichen abgeschlossen war, waren die Details der Ermittlungen bekannt gemacht worden, und die Journalisten hatten sich darüber hergemacht, wild entschlossen, unterlaufene Fehler aufzudecken. Es schien beinahe so, als ob die Taten von zwei kaltblütigen Serienmördern nicht ausreichten, um den Tod von acht Teenagerjungen in den Medien breitzutreten. Jeder Fehler, der den an der Erfassung des gestörten Duos Beteiligten unterlaufen war, musste auf der Stelle schonungslos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden, als ob diese Fehler genauso verabscheuungswürdige Sünden darstellten wie die Morde selbst. Im Grunde hatte Heck gegen diese Sichtweise nichts einzuwenden – es war der Job der Polizei, Mörder zu fassen, und wenn ihr das nicht gelang, sollte man sie fragen dürfen, warum sie versagt hatte. Doch die Jagd nach dem M1-Phantom hatte in ganz Südengland weitverbreitete Panik geschürt und das Ermittlerteam einem unerträglichen Druck ausgesetzt. Von allen möglichen Ebenen hatte es Einmischungen gegeben, sowohl aus dem Polizei- als auch aus dem Justizapparat. Jeder – vom Premierminister bis hin zum gewöhnlichen Kleinkriminellen – hatte mit Nachdruck die Aufklärung des Falls verlangt. Erschöpfung hatte sich breitgemacht, mental und physisch, und so war es kein Wunder, dass dem Team Fehler unterliefen: Fehler beim Verfolgen von Spuren, Verzögerungen beim Aktualisieren von Computerdateien, unschuldige Verdächtige, die von überarbeiteten Beamten hart rangenommen worden waren, und so weiter. Die Enthüllung, dass Jordan Savage bereits in einem frühen Stadium der Ermittlungen ins Visier der Polizei geraten, dann jedoch als Verdächtiger ausgeschlossen worden war, woraufhin er und sein Bruder noch fünf weitere Morde begangen hatten, war für die Medien ein gefundenes Fressen. »Bilanz der Polizei: 2 Tote, Bilanz der Kriminellen: 9 Tote«, lautete die Schlagzeile einer Zeitung. Die Unterzeile dazu: »Wie können sie es wagen, von einem Erfolg zu sprechen?« Die Schlagzeilen reichten aus, um selbst Heck vor Schuldgefühlen erschaudern zu lassen, und er war immerhin derjenige, der den Fall gelöst hatte. Er wusste nicht, wohin er blicken sollte, als die Tür zu Gemmas Büro aufging und Bob Hunter es steif verließ. Der Detective Inspector blinzelte, doch die einzigen Farbtupfer, die nach der Zurechtweisung auf seinem Gesicht zu erkennen waren, waren zwei hellrosa Punkte, auf jeder Wange einer. Er wies mit dem Daumen über seine Schulter auf die halb geschlossene Tür, drehte sich um und marschierte langsam und mit behutsamen Schritten den Flur entlang. Heck stand auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bevor er anklopfte. »Ja?«, ertönte eine gereizte Stimme. Heck trat ein und schloss dir Tür hinter sich. »Aha … der Beamte, der die Festnahme durchgeführt hat!«, stellte Gemma fest. »Beziehungsweise etwas in dieser Richtung unternommen hat.« Ihr spartanisch eingerichtetes Büro war immer penibel ordentlich und angesichts ihres hohen Dienstgrades überraschend klein. Das erleichterte es ihr natürlich, es mit ihrer überragenden Persönlichkeit auszufüllen. Detective Superintendent Gemma Piper war beeindruckend. Sie war eine Naturgewalt, und ihr umwerfendes Äußeres half ihr in dieser Hinsicht. Es hatte etwas Ungestümes, Löwenhaftes (daher ihr Spitzname): wildes aschblondes Haar, blaue Augen, rote Lippen, makellose Gesichtszüge. Gemma verfügte über alle Attribute erlesener Weiblichkeit, nur dass sich diese bei ihr eher zu einer Kriegerin zusammenfügten als zu einer Prinzessin. Darüber hinaus war sie groß und sportlich, was sie durch ihre Kleidung betonte. Männer konnten sich in Gemmas Gegenwart aus allen möglichen Gründen fühlen, als seien sie auf einen Wackelpudding reduziert. Heck wusste das besser als jeder andere, denn er hatte eine Zeit lang mit ihr zusammengelebt, was allerdings schon viele Jahre zurücklag. »Guten Morgen, Ma’am«, sagte er. Sie zeigte auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Er setzte sich. »Weißt du, warum ich dich sprechen will?« Sie verlagerte ihr Gewicht nach vorn, die Fingerspitzen zu einem Dreieck geformt. Ihre Wangen waren blass, doch ihr Ärger schien ein wenig abgeflaut zu sein, vermutlich weil sie ihn zu einem Großteil bereits an Bob Hunter abgelassen hatte. Allerdings schwang in ihrem Tonfall immer noch eine bedrohliche Schärfe mit. »Ja, Ma’am.« »Das hier …«, sie warf einen die M1-Morde betreffenden Aktenordner auf den Schreibtisch, wo er landete wie ein Pflasterstein, »… sollte nämlich mit der Aufschrift ›Räuber und Gendarm‹ versehen sein. Vor allem der letzte Part. Ich rede von dem Part, bei dem sich die angerichteten Schäden auf Hunderttausende von Pfund belaufen … verursacht durch eine wilde Autoverfolgungsjagd, die du angezettelt hast. Den Part, in dessen Verlauf die beiden Täter furchtbare, tödliche Verletzungen erlitten haben. Ich meine, die beiden Hauptverdächtigen zu töten, Heck … so ein Fauxpas setzt allem, was bei dieser Ermittlung sonst noch schiefgegangen ist, die Krone auf.« »Ma’am …« Heck zuckte hilflos mit den Achseln. »Die Kerle hatten eine Menge zu verlieren. Sie hätten sich nie still und ruhig ergeben.« »Das ist mir schon klar, trotzdem sind wir verantwortlich für unsere Taten.« »Wenn wir uns gegenüber Hinz und Kunz zu verantworten haben, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Für die ist alles in bester Ordnung.« »Hinz und Kunz sind nicht unsere Kumpel, Heck!«, entgegnete sie mit wieder schärfer werdender Stimme. »Wenn wir etwas tun, womit die Leute da draußen nicht einverstanden sind, werden sie brutal über uns herfallen.« »Ma’am …« Heck schlug seinen ernsthaftesten Ton an. »Dir ist sicher klar, dass ich keine andere Wahl hatte, als die Verdächtigen zu verfolgen.« »Obwohl sie bewaffnet waren und du nicht?« »Tja … Ja. Ich wusste, dass es riskant war, aber für mich war das Risiko geringer, als es für die Allgemeinheit gewesen wäre, wenn die beiden auf freiem Fuß geblieben wären. Wenn du mich fragst, hätte ich natürlich bewaffnete Verstärkung mitgenommen, wenn ich hingefahren wäre, um eine Verhaftung vorzunehmen, aber so ist es nun mal nicht gewesen.« Gemma dachte über seine Worte nach. Es war ihr anzusehen, dass sie hin und her gerissen war. Einerseits war Hecks Vorgehen, das zu dem tödlichen Unfall geführt hatte, rücksichtslos gewesen, andererseits hatte er außergewöhnlichen Mut bewiesen, und das wusste sie bei ihren Beamten sehr zu schätzen. »Selbst wenn die Verdächtigen entkommen wären, hätte ich nicht zulassen können, dass uns dieser Transporter durch die Lappen geht«, fuhr er fort. »Er war knallvoll mit Beweisen.« »Aber dass er uns in die Hände gefallen ist, war wohl kaum etwas, was es groß zu feiern galt. Immerhin sind dabei zwei Männer gestorben.« »Ich weiß.« Sie setzte sich zurück. »Es dürfte dich nicht überraschen zu erfahren, dass Max Humphreys sich – ziemlich deutlich – von den Statements distanziert hat, die Bob Hunter auf der Treppe des Krankenhauses abgesondert hat.« »Nein, das überrascht mich in der Tat nicht.« Detective Chief Superintendent Max Humphreys von der Thames Valley Police, der offizielle Leiter des Ermittlungsteams im Fall des M1-Phantoms, war Heck von Anfang an als ein wenig inspirierender Teamleiter erschienen – zu alt und dienstmüde, zu desorganisiert und in einem beängstigenden Maß verantwortungsscheu. Aus all diesen Gründen und in Anbetracht der Fehler, die später noch ans Licht kommen würden, war die triumphierende Attitüde, die Bob Hunter den Medien gegenüber an den Tag gelegt hatte, sehr fehl am Platz gewesen. »Genau genommen bekümmert mich nicht so sehr, dass du an dieser extrem unvernünftigen Pressekonferenz beteiligt warst«, stellte Gemma klar. »Ich weiß, dass du Hunters Anweisungen befolgt hast, und habe von den Detective Constables Quinnell und McCluskey bereits aus erster Hand erfahren, dass du gegen diese Idee warst. Was mich jedoch sehr wohl bekümmert, ist, wie dieser ganze Fall geendet hat. Was uns hätte Lorbeeren bescheren sollen, hat uns stattdessen Spott eingebracht. Die Medien reißen uns den Arsch auf.« Heck schnaubte verächtlich. »Um fair zu sein, die Medien haben selber dazu beigetragen, das M1-Phantom in ein Monster zu verwandeln. Sie haben den Namen erfunden, sie haben die schwulenfeindliche Stimmung geschürt. In Wahrheit ist ihnen das Ganze zu schnell zu Ende gegangen. Sie wollten immer mehr – einen Schauprozess, exemplarische Urteile und vielleicht auch noch ein langwieriges Berufungsverfahren. Und jetzt können sie all das nicht haben und suchen nach Sündenböcken …« »Bist du fertig?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Man könnte ja fast meinen, du glaubst, dass die Ermittlungen in diesem Fall gut gelaufen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Hör zu, Chief Superintendent Humphreys …« »Max Humphreys Unzulänglichkeiten sind mir sehr wohl bewusst. Er wird sich bei der Thames Valley Police den gleichen Anschiss abholen, den ihr verpasst bekommt. Aber Max Humphreys ist ein Landei, wohingegen wir eigentlich Profis sein sollten. Wir haben ihn beraten, die Ermittlungen durchgeführt und, wie es aussieht, Dinge übersehen, die sich direkt vor unserer Nase befanden.« Heck nickte, unfähig, zu widersprechen. »Deshalb habe ich drei Tage damit zugebracht, alles noch einmal durchzugehen. Bis dahin war mir nämlich noch nie ein Fall untergekommen, bei dem wir einfach keinen Schritt weitergekommen sind.« »Das war auch eine lobenswerte Initiative. Also herzlichen Glückwunsch. Und das meine ich ehrlich, Heck.« Sie seufzte, der Ärger fiel schließlich von ihr ab. »Gott allein weiß, wie das alles ausgegangen wäre, wenn du nicht getan hättest, was du getan hast. Aber – und ich weiß sehr wohl, dass es nicht so wichtig erscheint, wenn man bedenkt, dass du um ein Haar dabei draufgegangen wärst – dies ist nicht die Art, in der die Oberen das Dezernat für Serienverbrechen dargestellt sehen möchten. Als eine Truppe von Trampeln, die wild drauflosjagen. Erst recht nicht, nachdem die Ermittlungen verpfuscht wurden. Ich kann es mir wohl schenken zu erwähnen, dass die Familie Savage auf eine öffentliche Untersuchung der Vorgänge dringt. Der Gerichtsmediziner hat uns von jeglichem Fehlverhalten entlastet, der Fall ist offiziell abgeschlossen, und es liegt in niemandes Interesse, das Ganze noch einmal aufzurollen, deshalb glaube ich, dass uns das Gott sei Dank erspart bleibt. Aber letzten Endes steht unsere Professionalität auf dem Spiel. Wir müssen das Chaos so gering halten wie nur irgend möglich.« »Hat das schon mal jemand den Kriminellen erzählt?« Sie zog erneut eine Augenbraue hoch. »Versuchst du gerade, besonders schlau zu sein?« »Nein … Aber dieser Punkt ist nicht gerade unerheblich.« »Auf die eine oder andere Weise werden die Kriminellen zur Strecke gebracht. Meine Befürchtung ist, dass das Dezernat für Serienverbrechen mit ihnen zur Strecke gebracht wird.« »Wie das? Wir haben Mördern immerhin das Handwerk gelegt …« »Wir haben auch dem Nice Guys Club das Handwerk gelegt. Und du hast ja gesehen, was uns das für eine schlechte Presse beschert hat.« »Das lag an Laycock.« »Wofür er bezahlt hat«, stellte sie klar. »Was uns allen eine heilsame Lehre sein sollte.« Heck schürzte die Lippen und nickte. Es stand außer Zweifel, dass sie in diesem Punkt recht hatte. Die Ermittlungen im Nice-Guys-Fall, bei denen er eine zentrale Rolle gespielt hatte, hatten auf beiden Seiten des Gesetzes zu mehreren Toten geführt, was eine peinliche interne Untersuchung nach sich gezogen hatte, an deren Ende der Commander der National Crime Group, Jim Laycock, wegen grober Fahrlässigkeit degradiert und seines Postens enthoben worden war. Wenn es nach Heck gegangen wäre, wäre gegen Laycock wegen krimineller Machenschaften ermittelt worden, doch dafür hatte es nicht ausreichend Beweise gegeben. »Die Sache ist die, dass die Aufmerksamkeit jetzt auf uns gerichtet ist«, sagte Gemma. »Auf das Dezernat für Serienverbrechen. Wir sind eine Schlüsselabteilung der National Crime Group. Wir sind Teil der leuchtenden neuen Zukunft des britischen Gesetzesvollzugs. Oder waren es zumindest, bis wir angefangen haben, regelmäßig Mist zu bauen.« »Regelmäßig würde ich nun auch nicht gerade sagen …« »Einmal ist schon einmal zu viel, Heck! Bei zweimal haben wir schon ein Problem, verdammt.« Das war ein deutlicher Beweis dafür, wie wütend sie war: Gemma fluchte fast nie. Sie hielt erneut einen Moment inne, um die Fassung zurückzugewinnen. »Das Erste, was ich also tun werde, ist, einen Fulltime-Pressesprecher einzustellen.« Heck schaute sie fragend an. »Nur für uns«, fuhr sie fort. »Einen Zivilisten … einen richtigen Profi. Jemanden, der uns ein weitaus professionelleres Gesicht verleiht.« »Gibt das Budget das denn her?« »Normalerweise nicht, aber wie du weißt, wird Des Palliser am Ende des nächsten Monats pensioniert. Wenn ich ihn nicht ersetze, könnte es gehen.« »Du willst einen Detective Inspector aus dem operativen Dienst durch einen Zivilisten ersetzen?« »Er ist wohl kaum operativ tätig. Er schiebt seit achtzehn Monaten Innendienst, was bedeutet, dass er Akten sortiert und Telefone bedient. Ich bin sicher, wir können ohne ihn auskommen.« »Irgendjemand muss diese Arbeit machen.« Sie sah ihn aufmerksam an. »Bob Hunter.« Heck dachte, er hätte sich verhört. »Du ziehst Hunter aus dem Verkehr?« Gemma schob die Papiere auf ihrem Schreibtisch umher. »Bob hat seine besten Tage hinter sich. Die Sache in Milton Keynes war in letzter Zeit nicht das einzige Mal, dass sein Urteilsvermögen versagt hat.« »Aber wir sind doch sowieso schon unterbesetzt.« »Bob Hunter wird fürs Erste Innendienst schieben, und damit basta. Wir sind unterbesetzt, das sehe ich genauso … aber das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist eine tickende Zeitbombe da draußen auf dem Schlachtfeld. Und jetzt lass uns wieder an die Arbeit gehen. Wir haben alle viel zu tun.« Heck stand auf. Gemma hatte sich bereits in einen anderen Bericht vertieft. Er steuerte die Tür an. »Gute Arbeit, wie du diesen Fall gelöst hast«, sagte sie hinter ihm. Er blickte sich um, doch sie sah nicht auf. »Ich meine das ehrlich, wie ich schon sagte. Aber wir haben uns allesamt nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Und ich werde jede erforderliche Maßnahme ergreifen, um das wieder auszubügeln.« Heck nickte und verließ das Büro. Kate war froh, dass wenigstens Frühling war. Na gut, einige Gegenden von Liverpool sahen zu keiner Jahreszeit besonders einladend aus, und Toxteth gehörte zweifellos dazu, erst recht an einem regnerischen Tag wie diesem. Doch der bloße Umstand, an diesem Abend vor dem Ladenlokal stehen zu können und sich nicht einmummeln zu müssen wie ein Eskimo, war schon ein Segen. Den Winter, der gerade zu Ende gegangen war, als »bitter« zu bezeichnen wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Ein arktischer Luftstrom hatte dem gesamten Vereinigten Königreich von Mitte Dezember bis weit in den Februar hinein rekordverdächtige Tiefsttemperaturen und eine beständige Schneedecke beschert. Für die Kinder, deren Schulen wiederholt geschlossen worden waren, war das natürlich ein Riesenspaß gewesen. Doch es gab auch ungeheuer viele Menschen, für die dieses Wetter die Hölle auf Erden gewesen war. Das Treibgut der Stadt – die Einsamen, die Obdachlosen, die Kranken und die von Drogen Benebelten – taten ihr Bestes, um warm und trocken zu bleiben und satt zu werden, doch durchgeweichte Pappkartons, urinbefleckte Schlafsäcke und zugige Betonunterführungen boten wenig Schutz, wenn Eis und Schnee ihnen so brutal zu Leibe rückten. Kate paffte an ihrer Zigarette und sah es als ein Wunder an, dass ihre Schützlinge diesen letzten Winter überhaupt allesamt überlebt hatten – und sie waren noch nicht ganz aus dem Gröbsten heraus. Es war sieben Uhr, und das schlechte Wetter schien sich endlich ein wenig zu bessern, allerdings war es immer noch feucht und kalt. Sie war dabei, abzuschließen und bündelweise in Plastik eingewickelte Secondhandkleidung in den Kofferraum ihres ramponierten alten Ford Fiesta zu laden. Wenn es Nacht wurde, verwandelte sich die Seitenstraße, in der sich der Wohltätigkeitsladen und ansonsten kein weiteres Geschäft befand, in eine stockfinstere Straßenschlucht. Ganz am Ende der Straße glimmte nur ein einziges gelbes Licht, die Straße war schmal und wurde von hohen, düsteren, fensterlosen Industriegebäuden gesäumt, sodass nach oben hin nur ein schmales Stück Himmel zu sehen war. Kate schauderte, als sie das letzte Kleidungsbündel in den Kofferraum lud. Sie würde den ganzen Kram zum Whitechapel Centre an der Langsdale Street bringen und dort ein wenig bleiben, um zu sehen, ob sie für den Abend noch eine zusätzliche Freiwillige gebrauchen konnten. Sie hatte in letzter Zeit viele Stunden geopfert, aber das machte ihr nichts. Sie würde nicht gut schlafen können in dem Wissen, dass es draußen Menschen gab, die es weder warm noch trocken hatten. Sie drückte ihre Zigarette aus, zog ihren Afghanenmantel an, band sich ein Tuch um den Hals und wollte gerade die Lichter ausschalten, als sie irgendwo aus dem hinteren Bereich des Ladens ein lautes metallisches Scheppern hörte. Sie hielt inne und lauschte. Es folgte kein weiteres Geräusch. Da sie annahm, dass in der Küche irgendetwas umgefallen war, ging sie hinein, um nachzusehen. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch den Abfalleimer leeren musste – doch alles schien an Ort und Stelle zu sein. Ihr Messer, ihre Gabel und ihr Teller befanden sich noch auf dem Abtropfbrett, wo sie die Utensilien am Mittag hinterlassen hatte. Ihre Kaffeetasse stand auf ihrem Stammplatz neben dem Wasserkocher, dessen Stecker sie sicherheitshalber herausgezogen und dessen Kabel sie um den Kocher herumgelegt hatte. Die Tür des Kühlschranks und die Klappe der Mikrowelle waren geschlossen; das Spültuch und der Schwamm lagen in der Spülschüssel, die Flasche Fairy Liquid stand auf der Fensterbank. Kate zuckte mit den Schultern, zog den prall gefüllten Plastiksack aus dem Abfalleimer, verknotete ihn an der Oberseite und öffnete die Hintertür. Erst in diesem Moment kam ihr in den Sinn, dass das Geräusch, das sie gehört hatte, vielleicht von draußen gekommen war. Das wäre nicht weiter ungewöhnlich. Immerhin war dies eine Stadt, in der die Menschen zu jeder Uhrzeit irgendwelche Dinge taten, sodass laute Geräusche normal waren. Trotzdem zögerte sie, den finsteren Hof zu inspizieren. Das einzige Licht da draußen fiel aus dem Inneren des Ladens durch das schmutzige Fenster und die schmale Hintertür. Am Himmel schimmerte kaum merklich ein fahler Schein – das Restglimmen der Straßenbeleuchtung in der Umgebung, doch keine Lampe leuchtete direkt hinunter in den Hof. Kate verharrte auf der Treppe. Nach allem, was sie sah, schien alles so zu sein, wie es sich gehörte: der Müllwagen auf Rädern, der Eimer und der Wischmopp, die Reihe leerer Blumentöpfe. Es war nichts Verdächtiges zu sehen. Nur dass das hintere Tor offen stand. Das war für sich genommen keine große Sache, obwohl Kate sicher war, dass sie das Tor vorhin geschlossen hatte. War das das Geräusch gewesen, das sie gehört hatte? War jemand über das Tor gestiegen, um nachzusehen, ob es hier etwas zu holen gab, und hatte das Tor aufgemacht, um den Hof wieder zu verlassen? Natürlich war dieser Jemand dann wieder verschwunden, an diesem Ort gab es schließlich nicht viel zu stehlen. Ihre Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte sehen, dass sie allein war. Es gab weder einen baufälligen Schuppen, hinter dem sich jemand verstecken konnte, noch einen verborgenen Winkel, in dem jemand ungesehen kauern konnte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie Gespenster sah, schritt mutig zur Mülltonne, warf den Plastiksack hinein und ging weiter bis zum Tor. Sie trat sogar vor das Tor. Die Kopfsteinpflastergasse war nicht besonders vornehm, aber das traf in diesem Teil der Stadt auf alle Straßen zu. Natürlich gab es keine weiteren Autos, niemand lud Waren ein oder aus. Aber das bedeutete zumindest, dass sie zu beiden Seiten freie Sicht bis zum Ende der Gasse hatte. Zur Linken endete sie nach etwa vierzig Metern vor einer nackten Ziegelsteinmauer. An jedem Hauseingang lagen Abfälle herum. Nach rechts mündete sie nach gut achtzig Metern in eine angrenzende Straße. Selbst dort beschien die Straßenbeleuchtung nur einen schmalen Streifen, in dem träge ein Nebelschleier waberte. Das war natürlich unheimlich, wenn auch nicht ungewöhnlich Kate starrte das Gewaber ein paar Sekunden lang wie hypnotisiert an. Sie befanden sich in der Nähe des Flusses. Und es war erst April, rief sie sich in Erinnerung. Das Wichtigste war, dass niemand umherschlich. Sie ging zurück in den Hof, achtete diesmal darauf, das Tor zu schließen und zu verriegeln, ging wieder in das Gebäude, schloss die Tür hinter sich ab, machte die Lichter aus und verließ den Laden. Ihr Auto war eine ziemlich alte Karre, weshalb die Heizung eine Ewigkeit brauchte, um auf Touren zu kommen. Kate zog sich ihre Handschuhe an, drehte den Schlüssel im Zündschloss und steuerte den tuckernden alten Wagen die Straße entlang. Was auch immer das für ein Geräusch gewesen war, es war schon merkwürdig, dass man so viele Jahre im Herzen der Stadt arbeiten konnte, und trotzdem kamen einem die trostlosen Fassaden und die öden, leeren Straßen noch manchmal bedrohlich vor. Vielleicht war es die Art, in der das Licht in die Steine einsickerte oder in der sich die Schatten in jeder Ecke und jedem Winkel zusammenzuballen schienen. Man war zwar im Stadtzentrum von Menschen umgeben, und doch war es der Ort auf der Welt, an dem man sich am ehesten isoliert und bedroht fühlen konnte. Wie viel schlimmer musste es erst für diejenigen sein, die die endlosen Weiten der Stadt bevölkerten und keinen Platz hatten, den sie ihr Zuhause nennen konnten. Passend zu ihren Gedanken und bevor Kate auch nur die nächste Kreuzung erreicht hatte, strichen ihre Scheinwerfer über eines dieser mitleiderregenden Exemplare der Menschheit. Es kauerte in einem mit Müll übersäten Eingang. Zuerst sah sie nur eine schmuddelige, an den Rändern ausgefranste und ekelhaft befleckte Steppdecke. Die Gestalt, die sich unter der Decke zusammengerollt hatte, zitterte erkennbar. Sie fuhr an den Bordstein, zog die Handbremse, ließ den Motor jedoch laufen, als sie ausstieg, damit es im Inneren des Wagens warm wurde. Der arme Teufel musste mitbekommen haben, dass sie da war, machte jedoch keine Anstalten, zu ihr aufzublicken. »Hallo«, sagte Kate und näherte sich der Gestalt vorsichtig. Selbst jemand mit Erfahrung im Umgang mit Obdachlosen musste ein wenig Vorsicht walten lassen – einige von ihnen waren so geschädigt, dass sie beinahe animalisch reagierten, wenn sie erschreckt oder gestört wurden. »Kann ich Ihnen helfen?« Keine Antwort. Die zugedeckte Gestalt zitterte weiter. Gott allein wusste, wie lange diese elende Kreatur schon da draußen ausharrte. »Ich heiße Kate. Ich betreue den Wohltätigkeitsladen dahinten am Ende der Straße. Wissen Sie … es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssen. Ich bin sicher, dass ich Ihnen helfen kann.« Kate ging in die Hocke. »Ich bin gerade auf dem Weg zu einer der Obdachlosenunterkünfte in der Innenstadt. Warum steigen Sie nicht einfach in mein Auto, und ich nehme Sie mit? In einer halben Stunde löffeln Sie eine heiße Suppe und haben ein richtiges Bett, in dem Sie schlafen können. Sie können sich waschen, Ihre Kleidung wechseln …« Wer auch immer unter der Decke lag, hörte auf zu zittern, als höre er auf einmal zu. »Bitte«, sagte Kate aufmunternd, langte nach vorn und schlug die zerschlissene Decke um. »Lassen Sie mich Ihnen helfen …« Die Gestalt sprang auf. Bevor sie sichs versah, war sie diejenige, die in die verdreckte Decke eingewickelt war. Sie schlug mit dem Rücken auf dem Bürgersteig auf, rang schockiert nach Luft, konnte jedoch kaum atmen, da die Decke jetzt eng um sie geschnürt wurde – als ob sie schnell und effizient verpackt werden würde. Etwas wurde ihr um die Hüfte gelegt – ein Seil oder ein Gürtel –, und ihre Arme wurden fest an ihren Seiten verschnürt. Jemand hob sie mühelos mit beiden Armen hoch. Kate stieß erstickte Schreie aus, obwohl sie wusste, dass niemand sie hören konnte. Sie wurde auf die Rückbank ihres eigenen Autos verfrachtet und hatte das Gefühl, dass zusätzliche Riemen befestigt wurden. Dann wurde eine weitere Decke über sie geworfen. Im nächsten Augenblick stieg jemand auf den Fahrersitz, knallte die Tür zu und legte den Gang ein. Sie schrie erneut. Vergeblich. Das treulose Auto rumpelte die schmale Straße entlang, als ob der kurze, entsetzliche Zwischenfall sich nie zugetragen hätte. »Leck mich am Arsch, Heck!«, platzte Shawna McCluskey heraus. »Das war ich nicht.« »Oh doch, sie war’s«, versicherte Heck der Traube von Detectives, die sich im Gewölbe des Pubs um ihn und Shawna drängten. »Ich fahre hintenrum, um diesen Schwachköpfen den Weg abzuschneiden. Als ich aufblicke, sehe ich auf der anderen Seite des Pubs zwei Uniformen auf mich zukommen. In einer von beiden steckt Shawna. Die beiden Typen, hinter denen sie her sind, sehen mich in meinem Panda und hauen über den Rasen ab. Shawna läuft auf den Rasen, um sie abzufangen. Bestes Rugby-Tackling, das ihr je gesehen habt, sage ich euch. Sie hat dieses riesige Arschloch voll umgenietet. Um ein Haar hätte sie ihm das Licht ausgepustet.« Allgemeines Gelächter. »Das war ich nicht«, stellte Shawna zum x-ten Mal klar. »Und was hatte dieser Typ noch mal angestellt?«, fragte Des Palliser. »Er hatte nur irgendeinem Arschloch während einer Schlägerei in dem Pub die Nase und ein Ohr abgebissen«, erwiderte Heck. »Der andere hat dem Wirt die Scheiße aus dem Leib geprügelt, als er dazwischengehen wollte. Jedenfalls hat sie erst den weißen Hai aus dem Rennen genommen und danach auch noch den anderen k.o. geschlagen. Hat ihn mit einem einzigen Faustschlag umgenietet.« Es wurde noch mehr gelacht. »Auch das war ich nicht.« Shawna ließ nicht locker. »Das war Ian Kershaw. Wir hatten ihm den Spitznamen ›Schlachtschiff‹ verpasst. Er wollte die Festnahme nicht durchführen, weil es zehn Minuten vor Dienstende war und seine Schwester am nächsten Tag geheiratet hat. Also habe ich die Gefangenen für ihn übernommen.« »Was haben die beiden Arschlöcher denn ausgesagt?«, fragte Gary Quinnell. »Nichts«, erwiderte Heck. »Sie waren bewusstlos. Hatten keinen Schimmer, wer sie niedergestreckt hatte.« Es erhob sich erneut brüllendes Gelächter. Das Chop House befand sich unter den Bögen der Eisenbahnbrücke am Rand des Borough Market und verströmte viktorianischen Charme: Bleiglasfenster, verzierte antike Spiegel, elegante Hartholzeinrichtung und ein offener Kamin. Die diversen Kneipenräume waren gerammelt voll mit Polizisten außer Dienst und zivilen Mitarbeitern der Polizei, der Alkohol floss in Strömen, und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Shawna schüttelte den Kopf, als ob sie sich angesichts des teenagerhaften Gehabes, das sie umgab, geschlagen gäbe, und reichte Heck ihr leeres Glas. »Für diese Nummer geht die nächste Runde auf dich.« Heck nickte, bahnte sich seinen Weg zur Theke und nahm unterwegs noch etliche weitere Bestellungen auf. Bob Hunter lehnte am Tresen, einen dreifachen Scotch in der Hand. Er sah derangiert und mürrisch aus, der Knoten seiner Krawatte hatte sich gelöst. »Wie ich sehe, haben alle ihren Spaß«, stellte er an Heck gewandt fest, als dieser seine Bestellungen aufgab. »Wir müssen Des doch wohl gebührend in den Ruhestand verabschieden, oder?«, entgegnete Heck. »Hat die Löwin sich noch nicht blicken lassen?« Heck sah sich um. »Dachte, sie wäre inzwischen aufgeschlagen.« Vielleicht war Gemma bereits hier – sie musste auf solchen Polizeifeiern immer jede Menge Hände schütteln –, aber die Truppe des Dezernats für Serienverbrechen hatte sich in diesen Raum gequetscht, weshalb er erwartet hatte, dass sie als Erstes hier vorbeischauen würde und Des Palliser wahrscheinlich einen ausgab. »Heute Nachmittag hat die zweite Vorstellungsrunde für die ausgeschriebene Pressesprecherstelle stattgefunden, oder?«, fragte Hunter. »Ah ja, diese Geschichte.« »Genau … diese Geschichte. Was für ein Scherz, findest du nicht auch? Ist das ihre Art, uns dafür zu belohnen, dass wir die Durchgeknallten von der Straße holen?« Heck zuckte mit den Schultern. »Wird deine Arbeit doch eh nicht betreffen, oder?« »Wer sagt das denn? Ich bin zum verdammten Innendienst verdonnert worden!« »Ist doch nur vorübergehend.« »Wie lange heißt denn bitte schön vorübergehend, Heck?« Hunter nahm den doppelten Scotch, den Heck ihm vor die Nase stellte, kaum zur Kenntnis. »Die verdammte Löwin will mich loswerden, so viel steht fest.« »Will sie nicht«, widersprach Heck. »Woher willst du das wissen? Hat sie dir das gesagt?« »Nein, aber …« »Na bitte … sie hat’s dir eben nicht gesagt.« Hunter kippte einen Schluck Whisky hinunter. »Plötzlich gefällt ihr mein Arbeitsstil nicht mehr. Ich frage mich nur – warum? Ich würde sagen, weil irgendein überdekorierter Sack aus der oberen Etage sie bei den Eiern hat … aber als Tussi hat sie ja gar keine, oder wie war das noch?« »Bob … wir haben Scheiße gebaut. Wir hätten nie mit den Medien reden sollen.« »Einverstanden, da stimme ich dir zu.« Hunter wirkte überraschend zerknirscht. »Aber es war eine spontane Entscheidung. Herrgott noch mal, Heck … Wir hatten gerade diese verdammten Verbrecher hochgenommen. Das war ja wohl durchaus ein Erfolg. Kein Wunder, dass wir alle ein bisschen überdreht waren. Ich sag dir was: Ich hab die Schnauze voll von diesem Scheißjob.« So einen Spruch hörte Heck natürlich nicht zum ersten Mal, er hatte ihn selber schon zum Besten gegeben. »Damit du es schon mal weißt: Ich beantrage meine Versetzung«, fügte Hunter hinzu. »Wohin?« »Keine Ahnung. Hauptsache raus aus der National Crime Group.« Hunter rümpfte verächtlich die Nase. »Hätte die beste Truppe der Stadt sein können, aber jetzt läuft es wie alles andere auch. Heutzutage ist eben alles Politik. Gerade du müsstest doch auch extrem angepisst sein.« Das war Heck in der Tat. Er hatte im Lauf der Jahre ebenfalls seinen Teil an Rüffeln abbekommen, und wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, neigte auch er dazu, solche Sprüche zu klopfen, doch in Wahrheit war er absolut loyal. »Überleg’s dir gut, Bob«, sagte er. »Wir wissen doch gar nicht, wie lange du Innendienst schieben sollst. Wenigstens hast du wieder einen Nine-to-five-Job.« »Und was hab ich davon? Zu Hause wartet niemand auf mich. Sal hat die Kinder schon vor einer Ewigkeit mitgenommen.« Hunter schüttelte den Kopf, als ob auch das jemand anders verbockt hätte. »Verdammte Löwin! Tut mir leid, Heck, ich weiß ja, dass du mal was mit ihr hattest.« »Das ist aber schon ein Weilchen her.« »Aber wenn sie zubeißt …« »Da ist sie übrigens«, stellte Heck fest, der Gemma den Pub in Begleitung einer schlanken jungen Frau in einem eleganten Kostüm betreten sah. »Also halt den Ball flach, okay?« Hunter genehmigte sich einen weiteren kräftigen Schluck. »Keine Sorge, Alter. Ich bin doch nicht so blöd, ihr mehr Munition zu liefern als nötig …« »Ein Drink gefällig?«, fragte Heck an Gemma gewandt, während er die Runde verteilte, die er gerade geordert hatte. »Ich hätte gern ein Perrier, Heck«, entgegnete Gemma und zog sich ihren Regenmantel aus. Dann wandte sie sich der Frau an ihrer Seite zu. »Und Sie, Claire?« Die junge Frau, die auf mädchenhafte Weise hübsch war, lächelte nervös. Sie trug ihr schwarzes Haar schulterlang im Pagenkopfstil, hatte eine frische Gesichtsfarbe und durchdringende pfefferminzgrüne Augen. Gemma nickte. »Das ist übrigens Detective Sergeant Heckenburg. Heck, das ist Claire Moody, unsere neue Pressesprecherin.« Heck war überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so schnell jemand ausgewählt werden würde. »Oh … dann haben Sie also den Job bekommen?« Claire machte den Eindruck, als sei sie noch immer selbst überrascht. »So sieht es aus.« »Herzlichen Glückwunsch.« Sie bedankte sich mit einem Nicken. »Ich dachte, das hier wäre eine gute Gelegenheit für Claire, den Rest unseres Teams kennenzulernen«, sagte Gemma und nahm die lärmende Meute ins Visier, die sich um Des Palliser scharte, der gerade an einem exotisch aussehenden Cocktail schnupperte, den ihm jemand spendiert hatte. »Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.« »So sind wir nun mal«, entgegnete Heck in seiner machomäßigsten Attitüde. »Und ihr bleibt nichts anderes übrig, als euch so zu nehmen, was?«, stellte Gemma fest. »So ist das wohl.« Gemma wandte sich wieder ihrer neuen Mitarbeiterin zu. »Detective Sergeant Heckenburg zeichnet sich durch eine unglaubliche Überzeugungskraft aus. Er könnte in einem Nonnenkloster Salben gegen sexuell übertragbare Krankheiten verkaufen, wenn ich das so sagen darf. Glauben Sie ihm immer nur fünf Prozent von dem, was er Ihnen erzählt, dann werden Sie gut mit ihm auskommen.« »Autsch!«, kommentierte Heck diese Bemerkung, was Claire offenbar lustig fand. Gemma seufzte. »Tja … am besten machen wir mal die Runde, solange noch nicht alle Kollegen sternhagelvoll sind. Kommen Sie, Claire. Ich stelle Sie vor.« Die beiden Frauen setzten sich in Bewegung, Gemma bahnte ihnen einen Weg durch die Menge. »Ist jedenfalls eine süße kleine Schnitte«, stellte Hunter fest. »Sie sieht aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben.« Er kicherte. »Ich gebe ihr höchstens einen Monat.« Heck erwiderte nichts. Hunter blieb noch eine halbe Stunde, dann leerte er sein Glas und verschwand, ohne sich zu verabschieden. Claire Moody blieb zu Hecks Überraschung ein wenig länger, was in gewisser Weise bewundernswert war, da sie absolut niemanden kannte. Sie hielt sich relativ nah an Gemma, wahrscheinlich weil die anderen sich ihr nahezu allesamt in Raubtiermanier näherten und entweder versuchten, sie anzumachen oder sie aufzuziehen, doch später sah er, dass Shawna McCluskey sie zur Seite nahm und ihr das Ohr abkaute. »Heck! … He, Heck!«, rief Shawna. »Komm mal kurz her!« Er folgte ihrer Aufforderung. Inzwischen waren alle ziemlich abgefüllt. Das Gelächter war ohrenbetäubend, Biergläser schwappten über. Auch Shawna war auf bestem Wege, sich zu betrinken. »Claire, hast du Heck schon kennengelernt?«, rief sie und gestikulierte mit einer Flasche Lagerbier. Claire lächelte verlegen. »Ja, mehr oder weniger.« »Heck ist unser Top-Bösewicht-Einbuchter. Wir beide waren zusammen bei der GMP, als wir noch Grünschnäbel waren.« Claire runzelte die Stirn. »GMP … die Greater Manchester Police?« Shawna lachte. »Bingo. Der Stolz des Nordwestens.« »Und dann sind Sie beide in London gelandet?« »Wir sind nicht zusammen hergekommen«, erwiderte Shawna und hickste. »Oh, Entschuldigung. Heck ist zur Metropolitan Police gewechselt, als er noch die Uniform trug. Ich bin erst ein paar Jahre später nach London gekommen. Ich war zunächst bei der Kripo in Manchester und dann im Dezernat für Schwerverbrechen. Als ich gehört habe, dass im Dezernat für Serienverbrechen eine Stelle frei war, habe ich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Ich komme hier an und glaube, mich laust der Affe, denn wen sehe ich da am Schreibtisch neben mir? Heck, der plötzlich ein verdammter Detective Sergeant war! Hätte mich allerdings nicht überraschen sollen. Als er noch die Uniform trug, hat er mehr Schurken eingebuchtet als die ganze Truppe zusammen. Er brauchte bloß über eine Mauer zu stolpern und fand auf der anderen Seite zwei Halunken, die gerade ein Ding drehen wollten.« »Was du nicht sagst. Ich bin natürlich hocherfreut, dass ich vor vierzehn Jahren meine Inspektorenprüfung bestanden habe und nie auch nur die Aussicht auf ein entsprechendes Vorstellungsgespräch hatte«, entgegnete Heck. Shawna klopfte ihm auf die Schulter. »Du hast eben eine zu große Klappe, Kumpel, das ist dein Problem. Reißt immer das Maul auf.« Sie drehte sich zu Claire um. »Er ist nämlich nicht wie ich – ich habe keine große Klappe. Ich bin einfach nur schlecht. Eine … Oh, ich muss mal für kleine Mädchen. Bin mal gerade einen Moment weg …« Shawna taumelte davon und drückte Claire ihre halb leere Bierflasche in die Hand. »Das stimmt übrigens nicht«, stellte Heck klar. »Sie ist ein ziemlich guter Detective. Sonst wäre sie nicht im Dezernat für Serienverbrechen gelandet.« »Davor hatte ich übrigens ein bisschen Manschetten«, gestand Claire. Sie sprach einen kultivierten, sehr angenehm klingenden Südküstenakzent. »Immerhin sind Sie nicht irgendeine x-beliebige Polizeieinheit, oder? Wie ich gehört habe, haben Sie ein paar richtig große Fälle gelöst.« »Na ja, in letzter Zeit ist bei uns nicht gerade alles glattgelaufen.« »Davon habe ich auch schon gehört. Und … Ich hoffe, dass ich in der Hinsicht eine Hilfe sein kann.« »Claire!«, rief jemand. Gary Quinnell, inzwischen ohne Jackett und ohne Krawatte, torkelte auf sie zu. Hinter ihm grinsten fleischige rote Gesichter. »Können Sie mal zu uns rüberkommen?« »Na klar«, erwiderte sie, reichte Heck Shawnas Bierflasche und warf ihm einen nervösen Blick zu. »Es gibt da etwas, was Sie wissen müssen, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten wollen«, stellte der stämmige Waliser klar und führte sie von Heck weg. »Aber es steht in keinem Handbuch.« »Aha …?« Sie klang immer noch nervös. »Wir nennen es das Mittel-und-Wege-Gesetz …« »Ich werde das alles vermissen«, sagte Des Palliser, der jetzt neben Hecks Schulter auftauchte. »Nimm’s nicht so schwer«, entgegnete Heck. »Es ist ja nicht etwa so, als würden wir jede Woche die Sau rauslassen.« »Sollten wir aber. Um uns alle daran zu erinnern, worum es im Leben wirklich geht.« Palliser wirkte für einen Moment nachdenklich. Er war ein ergrauter alter Knabe mit einem schütteren Bart und schmal gebaut. Als erfahrener Detective mit politischem Weitblick wusste er, wie der Hase läuft, aber angesichts der vielen Dienstjahre, die er schon auf dem Buckel hatte, war er kaum noch persönlich ambitioniert und im Dezernat für Serienverbrechen zu einer Art Vaterfigur geworden: eine Quelle der Weisheit und jenen Nachwuchsbeamten, die er als seine Protegés auserwählt hatte, ein zuverlässiger Ratgeber. »Ich wollte nur sagen, dass ich euch sehr vermissen werde«, sagte er. »Euch Bande abgerissener Bengels. Wer soll euch denn demnächst auf Vordermann bringen, wenn ich nicht mehr da bin?« »Danke, das reicht!« Gemmas Stimme dröhnte durch den Pub. In einer Ecke stand Detective Constable Charlie Finnegan mit heruntergelassener Hose auf einem Tisch. »Vergessen Sie bitte nicht, wer wir sind und wo wir uns befinden!« Finnegan stieg beschämt vom Tisch herunter. »Was meinst du wohl, wer?«, fragte Heck. Palliser lächelte wohlwollend. »Alles, was sie draufhat, habe ich ihr beigebracht.« »Ich wusste schon immer, dass wir dir für irgendetwas zu Dank verpflichtet sind.« »Ich freue mich, dass du kommen konntest, Heck.« Heck sah sich um. »Mensch, Des, niemand von uns musste zwangsweise hierher geschleppt werden. Wir werden dich auch alle vermissen.« »Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.« »Schieß los.« »Sei vorsichtig, okay?« Palliser sah ihn ernst an. Sein Gesicht war von Falten durchzogen, seine Zähne vom jahrzehntelangen Rauchen knorrig und gelb, doch all dies verlieh ihm Charakter. »Keine Heldentaten im Alleingang mehr wie bei den Ermittlungen im Nice-Guys-Fall. Kein Fall ist es wert, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen.« Heck grinste. »Ich habe nicht vor, mir diese Vorgehensweise zur Gewohnheit zu machen.« »Ach? Und was war mit der Nummer, die du im Fall des M1-Phantoms abgezogen hast? Das war fast genauso schlimm. Wirst du von irgendeiner Art Todessehnsucht heimgesucht?« »Die Karten sind einfach so gefallen, Des.« »Na gut.« Palliser legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Heck, du hast in Gemma eine gute Chefin. Zieh Nutzen daraus. Versuch zu vergessen, dass ihr mal was miteinander hattet. Es sei denn, na ja …«, er klang beinahe hoffnungsvoll, »du hast noch Ambitionen?« Heck blickte zu Claire, die, obwohl sie von brüllenden, grölend prustenden Polizisten umringt wurde, ebenfalls lachte. Gary Quinnell machte irgendeinen Witz auf ihre Kosten, doch sie reagierte schlagfertig, woraufhin die Männerrunde erneut in Gelächter ausbrach. »Ich glaube nicht«, erwiderte Heck langsam. Palliser folgte seinem Blick. »Ist am Horizont was Interessanteres aufgetaucht?« »Wer weiß?« »Na ja … wenn es dir einen Anlass gibt, abends nach Hause zu gehen, ist es nur zum Guten.« »Machen wir uns nichts vor, Des. Wahrscheinlich hat sie einen Freund mit einem Ferrari.« »Denk an meine Worte, ja? Tu, was du nicht lassen kannst, Heck … du machst deine Sache verdammt gut. Aber sei vernünftig, und pass auf dich auf.« Heck nickte. Die aufrichtige Sorge, die in der Stimme seines Kollegen mitschwang, überraschte ihn. »Egal, was trinkst du?«, fragte Palliser und taumelte zur Theke. »Ein Bitter, bitte«, rief Heck ihm hinterher. »Ein Pint.« Gemma kam auf ihn zu. Trotz der Hitze und des Lärms wirkte sie so kühl und ruhig wie immer. Sie sah Palliser hinterher. »Fällt es ihm schwer, zu gehen?« »Er meint, dass das Dezernat für Serienverbrechen ohne ihn den Bach runtergeht«, entgegnete Heck. »Die Sichtweise des Alters.« Heck deutete mit einem Nicken in Claires Richtung. »Unsere neue Mitarbeiterin scheint sich ja schon recht wohlzufühlen.« »Gut.« Gemma nippte an ihrem Mineralwasser. »Es gibt keinen Grund, sie mit Samthandschuhen anzufassen. Der Job wird ihr einiges abverlangen.« »Ich nehme an, sie ist gut für diese Aufgabe qualifiziert?« »Sie hat in einem großen Finanzunternehmen in der City und in mindestens zwei öffentlichen Verwaltungen gearbeitet.« »Wann fängt sie an?« »Morgen früh.« »So bald schon?« »Ist doch gut, wenn sie schon dabei ist, solange es bei uns mal etwas ruhiger zugeht.« Heck dachte über diese Worte nach und fragte sich, ob sie das Schicksal herausforderten. Er war nicht abergläubisch, doch eins hatte er während seiner siebzehnjährigen Dienstzeit als Polizist gelernt, nämlich dass man keine Entscheidungen traf, die auf der Annahme beruhten, dass in absehbarer Zeit nichts Haarsträubendes passierte. Denn genau dies war fast immer der Fall. »Hören Sie … was auch immer Ihnen in Ihrer Vergangenheit zugestoßen ist, was auch immer Sie dazu getrieben hat, das hier zu tun, ich bitte Sie, es sich noch mal zu überlegen.« Kate war nicht sicher, wie viel ihr Entführer hören konnte. Er hatte sie nicht geknebelt, und auch wenn sie in diese verdreckte, alte, nach Schweiß und abgestandenem Urin stinkende Decke eingewickelt war, hielt sie nichts davon ab, etwas zu sagen. Natürlich kamen ihre Worte gedämpft heraus, und womöglich übertönten das fortwährende Dröhnen des Motors und die Vibrationsgeräusche der Räder auf der Straße sie komplett. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie nach wie vor gefesselt war, und egal, wie sehr sie sich auch wand, fest verschnürt blieb, blieb ihr nichts anderes übrig, als es immer wieder zu versuchen. »Bitte, hören Sie mir doch zu«, flehte sie. Sie versuchte es jetzt schon seit mindestens zwei Stunden und hatte keine einzige Antwort erhalten. »Ich verstehe ja, dass irgendwann jemand grausam zu Ihnen war. Vielleicht wurden Sie gefoltert – über Monate hinweg, vielleicht sogar jahrelang. Aber was Sie jetzt tun, macht dies auf keine Weise wieder gut. Sie würden Ihre Übeltäter damit nicht einmal treffen, Sie würden sie nicht bestrafen. Sie tun nur einem unbeteiligten Menschen weh, der Ihnen nichts Böses will, und Sie würden diesem Menschen genau das Gleiche antun, was Ihnen angetan wurde.« Sie hatte noch nie im Leben so eine Angst gehabt. Der abstoßende Gestank unter der Decke wurde immer abscheulicher, als ihr eigener Angstschweiß sich dazumischte, und höchstwahrscheinlich würde auch noch ihr eigener Urin, vielleicht sogar ihr eigenes Erbrochenes hinzukommen. Die Temperatur war auch wenig hilfreich. Die Heizung im Auto lief jetzt auf vollen Touren, aber sie konnte es sich nicht leisten, dass die Hitze ihre Denkfähigkeit benebelte – noch nicht. Die einzige Waffe, über die sie verfügte, war ihr Verstand – also musste sie weitermachen und versuchen, an seine gute Seite zu appellieren, falls er denn eine hatte. Es war erschütternd, sich vor Augen zu führen, dass jemand auf einen Daseinszustand reduziert werden konnte, in dem er solche Dinge tat. Natürlich hatte sie allerlei Geschichten gehört: über Obdachlose, die mit Benzin übergossen und angezündet worden waren, als sie im Freien schliefen, oder die gezwungen worden waren, mit Ketten und Flaschen gegeneinander zu kämpfen und sich dabei filmen zu lassen. Doch all das war ihr nicht glaubhaft erschienen – bis jetzt, da es ihr offenbar selber passierte. »Hören Sie … bitte!« Es kostete sie eine enorme Willensanstrengung, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken, damit sie weniger klang wie ein angsterfülltes kleines Mädchen. »Bitte … dieser Hass, den Sie an den Tag legen. Es ist nicht normal, dass ein Mensch von einem solchem Hass erfüllt ist. Sehen Sie das denn nicht? Tiere leben nicht so, nicht einmal solche, die von einer Krankheit oder einer Verletzung gezeichnet sind. Sie nehmen es einfach hin und leben weiter. Lassen Sie nicht zu, dass der Mensch, der Sie missbraucht hat, gewinnt, indem er zusieht, wie Sie ein Spiegelbild von ihm werden. Erinnern Sie sich daran, wie es war, als …« Sie wollte ihn an die Zeiten erinnern, in denen er selber noch ein kleines Kind gewesen war, aber das könnte ein Fehler sein. In den Erinnerungen einiger dieser armen Leute gab es nichts als Qual. »Denken Sie an Ihre Menschlichkeit. Führen Sie sich vor Augen, wie Sie behandelt werden wollen. Ich weiß, dass Ihnen so eine Behandlung vorenthalten wurde. Aber stellen Sie sich vor, wie Sie an einem ganz normalen Morgen aufbrechen, niemandem etwas Böses wollen, sondern einfach nur hoffen, anständig über den Tag zu kommen. Empfinden Sie nicht meistens genau so? Das, was Sie gerade tun, kann einem keine Freude bereiten. Das verstehen Sie. Ich weiß, dass Sie das verstehen.« Sie hielt inne, nicht nur, um Luft zu holen – was in der beengenden Bullenhitze der um sie gewickelten Decke zusehends schwieriger wurde –, sondern auch, um zu horchen, ob vonseiten des Fahrers, wer auch immer es war, irgendeine Antwort kam. Es kam keine. Aber auch wenn er keine Reaktion zeigte, hören musste er sie. »Ich appelliere ein letztes Mal an Sie«, sagte Kate. »Was auch immer Sie sich von dieser Aktion versprechen – Sie irren sich. Ich weiß, dass das arrogant und überheblich klingt. Aber ich kenne mich wirklich damit aus. Ich arbeite jeden Tag mit Menschen, die die schlimmsten Schicksalsschläge erlitten haben. Die meisten von ihnen sind zutiefst unglücklich und wütend. Doch in fast allen Fällen – wenn man sich mit ihnen hinsetzt, sie berät und versucht, zu dem Menschen durchzudringen, der sie vorher gewesen sind – sind sie ganz normale Männer und Frauen und werden sich dessen bewusst, dass es nichts bringt, sich von seinen niederen Instinkten leiten zu lassen …« Ihr Wortfluss versiegte, als sie merkte, dass der Wagen ruckelte und hin und her sprang, als würde er über unebenes Gelände fahren. Sie stellte sich eine unbewohnte Ödnis vor, fernab von neugierigen Blicken. Das Motorengeräusch veränderte sich. Der Fiesta wurde abgebremst. Mit einem Rums wurde der erste Gang eingelegt und dann die Handbremse gezogen. Als das Motorengeräusch versiegte, war die Stille ohrenbetäubend. Trotz der brennofenartigen Hitze war der Schweiß, der Kates Körper bedeckte, eiskalt. Ein Sicherheitsgurt wurde gelöst, die Autotür schwang auf. Zu ihrem Entsetzen waren weit und breit keinerlei nächtliche Verkehrsgeräusche zu hören. Wohin auch immer er sie gebracht hatte, es war weit weg von der Zivilisation. Kates Wimmern wurde zu einem hilflosen Schluchzen, als die Tür neben ihrem Kopf geöffnet wurde. Brutale Hände rissen die Riemen los, packten sie und warfen sie über eine bullige Schulter. Ihr wurde übel, was sich noch verschlimmerte, als sie durch die Finsternis getragen wurde. Schwere Füße knirschten über einen Untergrund, der dem Geräusch zufolge aus Erde und altem Laub zu bestehen schien. Dann stapften sie über einen hohlen Holzboden, die Schritte hallten – sie war im Inneren eines Gebäudes. Verschiedene Gerüche stürmten auf sie ein: Sägemehl, frische Farbe. Als sie auf dem Boden abgeladen wurde, spürte sie grob gearbeitete Holzbohlen, Nagelköpfe. Alte Scharniere quietschten, ein fauliger Geruch stieg auf. Kate wurde erneut von lähmendem Entsetzen erfasst. Neben ihr war eine Falltür geöffnet worden. Die Hände packten sie erneut und hoben sie hoch. Bevor sie sie ins Nichts fallen ließen, flüsterte ihr eine heisere Stimme ins Ohr: »Du hast ein gutes Herz und eine redegewandte Zunge. Das macht dich mehr als würdig.« »Guten Morgen!«, ertönte eine freundliche, fröhliche Stimme. Heck, der zwar keinen Kater hatte, sich aber ein wenig benebelt fühlte, blickte von seinem Schreibtisch auf. Claire Moody stand in der Tür des Kriminalbüros. »Oh, äh … hallo«, brachte er verlegen hervor. Sie zog sich ihren Mantel aus und ließ ihren Blick über die Schreibtische und die Computer schweifen, vor denen niemand saß. Es war erst kurz nach sieben Uhr morgens. Heck war der Einzige, der schon da war, aber vielleicht hatte Claire erwartet, noch niemanden anzutreffen. »Sie sind aber früh dran«, stellte sie fest. »Tja … Sie auch.« »Ich hatte ja gestern Abend auch nichts zu feiern.« »Keiner von uns hatte was zu feiern, nur dass uns das leider nicht richtig klar war. Des Palliser ist ein guter Typ. Aber kommen Sie doch ruhig rein.« Claire betrat das Büro, den Mantel ordentlich über den Arm gelegt. »Des hat offenbar viele Freunde.« »Kann man wohl sagen, aber die kleine Party gestern Abend ist wohl ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Haben Sie vor, Ihr neues Büro einzuweihen?« »Noch nicht wirklich … Ich weiß ja noch nicht mal, wo hier eigentlich was ist.« Soweit Heck wusste, war für die neue Pressestelle ein paar Schritte weiter den Hauptflur entlang ein eigener Raum bereitgestellt worden, doch obwohl dort während der vergangenen Tage eine Tischlertruppe und anschließend die Techniker herumgewerkelt hatten, war das Büro höchstwahrscheinlich nicht auch nur annähernd bezugsfertig. Aber ihm fielen Gemmas Worte ein, denen zufolge Claire so schnell wie möglich in die Arbeit eingewiesen werden sollte. Er stand auf. »Äh … Ich könnte Ihnen alles zeigen, wenn Sie möchten.« »Nein danke, das ist nicht nötig. Ich möchte Sie nicht aufhalten. Ich glaube, Ihr Job ist ein bisschen wichtiger als meiner.« Bei helllichtem Tage und nüchtern betrachtet, war Claire sogar noch attraktiver, als sie ihm nach seinem ersten Eindruck erschienen war. Sie war nicht einfach nur hübsch, sie war liebenswürdig, zuvorkommend, von Natur aus einnehmend und wirkte … beinahe vornehm. Ihn überkam die beunruhigende Ahnung, dass Bob Hunters Prophezeiung sich womöglich als richtig herausstellen und Claire sich für dieses Arbeitsumfeld als zu nett erweisen würde. »Wenn ich schon sonst nichts für Sie tun kann, kann ich Ihnen ja wenigstens einen Tee anbieten«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben Ihre eigenen Utensilien zum Teekochen noch nicht dabei?« »Daran habe ich nicht mal gedacht. Danke, ein Tee wäre wunderbar.« Er kramte einen Schlüssel hervor, schloss neben seinem Schreibtisch einen Schrank auf und nahm einen Wasserkocher, eine große Flasche Wasser, zwei große Tassen, ein Glasgefäß mit Teebeuteln, ein Zuckerschälchen und ein Tütchen Milchpulver heraus. »Hier mein erster Tipp: Bewahren Sie diese Utensilien immer hinter Schloss und Riegel auf, denn die haben hier Beine … und landen normalerweise oben beim Organisierten Verbrechen.« »Ach ja? Man kann Polizeibeamten also nicht über den Weg trauen?« »Definitiv nicht.« Heck füllte den Wasserkocher und stöpselte ihn ein. »Aber Sie brauchen trotzdem keine Angst vor uns zu haben, wir beißen nicht. Apropos – die Chefin wird sicher gleich kommen. Ich denke, sie wird Sie dann über alles informieren, was Sie wissen müssen.« »Sie kann einem ganz schön die Hölle heißmachen, oder?« »Sieh mal einer an … Sie kennen sie bereits.« Claire sah sich noch einmal in dem weitläufigen Großraumbüro um. Trotz seiner Größe zeichnete es sich durch das polizeiübliche organisierte Chaos aus. Auch wenn außer ihnen beiden niemand zugegen war, waren die Schreibtische mit Unterlagen übersät und die Ablagekörbe überfüllt, Papiere und Fotos hingen unordentlich zusammengepappt nicht nur an Pinnwänden, sondern auch an den wenigen Wandflächen, die noch nicht mit Karten, Zeit- und Ablaufplänen zugekleistert waren. »Als ich die Zusage für diesen Job bekommen habe, war ich mir plötzlich nicht mehr so sicher, ob ich wirklich das Richtige tue«, gestand Claire. »Ich habe zwar immer in PR-Abteilungen gearbeitet, aber das hier ist totales Neuland für mich.« »Wahrscheinlich werden Sie hier das Gleiche machen wie bei den öffentlichen Versorgungsbetrieben.« Sie sah ihn überrascht an. »Sie wissen, dass ich dort gearbeitet habe?« »Wie auch im Kulturministerium«, fügte er hinzu. »Keine Sorge … Hier bleibt nichts lange geheim.« »Offenbar nicht.« »Machen Sie hier einfach das Gleiche wie da. Speisen Sie die Öffentlichkeit mit irgendwelchen Halbwahrheiten ab.« Sie sah ihn an, unsicher, ob sie ihn ernst nehmen sollte. »Befolgen Sie diesen Rat, dann werden Sie sich hier bestens einfügen«, sagte er verschmitzt. »Sie sind Detective Sergeant Heckenburg, stimmt’s?« »Nennen Sie mich einfach ›Heck‹. Zucker?« »Gar keinen, nur Milch. Wenn ich mich recht entsinne, sagte Superintendent Piper, dass ich nur fünf Prozent von dem glauben soll, was Sie mir erzählen.« Heck reichte ihr eine dampfende Tasse. »Das war ein bisschen übertrieben. Sie sollten mir mindestens zehn Prozent glauben. Jedenfalls solange Sie noch neu sind.« Sie nippte nachdenklich an ihrem Tee. »Jetzt mal im Ernst, haben wir es oft mit Verbrechen zu tun, bei denen wir … na ja, bei denen wir mit der Wahrheit eher sparsam umgehen?« »Im Ernst? … Dazu kann ich nichts sagen. Was die Verbrechen angeht, ermittle ich nur.« »Superintendent Piper scheint zu meinen, dass Sie darin sehr gut sind.« »Obwohl ich ein schamloser Lügner bin?« »Außerdem hält sie Sie für zu eigensinnig. Und manchmal für dickköpfig, und sie meint, dass Sie versuchen, alles im Alleingang zu machen, weil Sie – fälschlicherweise – glauben, alles besser zu wissen als sonst irgendjemand bei der gesamten Polizei.« »Sie haben sich also mit ihr ein bisschen das Maul über mich zerrissen, was?« Heck tat so, als wäre er argwöhnisch, doch innerlich fand er das durchaus amüsant. Er hatte Claire gegenüber soeben offenbart, dass er Erkundigungen über sie eingeholt hatte, und jetzt gab sie ihm zu verstehen, dass sie das Gleiche mit ihm getan hatte. Gut gekontert. »Sie meint auch, dass Sie bei Ihrer Arbeit sehr viel mehr Freiheiten genießen, als gut für Sie ist«, fügte Claire hinzu. »Und dass Ihnen gar nicht klar ist, wie glücklich Sie sich schätzen können, sie als Chefin zu haben.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie mich auf die Schippe nehmen?« »Aber sie ist trotzdem froh, dass Sie für sie arbeiten.« »Dann ist ja alles klar. Wenn Sie mich nicht auf die Schippe nehmen, hat Gemma definitiv Sie auf die Schippe genommen.« Claire kicherte. »Also, was steht heute auf dem Programm?« Heck deutete auf die Papiere und die Fotos auf seinem Schreibtisch. »Also, für mich … das hier.« Claire sah nach unten – und ließ um ein Haar ihre Tasse fallen. »Oh mein Gott!« Ihr Gesicht wurde schlagartig milchig grau. »Sind das Fotos von … echten Tatorten?« Heck sah sie belustigt an. »Also, mit Standfotos von Kinofilmen befassen wir uns hier nicht.« Das erste der beiden Fotos zeigte einen jungen Mann von vielleicht Ende zwanzig, der bis auf die Unterhose nackt war und an den Händen an einem Baum hing. Seine Extremitäten und sein Oberkörper waren von dunkelvioletten Streifen überzogen, als wären sie brutalen, fortgesetzten Schlägen ausgesetzt gewesen – doch am verstörendsten war vielleicht sein Gesicht, das wie das Gesicht eines Clowns geschminkt war: mit einer weißen Grundierung, Rouge auf den Wangen, einer roten Nase und schwarzem Cream-Eyeliner um die glasigen, blutunterlaufenen Augen. Das zweite Foto zeigte eine nackte Frau, die in einer Badewanne lag. Sie war ebenfalls brutal misshandelt worden. Ihr Körper war so übel zugerichtet, dass es kaum zu glauben war, aus dem gequetschten, zerfetzten Fleisch ragten gesplitterte Knochen heraus – und sie war ebenfalls wie ein Clown geschminkt. Die Lippen waren grün, die Augen und der Mund dick mit weißer Grundierung ummalt, was ihr ein schauriges Lächeln verlieh. Claire war einen Schritt zurückgewichen. Es war eine unwillkürliche Bewegung gewesen, aber es war mehr als nur ein Zurückschrecken. »Alles in Ordnung?«, fragte Heck. Sie nickte, den Blick immer noch auf die Horrorfotos geheftet. »Ja, es geht schon wieder. Tut mir leid … ich sehe zum ersten Mal Bilder von einem echten Mord.« »Ich fürchte, daran werden Sie sich gewöhnen müssen.« »Ja, ich weiß … das ist mir natürlich klar. Oh mein Gott, diese Bilder sind ja so grauenvoll …« Heck schob die Fotos in eine gelbbraune Aktenmappe. »Das war wahrscheinlich ein bisschen viel für den ersten Morgen.« »Ja vielleicht, aber …« Sie schien sich zusammenzureißen und stellte ihre Teetasse auf den Schreibtisch. »Wie Sie bereits sagten, ich muss mich damit abfinden, dass solche Dinge demnächst Teil meines Alltags sind. Erzählen Sie mir doch einfach darüber.« »Über diesen Fall, meinen Sie?« Sie nickte. Er sah sie argwöhnisch an. »Im Ernst?« Sie nickte erneut, diesmal entschlossen. »Na schön …« Er setzte sich und klappte die Aktenmappe wieder auf. »Dieser Mann und diese Frau sind im vergangenen Monat ermordet worden, in einem Abstand von etwa zwei Wochen – der Mann in Gillingham, die Frau in Maidstone. Die Mordkommission von Kent hat sie uns routinemäßig zur Beurteilung geschickt.« Er blickte zu Claire auf. Sie gab sich alle Mühe, sich auf die beiden Fotos zu konzentrieren und gleichzeitig ein cooles, professionelles Auftreten zu bewahren. »Allem Anschein nach ähneln sie sich«, sagte Heck. »Aber ich vermute, dass sie nichts miteinander zu tun haben.« »Nein?« »Seinem Vorstrafenregister nach zu urteilen, vermute ich, dass der Mann das Opfer einer Bandenfehde war. Die extreme Brutalität, mit der er zugerichtet wurde, kann auf eine Bestrafung hindeuten.« »Sie meinen, die Täter wollten ein Exempel statuieren?« »Genau. Bei der Frau sagt mir mein Bauchgefühl, dass sie häuslicher Gewalt zum Opfer gefallen ist. Der Täter ist wahrscheinlich ihr Ehemann.« Claire sah ihn misstrauisch an. »Glauben Sie das im Ernst?« Heck zuckte mit den Schultern. »Er liest über den ersten Mord in der Zeitung, findet das Ganze so verrückt und abgefahren, dass es seiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit sein kann, bis der Irre, der zu so etwas imstande ist, erneut zuschlägt. Also kommt er zu dem Schluss, dass dies seine Chance ist, sich seiner nervigen Alten ein für alle Mal zu entledigen, indem er es so aussehen lässt, als sei es das Werk von jemand anderem. Natürlich weiß er nicht, dass der erste Mord auf das Konto des organisierten Verbrechens geht … was wieder mal verdeutlicht, welchen Vorteil wir davon haben, den Medien nur so viel auf die Nase zu binden, wie wir unbedingt müssen.« »Aber wieso sind Sie sich so sicher, dass sie ein Opfer von häuslicher Gewalt ist?« »Absolut sicher bin ich mir nicht. Aber ich werde der Mordkommission in Kent raten, sich zunächst mal das häusliche Umfeld des Opfers etwas näher anzusehen. Und auch die anderen Fakten stützen diese Hypothese. Die Frau wurde am frühen Morgen in ihrer eigenen Badewanne ermordet – genauer gesagt zwischen halb acht und Viertel nach acht. Allein dieser Zeitpunkt lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass ein Fremder in das Haus eingedrungen ist. Hinzu kommt, dass das Zeitfenster zu klein ist. Ihr Ehemann, der sie gefunden hat, behauptet, in der Zeit zum örtlichen Golfklub gefahren zu sein, um seinen Jahresbeitrag zu bezahlen. Gleichzeitig will er uns glauben machen, dass sich in dieser kurzen Zeit irgendein Spinner an ein ganz gewöhnliches Vorstadthaus heranpirscht, sich vergewissert, dass die Frau des Hauses allein ist, sich gewaltsam Zutritt verschafft, die niederträchtige Tat verrichtet, das Gesicht seines Opfers zu einem Clownsgesicht schminkt und dann sang- und klanglos verschwunden ist, ohne dass irgendjemand etwas gehört oder gesehen hat.« »Das klingt in der Tat unwahrscheinlich, aber könnte es sich nicht so zugetragen haben?« »Wir schließen keine Möglichkeit aus. Der Täter könnte das Haus schon vorher ausgekundschaftet und auf der Lauer gelegen haben. Allerdings hat der Ehemann das Haus nicht im Rahmen seines routinemäßigen Tagesablaufs verlassen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass es sich so zugetragen hat. Hinzu kommt noch, dass es sich bei dem ersten Opfer um einen Mann von Ende zwanzig handelt und bei dem zweiten um eine Frau von Anfang vierzig. In beiden Fällen wurde das Opfer nicht sexuell missbraucht. Gut, es könnte sich um einen völlig Durchgeknallten handeln, der seinen Kick davon bekommt, seine Opfer als Clowns zu schminken. Aber bei so einem Typen würde man eigentlich erwarten, dass er längst in Erscheinung getreten wäre, um der Welt seine makabren Fertigkeiten vorzuführen.« »Und … wie geht es jetzt weiter?« Heck lehnte sich zurück. »Ich leite die Fälle zusammen mit meinem Bericht an Gemma weiter. Ich empfehle, dass wir uns nicht einschalten, weil ich keinen Handlungsbedarf unsererseits sehe. Unsere vorrangige Aufgabe besteht darin, Muster, Serienverbrechen und Häufungen ähnlicher Taten zu identifizieren, die auf Wiederholungstäter hinweisen, und dann entsprechend zu reagieren.« »Und was ist, wenn Gemma anderer Meinung ist?« »Wenn sie anderer Meinung ist, werden einige von uns – höchstwahrscheinlich unter anderem ich, weil ich die Fälle auf dem Tisch hatte – nach Kent fahren, was ich super fände, weil ich dann aus dem Büro rauskäme. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass sie nicht anderer Meinung sein wird. Höchstwahrscheinlich wird sie den Kollegen in Kent einfach nur offiziell unsere Beobachtungen weiterleiten.« Claire ließ ihren Blick über den Schreibtisch wandern zu einem anderen Stapel ähnlicher Aktenmappen, die darauf warteten, dass er sich mit ihnen befasste. Andere Schreibtische in dem Großraumbüro waren genauso überfrachtet. »Befinden sich in all diesen Aktenordnern ähnliche Fälle?« »Wir kriegen jede Menge Kopien von allen möglichen Straftaten«, erwiderte Heck. »Aber das meiste davon ist das, was wir ›Plunder‹ nennen.« »Plunder?« »Irrelevant für unser Aufgabengebiet. Verschiedene Arten von Verbrechen werden automatisch zur Beurteilung an uns weitergeleitet. Alle Morde, die von Fremden an Kindern begangen werden, zum Beispiel. Alle Prostituiertenmorde. Alle Morde an Ausreißern. Alle Morde, die im Verlauf eines Einbruchs oder einer Vergewaltigung begangen werden. Alle Morde, die Zeichen von außergewöhnlich roher Gewalt, sadistischen Handlungen oder sittlicher Verwahrlosung aufweisen. Alle Morde, die von rituellen oder theatralischen Elementen begleitet sind. Alle Morde, bei denen es Hinweise auf bizarres postmortales Verhalten gibt: Verstümmelungen, Zerstückelungen, Nekrophilie. Alle Morde, bei denen der Täter offenbar versucht hat, die Polizei oder die Medien zu kontaktieren … oder bewusst irgendwelche Hinweise, kryptische Botschaften oder sonst etwas in der Art hinterlassen hat. Alle Morde, bei denen keines dieser Kriterien zutrifft, jedoch trotzdem der hinreichende Verdacht besteht, dass sie Teil einer Serie sind. Und darüber hinaus alle Morde, die wir uns aus eigenem Interesse näher ansehen wollen. Keine Polizeibehörde in England und Wales ist berechtigt, sich unserem Ansinnen auf Akteneinsicht zu widersetzen.« Claire sah sich erneut in dem Büro um. In einer anderen Ecke waren inmitten unzähliger handschriftlicher Notizen zwei Großaufnahmen von weiteren Verbrechen an eine Pinnwand geheftet. Die eine war eine Hochglanz-Nahaufnahme einer schwarzen Frau mittleren Alters. Sie sah aus, als wäre sie in einem Haus oder in einer Wohnung an eine Wand gelehnt worden. Ihr Grinsen erstreckte sich buchstäblich von einem Ohr bis zum anderen: Jemand hatte ihr mit einem Rasiermesser die Wangen aufgeschlitzt und ihr vertikal einen Stock in den Mund gesteckt. Das andere Foto war in einem Schlafzimmer aufgenommen worden, das aussah, als wäre es von einem Hurrikan verwüstet worden. Im Mittelpunkt der Aufnahme befand sich das Bett. Darin lag eine mit einem Betttuch zugedeckte Gestalt, doch das Tuch war so mit Blut durchtränkt, dass die Konturen des Körpers sich deutlich abzeichneten. An der Wand über dem Bett verkündete eine handgeschriebene Botschaft: »Hey Mum, er hat mich zuerst gefickt!« »Und das nennen Sie ›Plunder‹?«, fragte Claire, die ihren Abscheu nicht verbergen konnte. »Das ist nur eine Bezeichnung. Jeder dieser Aktenordner steht für ein ausgelöschtes Leben. Dieser Wahrheit muss man ins Auge sehen. Aber es ist eine befremdende Tatsache, dass die allermeisten Morde, die im industrialisierten Westen verübt werden, egal wie sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, auf das Konto von Familienangehörigen oder anderen sogenannten nahestehenden Personen gehen. Entweder sie gehören in diese Kategorie, oder es handelt sich um einmalige Taten, verübt von Personen, die wahrscheinlich nie wieder gegen das Gesetz verstoßen werden. Die Folge von Wut, Gier, Eifersucht … was wir natürlich nachweisen müssen, bevor wir die Fälle zurückschicken. Oh Mist, jetzt ist Ihr Tee kalt geworden.« »Das macht nichts.« »Ich mache Ihnen einen neuen.« Er hantierte mit dem Wasserkocher. »Wenn ich hier nämlich eins angeblich richtig gut kann, dann ist es, Tee zuzubereiten.« Claire zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Sie hoffte, dass Heck nicht merkte, dass sie sich hinsetzen musste. »Das Gute an der Sache ist«, sagte er nach einer Weile und reichte ihr eine Tasse mit frischem Tee, »dass es kein besseres Gefühl gibt als das Wissen, dazu beigetragen zu haben, dass diesen Menschen Gerechtigkeit widerfährt.« »Das wäre für mich ja mal ganz was anderes«, entgegnete Claire. »Eine Arbeit zu machen, die einem das Gefühl gibt, etwas Sinnvolles zu tun.« Er setzte sich ebenfalls. »Irgendetwas Sinnvolles müssen Sie bei Ihren früheren Arbeitgebern doch auch gemacht haben.« »Nein, Sie haben vorhin ganz richtig gelegen. Ich habe Lügen verbreitet, um Inkompetenz seitens des Ministeriums zu kaschieren, Zahlen beschönigt, um falsche Prognosen einzelner Abteilungen gut aussehen zu lassen, und endlos irgendetwas zur Imagepflege rausgeblasen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, damit irgendjemand sein Hundertsiebzigtausend-Pfund-Jahresgehalt behält. Das vermittelt einem nicht unbedingt immer das Gefühl, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein.« »Na bitte«, entgegnete Heck. »Dann sind Sie ja im Dezernat für Serienverbrechen genau richtig aufgehoben. Hier macht niemand jemals solchen Murks.« Sie erhaschte seinen Blick, mit dem er sie von der Seite betrachtete, und musste schmunzeln. Heck lächelte – und beinahe wie gerufen erschien Gemma in der Tür und streifte sich ihren Regenmantel ab. Es gelang ihr spielend, ihre Überraschung darüber zu verbergen, die beiden so vertraut zusammensitzen zu sehen. »Guten Morgen«, sagte Claire und stand auf. »Guten Morgen, Claire. Hallo, Heck.« Heck stand ebenfalls auf. »Ma’am.« »Liegen die anderen alle noch im Dornröschenschlaf?« »Sie sind bestimmt schon auf dem Weg.« Gemma warf einen Blick auf die Uhr. »Fünfundvierzig Minuten gebe ich ihnen noch. Falls bis dahin niemand hier aufgeschlagen ist, ruf sie einen nach dem anderen an. Und scheu dich nicht, deutliche Worte zu benutzen.« Sie ging zurück auf den Hauptflur, erschien jedoch im nächsten Augenblick wieder in der Tür. »Sag mal, Heck, hast du heute Morgen zufällig schon Joe Wullerton gesehen?« »Bisher noch nicht.« »Ich habe eine Nachricht bekommen, ich möge bei ihm vorbeischauen.« »Keine Ahnung.« »Na gut.« Sie eilte davon. Heck wandte sich Claire zu. »Wir haben fünfundvierzig Minuten. Reicht das, um zu frühstücken?« »Frühstücken?« »Um die Ecke gibt es einen netten kleinen Feinkostladen. Dort machen sie köstliche Eier-Sandwiches.« Claire betrachtete noch einmal das Foto von der Frau mit dem Stock im Mund. »Ich weiß nicht, ob ich etwas essen kann, aber … ein bisschen frische Luft kann ja nicht schaden.« Gemma sah die beiden vom anderen Ende des Flurs aus zusammen weggehen. Für ihre dreißig Jahre war Claire Moody bereits sehr erfahren. Ihre Arbeitszeugnisse gehörten zu den besten, die Gemma je gesehen hatte, und auch im Vorstellungsgespräch hatte sie sich exzellent präsentiert. Weitere Pluspunkte waren ihr gutes Aussehen und ihr aufgewecktes Wesen. Die meisten Detectives im Dezernat für Serienverbrechen waren Männer, und wenn Claires Anwesenheit – zumindest bis sie Fuß gefasst hatte – dazu beitrug, dass sie respektvoller miteinander umgingen, umso besser. Es war absolut kein Wunder, dass Claire angebaggert wurde, allerdings überraschte es Gemma ein wenig, dass Heck offenbar ein Auge auf sie geworfen hatte. Allerdings hatte sie jetzt keine Zeit, sich groß Gedanken darüber zu machen. Sie betrat ihr Büro, hängte ihren Mantel auf, stellte den Regenschirm ab und dachte erneut über Joe Wullerton nach. Sie kannte ihn noch nicht besonders lange. Er hatte seine Position erst seit etwa einem halben Jahr inne, nachdem er den in Ungnade gefallenen Jim Laycock ersetzt hatte. Er hatte sich von Anfang dadurch ausgezeichnet, ein umgänglicher, zugänglicher Chef zu sein, ausgeglichen und locker drauf. Bei seiner Ankunft hatte er von sich aus seinen offiziellen Titel geändert und den machomäßig klingenden, bei der Metropolitan Police gebräuchlichen Titel »Commander« der National Crime Group durch den neutraleren Titel »Direktor« ersetzt, was sie vollauf begrüßte. Aber sie war nicht so naiv zu glauben, dass ab jetzt im Dezernat nur noch Friede, Freude, Eierkuchen herrschen würde. Wullerton war vom Krisenstab der Polizei von Hampshire zu ihnen gewechselt, den er fünfzehn Jahre lang erfolgreich geleitet hatte, also war er zweifellos ein abgebrühter, harter Bursche, der sein Handwerk verstand. Diese Voraussetzungen benötigte er auch für seinen neuen Posten, denn die National Crime Group umfasste neben dem Dezernat für Serienverbrechen auch noch die Abteilung Organisierte Kriminalität sowie die Sondereinheit für Entführungen, und die Leitung all dieser Abteilungen erforderte einige Führungserfahrung. Sie warf erneut einen Blick auf die Notiz, die ihr heute Morgen persönlich ausgehändigt worden war. Irgendwie kam ihr das merkwürdig vor, dass sie auf diese Weise zu ihm gebeten wurde. Kate hatte keine Ahnung, wie lange sie in der Dunkelheit gelegen hatte. Es war schwer abzuschätzen, wie tief sie gefallen war, als er sie in dieses pechschwarze Loch hatte plumpsen lassen – drei Meter, dreieinhalb, vielleicht mehr. Obwohl der Aufprall am Boden von etwas gedämpft worden war, das sich wie Stroh anfühlte, hatte sie eine Zeit lang das Bewusstsein verloren. Benommen und mit einem Übelkeitsgefühl lag sie nun zu einem Häufchen Elend zusammengrollt da. Die ekelige Decke war bei ihrem Sturz von ihr abgefallen, aber wo auch immer sie sich befand, stank es genauso furchtbar. Im gleichen Moment, in dem sie dies realisierte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein war. Irgendwo zu ihrer Linken regte sich etwas; sie hörte ein schwaches, heiseres Atmen. Sie schnellte ruckartig hoch auf die Knie. Ihr verstorbener Vater, der Grubenarbeiter gewesen war, hatte oft den Vergleich »dunkel wie der Kohlenschacht« verwendet, womit er zum Ausdruck bringen wollte, dass es absolut keinen einzigen Lichtspalt gab. Dies beschrieb genau die Situation, in der Kate sich jetzt befand. Undurchdringliche Finsternis hüllte sie von allen Seiten ein. Dennoch wusste sie, dass noch jemand da war. Jemand regte sich, ganz in ihrer Nähe. Sie langte in die Tasche ihres Lammfellmantels. Ihr Feuerzeug war zum Glück noch da. Sie hielt es weit vor sich, wie um einen Schlag abzuwehren, und machte es an. Obwohl die Flamme nur ganz schwach flackerte, war ihr plötzliches Aufzucken in der pechschwarzen Finsternis im ersten Moment wie ein Blitzlichtgewitter. Kate musste die Augen abschirmen, doch als sie sich schließlich an das Licht gewöhnt hatte, wusste sie nicht, worüber sie entsetzter sein sollte: über den Anblick der Zelle, in der sie eingesperrt war, oder über den Anblick ihrer beiden Mitgefangenen. Erstere sah aus wie der Grund eines Brunnens. Sie war rund, die Wände bestanden aus feuchten, schimmeligen Backsteinen und stiegen in die undurchdringliche Finsternis auf. Es gab keine Fenster und keine sichtbaren Haltegriffe oder Stützen für die Füße, um herausklettern zu können. Der Boden bestand aus mit Stroh bedeckter, festgetretener Erde. Sie sah auch, woher der Gestank kam: Eine Seite der Zelle – die sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, weil der ganze Raum vermutlich nur einen Durchmesser von drei Metern hatte – wurde als Toilette benutzt. Dort lagen etliche menschliche Hinterlassenschaften verstreut, ein Hinweis darauf, wie lange ihre Mitgefangenen bereits eingesperrt waren. Einer der beiden saß an der gegenüberliegenden Wand, die Knie angewinkelt und bis zur Brust hochgezogen; der andere kniete etwa drei Meter entfernt zu ihrer Linken. Kate wich schnell zurück, obwohl die beiden dürr und schmutzig waren und sie angesichts des plötzlichen Lichts mit Glupschaugen anstarrten. Ihrem Ausdruck nach verstörte ihre Gegenwart die beiden genauso wie sie selbst. Der zu ihrer Linken trug ein schmuddeliges weißes Unterhemd und eine kakifarbene Hose, ein militärtrainingsartiges Outfit, das dazu beitrug, ihn noch ausgemergelter aussehen zu lassen, als seine knochendürre Figur ohnehin schon war. Den gleichen Effekt hatten seine zahlreichen Tattoos, die billig und selbst gemacht aussahen. Sein Gesicht war dürr wie das eines Nagers, sein Haar eine schmierige, rotblonde Matte. Der, der an der Wand lehnte, trug einen hellblauen, zerschlissenen, völlig versifften Jogginganzug. Sein Haarschopf glich einem einzigen dreckigen Nest. Wie sein Mitgefangener hatte er ausgemergelte, pockennarbige Gesichtszüge, die Angst und Pein ausstrahlten. Aus Angst, dass das Gas ihres Feuerzeugs zu Ende ginge, machte Kate es aus und hüllte sie alle wieder in Finsternis. Sie blieb, wo sie war, den Rücken fest gegen die Wand gedrückt. »Wer sind Sie?«, fragte sie. »Wo bin ich?« »Ich bin Carl«, erwiderte eine Stimme zu ihrer Linken. Das war der Typ in der kakifarbenen Hose. »Und ich bin Lee«, sagte eine andere Stimme. Die Stimmen waren tonlos, weinerlich. Kate war beruhigt, dass sie sich nicht in akuter Gefahr befand, doch sie musste sich zusammenreißen, nicht die Kontrolle zu verlieren. »Okay … Carl und Lee. Warum sind wir hier? Wo sind wir?« »Unter der Erde«, erwiderte Carl. »Das habe ich auch schon gemerkt!«, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt. »Aber … Was soll das alles?« »Keine Ahnung.« Das war Lee. »Das Arschloch hat uns einfach gepackt und hier runtergeworfen.« »Wir wissen nicht, warum«, fügte Carl hinzu. »Wir wissen auch nicht, wer.« Ihrem Akzent nach schienen sie aus Manchester zu stammen, allerdings aus einem der ärmeren Viertel. »Wo kommen Sie her, Carl?«, fragte sie. Sie hatte das Gefühl, dass er von den beiden derjenige war, der weniger am Boden zerstört war. »Salford«, erwiderte er und bestätigte ihre Vermutung. »Ich auch«, meldete sich Lees Stimme. »Waren Sie zusammen, als es passiert ist?« »Sind uns vorher noch nie über den Weg gelaufen.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Vielleicht eine Woche«, sagte Carl. »Ist schwer, den Überblick zu behalten. Kannst du dein Feuerzeug noch mal anmachen?« »Besser nicht. Wir sollten sparsam damit umgehen. Glaubt ihr wirklich, ihr seid schon eine ganze Woche hier? Im Ernst?« »Vielleicht auch länger.« »Was ist genau passiert?« Carl zögerte, bevor er sagte: »Ich habe in Weaste an Autos rumgeschraubt.« »Du meinst, du hast ein Auto geklaut.« »Bin bloß ein bisschen rumgekurvt«, verteidigte er sich. »Anschließend habe ich sie immer wieder abgestellt. Die Eigentümer haben sie zurückbekommen oder die Versicherung kassiert. Hat niemandem wehgetan.« Er schniefte. »Ich habe nichts Spezielles gesucht. Bloß ’nen fahrbaren Untersatz für ’ne kleine Spritztour. Und ich hätte vielleicht das Radio und das Navi mitgehen lassen. Ich hatte in einer Nebenstraße einen Renault Scénic im Blick, als dieses Arschloch plötzlich vor mir steht – direkt vor mir, als ob er da gelauert und auf mich gewartet hätte – und mich bewusstlos schlägt. Bin erst hier unten wieder aufgewacht. Dachte, es wäre vielleicht ein Keller oder so was. Ein paar Tage später wirft er auch noch Lee hier runter. Sieht so aus, als würde er Menschen sammeln.« »Wer ist er?«, fragte sie. »Hab ihn nicht richtig gesehen. War zu dunkel.« »Ich hab ihn auch nicht gesehen«, sagte Lee. »Ich bin oben in Clifton um die Häuser gezogen und hab den Mitternachtsschlosser gespielt … Ich weiß schon, wie das klingt. Ist so ’ne Angewohnheit von mir. Irgendwie muss ich ja an Geld kommen. Nicht, dass ich es gerne täte …« »Oh Mann, hör auf mit diesem Scheiß!«, platzte Carl heraus. »Gib einfach zu, dass du ein mieses kleines Arschloch bist. Falls dieser Scheißkerl zuhört, ist es vielleicht genau das, worauf er wartet. Vielleicht lässt er uns raus, wenn wir endlich den ganzen verfickten Scheiß beichten, den wir angerichtet haben.« »Konnten Sie ihn sehen, Lee?«, fragte Kate. »Nee. Es war halb eins, tiefe Nacht. Pechschwarz. Ich war gerade über die hintere Mauer. Und dann steht da dieses Riesenarschloch auf der anderen Seite und wartet auf mich. Im ersten Moment habe ich ihn für einen Bullen gehalten. Ich wollte friedlich mit ihm gehen – immerhin hätte ich irgendwo pennen und was essen können. Selbst wenn sie mich am Morgen garantiert in die Mangel genommen hätten …« »Hat er was gesagt?«, unterbrach sie ihn. »Kein Wort. Hat einfach nur meinen Kopf gegen die Ziegelsteinmauer gerammt. Ab da erinnere ich mich an nichts mehr.« »Wenn er uns umbringen wollte, würde er uns nichts zu essen geben, oder?«, fragte Carl mit einem Hauch von Hoffnung in der Stimme. »Aha, er gibt uns also zu essen?« Kate wusste nicht, ob diese Information ihr Mut machen oder sie noch mehr beunruhigen sollte. »Hin und wieder lässt er ein paar Scheiben Brot runter«, erwiderte Carl. Sie hörte das Knistern von Einwickelpapier und stellte sich vor, dass er es ableckte, um auch noch die letzten Krümel aufzulesen. »Und ein paar Schokoladenkekse, aber nur einige wenige.« »Wenn er uns zu essen gibt, heißt das, dass er uns lebend will«, sagte Kate. Sie verkniff sich hinzuzufügen: fürs Erste. Niemand entführte Menschen und sperrte sie in einem unterirdischen Verlies ohne Licht und ohne fließendes Wasser ein, weil er es auf ein Happy End abgesehen hatte. Den Stapeln an Unterlagen zufolge, die ihnen ausgehändigt und allesamt in speziellen Ordnern mit der Aufschrift »Operation Feiertag« eingeheftet worden waren, handelte es sich bei der halb verwesten Leiche, die in das Fundament des alten Fabrikschornsteins eingemauert gewesen war, um einen obdachlosen Mann namens Ernest Shapiro. »Er war achtundsechzig und stand in der Hackordnung so weit unten, dass er nicht mal vermisst gemeldet wurde«, informierte Gemma die fünfunddreißig im Kriminalbüro versammelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Dezernats für Serienverbrechen. Alle starrten schweigend und gebannt auf den großen Bildschirm. »Falls Sie sich gefragt haben sollten, ob ihm dies angetan wurde, als er noch lebte«, fuhr sie fort, »lautet die Antwort ja. Die Gewebeabschürfungen an seinen Handgelenken haben bestätigt, dass er versucht hat, sich von seinen Handschellen zu befreien. Die Todesursache war langsame Dehydration – mit anderen Worten, er trocknete aus –, was bedeutet, dass er schon mindestens eine Woche in seinem Backsteinsarg eingemauert war, als die Kollegen aus Yorkshire ihn gefunden haben.« Es herrschte das gleiche gebannte Schweigen, als sie die Bilder des zweiten Verbrechens vorführte. In diesem Fall handelte es sich um einen Doppelmord: ein junger Mann und eine junge Frau, einander zugewandt auf dem Vordersitz eines geparkten Autos, die junge Frau auf dem Schoß des jungen Mannes sitzend. Sein Kopf war nach rechts gesackt, ihrer nach links. Sie waren vorn und hinten mit einer dicken Schicht aus geronnenem Blut überzogen. »Todd Burling und Cheryl Myers«, sagte Gemma, »er zwanzig, sie neunzehn – ermordet eineinhalb Monate nach dem Mord an Shapiro am vierzehnten Februar, also am Valentinstag. Ob Sie es glauben oder nicht, die Herzen der beiden wurden von einem Pfeil durchbohrt, während sie in Burlings geparktem Wagen Sex hatten.« »Das Weihnachtsmannopfer wurde am fünfundzwanzigsten Dezember entdeckt?«, fragte Shawna McCluskey. »Und das hier hat sich am Valentinstag zugetragen?« »So ist es.« »Da hat jemand Sinn für Humor«, warf Charlie Finnegan abfällig ein. »Es wird noch abgedrehter.« Gemma betätigte ihre Fernbedienung und richtete die Aufmerksamkeit der Versammelten auf diverse Fotos des dritten Tatorts. Dies waren bisher die grausamsten Bilder. Sie zeigten eine längliche, kaum noch als Mensch erkennbare Gestalt, die nahezu völlig verkohlt auf einem mit Laub übersäten Rasen lag. »Das war Barry Butterfield«, erklärte sie. »Männlich, dreiundvierzig Jahre alt und polizeibekannter Alkoholiker. Seine Leiche wurde im vergangenen Herbst entdeckt, am späten Abend des fünften Novembers am Stadtrand von Preston, Lancashire.« »Er ist nicht zufällig bei einem Lagerfeuer verbrannt?«, fragte Detective Inspector Ben Kane. Er war einer von Gemmas beleseneren Beamten, ein kräftiger Mann mit Brille, um die vierzig mit gepflegtem, vorzeitig ergrauendem Haar und einer adretten Kollektion an Cordjacken, karierten Hemden und Fliegen. »Wie sind Sie darauf bloß gekommen?«, fragte sie, betätigte die Fernbedienung ein paar weitere Male und zeigte einige grausige Nahaufnahmen. Einige Kleidungsfetzen hafteten noch an der Leiche, doch verkohlte Muskulatur und sogar Knochen waren entblößt. Das Gesicht war so zerschmolzen, dass es nicht mehr zu erkennen war – es sah aus wie das Gesicht einer Wachsfigur nach einer Behandlung mit einem Schneidbrenner –, doch der Ausdruck des verzweifelten Todeskampfes war noch erkennbar. »Zunächst wurde dieser Fall nicht als verdächtig eingestuft«, fuhr Gemma fort. »Offenbar ist er jeden Abend alleine durch die Kneipen gezogen. Die erste Annahme war, dass er sturzbetrunken und vermutlich auf der Suche nach weiterem Alk draußen vor der Stadt auf dem Brachland bei irgendeinem nicht angemeldeten Lagerfeuer gelandet ist. Es gab keine Hinweise darauf, ob weitere Menschen zugegen waren oder ob es passiert ist, als alle anderen bereits abgezogen waren … aber es schien denkbar, dass er im Suff das Bewusstsein verloren hat und in die Flammen gestürzt ist.« »Dann waren die Verbrennungen also die Todesursache?«, fragte Shawna. »Das ist genau das Problem. Der Gerichtsmediziner hat eine Autopsie angeordnet, und die hat ergeben, dass Butterfield bereits tot war, als er in das Feuer geworfen wurde. Die Todesursache war ein neurogener Schock, der durch eine massive Schädigung des inneren Gewebes verursacht wurde. Nahezu sämtliche Gelenke seines Körpers waren auseinandergerissen oder ausgekugelt.« »Als ob er auf einer Streckbank gefoltert worden wäre.« Diese Feststellung kam von Detective Chief Inspector Mike Garrickson, der Gemma vor Kurzem als stellvertretender Leiter des Dezernats zugeteilt worden war und bisher schweigend an ihrer Seite gesessen hatte. »Und wenn Sie sich an Ihren Geschichtsunterricht aus der Schule erinnern«, ergriff Gemma wieder das Wort, »wissen Sie, dass Guy Fawkes vor seiner Hinrichtung auf einer Streckbank gefoltert wurde. Und wir begehen den Jahrestag dieses Ereignisses am fünften November, indem wir Bildnisse von Guy Fawkes in Lagerfeuern verbrennen.« »Heißt das, wir haben es mit einer Art Kalendermörder zu tun?«, fragte Gary Quinnell. Er klang beinahe amüsiert angesichts dieser Vorstellung, doch sein Gesichtsausdruck sprach eine andere Sprache. Selbst hartgesottenen Mordkommissaren wie denen des Dezernats für Serienverbrechen schlugen die grausamen Fotos von Barry Butterfield auf den Magen. »Es scheint so«, entgegnete Gemma. »Und bisher hat er dreimal zugeschlagen.« »Verstehe ich das richtig, dass wir bisher nichts von anderen Morden oder Überfällen wissen, die mit diesem Fall in Verbindung zu bringen sind?«, fragte Detective Inspector Kane. »Der National Crime Faculty zufolge nicht«, stellte Garrickson klar. Heck, der in einer der Ecken stand, grübelte über den Unterlagen, die ihnen ausgehändigt worden waren, und warf noch einmal einen Blick in den Ordner mit dem Fall aus Lancashire und auf die These der dortigen Rechtsmediziner, die vermuteten, dass Butterfield zwischen einem sich bewegenden Auto und einem fest stehenden Objekt wie einem Baum oder einem Torpfosten »gestreckt« worden war. Dieses Detail ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Ganz schön beunruhigend, oder?«, sagte Garrickson. »Dass da draußen ein Irrer herumrennt, der noch schlimmer ist als die M1-Mörder.« Heck musterte ihn aufmerksam und fragte sich, ob die Bemerkung irgendeine verborgene Spitze enthielt. Da Gemmas zwei erfahrenste Detective Inspectors nicht verfügbar waren – Des Palliser im Ruhestand und Bob Hunter in den Innendienst verbannt –, war Garrickson für die Dauer dieser Ermittlung als ihr Stellvertreter abgestellt worden. Ob Gemma darüber erfreut oder verärgert war, hatte niemand zu fragen gewagt, allerdings wussten alle, dass sie am Tag zuvor ins Chefbüro beordert worden war, angeblich zu einer Besprechung mit Joe Wullerton, dem Direktor der National Crime Group, um sich dann jedoch der kompletten Kriminalabteilung der Association of Chief Police Officers gegenüberzusehen. Auf dieser Sitzung war ihr nicht nur der Fall in seiner Gesamtheit zugeteilt worden – das Dezernat für Serienverbrechen hatte den Großteil des Ermittlungsteams zu stellen –, sondern auch Garrickson … aber als ihre Nummer zwei oder als ihr Aufpasser? Heck hatte Garrickson schon im Yard gesehen, aber nie mit ihm gesprochen. Genau genommen wusste er nicht viel über ihn, nur dass er einer dieser durchtriebenen Schlitzohren von der Abteilung für Organisiertes Verbrechen war: gut gekleidet, arrogant und zutiefst davon überzeugt, dass seine Position es ihm gestattete, so oft und so lange er wollte mit Schurken in zwielichtigen Londoner Pubs abzuhängen, ohne jemals jemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Sein klotziges Auftreten unterstrich perfekt diese Attitüde. Er war untersetzt und kraftvoll gebaut, hatte breite Wangenknochen, ein kantiges Kinn und einen gefährlichen Blick. Sein rotes Haar war zu einer steifen, strohdachartigen Frisur gegelt. Selbst in seinem besten Maßanzug aus der Savile Row mit dem lilafarbenen Einstecktuch in der Brusttasche sah er aus wie ein billiger Gangster. »Aber was für Beweggründe könnten ihn antreiben?«, fragte Ben Kane. Von Natur aus eher der kopfgesteuerte Typ, war er beim Dezernat für Serienverbrechen immer der Erste, der die analytischen Fragen aufs Tapet brachte. »Er will Aufsehen erregen«, schlug jemand vor. »Etwas anderes kann es nicht sein … makabres Aufsehen.« »Genau, er zieht eine Show ab«, stimmte eine andere Stimme zu. »Vollkommen krank.« »Es muss mehr dahinterstecken als das«, warf Shawna ein. »Haben diese besonderen Daten irgendeine verborgene Bedeutung?« Gemma sah Detective Sergeant Eric Fisher an, der sich als ihr bester Rechercheur und Analytiker normalerweise bei allen möglichen Themen als ein wandelndes Lexikon erwies. Fisher zuckte mit seinen breiten Schultern. »Weihnachten und der Valentinstag sind kompliziert … zumindest was ihre Entstehungsgeschichte angeht. Die ist nämlich längst nicht so eindeutig, wie der Durchschnittsbürger auf der Straße vielleicht glauben mag.« »Ursprünglich waren es mal heidnische Feste, oder?«, fragte Gemma. »In der dunklen, fernen Vergangenheit ja. Worauf spielen Sie an? Menschenopfer?« »Ich weiß auch nicht«, erwiderte sie. »Wir müssen auf jeden Fall die Hintergründe dieser Festtage untersuchen. Herausfinden, ob es irgendwelche Verbindungen gibt.« »Es gibt keine klar auf der Hand liegenden Rituale«, stellte Gary Quinnell fest. Er war der Einzige der Anwesenden, der regelmäßig Gottesdienste besuchte, weshalb seine Meinung in diesem Punkt wahrscheinlich als fundiert anzusehen war. »Für mich sehen diese Todesfälle eher aus wie grausige Scherze. Aber falls da eine pseudoreligiöse Geschichte abläuft … könnte es sich vielleicht, ich weiß ja auch nicht, um einen Satanskult handeln?« Garrickson schnaubte verächtlich. »Ich höre schon die Reaktion der ach so trendigen Linken, wenn wir uns mit den Satanisten anlegen. Selbst die haben ja heutzutage ihre Rechte.« »Ich glaube, es geht nur darum, zu schockieren und Furcht zu verbreiten«, sagte Charlie Finnegan. Er war ein schlanker, tüchtig aussehender Mann, immer gut gekleidet, doch mit seinem schwarzen, nach hinten gegelten Haar wirkte er eine Spur unseriös. Ein positiver Aspekt seines zum Spöttischen neigenden Charakters bestand darin, dass er die Dinge beim Namen nannte, wie er sie sah. »Wir lagen mit unserer ursprünglichen Vermutung richtig. Er versucht uns mit der Ungeheuerlichkeit seines Vorgehens einfach nur zu verstören.« »Ich nehme an, es wurde bereits in bestimmte Richtungen ermittelt?«, fragte Kane. »Diverse interessant scheinende Leute wurden ins Visier genommen, bevor wir gemerkt haben, dass es zwischen den Fällen eine Verbindung gibt«, erwiderte Gemma. »Aus unterschiedlichen Gründen wurden sie von den ursprünglichen Ermittlungsteams allesamt letztendlich als infrage kommende Täter ausgeschlossen. Aber Detective Chief Inspector Garrickson und ich werden uns die Bewertung jedes Einzelnen von ihnen noch einmal persönlich vornehmen. Außerdem werden wir sämtliche Zeugenaussagen erneut unter die Lupe nehmen. Wir haben auch noch ein paar andere Möglichkeiten – nicht gerade Hauptermittlungsrichtungen, aber zumindest Hinweise, die wir zunächst sorgfältig prüfen müssen, bevor sie offiziell Eingang in unsere Polizeiakten finden.« »Physische Beweise?«, fragte Finnegan. »Bisher nicht«, erwiderte Gemma. »Überwachungskameras?«, schlug Kane vor. »Da könnten wir Glück haben«, stellte Gemma fest. »Es ist ziemlich naheliegend, dass mindestens zwei der Opfer – das junge Paar, das in den West Pennine Moors ermordet wurde – vor der Tat ausgekundschaftet wurden. Ich glaube auch nicht, dass Ernest Shapiro und Barry Butterfield einfach nur dran glauben mussten, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Sie könnten natürlich durchaus Zufallsopfer gewesen sein – ein obdachloser Landstreicher und ein Saufbruder auf der Suche nach einem Drink –, doch ich glaube, dass sie erst ausgewählt und dann in die Falle gelockt wurden. Die ursprünglichen Ermittlungsteams sind von der gleichen Annahme ausgegangen und haben versucht, die letzten Aktivitäten der Opfer mithilfe von Aufnahmen aus diversen Überwachungskameras zu rekonstruieren. Kameras von Nachtklubs und Pubs oder welchen, die an Straßenecken oder Bushaltestellen stehen. Bisher ist noch nichts Durchschlagendes dabei herausgekommen, aber es gibt noch ziemlich viel Material, das ausgewertet werden muss.« »Und es gibt absolut keine Verbindung zwischen den Opfern?«, fragte Gary Quinnell. »Jedenfalls keine, auf die wir bisher gestoßen sind«, sagte Garrickson und erhob sich von dem Tisch, auf dem er gesessen hatte. »Und bevor wir noch mehr Zeit damit vergeuden, Dinge durchzukauen, die bereits in den Einsatzbesprechungsunterlagen aufgeführt sind, sollten wir mit der Arbeit beginnen. Unsere lokalen Informanten haben uns bisher keinerlei Hinweise geliefert, und wir konnten auch keine Verdächtigen aufgrund des Modus Operandi identifizieren, obwohl wir auf diesem Gebiet weiter Ausschau halten können, wenn wir die Suche ausdehnen. Darüber hinaus legt nichts die Vermutung nahe, dass diese Verbrechen als etwas getarnt wurden, um eine andere Straftat zu verdecken. Es gibt in keinem Fall einen Hinweis auf Raub oder ein Sittlichkeitsverbrechen …« »Nein, es sind Nervenkickmorde«, stellte Heck fest. Garrickson, der es offenbar nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden, bedachte ihn mit einem langen, abschätzenden Blick. »Das sind keine gewöhnlichen Verbrechen«, fuhr Heck fort. »Ganz und gar nicht. Aus irgendeinem unbekannten Grund findet der Täter ungeheure Befriedigung darin, diese … aufwendigen Zeremonien abzuhalten.« »Zeremonien?«, fragte Shawna. »Genau das tut er doch … er zelebriert Feiertage. Aber dafür nimmt er einen gewaltigen Aufwand in Kauf. Meiner Meinung nach ist das Spektakel selbst für ihn das Wichtigste. Die Opfer sind nahezu nebensächlich. Nach allem, was wir bisher gesehen haben, ist ihr sozialer Status unerheblich, das Gleiche gilt für ihr Alter oder ihr Geschlecht. Es ist, als wären sie einfach nur … na ja, Bühnenrequisiten.« Garrickson setzte einen skeptischen Blick auf. »Das Kernstück von jedem ›Spektakel‹, wie Sie es nennen, Sergeant, ist ein kaltblütiger, geplanter Mord. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass diese Opfer ihm ein bisschen mehr bedeuten, als nur pure Bühnenrequisiten abzugeben.« »Verstehen Sie mich nicht falsch, Sir«, entgegnete Heck. »Es ist wichtig für ihn, dass sie bluten und schreien. Aber hier geht es um mehr als um Grausamkeit um ihrer selbst willen.« »Also gut …«, schaltete Gemma sich ein. »Wir können so viel theoretisieren, wie wir wollen – zu gegebener Zeit. In der Zwischenzeit sollten wir praktische Fragen besprechen. Wir haben drei verschiedene Tatorte, deshalb schlage ich vor, drei Einsatzzentralen einzurichten, eine davon in der Polizeiwache von Bolton, die die Einsatzleitung übernimmt, da sie am zentralsten liegt, und die anderen beiden in Preston und in der Innenstadt von Leeds, auch wenn das bedeutet, dass wir dann natürlich per Videokonferenz oder über die eigens einzurichtende Website der Einsatzleitung Kontakt halten müssen. Kommando Gold, die strategische Leitung operiert von hier vom Yard aus …« Es gab Beifallsbekundungen. Niemand hatte Lust auf einen aufgeblasenen Gesamtleiter der ganzen Operation mit Elfenbeinturmallüren, der ihnen mit Hinweisen auf »Budgetkürzungen« oder mangelndes »allgemeines Vertrauen« im Weg stand. »Kommando Silber, die taktische Leitung, besteht aus Detective Chief Inspector Garrickson und meiner Wenigkeit«, fuhr Gemma fort. »Wir werden in der zentralen Einsatzleitung stationiert sein und uns zunächst auf den Doppelmord in Bolton konzentrieren. Detective Chief Inspector Garrickson wird auch die Ermittlungen insgesamt steuern und organisieren. Bei dieser Geschichte müssen wir alle in verschiedenen Rollen arbeiten, meine Damen und Herren. Kommando Bronze, die operative Leitung, wird wie folgt besetzt: Detective Inspector Kane leitet die Ermittlungen vor Ort in Leeds und berichtet an mich; Detective Inspector Brunwick leitet die Ermittlungen in Preston und berichtet ebenfalls an mich. Die meisten von Ihnen kennen sie noch nicht, aber Claire Moody ist ab sofort unsere Pressesprecherin.« Claire, die an einer Seite stand, nickte, als sich alle Blicke auf sie richteten. »Claire hatte noch keine Zeit, sich ihr Büro einzurichten, deshalb wird sie fürs Erste mit mir zusammen eine umfassende Medienstrategie erarbeiten«, fuhr Gemma fort. »Was den Rest von Ihnen angeht – die grundlegenden Zuständigkeiten sind in den Einsatzbesprechungsunterlagen aufgeführt und verteilen sich wie folgt …« In dem Raum machte sich eine gedämpfte Geschäftigkeit breit, als die Mitglieder der einzelnen Teams eines nach dem anderen ihre jeweiligen Funktionen und Aufgaben zugewiesen bekamen. Laptops wurden zugeklappt, Unterlagen in Aktentaschen verstaut. Als Gemma einen Anruf auf ihrem Handy erhielt, zog sie sich in einen Nebenraum zurück, und die Besprechung war kurzfristig unterbrochen. Alle entspannten sich und unterhielten sich laut miteinander. Heck saß an seinem Schreibtisch und sortierte seine Unterlagen. Einiges davon würde er nach Norden mitnehmen müssen – anstehende Arbeiten, die einfach nicht warten konnten. Er nahm ein weiteres Utensil aus seiner Schublade und legte es auf die Sachen zum Mitnehmen. Es war ein dickes, in Leder eingebundenes Album, das so alt und abgegriffen war, dass die ausfransenden Ränder mit Klebeband zusammengehalten wurden. Er klappte es auf. Es war zur Hälfte mit Fotos von Gesichtern gefüllt – einige waren neu, andere alt und zerknittert. Er fügte vier weitere hinzu: die Kopfaufnahmen der Opfer, die bei der Operation-Feiertag-Besprechung verteilt worden waren. Er schob sie hinten in das Album, anstatt sie auf der nächsten freien Seite einzukleben. Noch gab es keinen Grund, diese Fotos als dauerhafte Ergänzungen seiner Sammlung einzustufen. »Hallo«, meldete sich eine Stimme. Heck blickte auf und sah, dass Claire an seiner Schulter erschienen war. Sie blickte neugierig auf das Album, das er rasch zuklappte. »Ich nehme an, jetzt geht es richtig zur Sache, oder?«, fügte sie hinzu. Angesichts der bevorstehenden Aufgabe wirkte sie erstaunlich gelöst und munter. »Und du dachtest schon gestern, du wärst ins kalte Wasser gestoßen worden«, entgegnete er. »Wie fühlst du dich?« »Na ja … Es ist aufregend.« Heck war von dieser Bemerkung überrascht, obwohl er es vielleicht nicht hätte sein sollen. Während ihres gemeinsamen Frühstücks am Vortag war Claire deutlich aufgelockert und hatte aufgehorcht, als er sie darauf hingewiesen hatte, dass sie von nun an integraler Bestandteil bei den Ermittlungen schwerer Verbrechen sei und sich demzufolge selbst als Soldatin im Krieg zwischen Gut und Böse betrachten solle. Sie hatte über diese Formulierung gelächelt, woraufhin er ebenfalls gelächelt und ihr offenbart hatte, dass er letzteren Part nicht ganz ernst gemeint habe, es jedoch manchmal hilfreich sei, sich die Verbrechensopfer als Grund dafür vor Augen zu halten, weshalb man diesen Job mache, gewissermaßen als Antrieb. »Das sind die Leute, für die wir bei unserer Arbeit noch mal eine Schippe drauflegen«, hatte er gesagt. »Und andere wie sie … denen es dank unserer Anstrengungen vielleicht erspart bleibt, das gleiche Schicksal zu erleiden.« Diese Feststellung gefiel ihr, und sie hatte sie erneut mit einem Lächeln quittiert. Dann hatte sie interessiert und professionell die Morde in Kent mit ihm diskutiert. »Ich hoffe, ich bin gestern nicht zu zartbesaitet erschienen«, sagte Claire jetzt. »Ich meine, wegen meiner Reaktion auf diese Tatortfotos.« »Es ist nichts Zartbesaitetes daran, wegen eines Mordes aufgebracht zu sein.« »Das Eier-Sandwich, das du mir bestellt hast … war genau das Richtige, wie sich herausgestellt hat.« »Normalerweise ist es kein Gegenmittel bei einem flauen Magen, aber Hauptsache, es hat gewirkt. Also … bist du zufrieden?« »Na ja, ich befinde mich eindeutig in einem Lernprozess. Einem intensiven sogar.« Er zuckte mit den Schultern. »Das trifft auf uns alle zu.« »Ja, aber ich glaube, ihr habt einen kleinen Vorsprung. Ich meine …« Sie blätterte durch die Einsatzbesprechungsunterlagen. »Ich kann mir ja vorstellen, was ein Beweissicherungsbeamter macht, aber ein Beweismittelfreigabebeamter? Oder ein Hausbefragungskoordinator?« »Mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wirst du da schon durchblicken.« »Diesen Unterlagen zufolge bist du ›Minister ohne Geschäftsbereich‹?« Sie zog fragend die Augenbrauen hoch. Heck lächelte. »Das ist eher ein inoffizieller Titel. Er bedeutet, dass ich keine fest zugewiesene Funktion habe … ich bin eher eine Art Springer mit wechselnden Aufgaben. Ich halte mich über die Gesamtermittlungen auf dem Laufenden und springe ein, wo ich gebraucht werde. Nicht jeder leitende Ermittlungsbeamte würde so vorgehen, aber Gemma scheint zu glauben, dass es funktioniert.« »Okay, alle mal zuhören!«, rief Gemma, als sie wieder in den Raum zurückkam. Die Versammelten verfielen wieder in Schweigen. »Wie Sie alle wissen, haben wir den Vorteil der Sofortreaktion verloren. Aber wir sollten das nicht als Problem ansehen. Das gibt uns vielleicht die Möglichkeit, uns etwas Zeit zu nehmen und in aller Ruhe erst mal eine Bestandsaufnahme zu machen, anstatt uns wie wild gewordene Stiere aufzuführen. Ich erwarte, dass Sie sich alle auf die Ihnen zugewiesenen Posten begeben, aber das bevorstehende Osterwochenende bietet uns ein paar Tage, die wir nutzen können, um unsere Sachen zusammenzusuchen. Wir legen offiziell am Ostermontag los, dann erwarte ich, dass alle um Punkt sieben an Ort und Stelle sind. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Es erhob sich ein allgemeines bejahendes Gemurmel. »Noch irgendwelche Fragen?«, fuhr sie fort. »Ich habe eine, Ma’am«, meldete sich Shawna. »Warum ist dieser Fall exklusiv dem Dezernat für Serienverbrechen zugeteilt worden?« Die versammelte Truppe hörte interessiert zu. Es kam in letzter Zeit nur selten vor, dass sie allesamt auf einen Fall angesetzt wurden. Gemma lächelte matt, als ob sie diese Frage erwartet hätte. »Aufgrund der geografisch verstreuten Tatorte fällt diese Ermittlung nicht in die Zuständigkeit einer einzelnen Polizeidienststelle. Das macht sie zu einem idealen Fall für das Dezernat für Serienverbrechen. Aber …«, sie seufzte, »in Wahrheit ist dies auch einer der Fälle, bei denen es umso besser ist, je weniger Beamte involviert sind. Das war eine klare Ansage von oben. Sie wollen, dass die Sache unter der Decke bleibt. Bisher haben weder die Presse noch die Öffentlichkeit Wind davon bekommen, dass wir es schon wieder mit einem Serienverbrechen zu tun haben. Und sie wollen, dass das auch so bleibt.« »Natürlich werden wir da draußen in der Pampa auf ein paar lokale Kräfte zur Unterstützung zurückgreifen können«, fügte Garrickson hinzu. »Aber wir werden die Zügel verdammt eng anziehen müssen. Wir können es uns nicht leisten, dass im ganzen Land Horrorgeschichten die Runde machen. Wir wollen keine Panik auf den Straßen und keine allgemeine öffentliche Unruhe. Nicht schon wieder. In dieser Hinsicht war die M1-Ermittlung ein einziges Desaster.« Gemma zeigte keinerlei Regung, auch wenn es naheliegend war, dass sie über Garricksons Bemerkung nicht gerade erfreut war. »Insofern unterliegt die Operation Feiertag einer Nachrichtensperre«, stellte sie jetzt klar. »Das bedeutet, jeder Aspekt dieser Ermittlung ist unter Verschluss zu halten. Ich meine es ernst, Leute. Sie reden mit niemandem darüber. Weder mit Freunden noch mit Angehörigen. Und jegliche Kontakte zu den Medien – und damit meine ich wirklich alle – laufen ausschließlich über Claire Moody. Wir sollten den Tatsachen ruhig ins Auge blicken. Kürzungen bei der Polizei sind gerade schwer in Mode, und das Innenministerium hat das Dezernat für Serienverbrechen unter Beobachtung. Einheiten wie unsere kosten einen Haufen Geld, und nach der M1-Ermittlung fragen sich die Leute, ob dieses Geld wirklich gut angelegt ist. Joe Wullerton meint, die beste Art zu beweisen, dass wir das Geld wert sind, besteht darin, als eigenständige Einheit in die Schlacht zu ziehen und ein paar Bösewichte hochzunehmen. Und da bin ich mit ihm einer Meinung. Es ist in unser aller Interesse, mit unserer Arbeit erfolgreich zu sein.« Sie machte eine Pause und ließ ihre Worte sacken. »Und noch etwas.« Ihr Tonfall änderte sich, er wurde weicher und zugleich eindringlicher. Ihre blauen Augen nahmen jeden der Anwesenden kurz ins Visier. »Ich möchte, dass Sie alle Sensationsaspekte dieses Falls aus Ihrem Kopf verbannen. Vergessen wir nicht, dass jeder einzelne dieser Morde, so grotesk der Täter die Verbrechen auch in Szene gesetzt haben mag, eine menschliche Tragödie darstellt, und zwar nicht nur für die Menschen, denen das Leben genommen wurde, sondern darüber hinaus auch für unzählige weitere Menschen. Ich will damit sagen, was ich immer in Momenten wie diesen sage … Wir können diese Opfer nicht ins Leben zurückbringen und die Qualen, die sie erlitten haben, nicht ungeschehen machen. Aber als die in diesen Fällen ermittelnde Polizeieinheit sind wir moralisch und aus professionellen Gründen verpflichtet, denjenigen, der für diese Taten verantwortlich ist, vor ein Gericht zu bringen. Es gibt keine größere Verpflichtung. Wenn es um die Sicherheit und Unversehrtheit von Familien, Gemeinden, ja des ganzen Landes geht, in dem wir leben, hat niemand auf der Welt in diesem Moment eine wichtigere Aufgabe als wir. Sie wissen alle, was Sie zu tun haben, meine Damen und Herren – also gehen Sie raus und tun Sie es.« Kate war sich nicht sicher, wie lange der Lärm über ihnen jetzt schon anhielt, aber es kam ihr vor, als ob das unaufhörliche Hämmern und das durchdringende Kreischen von Holzsägen schon mindestens einen ganzen Tag lang andauerten. Es hallte hinunter in das tiefe, enge Verlies und schlug auf die drei Gefangenen ein wie eine Faust. Doch es war nur eine neue Qual, die zu den anderen hinzukam, unter denen sie bereits litten. Die Hitze in der beengten Zelle war erdrückend, das Gleiche galt für den Gestank. Die Tatsache, dass drei Menschen gezwungen waren, ihre Notdurft immer wieder an der gleichen Stelle zu verrichten, erzeugte einen derart penetranten Fäkaliengeruch, dass sie diesen beinahe schmecken konnten. Und dazu der Durst. Hin und wieder wurde aus der Dunkelheit über ihnen ein Kabel herabgelassen – ein Koaxialkabel, an dem auf halbem Weg nach oben eine schwache Glühbirne befestigt war, damit sie etwas sehen konnten, und an dessen unterem Ende sich ein Eimer befand. Manchmal enthielt dieser Eimer ein paar Stücke Brot, ein paar Scheiben Schinken und eine oder zwei Möhren, doch obwohl Carl gesagt hatte, dass er manchmal auch mit Wasser gefüllt gewesen war, hatten sie nichts zu trinken bekommen, seitdem Kate zu den beiden anderen Gefangenen in das Verlies gestoßen worden war. Sie waren alle am Verdursten. Carl und Lee reagierten darauf, indem sie stöhnend auf dem Boden lagen, wobei Letzterer noch schlimmer litt, da er einen kalten Entzug durchmachte. Kate konnte das bestens nachvollziehen; sie lechzte selber begierig nach einer Zigarette, doch ihre Gelüste konnten nicht halb so quälend sein wie Lees. Sie versuchte, ihm beizustehen, doch der Gasvorrat ihres Feuerzeugs war längst erschöpft, und in der pechschwarzen Finsternis konnte sie für die zitternde, schweißgebadete Gestalt nichts Hilfreiches tun. Carl, der zunächst als der Stärkere der beiden erschienen war, hatte sich auch nicht als nützlicher Zellengenosse erwiesen. Insbesondere an diesem Tag war er kollabiert und hatte einen totalen Zusammenbruch erlitten. Er jammerte über den Lärm und klagte darüber, dass seine Kehle sich anfühle wie eine Schuhsohle. Doch auch vorher, als sie versucht hatte, mit ihm über eventuelle Ausbruchmöglichkeiten zu reden, war mit ihm nichts anzufangen gewesen. »Passt mal auf, ich kann nicht allzu tief gefallen sein«, hatte sie leise festgestellt, da sie Angst hatte, dass ihr Entführer sie womöglich hörte. »Sonst hätte ich mir etwas gebrochen. Das heißt, wenn sich einer von uns auf die Schultern des anderen stellt, kann er vielleicht bis zur Falltür hinauflangen.« »Wovon, zum Teufel, redest du?«, hatte Carl ungläubig erwidert. Sie hatte sich vorgestellt, wie sein Wieselgesicht angesichts des bloßen Vorschlags, sich physisch zu betätigen, vor Schreck noch länger geworden war und diese gelblichen Glupschaugen im Begriff gewesen waren, aus ihren Höhlen zu flutschen wie pochierte Eier aus ihrer Schale. »Ich weiß ja, dass wir keine Turner sind«, hatte sie insistiert. »Aber wie schwer kann das schon sein, wenn unser aller Leben davon abhängt? Du kannst ja als Erster auf meine Schultern steigen.« »Du machst wohl Witze!« »Mensch, Carl … Du könntest es schaffen, hier rauszukommen! Und dann könntest du Hilfe holen.« »Ich … zu den Bullen gehen?« Er war komplett fassungslos gewesen. »Was glaubst du denn, wer uns sonst rettet? Die Einbrechergewerkschaft? Die Vereinigung der Autodiebe?« »Ich werde es nie und nimmer schaffen«, hatte er gejammert. »Wir werden es nie und nimmer schaffen, wenn wir hier unten bleiben. Lee jedenfalls bestimmt nicht. Er muss ins Krankenhaus.« »Das ist sein verdammtes Problem. Er ist der Junkie. Glaubst du vielleicht, ich hätte mich nicht mit Drogen zugedröhnt? Glaubst du, ich hätte nicht auch ein Scheißleben gehabt und mir gewünscht, hin und wieder einfach alles zu vergessen?« Sie hatte geseufzt und sich die schmerzende Stirn gerieben. »Dann steige ich vielleicht besser auf deine Schultern.« »Ja, super«, hatte er höhnisch entgegnet. »Mein Gott, was bist du für ein elender Jammerlappen!« Es kam nur äußerst selten vor, dass Kate die Geduld verlor und patzig wurde. Abgesehen von allem anderen, was dagegen sprechen mochte, brachte es normalerweise auch nichts. Ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Menschen, die tagtäglich mit Füßen getreten werden, dazu tendieren, auf Ungeduldsausbrüche gar nicht mehr zu reagieren. Das Gleiche passierte jetzt. »Lass mich in Ruhe!«, hatte er desinteressiert entgegnet. »Du kannst es doch wenigstens versuchen«, hatte sie gefleht. »Wenn wir es nicht versuchen, werden wir hier unten versauern.« »Wir werden hier nicht versauern. Irgendwann wird er uns rauslassen. Das muss er. Warum sollte er uns sonst am Leben erhalten?« Schon wieder diese Frage – eine Frage, über die Kate immer weniger nachdenken mochte. Und dann hatten sie über sich Bewegung gehört, und jegliche Hoffnung, möglicherweise mithilfe akrobatischer Kunststücke aus dem Loch herausklettern zu können, war zunichtegemacht worden, da das Hämmern und Sägen begonnen hatte. Anfangs hatte Kate gerufen und versucht, sich über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg, der ihrem Grabessang gleichkam, Gehör zu verschaffen. »Um Himmels willen, ersparen Sie uns das! Reicht es nicht, dass wir hier unten blind werden? Ist es nicht genug, dass wir an unserem eigenen Gestank ersticken? Haben Sie doch in Gottes Namen Erbarmen! Wir sind Menschen, keine Tiere! Sie Mistkerl! Sie verfluchter herzloser Mistkerl, wir krepieren hier unten!« Natürlich war selbst sie irgendwann auf den Boden gesackt, innerlich zusammengebrochen und hatte geschluchzt, obwohl sie wusste, dass das unklug war, weil es ihrem Körper noch mehr lebenswichtige Flüssigkeit entzog. Als, wie es schien, unzählige Stunden vergangen waren, hörte der Lärm über ihnen ohne jede Vorwarnung so unvermittelt auf, wie er begonnen hatte. Es folgte eine ohrenbetäubende Stille. Kate starrte geschwächt hinauf in die Finsternis. Wie immer war kein einziger Lichtstrahl zu sehen. Carl stöhnte vor sich hin und stammelte unzusammenhängendes Zeug. Von Lee war nichts zu hören, was in gewisser Weise eine Wohltat war. Kate rappelte sich langsam und erschöpft hoch auf die Füße, legte den Kopf in den Nacken und rief erneut: »Bitte … Biiittte … Geben Sie uns etwas! Wenn Sie uns auch sonst nichts geben – wir brauchen dringend Wasser!« Sie war so daran gewöhnt, niemals eine Antwort zu erhalten, dass es sie beinahe umhaute, als mit einem Knarren die Luke aufging. Fasziniert starrte sie nach oben auf das Quadrat aus schwachem Licht. Sie hörte ein dumpfes Scheppern und sah, dass der Metalleimer heruntergelassen wurde. Kalte Wassertropfen schwappten über, als der Eimer auf dem Weg nach unten hin und her pendelte. Es war wie immer. Die Glühbirne, die sich etwa zwei Meter über dem Eimer befand, wurde eingeschaltet, als dieser fast in Reichweite unten angekommen war. Die Backsteinmauern ihres zylindrischen Gefängnisses waren auf einmal in all ihrer niederdrückenden Trostlosigkeit zu sehen. Carl kam aus seiner Ecke gekrabbelt, eine verdreckte Gespenstheuschrecke, seine rot geränderten Augen weit aufgerissen, doch Kate bekam den Eimer als Erste zu fassen. Noch vor wenigen Tagen wäre es für sie völlig undenkbar gewesen, aus so einem Behältnis irgendetwas zu essen oder zu trinken. Der Eimer war schmutzig und verbeult, der obere Rand verrostet, der kaputte Griff notdürftig mit Klebeband befestigt. Doch in diesem Moment kam ihr der Eimer beinahe vor wie ein Glaskelch. Und was noch besser war: Er war randvoll mit frischem, sauberem Wasser. Sie nahm ein paar große Schlucke, bevor Carl ihr den Eimer wegriss und das Wasser gierig in sich hineinkippte. Er war bereits zu drei Vierteln geleert, als Kate einfiel, dass Lee auch etwas trinken musste. Sie schnappte sich den Eimer wieder, trug ihn zu ihrem halbkomatösen Mitgefangenen und schaffte es, ihm ein wenig von dem Wasser einzuflößen. Anfangs floss es über und rann ihm das Kinn herunter, doch dann hustete er und würgte und begann, ohne auch nur die Augen zu öffnen, zu schlucken – und er schluckte und schluckte, bis der Eimer leer war. Im gleichen Moment wurde er wieder hochgezogen und verschwand hin und her pendelnd aus Kates Reichweite. Sie blickte hinauf, um zu sehen, ob in der Öffnung vielleicht der Kopf ihres Entführers erscheinen würde, doch nichts dergleichen geschah. »He!«, rief sie. »He, Sie sind noch nicht zu weit gegangen! Noch leben wir hier unten alle, was wir bestimmt nicht Ihnen zu verdanken haben! Hören Sie … Warum lassen Sie uns nicht gehen, bevor das alles noch zu etwas viel Schlimmerem ausartet? Ganz egal, wie Sie es anstellen … Sie können uns ja die Augen verbinden, uns knebeln und fortschaffen und uns irgendwo an einer Autobahn aussetzen. Aber noch sind wir nicht tot, also kommen Sie zur Vernunft!« Carl murmelte irgendetwas. Es klang wie: »Kann meine Füße nicht mehr spüren …« Sie blickte sich zu ihm um. Das Licht der Glühbirne war verschwunden, als der Eimer aus ihrem Blickfeld gezogen worden war, doch die schwache Lichtsäule, die durch die Luke fiel, reichte aus, um Carl erkennen zu können, der an der Wand stand. Er stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, hatte sich jedoch vornübergebeugt und schüttelte matt den Kopf. Mit seiner freien Hand tastete er sich die Stirn ab, auf der Schweiß glänzte. Als er langsam auf die Knie sank, verspürte Kate eine zunehmende Schlappheit und eine Schwere in den Gliedern, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte. Plötzlich war sie ebenfalls total benebelt. Sie versuchte, die Benommenheit abzuschütteln, doch dann wurde ihr auch noch übel. Vor ihren Augen verschwamm alles, sie sackte auf den Boden und blieb auf der Seite liegen. Das Letzte, was sie sah, bevor die Ohnmacht sie überkam, war eine Strickleiter, die in das Erdloch herabgelassen wurde, und dann eine Gestalt, die herunterkletterte und etwas über ihrer muskulösen Schulter trug, das aussah wie mehrere Rollen Kabel. Selbst Beamte des Dezernats für Serienverbrechen wurden nur selten schon vor sechs Uhr morgens kontaktiert, sodass man beinahe davon ausgehen konnte, dass es sich um schlechte Nachrichten handelte, wenn es doch passierte. Heck hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sein Handy, das er nachts immer auf dem Nachttisch neben seinem Bett deponierte, im Dunkeln anfing zu piepen. Bevor es seiner tastenden Hand gelang, das lästige Objekt zu lokalisieren, richtete er den Blick durch das Schlafzimmer auf die Anzeige der digitalen Uhr. Ihre leuchtenden Ziffern standen auf 5.58 Uhr. Er hielt sich das Handy ans Ohr und zog gleichzeitig an der Zugschnur der Nachttischlampe. »Ja? Heckenburg?« »Heck!« Es war Shawna McCluskey. »Bist du online?« »Ich liege in meinem verdammten Bett. Was ist denn los?« »Am besten gehst du schnellstens mal ins Netz.« Heck klemmte sich das Handy unters Kinn und tappte über den dunklen Flur zu dem kleinen, kalten Zimmer, das er als Büro benutzte. Als er online war, sah er, dass Gemma gerade eben eine MPEG-Datei herumgeschickt hatte. »Das sind ein paar Filmaufnahmen von einem Tatort … aufgenommen vor etwa einer Stunde von der Merseyside Police«, sagte Shawna. Heck sträubten sich die Haare, als er die pixeligen Aufnahmen betrachtete. »Und?«, fragte sie. »Was denkst du?« »Was ich denke?«, entgegnete er. »Ich denke, dass gerade jemand unseren Osterurlaub beendet hat.« Der Tatort hatte schon auf den Filmaufnahmen schlimm ausgesehen, aber in der Realität war er noch furchtbarer. Die meisten Beamten ihres Teams hatten das lange Wochenende kurzfristig abbrechen können, doch der vormittägliche Feiertagsverkehr war so dicht, dass sie mehrere Stunden gebraucht hatten, um sich auf den Autobahnen M1 und M6 vorzuarbeiten und dann auf die M62 abzubiegen, die von Greater Manchester nach Liverpool führte. Das Wetter war für einen Tag Anfang April ziemlich gut und bemerkenswert sonnig, was natürlich dazu beitrug, dass sie noch langsamer vorankamen. Der Schlackehügel, der das Ziel ihrer Fahrt darstellte, eine große, karge Abraumhalde an der nördlichen Seite der Autobahn, hatte früher einmal zur Kohlengrube von Sutton Manor gehört, die inzwischen längst stillgelegt war. Der Hügel war etwa fünfzig Meter hoch, sodass der Kamm von der M62 aus zu sehen war, obwohl die Polizei von Merseyside den unteren Bereich mithilfe eines Stahlgerüsts und langer Segeltuchvorhänge abgeschirmt hatte. Die Polizei hatte sich beides von einer ansässigen Messebauagentur ausgeliehen und die Sichtsperre entlang des Standstreifens errichtet, nachdem dieser zuvor für den allgemeinen Verkehr gesperrt und vorübergehend als Parkplatz deklariert worden war. Dort verließen die Beamten von Gemmas Team ihre Autos, da auch ihnen in diesem Stadium der Zutritt zum Schlackehaufen noch verwehrt war. An der Rückseite führte ein unbefestigter Weg auf den Hügel, doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt war dieser Weg sehr weiträumig abgesperrt und wurde von den Spurenermittlern der Merseyside Police sorgfältig auf mögliche Hinweise durchkämmt. »Großer Gott!«, brachte Mike Garrickson hervor und blickte die Böschung am Rand der Autobahn hinauf. »Allmächtiger im Himmel!« Dem großen Waliser war die Kinnlade heruntergeklappt, und sein Mund war offen stehen geblieben. Heck verstand, warum. Sie hatten zwar in dieser auf Morde spezialisierten Abteilung schon alles Mögliche erlebt, doch so etwas hatte bisher noch keiner von ihnen gesehen. Es war sogar wahrscheinlich, dass seit vielen Jahrhunderten oder noch länger kein Mensch mehr so etwas gesehen hatte. »Kann mir mal jemand sagen, dass das nicht wirklich real ist«, sagte Charlie Finnegan. »Dies ist der realste Karfreitag, den Sie je erleben werden«, entgegnete Garrickson. Auf halbem Weg den Schlackehügel hinauf waren nebeneinander drei schwere Kreuze aufgerichtet worden. Sie waren allesamt aus neuem, frisch zurechtgesägtem Holz konstruiert und hatten in etwa die gleichen Ausmaße: Die senkrechten Pfähle waren etwa zwei Meter fünfzig hoch, die Querbalken, die in rechtwinkligen, speziell gefrästen Nuten festgeschraubt waren, hatten eine Spannweite von etwa einem Meter achtzig. Auf den ersten Blick war die Symmetrie des zur Schau gestellten Ensembles verblüffend, und das galt bis hin zu den drei nackten, mit ausgebreiteten Armen an die Kreuze genagelten Körpern. Die beiden zur Rechten und zur Linken waren weiße Männer bisher noch nicht bestimmten Alters, jedoch in unglaublich schlechter physischer Verfassung. Sie waren beide spindeldürr, unterernährt und mit Narben und Knasttattoos übersät. Ihre Beine waren von post mortem eingetretenen Blutergüssen mit violetten Flecken gesprenkelt, ihre leblosen Gesichter zu vom Todeskampf gezeichneten Fratzen verzerrt. Der Körper am mittleren Kreuz gehörte einer weißen Frau, die in einer etwas besseren physischen Verfassung war – sofern es überhaupt möglich war, den Zustand eines Menschen, der gekreuzigt worden war, mit Worten zu beschreiben. Ihr blondes Haar hing in einer strähnigen Mähne herunter und bedeckte ihr Gesicht, doch sie hatte eine sanduhrförmige Figur, und ihr Körper wies nur vereinzelte Falten auf, weshalb zu vermuten war, dass sie höchstens dreißig Jahre alt sein konnte. Sie war weiß wie Porzellan, nur ihre Beine waren – wie bei den beiden anderen Opfern – an den Stellen, an denen sich nach dem Eintritt des Todes das Blut gesammelt hatte, violett verfärbt. Die einzige Bewegung in der Szenerie rührte von den um die Leichen herumschwirrenden Fliegen sowie von den beiden in Schutzanzügen steckenden Gerichtsmedizinern aus Merseyside, die die Toten vermaßen und die Daten auf Klemmbrettern niederschrieben. Weiter hinten, jenseits des inneren abgesperrten Bereichs, packten diverse Polizeifotografen aus Merseyside ihre Ausrüstung zusammen. Es ertönten fortwährend Bekundungen der Fassungslosigkeit, als weitere Beamte des Dezernats für Serienverbrechen eintrafen und sich auf dem engen Raum hinter dem Sichtschutz zusammendrängten. Heck fiel ein, dass auch Claire bestimmt jeden Moment eintreffen würde. Wahrscheinlich war sie etwa zur gleichen Zeit aufgebrochen wie all die anderen Mitglieder des Teams, doch sie kam vermutlich in ihrem eigenen Auto und würde gewiss nicht – wie die anderen – rasante Fahrmanöver riskieren, um so schnell wie möglich ans Ziel zu kommen. Er war versucht, ans Ende der parkenden Autos zu gehen und auf sie zu warten, um sie vorzuwarnen, doch er hatte keine Zeit. Er schätzte bereits mit seinem professionellen Blick den Tatort ab, und ihm fielen sofort ein paar Auffälligkeiten ins Auge. Wer auch immer die drei Opfer waren, sie waren mit Nägeln an die Kreuze geschlagen worden. Es waren keine Fesseln zu erkennen – keine Seile oder Ketten. Doch es gab eine Abweichung von der Norm, zumindest von jener Norm, wie man sie von den auf kirchlichen Kunstwerken dargestellten Kreuzigungen kannte. Die Hände der Opfer waren allesamt nicht zu sehen, weil sie von hinten mit den Stahlnägeln an die Querbalken genagelt worden waren. In der gleichen Weise waren die Füße nicht übereinander vorn an das Kreuz genagelt worden, sondern seitlich durch die Knöchel, an jeder Seite des senkrechten Pfahls einer. Somit waren pro Opfer vier statt drei Nägel verwendet worden. Heck fragte sich, ob dies womöglich ein Fehler sein konnte, obwohl der Mörder bisher sehr akribisch zu Werke gegangen war, doch er kam schnell zu dem Schluss, dass von einem Fehler nicht auszugehen war. »Andere Länder, andere Sitten«, murmelte er leise vor sich hin. Quinnell drehte sich zu ihm um. »Was soll das heißen?« Heck wandte sich Gemma zu. »Dieser Kerl weiß, was er tut … und zwar bis ins kleinste Detail.« »Es müssen mehr Täter sein als nur einer«, stellte Shawna fest, »um so was aufzuziehen.« Heck nickte. »Das kam mir schon in den Sinn, als ich die Aufnahmen aus Yorkshire gesehen habe – es wurden zwei Werkzeuge benutzt, um den Kaminsims einzuschlagen: eine Spitzhacke und ein Vorschlaghammer. Das wies darauf hin, dass zwei Täter am Werk waren. Aber jetzt glaube ich, dass es noch mehr sind. Vielleicht sogar mehr als drei.« »Mehr als drei?« Shawna wirkte überrascht. »Das hier wurde als eine große Karfreitagsshow für die Autobahnbenutzer inszeniert. Es muss also gestern Nacht aufgebaut worden sein, solange es dunkel war, was wiederum bedeutet … in einer Zeitspanne von vielleicht elf Stunden? Wenn wir abends und morgens jeweils zwei Stunden abziehen, in denen es noch nicht oder nicht mehr richtig dunkel war, bleiben sieben Stunden pechschwarze Nacht. Das reicht nicht, wenn nicht eine ganze Truppe am Werk war.« Quinnell wandte sich Gemma zu. »Was glauben Sie denn?« »Ich glaube, wir brauchen mehr Leute«, entgegnete sie mit weißem Gesicht. »Sehr viel mehr Leute.« »Es steht außer Frage, dass wir es mit einem abscheulichen Verbrechen zu tun haben«, sagte Claire. Sie wirkte ruhig und gefasst und ließ sich von dem Blitzlichtgewitter, das von allen Seiten auf sie einschoss, nicht beeindrucken. »Wir sind von diesem Vorfall genauso schockiert wie die Öffentlichkeit, doch es bestärkt uns nur in unserer Entschlossenheit, den Verantwortlichen für diese Gräueltaten vor Gericht zu bringen.« »Haben Sie schon irgendwelche Hinweise?«, fragte ein Lokalreporter. »Zurzeit untersuchen wir, ob es eine Verbindung zum organisierten Verbrechen gibt – vielleicht führen die Spuren nach Liverpool. Aber mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich bin sicher, dass Sie dafür Verständnis haben.« »Haben Sie die drei Opfer schon identifiziert?«, fragte jemand anderes. »Ja, das haben wir, aber es ist mir nicht gestattet, Einzelheiten bekannt zu geben, bevor die nächsten Angehörigen informiert wurden.« »Haben Sie die nächsten Angehörigen denn schon ausfindig gemacht?« Bevor Claire antworten konnte, fragte eine andere Journalistin: »Gehören die Opfer einer kirchlichen Gemeinschaft an?« Die Frage stammte von einer dreist auftretenden Frau, die ihr wasserstoffblondgefärbtes Haar zu einem unattraktiven festen Knoten zusammengebunden hatte. Sie hatte sich unter Einsatz der Ellbogen in die erste Reihe der Pressemeute vorgedrängelt, die sich auf dem Vorplatz der Polizeiwache Manor Hill versammelt hatte, und hielt Claire ein Aufnahmegerät unter die Nase. »Worauf ich hinauswill – könnte es sich um eine Art Racheakt handeln? Steht das Ganze vielleicht mit einem Fall von Kindesmisshandlung in Verbindung oder mit etwas in der Art?« »Es gibt keinerlei Hinweise, die so etwas vermuten lassen«, antwortete Claire. »Keinerlei Hinweise?« Die Blondine lachte. »Drei gekreuzigte Leichen am Karfreitag. Wenn das kein Angriff auf die Kirche sein soll, was wohl dann?« »Nicht immer ist alles so, wie es auf den ersten Blick erscheint.« »Gute Antwort«, stellte Gemma fest. Garrickson, Heck und sie verfolgten Claires Auftritt live auf dem Fernseher in Gemmas Büro, wobei dies kaum mehr war als ein abgetrennter Bereich der Einsatzzentrale. Angesichts der jüngsten Ereignisse wäre es absurd gewesen, die Einsatzzentrale wie geplant im vierzig Kilometer entfernten Bolton einzurichten. Deshalb hatte Gemma kurzerhand die nahe gelegene Polizeiwache Manor Hill in Beschlag genommen, eine altmodische Wache der Polizei von Merseyside, an deren Rückseite es zufällig ein einstöckiges Fertigbau-Nebengebäude gab, das früher mal als Verwaltungstrakt gedient hatte, jedoch inzwischen nicht mehr genutzt wurde. Mit Unterstützung des örtlichen Chief Superintendent hatte sie dieses Nebengebäude dazu auserkoren, die Einsatzzentrale und ihr offizielles Hauptquartier zu beherbergen. Es waren jedoch noch jede Menge Ausstattungsarbeiten erforderlich. Techniker trugen Computerterminals herbei und verlegten entlang der Sockelleisten Kabel und Telefonleitungen, Elektriker arbeiteten an der Beleuchtung; Beamte der Polizei von Merseyside, die ihre Uniformjacken abgelegt hatten, halfen ihren Kollegen vom Dezernat für Serienverbrechen mit hochgekrempelten Hemdsärmeln, Schreibtische, Tische, Aktenschränke und anderes Mobiliar hineinzuschleppen. Die meisten Mitarbeiter des Teams arbeiteten allerdings schon mit Hochdruck. Ihre Telefone bimmelten ohne Unterlass, sie hackten auf ihren Tastaturen herum. »Das wird die Menschen in dieser Region nicht gerade beruhigen, Miss«, rief eine andere Reporterin. »Wer auch immer das getan hat … Besteht die Möglichkeit, dass der Täter noch mal zuschlägt?« Heck betrachtete Claire aufmerksam. Bei ihrer Ankunft am Tatort war sie ziemlich aufgewühlt gewesen, doch jetzt agierte sie souverän. »Auch darauf gibt es keinerlei Hinweise«, antwortete sie. »Hat es noch weitere Morde wie diese gegeben?«, fragte jemand anders. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die Täter, die dieses Verbrechen verübt haben, irgendwo anders ähnliche Morde begangen haben.« »Die Täter?«, hakte die Reporterin nach. »Sie gehen also davon aus, dass es sich um die Tat mehrerer Personen handelt?« Diese Enthüllung führte dazu, dass die Journalisten Claire erneut lauthals mit Fragen bombardierten, was diese kurz aus der Fassung zu bringen schien. Während sie sichtlich mit der Erkenntnis rang, dass sie einen Fehler gemacht hatte, konnte sie ihre erste Antwort nur nuschelnd hervorbringen. »Das war ein dicker Schnitzer«, stellte Garrickson fest. Gemma zuckte mit den Schultern. »Nichts anderes haben die Boulevardblätter auf ihren Titelseiten sowieso schon herausgeblasen.« »Wir müssen alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen«, entgegnete Claire auf dem Bildschirm. »Von wie vielen Tätern gehen Sie aus?«, fragte die vorlaute Blondine. »Wir können noch keine Zahl nennen«, erwiderte Claire. »Aber es wurden drei Menschen an Kreuze genagelt!« »Ja, das haben wir auch mitbekommen.« »Sie ist gereizt«, stellte Gary Quinnell fest, der gerade hereingekommen war. »Gibt es jemanden, nach dem die Öffentlichkeit Ausschau halten sollte?«, fragte ein anderer Reporter. »Wir haben noch keine Verdächtigen. Allerdings ist die Hilfe der Bevölkerung immer willkommen. Falls uns jemand irgendwelche Informationen übermitteln will – die Telefonleitungen sind jetzt freigeschaltet. Die Nummern sind in der Pressemitteilung aufgeführt, außerdem kann man sie bei Crimestoppers erfahren.« Ein anderer Reporter trat vor. Er war älter, trug eine Brille und hatte dichtes aschblondes Haar, bei dem es sich nur um ein Toupet handeln konnte. Er vermittelte den Eindruck eines Schreiberlings, der schon viele Jahre auf dem Buckel hatte. »Miss Moody?«, begann er und hielt ihr ebenfalls ein Mikrofon unter die Nase. »Wenn wir es hier mit einem einmaligen Verbrechen zu tun haben, das Sie mit der kriminellen Unterwelt in Verbindung bringen, beziehungsweise wenn Ihre Vermutungen in diese Richtung gehen, warum ermittelt dann nicht die Mordkommission von Merseyside? Warum hat das Dezernat für Serienverbrechen den Fall überhaupt übernommen und nicht die Polizei von Merseyside?« »Scheiße!«, entfuhr es Garrickson. »Da haben sie ja nicht lange gebraucht, das herausfinden.« »Die Polizei von Merseyside ist ebenfalls an den Ermittlungen beteiligt«, konterte Claire. »Ja, aber nur als Juniorpartner.« »Solche Dinge lassen sich nicht unter der Decke halten«, stellte Gemma resigniert fest. »Jeder Beamte der Polizei von Merseyside weiß, dass wir die Ermittlungen in diesem Fall übernommen haben.« Auf dem Fernsehbildschirm sah man überdeutlich, dass Claire sich immer unwohler dabei fühlte, derart offensichtliche Lügen zu verbreiten. »Als Dreifachmord fällt dieses Verbrechen sehr wohl in den Zuständigkeitsbereich des Dezernats für Serienverbrechen …« Der alte Schreiberling schien unbeeindruckt. »Aber normalerweise jagen Sie Serienmörder. Können Sie uns definitiv bestätigen, dass Sie das in diesem Fall nicht tun?« »Wie ich bereits sagte – es gibt keine Hinweise darauf, dass dieser Dreifachmord mit irgendeinem anderen Verbrechen in Verbindung steht, das derzeit im Vereinigten Königreich untersucht wird.« »Wird das Dezernat für Serienverbrechen diese Ermittlungen genauso vergeigen wie im Fall des M1-Phantoms?«, fragte jemand. »Tut mir leid, mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.« Claire wurde mit weiteren Fragen bombardiert, doch sie drehte sich abrupt um und ging zurück ins Gebäude. Gemma stellte den Fernseher aus und setzte sich. »Na super«, stellte Garrickson fest. »Keine Ahnung, warum sie ihnen nicht einfach gleich unsere internen Polizeiunterlagen ausgehändigt hat.« »Ich wüsste nicht, wie sie es besser hätte machen sollen«, sagte Heck. »Wie wär’s damit, einfach bei der offiziellen Linie zu bleiben? Wie wär’s damit, einfach nur zu sagen ›Wir wissen noch nichts … danke für Ihr Interesse‹?« »Dann könnte man sich eine Pressekonferenz auch gleich schenken, oder?«, fragte Quinnell. »Was wollten Sie eigentlich, Gary?«, fragte Gemma ihn, die seine Anwesenheit erst jetzt zur Kenntnis nahm. »Ah …« Er warf einen Blick in sein Notizbuch. »Wir haben weitere Informationen über die Opfer. Wie es aussieht, wurde Kate Rickman am vierten April mittags als vermisst gemeldet, nachdem sie ihren Wohltätigkeitsladen in Toxteth nicht geöffnet hatte, um ein paar Lieferungen von Secondhandkleidung entgegenzunehmen. Die Polizei von Merseyside hat am nächsten Tag mit der intensiven Suche nach ihr begonnen, als ihr ausgebranntes Auto auf einem Stück Brachland in der Nähe der alten Burtonwood-Brauerei gefunden wurde, die sich nicht weit von hier befindet. Bei den beiden anderen Opfern handelt es sich um Carl Croxton und Lee Cavendish. Sie stammen beide aus Salford und haben beide ein ellenlanges Vorstrafenregister. Croxton wurde von seiner Lebensgefährtin vermisst gemeldet, und zwar sage und schreibe achtundvierzig Stunden nachdem er von einer seiner nächtlichen Spritztouren nicht nach Hause gekommen war. Das war am dreißigsten März. Lee Cavendish wurde überhaupt nicht als vermisst gemeldet. Ein Beamter der Kripo von Merseyside, der sich kürzlich von der Great Manchester Police hierher hat versetzen lassen, hat ihn zufällig wiedererkannt.« »Dann sind also alle Opfer offiziell identifiziert?« »Korrekt. Croxton von seiner Lebensgefährtin, Cavendish von seiner Mutter und Kate Rickman von ihrem Exmann.« »Zwei Diebe und eine Mitarbeiterin einer Wohlfahrtseinrichtung«, stellte Heck fest. Er sah hinab auf den Stapel Ausdrucke, den er in der Hand hatte, überwiegend künstlerische Interpretationen der Kreuzigung Jesu. »Bisher hält er sich an die Vorlage …« Shawna McCluskey steckte den Kopf durch die Tür. »Professor Fillingham ist da, Ma’am.« »Bringen Sie ihn bitte rein.« Gemma stand auf. »Gary, könnten Sie uns bitte einen Moment entschuldigen?« Quinnell nickte und verließ den Raum genau in dem Moment, in dem ein elegant wirkender Mann hereinkam. Er war eher klein und hatte den Ansatz einer Glatze, dafür aber einen gepflegten grau melierten Kinn- und Schnurrbart und trug einen Tweedanzug und eine hellrosafarbene Fliege. Professor Donald Fillingham war der Leiter der Gerichtsmedizin des Royal Liverpool University Hospital. Auf Gemmas Wunsch hatte er früher an diesem Abend die Obduktionen der drei Opfer durchgeführt. Da sie bisher nur miteinander telefoniert hatten, begrüßte Gemma ihn per Handschlag und stellte erst sich selber vor und dann Detective Chief Inspector Garrickson und Detective Sergeant Heckenburg. Professor Fillinghams blaue Augen funkelten, während er Heck taxierte. »Heckenburg? Waren Sie nicht derjenige, der die Frage nach der Kreuzigungsmethode aufgeworfen hat? Der wissen wollte, auf welche Weise die Körper ans Kreuz genagelt wurden?« »Oh … ja, der bin ich.« Heck war überrascht. Er wusste zwar, dass Gemma dem Professor vorab einige erste Tatortbeobachtungen hatte zukommen lassen, aber er hatte nicht gedacht, dass sie seinen Worten viel Beachtung geschenkt hatte, als er seine Überlegungen angestellt hatte. Professor Fillingham war eindeutig ein Mann, der gern sofort zur Sache kam. »Könnten Sie das bitte etwas näher ausführen?«, bat er ihn. »Äh … selbstverständlich.« Heck breitete seine Ausdrucke auf dem Schreibtisch aus. »Einige Recherchen, die ich angestellt habe – und es war nur eine oberflächliche Recherche, wie ich zugeben muss –, legen die Vermutung nahe, dass Jesus vielleicht anders gestorben ist, als wir immer angenommen haben.« Er hielt eine spezielle Skizze hoch. Es war nur eine grobe Strichzeichnung, aber sie zeigte eine Person, die an ein hölzernes Kreuz gefesselt war; die Fußknöchel waren an den Seiten des senkrechten Pfahls festgenagelt, die Arme ausgebreitet, doch die Hände waren an der Rückseite des Querbalkens befestigt anstatt an der Vorderseite. »Offenbar gehen Archäologen aus dem Nahen Osten inzwischen davon aus, dass Jesus auf diese Weise gekreuzigt wurde«, erklärte Heck. »Sie haben wohl Skelettreste gefunden – von rostigen Nägeln durchbohrte Knochen. Aber das ist eine relativ neue Theorie. Was wiederum bedeuten würde – wenn es denn stimmt –, dass unser Täter auf dem allerneusten Stand ist.« Der Pathologe musterte die Zeichnung und blätterte ein paar weitere Ausdrucke durch, auf denen der Tod Jesu Christi auf bekannte Weise dargestellt war. »Das würde Sinn machen«, stellte er fest. »Darf ich mich setzen?« Garrickson zog ihm einen Stuhl heran, und sie setzten sich gemeinsam um den Schreibtisch. Fillingham studierte die Darstellungen noch einmal. »Also … Eine Kreuzigung stellt die Kreuziger in der Tat vor ein paar Probleme. Wenn jemand auf die Weise ans Kreuz genagelt würde, von der wir normalerweise annehmen, dass Jesus so gekreuzigt wurde, also mit einem Nagel durch beide Füße und einem durch jede Hand, hätten die Nägel das Gewicht seines Körpers schlichtweg nicht gehalten. Vor allem, weil das Opfer ja immer schwächer wurde. Die Hände wären einfach losgerissen, und das Gewicht des nach unten fallenden Körpers hätte auch die Füße losgerissen. Selbst wenn die Nägel nicht durch die Handflächen, sondern durch die Handgelenke geschlagen und genau zwischen Elle und Speiche platziert worden wären, hätte das Gewicht eines durchschnittlich schweren menschlichen Körpers dafür gesorgt, dass er nach vorn gefallen wäre, erst recht zum Zeitpunkt des Todes … Auch in dem Fall wären die Handgelenke losgerissen worden und infolgedessen auch die Füße. Wenn die Fußknöchel jedoch jeweils an einer Seite des zentralen Pfahls und die Arme an der Rückseite des Querbalkens festgenagelt werden, ist das Gewicht des Körpers sehr gleichmäßig verteilt, selbst wenn der Tod bereits eingetreten ist. In dem Fall könnte der Körper nicht einfach vom Kreuz fallen. Jedenfalls nicht, bevor er zu Aas geworden ist.« Gemma, Garrickson und Heck folgten der sachlichen Erklärung des Professors so distanziert wie möglich. Als die Leichen am späten Nachmittag von den Kreuzen heruntergeholt worden waren, hatte das Ganze sie derart stark an die Filme erinnert, die sie über das Leben und das Sterben von Jesus gesehen hatten – die schlaffen Körper, die in Schlingen heruntergelassen wurden, und die am Fuß eines jeden Kreuzes verloren wartenden Gestalten, die dort standen, um sie entgegenzunehmen –, dass viele von ihnen in einer Weise berührt waren, wie sie es zuletzt in ihrer Kindheit gewesen waren. »Woran stirbt ein Mensch letztendlich, wenn er gekreuzigt wird?«, fragte Gemma. »Tja …« Der Pathologe lächelte bitter. »Das ist vielleicht die gute Nachricht.« Gemma, Garrickson und Heck sahen einander an. »Zunächst einmal müssen Sie wissen, dass die Kreuzigung normalerweise eine der furchtbarsten Todesformen ist, die man sich vorstellen kann. In der Antike war sie den Menschen der alleruntersten sozialen Schicht vorbehalten – Sklaven, Ausgestoßenen, Aufständischen. Das Opfer wurde mit Nägeln an ein Kreuz geschlagen, was dafür sorgte, dass es lange und extreme Todesqualen erlitt. Am Ende trat der Tod infolge von Unterkühlung, Dehydration oder hypovolämischem Schock ein. Von Jesus nimmt man an, dass er relativ schnell gestorben ist – innerhalb von drei Stunden –, weil er infolge der Auspeitschung durch die Römer sehr viel Blut verloren hatte. Gesündere Menschen konnten tagelang dahinsiechen …« »Und das soll die gute Nachricht sein?«, fragte Garickson in distanziertem Ton. »Die gute Nachricht ist, dass unsere drei Opfer zuvor mit Flunitrazepam betäubt wurden.« »Mit der Vergewaltigungsdroge, die Opfern bei Dates verabreicht wird?«, fragte Heck. Der Pathologe nickte. »Da kommt sie auch zum Einsatz, ja. In diesem Fall diente sie einem doppelten Zweck: Sie erleichterte es den Tätern, die Opfer ans Kreuz zu nageln, und verhinderte, dass sie schrien oder um Hilfe riefen, als sie hingen. Doch unterm Strich hat es bewirkt, dass alle drei wahrscheinlich bereits bewusstlos waren, als sie gekreuzigt wurden. Somit hing ihr gesamtes Körpergewicht an ihren ausgestreckten Armen, was eine Überdehnung der Brustmuskel und den nachfolgenden Erstickungstod zur Folge hatte.« »Also sind sie schnell gestorben?«, fragte Gemma. »Zum Glück, ja.« »Dürfte ein Wermutstropfen für unsere Killer gewesen sein«, stellte Garrickson fest. »Sie haben darauf verzichtet, ihre Opfer irgendwo im Stillen zu kreuzigen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie langsam und qualvoll krepieren, weil es ihnen wichtiger war, ein großes öffentliches Spektakel zu veranstalten«, entgegnete Heck. »Tja, das ist ihnen auf jeden Fall gelungen«, stellte Shawna fest, die wieder in der Tür erschienen war. »Entschuldigung, Gemma.« Sie legte eine Abendzeitung auf den Schreibtisch. Die Schlagzeile auf der ersten Seite lautete: Schwarzer Karfreitag! Nahezu den Rest der Seite nahm ein riesiges Farbfoto ein, das zweifelsohne von einem vorbeifahrenden Fahrzeug aus gemacht worden war. Die drei Gekreuzigten waren verpixelt, doch ihre Umrisse zeichneten sich vor dem Hintergrund des zerfurchten Schlackehügels deutlich ab. »Wenn es bisher schon schwer genug war, die Sache klein zu halten, wird ab jetzt die Hölle los sein«, stellte Garrickson fest. Heck fand Claire allein in der Küche der Einsatzzentrale vor. Sie saß am Tisch und umklammerte mit beiden Händen eine große Tasse Kaffee. Sie bedachte ihn mit einem matten Lächeln. »Wie ist die Lage?«, fragte er. »Nachdem es mit der Ruhe offenbar vorbei ist?« »Ganz okay.« »Bestimmt?« »Na ja … Ich habe nichts, was sich in einem sechsmonatigen Urlaub nicht wieder herrichten ließe.« Er lehnte sich gegen die Spüle. »Du hast gerade erst angefangen und willst schon in Urlaub!« Sie versuchte, sich ebenfalls ein Schmunzeln abzuringen, doch es war gezwungen und lahm. »Jetzt mal ehrlich«, sagte Heck, »du hast das da draußen sehr gut gemacht.« »Jetzt mal ehrlich … Ich erinnere mich an nichts von dem, was ich gesagt habe. Jeder Dahergelaufene könnte uns das alles nach dieser Darbietung um die Ohren schlagen.« »Unsinn, du hast dich wacker geschlagen.« »Na ja …« Sie seufzte. »Ich denke, mein gelegentliches Herumgestammel kann darauf geschoben werden, dass ich zum ersten Mal im Leben leibhaftig eine echte Kreuzigung gesehen habe.« »Das gilt für jeden von uns. Ich habe auch noch nie leibhaftig eine echte Kreuzigung gesehen.« Sie nippte an ihrem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. »Haben sie noch gelebt, als sie an diese Kreuze genagelt wurden?« »Ja, aber sie waren wahrscheinlich bewusstlos. Wir glauben nicht, dass sie lange gelitten haben.« »Gott sei Dank, wenigstens das.« Sie hob die Tasse erneut an ihre Lippen, stellte sie dann aber mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wieder weg. Heck nahm den Wasserkocher in die Hand. »Soll ich dir einen frischen Kaffee machen?« »Nein danke. Das Einschlafen wird mir heute Abend auch so schon schwer genug fallen. Ist ganz anders, als es in den Filmen immer aussieht, findest du nicht auch?« »Was meinst du?« »Die Leichen an Kreuzen. Sie hängen da wie Dummys. Wie schlaffe Attrappen. Sehen überhaupt nicht aus wie echte Menschen.« »Vielleicht stellst du sie dir am besten genau so vor. Dann tut es vielleicht weniger weh.« »Jetzt hör aber auf!« Sie sah ihn skeptisch an. »Das tust du bestimmt nicht. Sonst hättest du nicht dieses Album mit der Gesichtersammlung, das du immer mit dir herumträgst. Shawna McCluskey hat mir davon erzählt. Sie hat gesagt, darin seien Fotos all der Opfer von Gewaltverbrechen, denen du auf irgendeine Weise Gerechtigkeit widerfahren lassen konntest. Und dass du …«, ihre Stimme bebte, als ob sie zu versagen drohte, »… jeden Tag hineinsiehst.« Heck betrachtete sie eine Weile, dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. »Also gut, es stimmt. Dieses Album ist eine Sammlung der Gründe, warum ich diesen Job mache.« »Kommt jetzt wieder die Geschichte von dem Krieg zwischen Gut und Böse?« »Wie bitte?« Sie schniefte und wischte sich unbewusst eine Träne weg. »Darüber hast du doch neulich geredet, oder? Vom Krieg zwischen Gut und Böse.« Er zuckte mit den Achseln. »Na schön, wenn du an Gut und Böse glaubst. Meine Philosophie ist allerdings etwas eigennütziger.« Er senkte die Stimme für den Fall, dass vom Flur aus jemand lauschte. »Wann immer jemand ermordet oder vergewaltigt oder gequält wird, während ich Wache halte, nehme ich das sehr, sehr persönlich, Claire. Das muss ich. Damit ich nicht abgebrüht werde. Damit ich nie das Stadium erreiche, in dem mir alles, womit ich bei meiner Arbeit konfrontiert werde, egal ist. Es ist zu einfach, die Menschen zu vergessen, die Opfer von Gewaltverbrechen werden, oder so zu tun, als ob man sie vergessen hätte. Ich sehe mir diese Gesichter jeden Tag an, um sicherzustellen, dass ich diesen Fehler nie begehe.« Eine weitere Träne kullerte ihre Wange herunter, während sie ihm zuhörte. »Hier …« Er reichte ihr eine Serviette. »Aber das ist meine Art, damit umzugehen. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, diese Tragödie zu verarbeiten. Es ist nichts, was wir jemandem beibringen können.« »Es ist eine richtige Schlacht, oder?« Sie tupfte sich die Augen trocken. »Mit realen Opfern.« »Absolut. Das ist nichts für schwache Nerven. Aber seien wir ehrlich, genau deshalb bist du ja hier. Weil du die Richtige dafür bist.« »Wenn du meinst.« Sie rang sich ein mattes Lächeln ab und tupfte sich noch einmal die Augen trocken. »Ist schon gut. Ist nur der verspätete Schock … sonst nichts.« »Klar.« »Also dann, du machst jetzt besser weiter.« Sie deutete entschieden auf die Tür. »Auf dich wartet eine Menge Arbeit und auf mich auch.« »Bist du sicher?« »Ja, ich bin sicher. Wenn du noch länger hierbleibst, denken die anderen, dass etwas nicht stimmt. Aber mit mir ist alles in Ordnung.« Heck stand auf und ging weg, drehte sich aber noch einmal um. »Claire … ganz im Ernst. Du hast das sehr gut gemacht. Dies ist dein erster Fall, und es ist einer, bei dem der Teufel persönlich am Werk zu sein scheint. Aber du bist damit klargekommen. Du wirst darüber hinwegkommen. Dafür habe ich ein Gespür.« Sie nickte und lächelte, als hätte sein Vertrauen ihre eigene Zuversicht gestärkt. Als er den Raum verlassen hatte, trank sie ihren Kaffee langsam, aber mit entschlossenen Schlucken aus, ohne sich daran zu stören, wie furchtbar er schmeckte und dass er nur noch lauwarm war. Doch selbst in diesem Moment rollte ihr eine weitere verräterische Träne die Wange herunter. Der Tatort auf dem Schlackehügel war mit einem riesigen Zelt überdeckt worden, das Gemma von einer Firma in Cheshire gemietet hatte, die normalerweise Promi-Hochzeiten ausrichtete. Zudem war er mit Absperrband in verschiedene nicht zu betretende Bereiche unterteilt worden, die noch kriminaltechnisch untersucht werden mussten, zwischen denen jedoch mittlerweile Zutrittswege hindurchführten, die offiziell freigegeben worden waren. Heck, der von Kopf bis Fuß in einem Schutzanzug steckte, stand allein auf dem zentralen Zutrittsweg und blickte hinauf zu den drei leeren Kreuzen, insbesondere zu dem Kreuz in der Mitte, an dem Kate Rickman gestorben war, eine Frau, die – obwohl sie einst verheiratet gewesen war, als Zahnarzthelferin gearbeitet und in jeder Hinsicht das typische Leben einer Mittelstandsbürgerin geführt hatte – eines Tages eine Art Erleuchtung gehabt und alles aufgegeben hatte, um den Ausgestoßenen und Mittellosen zu helfen. Mehr als alle anderen Fakten ließ allein diese Tatsache ein Maß an Vorausplanung erkennen, das diese Schwerverbrecherbande im Vergleich zu den meisten anderen kriminellen Organisationen auf eine deutlich andere Stufe stellte. Und das war nicht gerade ermutigend. Heck diktierte all dies in sein Aufnahmegerät und machte sich zusätzliche Notizen auf seinem Klemmbrett. Das Kreuz war natürlich schon immer Symbol besonderer Brutalität gewesen, doch jetzt, da er direkt vor diesem ganz speziellen Exemplar stand, wurde ihm dies noch einmal ganz besonders bewusst. Das Kreuz war sehr gut gearbeitet. Es war exakt abgemessen, die Nut war aufwendig herausgearbeitet. Der senkrechte Pfahl und der Querbalken waren von jemandem zusammengefügt worden, der etwas vom Tischlerhandwerk verstand, dennoch war das Ganze ein schweres, hässliches Teil – an den Rändern scharf und grob gemasert. Zudem war es mit geronnenem Blut befleckt, vor allem um die Löcher herum, die von den Nägeln herrührten. Letztere hatten sich, als sie schließlich herausgezogen worden waren, als so dick wie ein männlicher Zeigefinger entpuppt und waren mindestens fünfundzwanzig Zentimeter lang – so lang, dass sie an der Vorderseite des Querbalkens herausgeragt hatten. Die von den Nägeln hinterlassenen Löcher waren nur sehr klein, doch unter jedem war ein einzelner Tropfen Blut hinabgeflossen. An der unteren Seite des Pfahls, da, wo die Knöchel des Opfers fixiert gewesen waren, befand sich nicht nur Blut: An den Eintrittsstellen der Nägel hing faseriges, klebriges Gewebe – fadenartige Stränge menschlichen Fleischs und menschlicher Muskeln. »Detective Sergeant Heckenburg?«, drang eine Stimme durch das Innere des Zeltes. Eine weitere Gestalt in einem Schutzanzug kam auf einem der freigegebenen Pfade auf ihn zu. Heck fluchte leise. Er hatte erst an diesem Morgen mit Gemma darüber gestritten. Offenbar um den Unmut der Polizei von Merseyside darüber zu beschwichtigen, dass ihr dieser Mehrfachmord aus der Hand genommen worden war, bevor sie auch nur einen richtigen Blick auf den Fall hatte werfen können, aber auch, weil Gemma zu dem Schluss gekommen war, dass sie mehr Personal benötigten, hatte sie um Unterstützung durch ein paar Beamte der Polizei von Merseyside gebeten, die ihr auch gewährt worden war. Mit Hinweis auf die uralte Weisheit, der zufolge vier Augen mehr sehen als zwei, war jeder von ihnen informiert worden, dass sie von nun an paarweise arbeiteten. Heck war ein junger Beamter zugeteilt worden, Detective Constable Andy Gregson. »Wie lange ist der Bursche denn schon bei der Kripo?«, hatte Heck Gemma gefragt. »Seit acht Monaten, glaube ich …« »Na super!« Sie hatte zu ihm aufgeblickt. »Er ist nur eine zusätzliche Hilfe, Heck! Was willst du? Jemanden, der sein eigenes Ding durchzieht? Der nicht auf dich hört?« »Er ist Liverpooler, während ich aus Manchester bin. Was verleitet dich dazu zu glauben, dass er auf mich hören wird?« »Lass ihn wissen, dass du das Sagen hast«, entgegnete sie ungeduldig mit schneidender Stimme. »Sag ihm von mir aus, dass du diesen ganzen Fall leitest! Das glaubt doch, verdammt noch mal, sowieso jeder, der hier herumläuft.« »Andy Gregson, Sergeant«, sagte der junge Beamte jetzt und hielt Heck die Hand hin. Er war Anfang zwanzig und durchschnittlich groß, aber schlank gebaut. Sein Haar, das er stoppelkurz trug, war rot und hatte in etwa den gleichen Ton wie die Sommersprossen, mit denen sein jugendliches Gesicht gesprenkelt war, das bedauerlicherweise an den Seiten von zwei übergroßen Ohren eingerahmt wurde. Er sprach einen schweren Liverpooler Dialekt. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« »Ja … gleichfalls«, entgegnete Heck und versuchte, nicht allzu unaufrichtig zu klingen. »Um es gleich vorweg zu sagen, ich habe keine Zeit, Sie groß einzuarbeiten. Sind Sie über das Aufgabengebiet der Operation Feiertag im Bilde?« Gregson nickte. »Ja … hat mich ein bisschen geschockt, um ehrlich zu sein. Mir war nicht klar, dass die Operation sich auf den ganzen Norden erstreckt.« »Können Sie dichthalten?« »Das hat man mir eingebläut.« »Gut. Wenn nämlich von unserer Seite irgendetwas zu den Medien durchsickert und die Oberen davon Wind bekommen, können wir unsere Jobs an den Nagel hängen.« Gregson nickte erneut, blieb jedoch ungerührt und behielt seinen leeren Gesichtsausdruck bei. »Also … was wissen Sie über Kreuzigungen?« Gregson zuckte mit den Schultern. »Nur das, was ich im Fernsehen gesehen habe.« »Im Fernsehen sieht es viel leichter aus, als es in Wahrheit ist.« Heck zeigte auf die drei Kreuze. »Versuchen Sie sich mal vorzustellen, wie es im richtigen Leben wäre.« »Sind Riesenscheißdinger, was?« »Größer, als die meisten Leute denken«, erwiderte Heck. »Wir schätzen, dass sie in mindestens sechzig Zentimeter tiefen Löchern stehen … die natürlich vorher ausgehoben wurden. Allein das Ausheben dieser Löcher in kompakter Schlacke ist schon eine ziemlich anstrengende Angelegenheit. Und es bedeutet, dass die Pfähle, die aus solider Eiche sind, locker mehr als drei Meter lang sein können.« »Und schwer sein müssen«, stellte Gregson fest. »Sehr schwer. Und sehr sperrig.« »Und all das haben sie in den paar Stunden gemacht, in denen es dunkel war?« »Kann man sich kaum vorstellen, nicht wahr?«, entgegnete Heck. »Um das alles in einer einzigen Nacht aufstellen zu können, müssen die Mörder auf jeden Fall zu mehreren gewesen sein.« »Vielleicht eine Straßengang?« »Das haben wir auch schon in Erwägung gezogen, aber mich überzeugt diese Hypothese nicht, und das habe ich den Chefs auch schon gesagt. Eine Kreuzigung ist wohl kaum typisch für eine Straßengang. Trotzdem reden wir über mehrere Täter. Selbst wenn man die Opfer betäubt, ist es ein ziemlich aufwendiges Unterfangen, Menschen an Kreuzen aufzuhängen. Drei Gefangene und drei noch nicht zusammengebaute Kreuze auf diesen Schlackehügel zu bringen wäre zu riskant und zu zeitraubend gewesen, erst recht im Dunkeln. Deshalb glaube ich, dass die Opfer vorher gekreuzigt wurden. Und erst hierher gebracht wurden, als sie bereits angenagelt waren, was ein etwas größeres Gefährt als einen Lieferwagen erforderlich gemacht hätte.« Gregson nickte. »Ich habe schon gehört, dass wir nach einem Lkw suchen.« »Möglicherweise nach einem Sattelschlepper«, stellte Heck fest. »Dann will ich Sie mal schnell über den Rest ins Bild setzen …« Sie stapften über einen der anderen freigegebenen Wege den Schlackehügel hinauf und überquerten den Kamm. »Wir wissen inzwischen, dass das Weihnachtsmannkostüm, in dem Ernest Shapiro eingemauert wurde, nicht ihm gehörte. Es war entweder selbst gemacht oder es wurde in einem Kostümgeschäft gekauft. Wir sind beiden Möglichkeiten nachgegangen. Außerdem waren die verwendeten Ziegelsteine allesamt neu – deshalb haben wir alle Diebstähle von Baustellen, aus Baumateriallagern, von Großhändlern und so weiter genau unter die Lupe genommen. Das Beste von allem ist aber, dass unter zwei Fingernägeln von Shapiro menschliche Haare gefunden wurden. Es ist also möglich, dass wir einen genetischen Fingerabdruck erhalten.« Diese Information hatten sie erst an diesem Morgen erhalten, und sie hatte für allgemeine Aufregung gesorgt, obwohl eine DNA-Spur nur jemanden überführen konnte, wenn die DNA des Täters bereits gespeichert war, was nicht immer der Fall war. »Dann hat der alte Kerl sich also gewehrt?«, fragte Gregson. Heck nickte. »Was die Valentinstagmorde angeht, wurde der Pfeil gründlich analysiert, aber es konnten keine Spuren an ihm festgestellt werden. Er ist kein Unikat, sondern stammt von einem Aluminiumpfeilhersteller, dessen Pfeile in Bogenschießvereinen in ganz England verwendet werden. Während wir uns hier unterhalten, werden diese Vereine allesamt überprüft. Außerdem haben wir einen Kriminologen aus Liverpool hinzugezogen. Er heißt John Moores und hat ein geografisches Profil erstellt. Bisher haben wir erst vier bekannte Tatorte, deshalb liefert es meiner Meinung nach noch kein besonders zuverlässiges Muster, aber es sieht so aus, als ob die Täter aus Manchester kommen könnten. Bis wir Näheres wissen, sind diese Kreuzigungsmorde unsere Priorität. Mit unsere meine ich meine, Ihre und die von jedem, der derzeitig in der Wache Manor Hill stationiert ist.« Sie verließen das Zelt und gingen auf der anderen Seite den Schlackehügel hinunter zu einer Stelle, an der die brüchige Oberfläche der Halde nach etwa fünfzig Metern in eine einspurige Schotterpiste mündete, die nach Osten führte. Jenseits der Piste erstreckte sich eine weitere Abraumfläche, die mit Schlacke und Dornengestrüpp bedeckt war. »Auf dieser Zufahrtspiste haben wir eine Reifenspur entdeckt, die groß genug ist, um von einem Lkw zu stammen«, erklärte Heck. Er ging etwa dreißig Meter bis zu einem Zeltpavillon, um den herum Absperrband flatterte. Und in dessen Mitte sich eine Reifenspur abzeichnete, die von einem Lastwagen stammen könnte. »Wir haben davon natürlich einen Gipsabdruck gemacht.« Gregson schien unbeeindruckt. »Das hier ist industriell genutztes Gebiet, Sergeant. In den letzten Tagen können hier jede Menge Lkws, Muldenkipper und was auch immer für schwere Fahrzeuge herumgekurvt sein.« »Das stimmt natürlich.« Sie gingen die Piste weiter bis zur äußeren Absperrung, an der jetzt zwei uniformierte Polizisten Stellung bezogen hatten. »Ich gebe zu, dass es weit hergeholt ist«, fuhr Heck fort. »Aber dieser Reifenabdruck ist der einzige klar erkennbare Abdruck, den wir gefunden haben … was bedeutet, dass er wahrscheinlich der frischeste ist. Also müssen wir dieser Spur nachgehen.« Sie duckten sich unter dem Absperrband hindurch, gingen zu einem improvisierten Parkplatz, auf dem mehrere Polizeifahrzeuge standen, darunter auch ihre Autos, und streiften sich die Schutzanzüge, die Handschuhe und die Stiefel ab. Unter dem Schutzanzug trug Heck seine übliche Hose, ein Hemd und eine Krawatte. Gregson war genauso gekleidet, doch anders als bei Heck war sein oberster Hemdknopf zugeknöpft, der Knoten seiner Krawatte saß ordentlich und akkurat, und seine Hose war perfekt gebügelt. »Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon in diesem Job?«, fragte Heck. »Drei Jahre, drei Wochen und zwei Tage, Sergeant.« »Verheiratet?« »Zwei Jahre, acht Monate und drei Wochen.« »Sie führen wohl über alles genau Buch, was?« »Hat sich immer als nützlich erwiesen, wenn ich auf Streife war.« »Glaube ich Ihnen gerne.« Heck warf sein Aufnahmegerät und seinen Notizblock durch das offene hintere Fenster seines metallicblauen Peugeot 306. »Wenigstens brauche ich den Kram jetzt nicht mehr. Ist die Wache Manor Hill immer noch im Belagerungszustand?« Gregson nickte. »Entwickelt sich zu einem ziemlichen Zirkus, nicht wahr?« »Die Welt des Grand Guignol, Detective Constable Gregson.« »Wie bitte?« »Grand Guignol. Das ist französisch. Das Théâtre de Grand Guignol war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein Theater, das auf makabre Horrorstücke spezialisiert war. Freaks, Blut, Gothic Horror.« Heck zog sich sein Jackett an. »Genau das, was unsere Täter meiner Meinung nach hier aufziehen.« »Was … Sie meinen, die ziehen eine Show ab? Nur um die Leute zu schockieren?« »Ich glaube, dass es irgendeine abgefahrene künstlerische Nummer ist«, grübelte Heck. »Wenn ich an die flachgeistigen Kriminellen denke, mit denen wir es sonst normalerweise zu tun haben – für die ist doch mit so was nichts zu holen. Die wollen doch fast immer das Offensichtliche. Geld, Drogen, Sex. Diese Mörder hingegen haben ihre Taten kunstvoll arrangiert, haben sie regelrecht choreografiert. Es ist so, als ob bei dem Ganzen irgendeine durchgeknallte Ästhetik eine Rolle spielte … Das ist natürlich nur meine Theorie. Unsere Chefs sind davon nicht wirklich überzeugt.« Bevor er seine Annahmen weiter ausführen konnte, piepte sein Handy. Es war Jen Weeks, die Leiterin der zivilen administrativen Unterstützung der Sonderkommission Operation Feiertag. »Detective Sergeant Heckenburg«, sagte sie in dringlichem Tonfall. »Uns wurde ein brennender Lkw gemeldet. Der Zeuge sagt, der Wagen wurde auf Brachland abgestellt und mit Absicht in Brand gesetzt.« »Wo?« »An einer Stelle namens Ingley Nook. Keine zehn Kilometer vom Kreuzigungstatort entfernt.« Heck gab Gregson ein Zeichen, der gerade im Begriff war, in seinen Ford Galaxy einzusteigen. »Ich nehme meinen eigenen Wagen, Sergeant«, stellte Gregson klar. »Kennen Sie diese Gegend?« »Kann man so sagen … Es war mein erstes Revier, in dem ich auf Streife unterwegs war.« »Wenn das so ist, fahren Sie mit mir.« Wie sich herausstellte, war Ingley Nook eine ehemalige Reihenhaus-Bergwerksiedlung, die sich an einer unbefestigten Straße entlangzog, die sich über eine weitere mit Schlacke bedeckte Abraumfläche wand. »Scheiße, der Unterbau«, fluchte Heck, als sie über die Schlaglöcher rumpelten und hüpften. »Mit einem guten Auto sollte man hier nicht herkommen«, stellte Gregson fest. »Sie hätten mich warnen sollen.« »Es ist schlimmer, als ich es in Erinnerung hatte. Aber ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier.« Sie fuhren gut drei Kilometer weiter, und sämtliche Behausungen verschwanden am schmuddeligen, düsteren Horizont aus ihrem Blickfeld, bevor sie schließlich Rauch sahen und das zuckende Blaulicht von zwei Feuerwehrwagen. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass der Lkw – bei dem es sich um einen Sattelschlepper handelte – von der Fahrspur gefahren und einen kleinen Abhang auf ein offenes Gelände gesteuert worden war, wo er offenbar in die Betonfundamente eines ehemaligen Nebengebäudes des Kohlenbergwerks gekracht war. Heck parkte oberhalb des Abhangs und sah zu, wie die Wasserstrahlen sich über dem Wrack krümmten. Der hintere Teil des Lkws stand teilweise noch in Flammen, schwarze, ölige Rauchwolken zogen über das Gelände, getrieben von einem kräftigen Westwind. Fabrikat und Modell waren auf den ersten Blick nicht zu erkennen, und das hintere Nummernschild war bereits in Flammen und Rauch aufgegangen, doch die Feuerwehrmänner hatten den Brand unter Kontrolle, und es würde nicht mehr lange dauern, bis es den Polizisten gestattet werden würde, das Lkw-Wrack zu inspizieren. Der Zugführer kam bereits den Abhang hinaufgestapft, klappte das Visier seines Helms hoch und knöpfte seine schwere flammenabweisende Feuerwehrüberjacke auf. Heck stieg aus und hielt dem Zugführer seinen Dienstausweis hin. »Brandstiftung?« »Das steht außer Frage.« »Brandbeschleuniger?« »Wahrscheinlich Benzin. Irgendein Schlaumeier hat den ganzen Anhänger damit getränkt, innen und außen, die Fahrerkabine aber ausgelassen. Ein Glück. Wenn der Motor Feuer gefangen hätte, wäre von dem Wagen nichts mehr übrig.« »Dann haben sie also einen Fehler gemacht«, stellte Gregson fest. »Das glauben wir vielleicht«, entgegnete Heck. »Könnte das Feuer die ganze Nacht gebrannt haben?« Der Zugführer nickte. »Möglich wäre es. Ist ja ziemlich weit draußen hier – es wäre also nicht unbedingt sofort jemandem aufgefallen. Da der Tank nicht explodiert ist, könnte der Wagen ziemlich lange vor sich hingebrannt haben.« Er ging wieder zurück und brüllte seinen Männern Befehle zu. Heck und Gregson gingen den Abhang hinunter. Der Lastwagen war nur noch ein zischendes, schwarzes Skelett. Während die Feuerwehrmänner ihre Schläuche aufrollten und ihre Ausrüstung zusammensuchten, holte Heck sein Handy hervor und rief Jen Weeks an. »Jen, ich bin’s«, sagte er. »Dieser brennende Lkw … wer hat ihn gemeldet?« »Keine Ahnung«, kam die Antwort. »Der Anruf kam über die zentrale Leitstelle von St Helens.« »Versuch, ein paar Details herauszubekommen. Und rede mit Detective Chief Inspector Garrickson. Wir werden in Ingley Nook eine Haus-zu-Haus-Befragung durchführen müssen. Vielleicht hat da jemand irgendwas gesehen.« Dem Winkel nach zu urteilen, in dem der verbrannte Lastwagen dastand – ganz zu schweigen von den Schlingerspuren, die die Reifen auf dem Abhang hinterlassen hatten –, war er mit hoher Geschwindigkeit von der Piste gefahren worden. Während sie um den Wagen herum zur Fahrerkabine gingen, spähten sie in den Laderaum. Er war völlig ausgebrannt, sämtliche Oberflächen im Inneren waren total verkohlt. Falls in diesem Laderaum an Kreuze genagelte Menschen transportiert worden waren, gab es davon keine Spuren mehr, ganz egal, wie viel Blut auch geflossen sein mochte. Noch frustrierender war, dass auch die Räder in Brand gesetzt worden waren und die Reifen allesamt zerschmolzen und damit die Profile unkenntlich waren. Der Lastwagen war mit voller Wucht in die Fundamente gekracht, als sei er mit Absicht in sie hineingelenkt worden. Der Kühlergrill war total eingedrückt, die inneren Bauteile ragten hindurch und stießen Dampf aus, die beiden vorderen Achsen waren komplett weggerissen. Der ganze vordere Teil war nach unten gekippt, der vordere Kotflügel hatte auf den Boden aufgesetzt. Der Aufprall hatte die Karosserie der Zugmaschine mit der Fahrerkabine eingedrückt, das Dach hatte sich verbogen und war weit aufgerissen, die meisten der Fenster hatten sich verzogen, die Scheiben waren allesamt zersprungen, jedoch nicht aus den Rahmen herausgefallen. Wie der Zugführer gesagt hatte, hatten die Flammen nicht auf die Zugmaschine übergegriffen, doch die Lackierung der Fahrerkabine war von der Hitze angekohlt und hatte Blasen geworfen. Während vom Vorderrad an der Fahrerseite auch nur noch ein rauchendes, zerschmolzenes Überbleibsel vorhanden war, war das Rad an der Beifahrerseite verschwunden. Heck suchte es und fand es ein paar Meter weiter, wo es neben dem Nummernschild des Lkws lag, das in mehrere Stücke zerbrochen war. Er gab das Kennzeichen an die polizeiliche Datenerfassungszentrale durch, um überprüfen zu lassen, auf wen der Lkw zugelassen war. Während er wartete, bückte er sich und untersuchte das Rad. Bedauerlicherweise war es ebenfalls vom Feuer beschädigt, wenn auch nicht so stark wie die anderen. Es war unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, dass das Profil mit dem Reifenabdruck übereinstimmte, den sie an dem Schlackehügel gefunden hatten, da auch das Gummi dieses Reifens geschmolzen und verformt war, aber es wies zumindest einige Ähnlichkeiten auf. »Polizeiliche Datenerfassungszentrale an Detective Sergeant Heckenburg«, meldete sich eine blecherne Stimme. »Ich höre.« »Das Kennzeichen gehört zu einem Scania-R470-Schwerlasttransporter, Sergeant. Wurde als gestohlen gemeldet und der Anzeige zufolge am achtzehnten Januar dieses Jahres von einem Lkw-Parkplatz in Longsight, Manchester, entwendet.« »Danke für die Auskunft.« Als Heck das Funkgerät wieder in seine Tasche schob, piepte sein Handy. Der im Display aufscheinenden Nummer zufolge war es Gemma. »Ja, bitte?«, sagte er. »Was gibt’s von diesem Lastwagen?«, fragte sie. »Könnte der sein, den wir suchen, aber bisher gibt es noch keine eindeutige Verbindung. Die Reifenprofile sind zerstört, deshalb lässt sich nichts mit Sicherheit sagen … aber sie sehen auch nicht total anders aus als die, die wir am Tatort gefunden haben.« »Wie viel hat das Feuer übrig gelassen?« »Genug, über das wir uns hermachen können. Alles sollte so schnell wie möglich abgedeckt werden – wir werden vermutlich noch eins von diesen Hochzeitszelten brauchen.« »Okay.« Sie hielt kurz inne und fragte dann: »Was sagt dein Bauchgefühl?« Er blickte nach oben. Der Himmel war weitgehend blau, aber von Westen zogen Wolkenbänder heran. »Im Moment sagt es mir nur, dass wir die Laborfritzen so schnell wie möglich hierher schaffen sollten. Die ganze Szenerie hier ist jetzt schon ein einziges Desaster, und im Lauf des Tages könnte es auch noch regnen.« »Kein Problem.« Sie beendete die Verbindung. »Sehen Sie sich mal um«, wies Heck Gregson an. »Halten Sie Ausschau nach Kanistern, die für den Transport von Benzin verwendet worden sein könnten. Und nach verdächtigen Fußspuren. Denken Sie daran, dass die Feuerwehrleute genagelte Schuhe tragen, wir suchen also nach Abdrücken von Turnschuhen, Schuhen mit Ledersohlen und so was in der Art.« Als Gregson losging, stieg Heck auf das Trittbrett und warf einen Blick durch die Fahrertür des Scania, doch durch die zersprungene, rauchgeschwärzte Scheibe konnte er kaum etwas erkennen. Er nahm ein Paar Latexhandschuhe aus seiner Jacketttasche, zog sie an und streifte sie bis über seine Handgelenke. Während er darauf achtete, möglichst wenig zu berühren, drückte er den Knopf am Türgriff. Die Tür ging mit einem Klicken auf. Da die Fahrerkabine nach unten neigte, schwang die Tür nach außen, und er konnte ins Innere spähen. Die Kabine glich der typischen motorisierten Behausung eines Fernfahrers. Karten und eselsohrige Fahrzeugpapiere waren in ein offenes Handschuhfach gestopft. Im Seitenfach steckten leere Chipstüten und mit Kaffeeflecken verschmierte Pappbecher. Vor der Windschutzscheibe baumelten ein abgegriffener Teddybär und ein Rosenkranz. Im scharfen Kontrast dazu zierten Pin-up-Girls – ranke, sonnengebräunte Modelle in Stöckelschuhen und Stringbikinis – die Rückwand der Fahrerkabine. Doch eine Sache erregte Hecks Aufmerksamkeit ganz besonders: ein halb leeres Streichholzbriefchen, das mitten im Fußraum auf der Beifahrerseite lag. Er betrachtete es nachdenklich und sah dann hinauf zu dem kaputten Dach der Fahrerkabine. Er wollte in diesem frühen Stadium eigentlich noch nichts an dem Tatort verändern, doch die Elemente waren nicht auf ihrer Seite. Wenn es regnete, würden im Inneren der Kabine sämtliche Spuren weggeschwemmt. Er kam zu dem Schluss, dass ihm keine andere Wahl blieb, nahm eine Pinzette aus seiner Tasche, langte damit nach unten, packte das Streichholzbriefchen an einer Ecke, hob es hoch und sah es sich genauer an. »Bingo«, flüsterte er. Mitten auf dem glänzenden Umschlag des Briefchens prangte ein großer öliger Daumenabdruck. Claires Telefon hatte den ganzen Tag nicht aufgehört zu klingeln. Wenn es keine Journalisten der diversen Tageszeitungen waren, war es jemand von Reuters, wenn es nicht jemand von Reuters war, war es jemand von einer anderen Nachrichtenagentur. Ihr Kiefer war steif und ihre Kehle trocken vom ständigen Wiederkäuen der offiziellen Linie, und auch die größten Mengen Kaffee reichten nicht aus, die Strapazen ihrer beanspruchten Sprechorgane zu lindern, sondern trugen höchstens dazu bei, dass sie noch nervöser wurde. Schließlich beschloss sie, dass das Maß voll war, schickte alle weiteren Anrufer in die Warteschleife und ging hinaus in den Hauptbereich der Einsatzzentrale, um sich die Beine zu vertreten. Einige Minuten zuvor hatte sie gesehen, wie Gemma, Garrickson und einige andere ihre Mäntel und Jacken übergezogen und das Gebäude verlassen hatten. Sie hoffte, dass dies bedeutete, dass die Ermittlungen Fortschritte machten, wusste jedoch, dass sie sich darauf besser nicht verließ. Scharen von Detectives kamen in den Raum spaziert, als gäbe es etwas umsonst, und verließen ihn wieder. Die Atmosphäre war zwar nicht unbedingt hektisch, aber auch nicht gerade entspannt: Die Telefone aller anderen Anwesenden schienen genauso erbarmungslos zu bimmeln wie ihres; dazu wurde unerbittlich auf Tastaturen herumgehackt. Doch nichts von alledem erregte Claires Aufmerksamkeit so sehr wie die drei großen Schautafeln, an denen Eric Fisher sich zu schaffen machte. Mit der mittleren, auf der die verschiedenen Tatorte dokumentiert waren, war sie bereits vertraut, und auf der linken hingen eher alltägliche Motive: dem Anschein nach ländliches Leben in England aus früheren Zeiten; mit Schleifen dekorierte Bäume und Büsche, Dorffeste, Scharen von Menschen in Kostümen. Doch im Moment war Fisher dabei, die rechte Schautafel zu bestücken, wobei er auf Material höchst unterschiedlicher Natur zurückgriff. Es handelte sich vor allem um Kopien gezeichneter Skizzen und um ein oder zwei Reproduktionen von Gemälden. Zum Glück gab es keine Fotos. Das erste Bild zeigte einen nackten Mann, der mit dem Gesicht nach vorn an einen hölzernen Rahmen gefesselt war. Zu beiden Seiten stand jeweils ein behaarter, brutal aussehender behelmter Mann in einem Kettenhemd. Einer war mit einem Schwert bewaffnet, der andere mit Hammer und Meißel. Der Rücken des Opfers war der Länge nach aufgeschlitzt und die Wirbelsäule entblößt; an einer Seite waren die Rippen abgetrennt worden wie die Stängel einer Selleriestaude. »Der Blutadler der Wikinger«, erklärte Fisher, als er sah, dass sie das Bild betrachtete. »Ein Opfer an Odin, um im Krieg sein Wohlwollen zu gewinnen. Dem Gefangenen wurde der Rücken aufgeschnitten, die Rippen beidseitig von der Wirbelsäule getrennt und die Lungen herausgezogen und umgeklappt, damit das Ganze so aussah wie die Flügel eines Adlers. Diese Methode wurde von den Eroberungsarmeen der Wikinger praktiziert, aber nicht im großen Stil, da nur Könige oder bedeutende Heeresführer dieses Opfers für würdig befunden wurden. Man mag es zwar kaum glauben, aber es galt als Ehre.« »Als Ehre«, stellte Claire ungläubig fest. »Erstaunlich, nicht wahr?« Detective Sergeant Fisher sah selber ein bisschen aus wie ein Wikinger. Er war Ende fünfzig und ein großer, schwergewichtiger Mann, sein monumentaler Wanst hing über seinem Hosenbund herab. Er hatte buschige Brauen, und die Hälfte seines zerfurchten Gesichts verschwand unter einem dichten, grauroten Bart. Er war so unförmig, dass seine Kleidung, egal, was er trug – normalerweise das obligatorische Hemd mit Krawatte –, an ihm immer lotterig aussah. Er schnaufte beim Gehen und roch nach Schweiß und Zigarettenrauch, doch Claire wusste, dass er, was seine Erfahrung im Dezernat für Serienverbrechen und seine Fähigkeiten als Rechercheur und Analytiker anging, unübertroffen war. Sie nahm das nächste Bild in Augenschein. Es war ein Gemälde, das vermutlich aus der Zeit des Klassizismus stammte. Es zeigte zwei Männer, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Doch es war kein Holz um sie herum aufgeschichtet worden. Stattdessen standen sie auf einem Haufen rot glühender Kohlen. Das Ziel dieser Tortur war klar erkennbar – das Feuer würde sie unsäglich langsam verbrennen. Obwohl die Opfer noch lebten und die Augen gen Himmel gerichtet hatten, waren von ihren Beinen und ihren Füßen nur noch nackte Knochen zu sehen. »Die Hinrichtung von Jacques de Molay und Geoffroy de Charnay im Jahr 1314«, erklärte Fisher. »Zwei Tempelritter, die wegen Ketzerei verbrannt wurden. Die Idee, die dieser Hinrichtungsmethode zugrunde lag, war, die Opferungsprozedur so lange wie möglich hinzuziehen, sodass die Opfer für ihre Sünden bezahlt haben würden, bevor sie auf ihren Erschaffer träfen – und somit eine bessere Chance hätten, nicht in der Hölle zu landen.« »Was sind das alles für Bilder?«, fragte Claire. »Religiöse Tötungen«, erklärte er. »Rituale, Opfer … mit dem Ziel, Erlösung durch Qualen zu erlangen.« Religion … Erlösung … »Oder um ein Glaubenssystem einem anderen überzustülpen«, fuhr Fisher fort. »Was gibt es schon für eine bessere Möglichkeit zu beweisen, dass der eigene Gott über allen anderen steht, als ihm die glühendsten Anhänger des anderen Gottes zu opfern? Und was für einen besseren Zeitpunkt, als dies zu einem besonderen Anlass zu tun, der der eigenen Religion heilig ist – einem Feiertag oder so! Wie entzückt würde sich die eigene Gottheit anlässlich eines solchen Opfers zeigen?« Claire versuchte, nicht hinzusehen, doch der bloße flüchtige Anblick einiger der anderen Bilder reichte, dass sich ihr der Magen umdrehte: Blut strömte die Stufen einer sonnenbeschienenen Stufenpyramide hinunter, auf deren Spitze ein federgeschmückter Priester soeben mit einem klauenartigen Metallwerkzeug das Herz aus der Brust eines menschlichen Körpers gerissen hatte, der ausgebereitet auf einer Steinplatte lag; ein riesiges, mit Blut beschmiertes Götzenbild, vor dem ein Haufen gehäuteter Leichname zurechtgelegt war, um die herum nackte Priester und Altardiener tanzten, nur dass sie, nein … sie waren gar nicht nackt, sie trugen die Häute der Geopferten. Claire hätte schwören können, einen dämonischen Trommelwirbel zu hören, der das letzte Bild begleitete. Was bist du doch für ein dummes Kind, dachte sie, als sie steif in ihr Büro zurückging. Lässt dich von ein paar gemalten Bildern aus der Fassung bringen. Doch es waren weniger die Bilder als das, was sie vermittelten. Diese furchtbaren Taten waren von Menschen begangen worden, und zwar überall und seit Menschengedenken. Wenn man sich diese erschütternde Wahrheit vor Augen hielt – in was für einer verhätschelten Welt war sie doch groß geworden, einer Welt, in der das schockierendste Ereignis einer normalen Woche das Fluchen ihres Vaters gewesen war, wenn er »Scheiße« gemurmelt hatte, nachdem er sich beim Beschneiden der Edelrosen im Garten ihres Mittelstandshauses in Bournemouth in den Finger geschnitten hatte. Wie fern war sie von alldem gewesen, und jetzt steckte sie von einem Moment auf den anderen inmitten des Grauens. Es war kaum zu glauben, aber gestern – erst gestern! – war sie Zeugin einer realen Kreuzigung gewesen. In dem Moment hatte sie versucht, es sich nicht anmerken zu lassen, aber es hatte sie völlig umgehauen. Heck hatte ebenfalls seinen Abscheu bekundet – natürlich hatte er das, aber jetzt war er da draußen und arbeitete völlig ungerührt, und die anderen im Raum plauderten locker miteinander, während sie sich um ihre Aufgaben kümmerten, zogen einander auf oder lachten über belanglose Witze. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie tapfer sie würde sein müssen – tapferer, als sie je in ihrem Leben gewesen war –, um Teil dieses Teams bleiben zu können. »Ich kann das. Ich weiß, dass ich es kann!« Und das glaubte sie wirklich. Allen Ernstes, wobei sie hoffte, dass niemand ihre Worte gehört hatte. Denn obwohl sie sie mit fester Entschlossenheit hervorgebracht hatte, waren sie ihrer Kehle beinahe schluchzend entwichen und klangen ganz und gar nicht überzeugend. Nicht einmal in ihren eigenen Ohren. Heck ging zurück zum Auto, deponierte das Streichholzheftchen mit dem Fingerabdruck in einem sterilen Behälter im Kofferraum und zog sich die Handschuhe aus. Andy Gregson suchte das Gelände um den ausgebrannten Lastwagen herum in immer größer werdenden Kreisen ab. Heck sah die Straße hinunter. Von der angeforderten Verstärkung war noch nichts zu sehen, aber sie sollten nicht mehr lange … Ein Licht blitzte auf. Er richtete sich auf und starrte angestrengt an dem Lastwagen vorbei über das Abraumgelände, das sich dank der erhöhten Position, an der er sich befand, weit und öde vor ihm erstreckte. Das Licht blitzte erneut auf. Es war sehr fern, vielleicht achthundert Meter weit weg, und sah aus, als befände es sich auf einer niedrigen, lang gestreckten, mit Gestrüpp überwucherten Erhöhung. Als das Licht ein drittes Mal aufblitzte, verwandelte sich Hecks Vermutung, dass jemand sie mit einem Fernglas beobachtete, nahezu in Gewissheit. Einen Moment lang war er unschlüssig, was er tun sollte. Es war gut möglich, dass absolut nichts dahintersteckte. Die Leute spazierten aus allen möglichen harmlosen Gründen mit Ferngläsern in der Gegend herum. Ja, bestimmt … Er hechtete hinter das Lenkrad des Peugeots, rammte den Schlüssel ins Zündschloss, worauf der Zwei-Liter-Turbodieselmotor tuckernd ansprang. Als er den unbefestigten Abhang hinunterraste, kam Andy Gregson hinter dem verkohlten Lkw-Wrack hervor und starrte ihm mit offenem Mund nach, aber Heck hatte keine Zeit anzuhalten, um ihm zu erklären, was los war. Der Unterbau des Peugeots bekam ein paar weitere heftige Schläge ab, als er über das steinige, buckelige, wüste Gelände raste. Die Räder rutschten hin und her, die Karosserie wurde heftig durchgeschüttelt. An einer Stelle verlor Heck auf dem brüchigen Grund die Kontrolle über den Wagen, der Peugeot schlingerte zur Seite, es krachte unheilverkündend, als ob der Auspuff abgefallen wäre, und der Motor heulte laut auf. »Scheiße!«, fluchte Heck. Die Erhöhung rückte näher, aber nur langsam – offenbar schätzte man hier draußen die Entfernungen schnell falsch ein. Er raste über Mulden und Senken und wurde mitsamt seinem Wagen hin und her geschleudert, wenn er in sie hinein oder über sie hinweg bretterte. Dorniges Gestrüpp verhedderte sich um die Räder, ein Ölfass flog scheppernd zur Seite, als er mit dem Scheinwerfer der Beifahrerseite hineinkrachte. Der Scheinwerfer zerbarst, doch Heck hielt den Blick trotz alledem starr auf die näher rückende Erhöhung gerichtet. Seitdem er in den Wagen gesprungen war, hatte er kein weiteres aufblitzendes Licht mehr gesehen, aber das war auch kaum überraschend – schließlich sahen sie ihn kommen, weshalb Geschwindigkeit im Moment wichtiger war als unbemerktes Heranpirschen. Mit knirschenden Achsen und kreischendem Getriebe raste er die letzten fünfzig Meter durch eine niedrige Senke und holperte über Haufen von Bauschutt und Backsteinen. An einer Seite ragte eine Abwasserröhre aus Massivbeton hervor, und es gelang ihm nur durch ein rasantes, geschicktes Ausweichmanöver, sie zu umfahren, ohne dass der Lack von der Seite seines Wagens geschält wurde. Direkt vor ihm ragte die zerfurchte Erhöhung auf, eine lang gezogene Halde aus kompaktem Schutt. Er trat auf die Bremse, der Wagen schleuderte erneut zur Seite und kam schlingernd zum Stehen. Heck sprang aus dem Auto und kraxelte den Hang hinauf, abwechselnd aufrecht gehend und auf allen vieren. Der Hang war steiler, als er gedacht hatte, aber der Kamm konnte nicht mehr weit über ihm sein. Während er hochkletterte, holte er sein Handy hervor. »Andy!« »Was ist los?«, kam die aufgeschreckte Antwort. »Jemand beobachtet uns …« »Was … Wer?« »Keine Ahnung.« »Ihre Karre können Sie abschreiben.« »Die Rechnung kann die National Crime Group übernehmen. Bleiben Sie, wo Sie sind … Gemma ist auf dem Weg.« Heck steckte das Handy wieder in die Tasche. Als er den Kamm der Erhöhung erreichte, tropfte ihm der Schweiß von der Stirn. Er hielt keuchend inne und suchte das ebene Gelände ab, das sich vor ihm erstreckte. Es war mit der für dieses Ödland typischen Vegetation überzogen, die vor allem aus gewundenen, verkümmerten, miteinander verflochtenen Bäumen bestand und, obwohl erst Frühling war, aus kniehohem Dornengestrüpp und dicken grünen Springkrautsprösslingen. Es war absolut still, nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören – was irgendwie unheilvoll schien. Er ging vorsichtig weiter, sah jedoch nur schmale, vom Sonnenlicht gesprenkelte Mulden. Nach einigen Metern sah er sich um und stellte fest, dass er bereits die Sicht auf das weite, offene Gelände verlor, über das er gefahren war. Das wuchernde Gestrüpp hatte sich hinter ihm geschlossen wie ein Vorhang. Dann ertönte irgendwo ganz in der Nähe zu seiner Rechten eine Stimme, die jemanden rief. Heck blieb stehen und lauschte angestrengt. Er ging weiter in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, drückte Zweige und Unkrautgestrüpp zur Seite, sah jedoch immer noch nichts. Die Stimme ertönte erneut. Eindeutig tief, eindeutig männlich. Wie zuvor rief sie jemanden, doch der Name des Gerufenen war nicht zu identifizieren – und warum klang es so, als käme die Stimme jetzt auf einmal aus einer anderen Richtung? Lag es an der Akustik dieses Ortes, oder – und dies war eine unheimliche Vorstellung – trieb sich hier mehr als nur ein Mensch herum? Versteckten sie sich und hielten ihn zum Narren? Er tastete nach seinem Handy in seiner Tasche, doch es würde ihm wenig oder gar nichts nützen – niemand sonst würde über dieses Abraumgelände fahren. Sie würden zu Fuß kommen müssen, und das würde eine Ewigkeit dauern. Vielleicht wäre es besser, wenn er den Rückzug anträte, aber zu welchem Preis? Was war, wenn die Täter hier waren … und er einfach so davonspazierte? Er hörte einen erneuten Ruf, diesmal aus einer etwas größeren Entfernung und von einem nachhallenden Echo begleitet. Wider besseres Wissen wagte Heck sich noch weiter vor, drückte weitere Zweige zur Seite und folgte dem im Zickzack verlaufenden Pfad, sah jedoch immer noch niemanden, obwohl es jetzt wieder bergab ging und das Gestrüpp lichter wurde und zusehends größeren, gesünder aussehenden Bäumen Platz machte. Hinter einigen Eichen- und Ahornbäumen fiel der Boden plötzlich steil ab, und auf einmal blickte er hinab auf ein offenes Gelände und auf etwas, was er am allerwenigsten erwartet hätte. Auf einen Friedhof … einen Eisenbahnfriedhof. Heck war völlig baff. Jeweils sieben oder acht Waggons und sogar eine oder zwei eigentümliche Lokomotiven standen aufgereiht auf dick mit Unkraut überwucherten Gleisen vor alten verrosteten Puffern. Die Fensterscheiben der Waggons waren aus Milchglas und da, wo sie mit Steinen bombardiert worden waren, voller gezackter schwarzer Löcher. Sie waren mit roten und blauen Spritzlackstreifen überzogen, ihre Karosserien waren verbeult und mit Moos überwuchert. Das erklärt zumindest das Echo, dachte er. Die alten Abstellgleise, die vermutlich irgendwie mit der Eisenbahnlinie zwischen Liverpool und Manchester verbunden waren, lagen knapp zwanzig Meter unter ihm in einem natürlichen Tal. Nach unten führte ein sehr steiler Pfad – so steil, dass er den Abstieg sicher nicht riskiert hätte, wenn er weiter unten nicht eine Bewegung erspäht hätte. Etwas, was aussah wie eine Gestalt in einem grünen Regenmantel mit Kapuze, war soeben hinter einem der verlassenen Waggons und aus seinem Sichtfeld verschwunden. Heck blieb stehen, wo er war, doch die Gestalt kam nicht zurück. Er fischte sein Handy aus der Tasche, doch da er sich jetzt auf einem tiefer gelegenen Bodenniveau befand als vorher, türmte sich die Abraumhalde hinter ihm auf und blockierte den Empfang. Er probierte es mit seinem Funkgerät, doch auch dies ohne Erfolg. Also schob er beide Geräte zurück in seine Taschen, nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Funkgerät leise gestellt war. Es wäre eine jener typischen Polizeipannen, zu glauben, dass das Funkgerät offenbar verreckt war, nur damit es sich genau im falschen Moment mit statischem Rauschen meldete. Er stieg ab, wobei er die Füße seitlich stellte, um nicht abzustürzen, behielt aber die ganze Zeit die verlassenen Waggonreihen im Auge. Am Fuß des Abhangs bog der Pfad scharf nach rechts ab und verlief entlang eines hohen Maschendrahtzaunes, der jedoch an etlichen Stellen lose war, sodass Heck problemlos unter ihm durchschlüpfen konnte. Er richtete sich auf, klopfte sich den Dreck von den Händen und lauschte angestrengt. Wenn tatsächlich irgendwelche Leute einander gerufen hatten, taten sie es jetzt nicht mehr. Ob sie jetzt schwiegen, weil er ihnen auf den Fersen war? Er setzte sich vorsichtig wieder in Bewegung, stapfte inmitten von Disteln und verrotteten Schlafwagen weiter und spähte die schmalen Zwischenräume zwischen den Reihen der riesigen, verlassenen Waggons entlang. Zwischen den Gleisen war es am dunkelsten, und das Gestrüpp wuchs einem bis zum Hals. Auf beiden Seiten der Waggons standen die Türen offen, dahinter lauerte die ranzige Finsternis ihres ausgeschlachteten Inneren. Nach wie vor war kein Geräusch zu hören. Erst als er den fünften Zwischenraum zwischen den Gleisen passierte, erspähte er ganz am anderen Ende eine Bewegung: etwas flüchtig huschendes Grünes. Wie zuvor verschwand genau in diesem Moment jemand aus seinem Sichtfeld. Heck blieb stehen, hielt die Luft an und wirbelte aus einem Impuls heraus herum. Wenn da mehr als nur einer von ihnen war, konnte sich ein möglicher Angreifer unbemerkt von hinten an ihn herangeschlichen haben – aber da war niemand, nur weiteres offenes Gelände und noch mehr Abraum und Geröll. In einer Entfernung von etwa dreißig Metern stand ihm eine Reihe verlassener Dieselloks gegenüber: verbeult, rußgeschwärzt und mit Graffiti überzogen. Jenseits der Loks verschwanden verrostete Gleise in einer lang gezogenen, mit Gestrüpp überwucherten Schlucht. Er wandte sich wieder der schmalen Passage zwischen den Waggonreihen zu. Jetzt war am anderen Ende keine Bewegung mehr zu sehen. Er sah den Hang hinauf. Unter den Bäumen auf dem Kamm des Hügels bewegte sich auch nichts. Falls Gemma inzwischen bei dem verdächtigen Lastwagen angelangt war, hatte sie offenbar noch nicht den Drang verspürt herauszufinden, warum er sich so überstürzt vom Acker gemacht hatte. Bisher jedenfalls nicht. Ein lautes Scheppern lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zurück auf das Ende der Passage. Es hallte noch ein paar Sekunden nach, doch es gab immer noch kein Anzeichen einer Bewegung. Heck ging weiter zur nächsten Passage. Sie war länger als alle vorherigen, da die Züge, zwischen denen sie sich befand, jeweils aus vier oder fünf Waggons bestanden anstatt aus einem oder zwei. Er ließ seinen Blick schweifen, und da erweckte eine Gestalt seine Aufmerksamkeit. Rasch sprang er zurück und drückte sich hinter den Zug, sodass er nicht mehr zu sehen war – bis er realisierte, dass die Gestalt ihm den Rücken zuwandte. Heck erkannte den schweren grünen Regenmantel wieder, die Kapuze war über den Kopf gezogen und sah aus wie eine spitze Koboldmütze. Doch die Gestalt, die enorm breite Schultern hatte – wie ein Rugbystürmer der ersten Reihe – verharrte regungslos. Nach einer Weile näherte Heck sich ihr vorsichtig. Er kletterte so unauffällig wie möglich durch die offene Tür in das Waggonwrack zu seiner Linken und fand sich ein einem gewölbten Gang wieder, der mit Scherben, umgekippten Tischen und den Überresten aufgeschlitzter oder verkohlter Sitze übersät war. Er konnte nicht nur durch die eigenartige offen stehende Tür sehen, sondern auch in beide Richtungen ziemlich weit. Zu seinen Füßen lag eine dicke, zerknitterte, gelbe Zeitung. Sie sah aus wie die Daily Mail. Die Schlagzeile auf der Titelseite bekundete Entsetzen über den Tod von Lady Diana, der Prinzessin von Wales. Heck stapfte über die Zeitung hinweg und ging schnell und leise weiter bis zum Zustiegsbereich am Ende des ersten Waggons, der mit weiteren Scherben und einigen Halbziegeln übersät war. Dort hielt er inne und lauschte. Von draußen war nichts zu hören, doch irgendein nicht zu bestimmendes mulmiges Gefühl ließ ihn noch einen Moment verharren. Und dann hörte er es – ein Rascheln von etwas aus Plastik, direkt hinter ihm. Er wirbelte herum und sah, dass die Toilettentür etwa fünfzehn Zentimeter weit offen stand. Hinter dem Türspalt lag undurchdringliche grünliche Finsternis. Es raschelte erneut, diesmal lauter. Er stellte sich einen schweren Regenmantel vor und dass derjenige, der ihn trug, seine Position verlagerte. Starrte er Heck genau in diesem Moment durch den offenen Türspalt an? Heck hatte keine Wahl. Er stürmte los und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Obwohl er sie mit seinem ganzen Gewicht aufzurammen versucht hatte, bewegte sie sich kaum, und einen Augenblick lang war er felsenfest davon überzeugt, dass sich von innen jemand dagegenstemmte. Und dann sah er, was wirklich los war. Die kleine Toilettenkabine war mit Plastikmüllsäcken vollgestopft. Und das vorwitzige Eichhörnchen, das sie erkundet hatte, hüpfte zu dem kaputten, moosüberzogenen Fenster und verschwand so schnell, dass Heck nur ein aschgraues Huschen wahrnahm. Heck verharrte ein paar Sekunden mit herabhängendem Kopf in der Tür und versuchte, sich von dem Schreck zu erholen. Dann stürmte er weiter durch den Zug, blickte durch ein kaputtes Fenster nach dem anderen und erhaschte flüchtige Blicke auf die rostzerfressenen Waggons, die zu beiden Seiten standen. Als er sich dem Bereich näherte, bei dem es sich um den vordersten Teil des verlassenen Zuges handeln musste, verlangsamte er seinen Schritt wieder und ging so leise wie möglich weiter. Direkt vor ihm stand die Tür zum Führerstand der Lokomotive offen. Bevor er ihn betrat, schlich er zur rechten Seite und riskierte einen Blick nach draußen. Die Gestalt, die er gesehen hatte, hätte eigentlich direkt vor ihm stehen müssen, doch jetzt war nichts und niemand zu sehen – nur eine verlassene Lücke zwischen zwei Lokomotiven. Heck fluchte leise und betrat den Führerstand. Wo einst die beiden Armaturenbretter mit den Bedienungsschaltern gewesen waren, ragten nur noch büschelweise ölverschmierte Kabel heraus, und an den Stellen, an denen die beiden Sitze gewesen waren, sah man nur noch rostige Nieten. Er glitt durch die offene Tür des Führerstands, kletterte hinunter auf den Boden und blickte zurück. Die Passage zwischen den beiden Zügen war immer noch verlassen. Erst als er weiterging und in das offene Gelände vor den Lokomotiven hinaustrat, sah er die Gestalt wieder. Sie stand etwa dreißig Meter zu seiner Rechten. Wie zuvor hatte sie ihm den Rücken zugewandt, doch jetzt hing der linke Arm reglos an ihrer Seite herab. Die Gestalt schien ein halb in sich zusammengefallenes Nebengebäude anzustarren. Als Heck sich der Gestalt näherte, versuchte er gar nicht erst, sich leise heranzuschleichen, seine Schritte knirschten auf dem Schotter. Trotz des Geräuschs verharrte die Gestalt reglos und tat ihm nicht den Gefallen, sich umzudrehen – was Heck ein bisschen nervös machte, genauso wie ihre Größe. Aus der Nähe sah die Gestalt riesig und kräftig genug aus, um jeden Gegner in Stücke reißen zu können. Heck ging flüchtig der verrückte Gedanke durch den Kopf, einen Nackenschlag zwischen die kräftigen Schulterblätter zu platzieren und den Gegner außer Gefecht zu setzen, bevor der Kampf richtig losging, doch er hielt sich zurück. »Achtung, Polizei!«, rief er, packte das linke Handgelenk der Gestalt und zog ihr den Arm im Polizeigriff hinter dem Rücken hoch. Die Gestalt sank erstaunlich widerstandslos auf den Boden und stöhnte vor Schmerz, die Kapuze rutschte seitlich herunter. Und dann sah Heck mehrere Dinge auf einmal: Erstens, dass es sich bei der Gestalt trotz der breiten Schultern um einen bierbäuchigen Mann mittleren Alters handelte, dessen pummeliges, rotes Gesicht von dichtem grauem Bartgestrüpp überwuchert war; zweitens, dass er Heck nicht kommen gehört hatte, weil er Kopfhörer trug; drittens, dass er so reglos dagestanden hatte, weil er sich auf ein Objekt konzentriert hatte, das vor ihm auf einem wackligen Stativ aufgebaut gewesen war – ein optisches Nivelliergerät, das jetzt vornübergefallen und auseinandergebrochen war; und schließlich den in Schablonenschrift auf dem rechten Aufschlag seines Regenmantels prangenden Aufdruck: DAYNTON HOMES GmbH. Heck hörte ein ähnliches Rufen wie zuvor, nur dass er es diesmal besser verstand. »Mal! Hast du wieder die verdammten Kopfhörer auf?« Eine zweite Gestalt, die ebenfalls einen grünen Regenmantel trug, kam in Hecks Sichtfeld geschritten. Er war jünger, glatt rasiert und deutlich schlanker gebaut, doch auch sein Regenmantel war mit dem Daynton-Homes-Logo versehen, und er trug ebenfalls ein Nivelliergerät auf der Schulter. Er blieb wie angewurzelt stehen. »He! Was zum Teufel machen Sie da?« »Alles klar … immer schön locker bleiben«, entgegnete Heck und ließ seinen Gefangenen los. »Nur ein kleines Missverständnis, okay?« »Wer sind Sie? Dies ist ein Privatgrundstück. Es gehört Daynton Homes.« »Das ist mir inzwischen auch klar geworden.« Heck zückte seinen Dienstausweis. »Ich bin Polizist.« Der bärtige Kerl hatte sich auf den Rücken gerollt und hielt vorsichtig seinen Arm. »Warum haben Sie mich angegriffen? Ich habe Ihnen nichts getan.« »Ich wollte nicht … Also gut, es tut mir leid. Ich dachte, Sie wären … jemand anders.« Der jüngere Typ hatte es inzwischen als sicher genug erachtet, zu ihnen kommen zu können, und half seinem übergewichtigen Kollegen auf die Beine. »Verdammter Idiot.« »Entspannen Sie sich, Kumpel.« »Ich bin nicht Ihr Kumpel!« »Beantworten Sie mir nur eine Frage … Waren Sie da oben auf dem Hügel, von dem aus man das offene Gelände überblickt, das sich bis nach Ingley Nook erstreckt?« »Wer soll denn sonst da oben gewesen sein? Bis zur Bergbausiedlung wird hier alles von unserer Firma bebaut. Vier Bauphasen in den nächsten zwei Jahren.« »Oh Mann«, stöhnte der bärtige Typ und suchte die Überreste seines Hightechmessinstruments zusammen. »Er hat mein verdammtes Nivelliergerät geschrottet.« »Das wird Sie ’ne Stange Geld kosten«, warnte ihn der jüngere Typ. »Toll gemacht.« Heck nickte niedergeschlagen. Wie es aussah, würde er auch seinen Auspuff und die Scheinwerfer aus eigener Tasche berappen müssen. Gracie trug ihre obligatorischen Satinhotpants, ihre bis zu den Oberschenkeln reichenden Lederstiefel und ein hautenges Neckholdertop – dieses wirklich hauchdünne, in dem ihre üppige 85-C-Oberweite so gut zur Geltung kam. Sie hatte sich aufwendig geschminkt und ihr rotbraunes Haar zu einem dicken Nackenzopf zusammengebunden. Es war zwar Frühling, aber die Abende waren immer noch kalt und klamm, deshalb trug sie außerdem eine Fleecejacke, deren Reißverschluss sie natürlich heruntergezogen hatte, damit ihre besten Stücke nicht versteckt wären. Chantelle, ihre zwanzig Jahre jüngere Kollegin, trug einen Jeansminirock, der die Ränder ihrer schwarzen Nylonstrümpfe und ihre Strapse kaum verhüllte. Ihre Titten waren kleiner als Gracies, aber fester (sie prahlte gerne damit herum), weshalb sie es sich normalerweise schenkte, einen BH zu tragen. An diesem Abend hatte sie nichts weiter an als ein Netzhemd unter ihrem offenen Ledermantel, und man sah ihre Nippel unter den Maschen hervorlugen. In dieser Hinsicht hatte die Kälte auch etwas Positives. Chantelles schulterlanges Haar war blond, jedoch nur, weil sie es blondiert hatte – tatsächlich hatte sie es schon so oft blondiert, dass es inzwischen total trocken und strohig war. Um dies zu vertuschen, trug sie es in Zöpfchen. Jemand hatte ihr mal gesagt, dass sie über eine katzenartige Schönheit verfüge, deshalb versuchte sie, genau dies mit reichlich Make-up zu betonen: mit schwarzem Eyeliner, grünem Lidschatten, dick gepuderten Wangen und zinnoberrot nachgezogenen Lippen. Zudem war sie mit ihren ein Meter achtzig im Vergleich zu Gracie, die gerade mal eins fünfundsechzig maß, sehr groß – geradezu von majestätischer Größe, und so fühlte sie sich auch immer. Ihre Stilettos taten ein Übriges. Doch die beiden hätten sicherlich ein beeindruckenderes Bild sexuell selbstbewusster Frauen abgegeben, wenn sie nicht Stammnutten auf dem Straßenstrich von Bradford gewesen wären. Und so aufreizend sie sich auch kleiden mochten, es war immer schwer, eine Aura von wahrem Glamour aufrechtzuerhalten, wenn man so oft vergewaltigt, reingelegt und geschlagen worden war wie Gracie und Chantelle. Gracies Vorbau war das Augenfälligste an ihr, erst recht im blau-violetten Schein der im Rotlichtviertel blinkenden Neonreklame, doch wenn man sich ihr näherte, ließ sich die aschfahle Blässe ihres welkenden Körpers durch nichts mehr verbergen. Und was die Hände anging, so ließ sich die Wahrheit mit keinem Make-up der Welt so einfach übertünchen wie bei einem Gesicht. Gracies Hände waren so verschrumpelt, dass sie eher aussahen wie Klauen – und die langen Fingernägel, die sie sich am liebsten knallrot lackierte, verstärkten diesen Eindruck noch. Im Fall von Chantelle zeigte nicht einmal das Gesichts-Make-up Wirkung. Sie dachte, es verleihe ihr das Aussehen einer Katze, doch in Wahrheit sah sie aus wie eine Leiche. Und sie war auch nicht von majestätischer Größe, sondern ausgemergelt. Ihre sexy Kleidung hätte auf einer Schaufensterpuppe aus Drahtgitter verführerischer ausgesehen. Butch, der sich selbst gerne als der Manager der beiden bezeichnete, erteilte ihnen in dieser Hinsicht keine großen Ratschläge, jedenfalls keine nett gemeinten, und es erübrigte sich natürlich festzustellen, dass er ihnen absolut keinen Schutz bot. Er hielt sie gerade flüssig genug, damit sie ihre Bäuche mit Wodka füllen und sich ausreichend Speed in die Nasen und Nikotin in die Lungen ziehen konnten. Und wenn sie so zugedröhnt waren, dass die Einnahmen, die sie nach Hause brachten, nur noch lächerlich waren, kam sein Ledergürtel mit der Löwenkopf-Messingschnalle zum Einsatz. Er hatte ihre Körper schon erbarmungsloser gezüchtigt als jeder noch so perverse Freier. Somit war es vielleicht nicht überraschend, dass die beiden ihre eigenen Strategien entwickelt hatten, um zu gewährleisten, dass sie bei ihrer Arbeit zumindest auf ein Mindestmaß an Sicherheit zählen konnten. Sie arbeiteten nur noch zusammen – niemals allein. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie auch mit den Freiern zu zweit abzogen. Es gab immer wieder jenen Moment, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ und in dem sie wider besseres Wissen in das Auto eines Fremden stiegen, mit ihm davonfuhren und im Rückspiegel das Gesicht ihrer Freundin allmählich in der Ferne verschwinden sahen. Doch sie nahmen jeden Freier genau unter die Lupe, bevor sie mitfuhren, und wiesen ihn zurück, wenn er ihnen zu übel erschien. Es war ihnen egal, ob Butch stinkig war, wenn sie nach Hause kamen (natürlich nur, solange er nicht mitbekam, dass sie bewusst einen Freier abgewiesen hatten). Vorsicht war schließlich besser als Nachsicht. Eine andere Maßnahme, die sie ergriffen hatten – und dies war Gracies Idee gewesen –, bestand darin, immer Papier und Bleistift in ihren Handtaschen dabeizuhaben. Keine von ihnen fuhr mehr mit einem Freier davon, ohne dass die andere zuvor das Nummernschild seines Autos notiert hatte, und sie stellten immer sicher, dass der Freier dies auch mitbekam. Als ihr die Idee gekommen war, war Gracie sehr zufrieden mit sich gewesen. Sie fand ihren Plan nahezu perfekt. Nur ein Idiot würde es schließlich wagen, auf dumme Gedanken zu kommen, wenn er wusste, dass die Mädels sein Autokennzeichen besaßen. Oder ein Verrückter, natürlich – und das beunruhigte sie am meisten. Denn an Verrückten gab es keinen Mangel. Jedenfalls nicht, wenn sich die Nacht über die alten Industriestädte Großbritanniens herabsenkte. Bradford beispielsweise war einst ein Jagdrevier von Peter Sutcliffe gewesen, dem berüchtigten Yorkshire Ripper. Was für eine Horrorgeschichte. Die Polizei hatte all ihre Kräfte mobilisiert, aber Sutcliffe war, sobald der Himmel sich verdunkelt hatte, durch die von Reihenhäusern gesäumten Nebenstraßen gestreift, hatte sich eine Frau nach der anderen geschnappt und sie in leblose, abgeschlachtete Hüllen verwandelt. Das war vor ihrer Zeit gewesen. Das letzte Opfer des Rippers war 1980 umgebracht worden, als Gracie noch in die Grundschule gegangen war, und acht Jahre bevor Chantelle auch nur das Licht der Welt erblickt hatte. Doch man brauchte nur diesen kopfsteingepflasterten Platz zu nehmen, über den sie gerade gingen – über ihnen viktorianische Bögen, vor ihnen eine verfallene, mit Brettern zugenagelte Fabrik, hinter ihnen mit Abfällen übersäte Finsternis, in der Ferne die Umrisse von Pennern, die sich um brennende Lumpenhaufen scharten, deren Flammen die Reflexionen roter Phantome auf alte, zerbröckelnde Ziegelsteinmauern warfen: An genau dieser Stelle waren Frauen verschwunden, und nicht nur zu Zeiten, in denen der Ripper sein Unwesen getrieben hatte – so hieß es zumindest. Letzten Endes blieb ihnen natürlich keine Wahl. Keine von ihnen war freiwillig da, nicht auch nur ansatzweise. Sie fanden nur einfach nichts anderes. Chantelle erzählte den Leuten immer, dass sie im Grunde genommen kein schlechtes Mädchen sei, jedoch im Lauf ihres Lebens eine Menge Fehler gemacht habe, die sie jetzt daran hinderten, einen richtigen Beruf auszuüben oder sich um ihre beiden Kinder zu kümmern, die sich in der Obhut ihrer Mutter befanden. Gracie hingegen hatte schon diverse andere Jobs ausgeübt. Sie hatte als Kellnerin in einer Kneipe und als Garderobenfrau in einem Nachtklub gearbeitet und auch schon mal Regale in einem Supermarkt aufgefüllt. Na schön, sie hatte sich auch als Stripteasetänzerin und als Fotomodell verdingt, worüber ein Großteil der Leute wahrscheinlich die Nase rümpfen würde, aber zumindest hatte es zwischen ihr und den Kunden keinen körperlichen Kontakt gegeben – jedenfalls nicht in den Anfängen. Inzwischen konnte sie durch den Drogen- und Alkoholnebel kaum mehr zurückblicken und genau bestimmen, wann diese »Kein-Körperkontakt-Regel« gebrochen und ad acta gelegt worden war. Doch mit dem, was sie taten, ließ sich immer noch Geld verdienen, auch wenn es abstoßend war. Nicht, dass eine von ihnen während der vergangenen Monate gut verdient hatte. Es war April, doch die Nachwirkungen eines sehr harten Winters fingen gerade erst an, sich zu verflüchtigen. Schnee, Eis und Nebel waren nie gut fürs Geschäft, und Chantelle und ihresgleichen wurden immer verzweifelter. An den vergangenen Abenden war Chantelle mit Freiern davongefahren, auf die sie sich besser nicht eingelassen hätte: einem rastlos umherblickenden, schweineähnlichen Mann mit einem dichten, speichelverschmierten Bart und blutbesudelter Kleidung, der in einem versifften alten Metzgerei-Lieferwagen unterwegs gewesen war; und einem etwas respektabler aussehenden Exemplar, das jedoch jegliche Illusionen sofort zunichtegemacht hatte, indem es, bevor sie sich geeinigt hatten, klargestellt hatte, dass sie einwilligen müsse, sich mit Handschellen fesseln und sich die Augen verbinden zu lassen – und dann gelacht hatte wie eine Hyäne, als er mit ihr weggefahren war. Als sie an diesem Abend das erste Auto sahen, konnte Chantelle nicht anders, als sich zu straffen und aufgeregt zu quieksen. Es war ein Jaguar, der langsam die Straße entlangrollte und den Strich abfuhr, jedoch kaum langsamer wurde, als er an ihnen vorbeifuhr. Gracie versuchte, die Insassen zu erkennen, doch sie sah nur ganz undeutlich zwei Gestalten, eine hinter dem Lenkrad, die andere auf dem Beifahrersitz, und dann verschwand der Jaguar um eine Ecke. »Der kommt wieder«, sagte Chantelle zuversichtlich. »Da saßen zwei drin«, entgegnete Gracie mit leichtem Unbehagen. »Umso besser. Wir sind doch auch zu zweit.« »Sie sind sowieso weg.« »Ach was … die kommen wieder.« Der Jaguar kam tatsächlich zurück. Nach drei Minuten rollte er in der gleichen Richtung wie zuvor die Straße entlang. Wie bei seiner ersten Vorbeifahrt fuhr er langsam – vielleicht sogar noch ein bisschen langsamer. Chantelle stellte sich ganz vorn an den Bürgersteig, mit erhobenem Haupt, eine Hand in die Hüfte gestemmt und das, was sie an Oberweite hatte, nach vorn gestreckt. Der Wagen rollte wieder an ihnen vorbei. Eher instinktiv als bewusst nahm Gracie ein abgegriffenes Stück Papier und einen Bleistiftstummel aus der Tasche ihrer Fleecejacke und kritzelte das Kennzeichen des Jaguars auf den Papierfetzen. Der Wagen verschwand erneut um die Ecke. Das war durchaus nicht ungewöhnlich. Einige Freier, vor allem solche, die zum ersten Mal den Strich aufsuchten, waren nervös, wenn es an die Auswahl einer Hure ging, und sie brauchten eine Weile, um Mut zu fassen. Doch dieses Wissen trug nicht dazu bei, dass Gracie sich entspannte. Sie faltete den Papierfetzen zusammen und schob ihn in ihren linken oberschenkellangen Stiefel. Als der Wagen zum dritten Mal auftauchte – diesmal fuhr er in die entgegengesetzte Richtung –, hielt er an, jedoch nicht vor ihnen, sondern auf der anderen Straßenseite vor der Mauer der verlassenen Fabrik. »Pass auf, Süße«, sagte Gracie leise. »Feine Pinkel lassen sich hier normalerweise nicht blicken. Sei vernünftig.« »Ich muss mir einen an Land ziehen«, brachte Chantelle durch die Seite ihres zu einem aufgesetzten Lächeln verzogenen Mundes hervor. »Du kannst es dir vielleicht leisten, Bedenken zu haben. Aber ich kann das momentan nicht, verdammt. Verstehst du?« Doch sie waren beide überrascht, als die Gestalt, die auf dem Beifahrersitz des Jaguars gesessen hatte, ausstieg, um den Wagen herumging, die Straße überquerte und auf sie zukam – denn es handelte sich um eine Frau. Eine ziemlich junge zudem, höchstens siebzehn oder achtzehn Jahre alt, überaus hübsch, jugendlich frisch und schulmädchenhaft. Ihr platinblondes Haar war wild zerzaust und reichte ihr fast bis zur Taille. Sie war sehr schlank, aber wohlgeformt – wie eine Tänzerin. Sie trug ein schwarzes Kleid, eine schwarze Strickjacke, eine schwarze Strumpfhose und weiße Turnschuhe. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und kam schnellen, aber anmutigen Schrittes auf sie zu. »Hallo«, sagte sie und lächelte strahlend, was sie noch hübscher aussehen ließ. »Arbeitet ihr heute Abend?« »Könnte sein«, entgegnete Chantelle. »Das trifft sich gut, denn ich habe euch ein Angebot zu machen.« »Wir machen es nicht mit Kindern«, stellte Gracie tonlos klar. Das Mädchen kicherte – in einer charmanten Weise, die darauf schließen ließ, dass diese Vorstellung sie zwar durchaus amüsierte, jedoch jenseits dessen lag, weshalb sie gekommen war. »Wir brauchen zwei Statisten für einen unserer Filme.« »Filme?«, wiederholte Chantelle. »Genau … also, ich erklär’s euch: Mein Freund und ich drehen Pornofilme. Wir machen das bei uns zu Hause, und dann stellen wir sie auf unsere Website. Ich habe gesagt ›Statisten‹, aber ihr sollt nicht wirklich als bloße Statisten fungieren. Ihr sollt arbeiten, falls ihr versteht, was ich meine.« Sie kicherte erneut, provokativ. »Du und dein Freund?«, fragte Gracie misstrauisch. »Ist das der da in dem Auto?« »Ja. Er ist ein bisschen schüchtern.« »Aber er ist nicht zu schüchtern, um Pornofilme von sich selbst online zu stellen?« »Das ist ja wohl was anderes, oder? In dem Fall sieht er die Zuschauer ja nicht.« »Wie viel?«, fragte Chantelle, als ob sie bereits genug gehört hätte, um das Ganze für eine gute Idee zu befinden. Das Mädchen wollte gerade antworten, als es von irgendetwas kurz abgelenkt wurde – von einer Bewegung in der Finsternis hinter ihnen. Gracie und Chantelle sahen sich um. Ein grau behaartes, frettchenartiges Gesicht war soeben aus einem Pappkarton herausgestreckt worden, dessen in sich zusammenfallende Seiten mit uringelben Zeitungsseiten verstärkt worden waren. Die Augen des Mannes, dem das Gesicht gehörte, waren glasig und wässrig. Er murmelte irgendetwas Unzusammenhängendes, langte mit einer verdrehten Pranke nach oben, um weitere Zeitungsseiten über die Eingangsöffnung seines Kartons zu ziehen, und kroch wieder in seine Behausung zurück. »Mach dir wegen dem keine Sorgen«, sagte Chantelle. »Der ist harmlos. Also, wie viel?« »Oh …« Das Mädchen lächelte. »Wie klingt zweihundert? Für jede Stunde. Pro Nase.« Sogar Gracie war baff. »Abgemacht, Süße«, entgegnete Chantelle. »Moment mal«, schaltete Gracie sich ein. »Wir müssen uns erst noch deinen Typen ansehen. Wenn er aussieht wie der Glöckner von Notre-Dame, musst du verdammt viel mehr springen lassen.« Das Mädchen nickte. »In Ordnung. Mal sehen, ob ich ihn dazu bringen kann, sein hübsches Gesicht zu zeigen.« Sie ging zurück über die Straße. »Bist du übergeschnappt?«, zischte Chantelle. »Das Ganze wird ein Klacks. Zwei Pimpfe – und dafür jede Menge Kohle.« »Zwei Pimpfe, die in einer Vierzigtausend-Pfund-Kutsche herumkurven?«, entgegnete Gracie argwöhnisch. »Na schön, dann sind es eben reiche Pimpfe. Muss ja nicht heißen, dass sie Ärger machen. Komm schon, Süße, das ist leicht verdientes Geld. Außerdem werden wir zusammen sein, und die Bude ist wahrscheinlich auch ganz nett – warm und gemütlich. Vielleicht springen sogar noch ein paar Drinks dabei heraus.« Wenn sie ehrlich war, wusste Gracie beim besten Willen nicht, warum sie Vorbehalte gegen das Angebot hatte. Alles, was ihre Freundin sagte, stimmte. Es war ein Traumjob – leichte Arbeit in einer angenehmen Umgebung mit zwei harmlosen Kunden. Warum hatte sie bei dem Ganzen also trotzdem ein mulmiges Gefühl? »Vermutlich kommt mir das Ganze zu schön vor, um wahr sein zu können. Das ist alles.« »He!« Chantelle klopfte ihr auf den Arm. »Manchmal hat man tatsächlich Glück im Leben.« »Ich weiß nicht …« »Also, jetzt hör mir mal zu …« Chantelle senkte die Stimme. »Willst du mir wirklich sagen, dass du diese junge, blonde Mieze nicht mal antesten willst?« »Für mich sieht sie minderjährig aus.« »Sie sieht wie ein Grenzfall aus, aber wen kümmert das schon? Sie sind schließlich zu uns gekommen. Außerdem stellen sie Filme von sich selbst ins Internet. Sie müssen sich also irgendwie rechtlich abgesichert haben, um so was zu machen.« »Meine Damen!«, ertönte die Stimme des Mädchens. Sie blickten über die kopfsteingepflasterte Straße. Der Fahrer war ausgestiegen und stand neben dem Wagen. Er hatte sich mit einem Arm bei ihr eingehakt und winkte ihnen mit dem anderen verlegen, beinahe schüchtern, zu. Soweit Gracie und Chantelle sehen konnten, gab es nichts an ihm, was eine von ihnen abstieß. Genau genommen, war eher das Gegenteil der Fall. »Die sehen gar nicht so aus, als würden sie so was machen, oder?«, stellte Chantelle fest, als sie die Straße überquerten und ihre Pfennigabsätze in der Abendluft klackerten. »Die Kids werden heutzutage viel zu schnell erwachsen«, entgegnete Gracie. »Daran ist das verdammte Internet schuld.« »Mach es nicht so herunter. Vielleicht springt für uns bei dem Ganzen eine regelmäßige Arbeit heraus. Und zudem auch noch eine gefahrlose.« »Ja, wie du gesagt hast … manchmal hat man vielleicht tatsächlich Glück im Leben.« Das Innere des Jaguars war vornehm und warm, es roch nach Filz und Leder. Aus den Lautsprechern dudelte leise Musik, irgendetwas Schmalziges, Melodisches aus der Big-Band-Ära. »Sehr schön«, sagte Chantelle und machte es sich auf der Rückbank bequem. »Wie heißt ihr eigentlich?« »Ich bin Jasmine«, erwiderte das blonde Mädchen, das wieder auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, und drehte sich zu ihr um. »Und das ist Gareth.« Gareth saß wieder hinter dem Lenkrad. Er sagte nichts, als der Motor schnurrend ansprang. »Wie weit müssen wir denn?«, fragte Gracie. »Nur aus der Stadt heraus. Es ist nicht allzu weit, und wenn wir fertig sind, bringen wir euch hierher zurück. Aber wenn ihr wollt, können wir euch auch nach Hause bringen.« »Danke für das Angebot«, entgegnete Gracie. »Aber hierhin zurück ist völlig in Ordnung.« »Was wünschen die Damen zu trinken?«, fragte Jasmine. Chantelle kicherte. »Ihr wollt uns erst auf einen Drink ausführen?« »Das nicht, aber hier …« Jasmine öffnete eine Ledertasche mit Reißverschluss, nahm zwei Plastikbecher heraus und reichte Gracie und Chantelle jeweils einen. Dann schraubte sie den Deckel einer Flasche auf. »… für ein Gläschen Chablis haben wir Zeit … auf Kosten des Hauses natürlich.« »Danke«, sagte Chantelle und leckte sich die Lippen, als Jasmine die Becher füllte. »Was genau müssen wir eigentlich für diesen Film tun?«, fragte Gracie. »Nur das Übliche. Nichts abgedreht Perverses, das verspreche ich euch.« Es gab im Grunde keine abgedrehte Perversität, die Gracie und Chantelle nicht bereits praktiziert hätten, aber es war immer beruhigend zu hören, dass ein Freier es ganz normal wünschte. »Ich hoffe, ihr wirkt in dem Filmchen auch mit«, stellte Chantelle fest. »Keine Sorge, ich habe auch meine Rolle zu spielen.« Jasmine drehte sich wieder nach vorn. Chantelle zwinkerte Gracie zu, und sie nippten beide an ihrem Wein, als der Jaguar vom Bordstein wegfuhr. Keine der beiden bekam mit, dass das blonde Mädchen aus dem Fenster über die Straße in die Finsternis unter der gewölbten Eisenbahnbrücke starrte. Und keine von ihnen sah die mit einer Kapuze vermummte Gestalt, die darauf gewartet hatte, dass sie wegfuhren, und jetzt aus der undurchdringlichen Finsternis hervorschlich. »Was … was zum Teufel …«, rief der frettchengesichtige Penner, als das Dach seiner Pappkartonbehausung über ihm weggerissen wurde. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er die mit einer Kapuze vermummte Gestalt über sich sah, erst recht, als er den flachen Stein erblickte, den die Gestalt mit ihren behandschuhten Händen in die Höhe hob – dem Aussehen nach zu urteilen mindestens ein halber Pflasterstein. Er versuchte zu schreien, doch es war zu spät – der Fremde hatte den Stein bereits hoch über sich gehoben und schlug mit voller Wucht zu. Der Stein krachte auf den Schädel des Penners und erzeugte beim Aufprall das Geräusch zermalmender Knochen. Es folgte ein zweiter Schlag, dann ein dritter, ein vierter und ein fünfter. Das Geräusch der schweren, auf Knochen und Fleisch niedergehenden Schläge hallte durch die Bögen der alten Eisenbahnbrücke. »Das sind die bevorstehenden Feiertage, über die wir intensiv nachdenken sollten«, sagte Eric Fisher. Heck und Andy Gregson betrachteten die Schautafeln mit den Bildern, die Fisher in der Einsatzzentrale aufgestellt hatte. Bisher hatten sie die Tafeln nur mit einem flüchtigen Blick bedacht, doch da die beiden an diesem Morgen schon früh gekommen waren, hatten sie jetzt Zeit, sie ausgiebig zu studieren. Die rechte Tafel, auf der etliche Darstellungen von Ritualmorden aus der gesamten Menschheitsgeschichte gezeigt wurden, war verstörend, doch die linke war für sie von noch unmittelbarerer Bedeutung. Auf dieser Tafel gab es Fotos von kirchlichen Prozessionen, in Chorgruppen beieinanderstehenden Kindern und Morristänzern sowie Bilder von Umzügen, Dorfwiesenfesten und dergleichen. Jedes Bild war mit einem Aufkleber mit der Bezeichnung des jeweiligen Ereignisses und einem Datum versehen, daneben hing jeweils eine ausgedruckte Kurzzusammenfassung des betreffenden Ereignisses und der mit ihm zusammenhängenden Besonderheiten. Im Gegensatz zu der Ausgelassenheit, die aus den Darstellungen sprach, waren die Ausdrucke keine einfache Lektüre. Allein für den April waren achtzehn Daten aufgeführt, darunter so rätselhafte Festtage wie Hocktide und Weißer Sonntag neben traditionelleren Feiertagen wie Ostern oder dem Georgstag. Ähnliches galt für den Mai: Jeder konnte etwas mit dem Ersten Mai, dem Empire Day und Pfingsten anfangen, aber wer wusste schon, was es mit dem Helston Flora Day oder dem Royal Oak Day auf sich hatte? »Von der Hälfte dieser Feiertage habe ich noch nie gehört«, stellte Gregson fest. »Das liegt daran, dass unsere Gesellschaft mehr und mehr an Spiritualität verliert«, entgegnete Fisher und verteilte Ausdrucke an die Detectives, die sich um die Schautafeln versammelt hatten. »Als ich klein war, hatten wir an Tagen, die irgendetwas mit der Kirche zu tun hatten, immer schulfrei. Heutzutage haben die meisten Leute nie von diesen Tagen gehört. Doch wenn ich ehrlich bin, ist das auch nur ein Kratzen an der Oberfläche. Darüber hinaus gibt es noch lokale Feiertage, die in einigen Teilen des Landes groß begangen werden und in anderen gar nicht. Und dann werden sie auch noch auf unterschiedliche Weise zelebriert. Bei einigen unterscheidet sich die Art, wie sie gefeiert werden, von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde, und das gilt erst recht von County zu County. Aber grundsätzlich liegen all diesen Feiertagen religiöse Motive zugrunde. Und sie haben den Menschen früher sehr viel mehr bedeutet als heute.« »Was ist wohl religiös daran, am fünften November eine Guy-Fawkes-Puppe zu verbrennen?«, fragte Charlie Finnegan. »Heutzutage nichts mehr«, erwiderte Heck. »Aber die ursprüngliche Pulververschwörung sollte das Signal für einen Aufstand der Katholiken sein. So hat man es mir zumindest in der Schule beigebracht.« »Das stimmt auch«, sagte Fisher. »Seitdem wir hier sind, habe ich diese Feiertage mal ein bisschen genauer unter die Lupe genommen. Der fünfte November ist ein alter protestantischer Feiertag. Heute wird das nicht mehr so gesehen, außer an Orten wie Lewes in East Sussex, wo Bildnisse des Papstes symbolisch verbrannt werden. Aber so wurde dieser Tag ursprünglich begangen.« »Das vereinfacht die Sache zumindest«, stellte Finnegan fest. »Wir haben es also mit einem Haufen religiöser Fanatiker zu tun.« Heck setzte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. »Schon möglich, aber welcher Religion gehören sie an? Waren wir nicht zu dem Schluss gekommen, dass einige dieser Feiertage früher heidnische Feste waren?« Fisher nickte. »Weihnachten geht auf das alte germanische Julfest zurück, der Valentinstag auf die Luperkalien im alten Rom. Und so ist es bei fast allen auf den Tafeln dargestellten Ereignissen. In der Art und Weise, wie wir diese Tage heute begehen, finden sich allenfalls noch Überbleibsel der früher viel aufwendigeren Zeremonien.« »Waren diese Feiertage damals mit Menschenopfern verbunden?«, fragte Shawna McCluskey. Fisher verzog das Gesicht. »Einige ja, manchmal …« »Das macht doch keinen Sinn«, wandte Gary Quinnell ein. »Christliche Feste mit grauenhaften Morden zu feiern oder auch heidnische Feste mit Morden zu begehen – so etwas liegt doch viele, viele Jahrhunderte zurück. Moderne Wiccas sind wie wir – sie halten nichts davon, Blut zu vergießen. Außerdem sind die speziellen Tage, mit denen wir zu tun haben, alle unterschiedlich. Die meisten von ihnen haben nichts miteinander zu tun, weder was ihren Ursprung angeht noch im Hinblick auf die Aktivitäten, die mit diesen Tagen verbunden sind. Es gibt auch keine erkennbare Glaubenslehre, die alldem zugrunde liegen könnte. Für mich macht das alles keinen Sinn.« »Wie dem auch sei«, sagte Fisher, »und mit wem auch immer wir es zu tun haben, sie haben so viele besondere Tage zur Auswahl, dass sie praktisch jederzeit zuschlagen könnten.« »Aber sie müssen doch planen, oder?«, wandte Shawna ein. »Sie können sich doch nicht einfach wahllos irgendwelche Daten aus dem Kalender picken?« »Sie haben das Ganze schon komplett durchgeplant«, sagte Heck. »Vor Monaten, vielleicht sogar schon vor Jahren.« Alle dachten über diese Worte nach. Es war niederschmetternd. Die Ausdauer, die erforderlich war, um ein derart komplexes Vorhaben auszuhecken und in die Tat umzusetzen, wies auf eine eiskalte, kalkulierende Denkweise hin. Diese Menschen waren geduldig und obsessiv bis zu dem Punkt, an dem die Obsession in Wahnsinn umschlug. Während Heck sich die heiteren Bilder ansah – Zylinder tragende, mit Frühlingsblumen dekorierte, Stangen haltende sogenannte »Tutti Men« am Hocktide Day oder ein am Maifeiertag mit einer Horde Kinder im Schlepptau über einen Dorfplatz ziehender komplett in Blattwerk gehüllter »Jack in the Green« –, fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, dass das Ganze nicht mehr war als ein schauriges, aber letzten Endes sinnloses Spiel. »Und wenn sie diese Feiertage gar nicht zelebrieren«, meldete Shawna sich plötzlich zu Wort, »sondern sie im Gegenteil entweihen und schänden?« Alle Blicke richteten sich auf sie. »Glaubt ihr nicht, dass es so sein könnte?«, fuhr sie fort und sah selber erstaunt darüber aus, dass ihr so eine Idee gekommen war. »Sie verhöhnen die Feiertage nicht nur, sie entweihen und ruinieren sie für alle Ewigkeit.« »Du denkst an … eine antireligiöse Gruppierung?«, fragte Quinnell. »Zum Beispiel an, keine Ahnung … militante Atheisten oder so was in der Art?« »Verhöhnung«, sagte Heck nachdenklich. »Ist das alles nur eine riesengroße Verarschung?« »Was auch immer diese Verrückten zu ihren Taten treibt, sie sind verdammt gut organisiert«, stellte Fisher fest. »Man denke nur daran, wie sie ihre Opfer auswählen, in Fallen locken und sie sich schnappen. Sie sind so gut organisiert, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie sogar unsere Ermittlungen verfolgen, um gegebenenfalls improvisieren zu können … falls wir zu nah an sie herankommen.« »Das sind alles nützliche Überlegungen«, meldete sich Gemmas Stimme. Sie war aus ihrem Büro gekommen und stand mit einem Stift in der Hand dicht neben ihnen. »Und ein guter Hinweis, Eric. Noch ein Grund mehr, nicht aus dem Nähkästchen zu plaudern. Ach, Heck, könnte ich kurz mit dir sprechen?« Heck folgte ihr in ihr Büro und zog sich sein Jackett aus. Detective Chief Inspector Garrickson saß bereits mit aufgekrempelten Hemdsärmeln da und blätterte einen Stapel Berichte durch. Er murmelte etwas kaum Hörbares, als Heck ihn mit »Morgen« begrüßte. Gemma nahm wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz und bedeutete Heck mit einem Nicken, sich einen Stuhl heranzuziehen. Was er tat. »Ich fürchte, die Einheiten zur Bekämpfung der Bandenkriminalität haben nichts Verwertbares für uns«, sagte sie. »Ich habe mit unseren Kollegen der Merseyside Police, der Greater Manchester Police und der West Yorkshire Police gesprochen. Sie sind alle der Meinung, dass diese Arten von Verbrechen zu keiner der Gangs passen, die sie beobachten.« Heck zuckte mit den Schultern. »Überrascht mich nicht wirklich. Dieser ganze Fall offenbart ein extrem hohes Maß an Abartigkeit … Ich habe ja schon die ganze Zeit gesagt, dass dies nicht das Werk von gewöhnlichen Kriminellen ist.« Garrickson stöhnte. »Nicht schon wieder dieses Psychogefasel. Dann sagen Sie mir doch mal … Wenn wir nicht nach Kriminellen suchen, wonach suchen wir dann?« »Alles, was ich sagen kann, Sir, ist, dass diese Verbrechen sehr stark von der Norm abweichen. Und dass sie sehr schwer zu erklären sind, vor allem weil die Täter keinen erkennbaren Vorteil von ihren Taten haben.« »Also Mörder, die nur auf einen Kick aus sind?« Garrickson klang unbeeindruckt. »Oder eine Show abziehen wollen?« Heck nickte. »Das ist eine mögliche Erklärung. Religiöser Fanatismus könnte eine andere sein, aber ich persönlich bezweifle Letzteres. Shawna hatte eine gute Idee. Sie meint, dass wir es mit bewussten Entweihungen zu tun haben. Mit grausamen Taten, die dazu bestimmt sind, so viele Menschen wie möglich in ihren Gefühlen zu verletzen und zu schockieren. Das wiederum würde ganz klar zu dem Profil eines narzisstischen Mörders passen.« »Ein narzisstischer Mörder, der tötet, um einen Kick zu bekommen«, überlegte Gemma laut. »Normalerweise sind das Einzeltäter.« »Ein Einzelner könnte die anderen kontrollieren«, entgegnete Heck. »Ein Meistermanipulator, der sich mit Sonderlingen und Außenseitern umgeben hat … mit naiven Typen, die jeden Befehl befolgen.« »Wie in einer Sekte?«, hakte Gemma nach. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher erscheint es mir«, entgegnete Heck. »Wobei ich nicht glaube, dass es sich um eine besonders große Gruppe handelt. Kann durchaus sein, dass es nur eine Handvoll Mitglieder gibt.« Garrickson betrachtete ihn fasziniert. »Jetzt haben Sie aber wirklich auf den Spekulationsknopf gedrückt, oder?« »Je abscheulicher das Verbrechen, Sir, desto schwieriger ist es, Menschen zu finden, die dabei mitmachen …« »Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Ich weiß nur nicht, wie wir, ohne auch nur irgendetwas zu wissen, plötzlich dazu kommen, Fahndungen nach Mitgliedern der Manson Family einzuleiten …« Shawna platzte herein. »Entschuldigung, Ma’am. Aber diese E-Mail müssen Sie sich ansehen.« Gemma nahm ein paar Ausdrucke von Shawna entgegen und las sie sorgfältig – nicht nur einmal, sondern zweimal. Dann legte sie sie auf den Schreibtisch und blickte auf. »Das Labor hat es geschafft, mithilfe des Haars, das unter Ernest Shapiros Fingernägeln gefunden wurde, ein DNA-Profil zu erstellen. Aber es kommt noch besser: Beim Abgleich mit den gespeicherten DNA-Profilen gab es einen Treffer. Das Haar stammt von einem gewissen Cameron Boyd aus Longsight, Manchester … dreiunddreißig Jahre alt und der Polizei bestens bekannt. Boyd ist wegen Raubs, Autodiebstahls, schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung vorbestraft.« »Sie haben ihm den Spitznamen ›Cam der Eisendorn‹ verpasst«, sagte Shawna, »weil seine Lieblingswaffe immer ein angespitzter Schraubenzieher war.« Garrickson schien hocherfreut. »Das nenne ich eine Spur! Schnappen wir uns den Kerl und nehmen ihn in die Mangel!« Heck nahm einen der Ausdrucke vom Schreibtisch. »Gibt es bekannte Komplizen?«, fragte Gemma an Shawna gewandt. »Sie haben freie Wahl. Er hat schon alles angestellt, die ganze Palette.« »Bis hin zu Serienmorden?«, fragte Heck. »Nun ja … das bisher nicht«, erwiderte Shawna. »Aber er ist ein Spieler, der alles ausprobiert. Das liegt doch auf der Hand, oder?« »Klar, aber bisher hat er nur gewöhnliche Verbrechen begangen. Autodiebstahl, Einbrüche.« »Und was ist mit der Vergewaltigung?«, fragte Shawna. Heck tippte auf den Ausdruck. »Diesem Bericht zufolge wurde er wegen Vergewaltigung seiner Freundin verurteilt. Das macht ihn nicht zu einem netten Typen, aber es macht ihn auch nicht zu einem Stalker, der nachts fremden Frauen nachstellt.« »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte Garrickson. »Ich weiß ja nicht.« Heck sah Gemma an. »Es ist ein Fortschritt, ganz klar … Wir müssen das überprüfen. Aber mal ehrlich, falls wir es mit irgendwelchen Nullachtfünfzehn-Tätern zu tun hätten, hätten unsere Spitzel uns dann nicht inzwischen längst irgendeinen Hinweis geliefert? Sehen Sie sich doch Boyds Vorleben an: Er hat mit sechzehn die Schule geschmissen und war die meiste Zeit sowieso vom Unterricht suspendiert. Er ist nicht nur ein Arschloch, er ist auch dumm wie Schifferscheiße. Hätte er auch nur den Hauch eines Schimmers davon haben können, wie man eine richtige Kreuzigung nachahmt?« »Dafür hätte er sich nur einen Film ansehen müssen«, stellte Garrickson klar. »Professor Fillingham ist da anderer Meinung.« »Könnte er nicht ein Gehilfe gewesen sein?«, schlug Shawna vor. »Ein angeheuerter Handlanger fürs Grobe?« Heck atmete lange und geräuschvoll aus. »Könnte sein, denke ich …« Garrickson kicherte. »Denken Sie? Wie entgegenkommend von Ihnen.« Heck wandte sich Gemma zu. »Es ist nur ein Bauchgefühl, aber ich dachte eigentlich, dass wir nach gebildeteren Verdächtigen Ausschau halten. Ich weiß, wie unwahrscheinlich es klingen mag, aber ich denke da eher an einen Schriftsteller, einen Historiker oder …« »Heck«, unterbrach sie ihn, »willst du mir allen Ernstes nahelegen, eine DNA-Spur zu ignorieren?« »Nein.« Mit einiger Verspätung wurde Heck bewusst, dass dies unmöglich war. Über die Beweiskraft von DNA-Spuren ließ sich nicht diskutieren. Cameron Boyd musste in irgendeinem Stadium in diese Geschichte verwickelt gewesen sein. Vielleicht, wie Shawna vorgeschlagen hatte, als eine Art Vollstrecker. Doch sein Zweifel blieb. »Pass mal auf, Gemma, was hältst du davon, wenn ich, während ihr euch auf Boyd fixiert, sämtliche Uni- und Collegefakultäten in Merseyside und Greater Manchester unter die Lupe nehme? Vielleicht sogar ab den Oberstufen aufwärts? Vielleicht werde ich da fündig?« »Du allein?«, fragte Gemma. »Dir ist schon klar, wie viele das vermutlich sind, oder?« »Ich habe ja Andy Gregson als Partner.« Garrickson stieß sich vom Schreibtisch ab und stand auf. »Erst war es also Charles Manson, und jetzt ist es der verrückte Professor … sehe ich das richtig?« »Nicht unbedingt«, erwiderte Heck. »Das ist doch kompletter Schwachsinn, Ma’am!«, fuhr Garrickson Gemma an. »Ihr Minister ohne Geschäftsbereich will sein Ding mal wieder im Alleingang durchziehen. Dann haben wir am Ende wieder so viele Tote wie bei den Ermittlungen im Nice-Guys-Fall.« Heck wollte gerade parieren und dem Detective Chief Inspector sagen, wohin er sich seine schicken Anzüge und seine spießigen Seidentaschentücher stecken könne, doch Gemma kam ihm zuvor. »Heck!«, warnte sie ihn. Er sah sie an und machte den Mund wieder zu. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich sehe, dass du dir eine Menge Gedanken gemacht hast, aber ich stimme Mike zu. Wir können nicht auf dich verzichten, und schon gar nicht auf dich und Gregson. Wir stehen unter Zeitdruck. Womöglich schlagen diese Irren schon morgen oder übermorgen wieder zu. Deshalb müssen wir uns im Augenblick auf handfeste Beweise konzentrieren und nicht auf irgendwelche Theorien.« »Oder wilde Phantasien«, fügte Garrickson hinzu. Heck war klar, dass er die Auseinandersetzung verloren hatte, und wahrscheinlich aus gutem Grund. Sie waren immer noch unterbesetzt, das stand außer Frage. Und sobald DNA-Spuren vorlagen, wurden jegliche Theorien, die in eine andere Richtung gingen, bedeutungslos. Letzten Endes hatte er nicht mehr anzubieten als reine Mutmaßungen – und unterdessen tickte die Uhr der Mörder. Sie mussten Prioritäten setzen. Es klopfte an der Tür, und Gary Quinnell kam herein. »Entschuldigen Sie die Störung, Ma’am. Aber wir haben gerade einen Anruf von den Tatortspurenanalytikern erhalten. Der Fingerabdruck von dem Streichholzbriefchen aus dem ausgebrannten Laster wurde identifiziert.« Er sah hinab auf die Papiere in seiner riesigen Hand und reichte sie Gemma. »Er stammt von einem gewissen Terry Mullany … aus Manchester.« Shawna stockte beinahe der Atem. »Mullany ist ein weiterer Krimineller aus Longsight! Er steht auf der Liste bekannter Komplizen von Cameron Boyd!« Garrickson schlug auf den Schreibtisch. »Dann ist ja alles klar.« »Vielleicht.« Gemma blieb cool. »Aber wir schnappen sie uns noch nicht.« Sie rief laut: »Detective Sergeant Fisher, könnten Sie bitte in mein Büro kommen!« Eric Fisher kam hereingeschlendert. »Ma’am.« »Zwei Dinge«, sagte Gemma. »Erstens: Gibt es irgendetwas Verwertbares aus den Überwachungskameras von dem Lkw-Parkplatz in Longsight, auf dem der ausgebrannte Scania gestohlen wurde?« »Keine verwendbaren Aufnahmen, Ma’am. Aber weiteres Material aus Überwachungskameras, die zwischen Longsight und der Wache Manor Hill stehen, wird zurzeit ausgewertet.« »Okay, gut. Und meine zweite Frage: Was ist der nächste bevorstehende besondere Tag im Kalender?« »Tja … da gibt es jede Menge. Vielleicht sollte man den Geburtstag der Queen im Auge behalten.« »Wann ist der?«, fragte Garrickson. »Am einundzwanzigsten April«, erwiderte Fisher. »Natürlich hat der Tag keinen religiösen Hintergrund, aber das Datum ist allgemein bekannt.« »Der Geburtstag der Queen ist ja wohl keine große Sache, oder?«, stellte Quinnell fest. »Muss es das denn sein?«, fragte Shawna. »Das wissen wir nicht«, erwiderte Gemma. »Jedenfalls wissen wir nicht genug.« Sie erhob sich. »Also gut, wir verfahren wie folgt: Mike, Sie erstellen einen Dienstplan. Ich möchte, dass bis zum einundzwanzigsten April jede Bewegung dieser beiden Mistkerle rund um die Uhr von Zweierteams überwacht wird, und falls nötig, auch über dieses Datum hinaus.« Garrickson nickte. »Alles klar, Ma’am.« »Eric, tragen Sie alles zusammen, was Sie über diese beiden Typen herausfinden können.« Sie reichte ihm die Unterlagen über Boyd und Mullany.« Die beiden sind ab sofort unsere Hauptverdächtigen. Ich will wissen, wo sie gewohnt haben, was sie alles angestellt haben, mit wem sie zusammen gesehen wurden … das volle Programm!« Fisher nahm die Unterlagen entgegen und zog sich zurück. Gemma umkreiste ihren Schreibtisch in der Pose einer Frau, die endlich ein Ziel hatte, auf das sie es absehen konnte. »Heck … dieser Fingerabdruck war ein Volltreffer. Gut gemacht.« Er nickte. »Shawna, kommen Sie bitte mit mir. Hatten Sie während Ihrer Dienstzeit in Manchester mal mit Boyd und Mullany zu tun?« »Nein … die sind erst nach meiner Zeit in Erscheinung getreten, Ma’am. Aber ich kann mit ein paar Kollegen von dort sprechen, die mit ihnen zu tun hatten.« Shawnas Stimme wurde leiser, als sie und Quinnell Gemma aus dem Büro folgten. Heck verließ den Raum nach ihnen, bog jedoch ab und steuerte den Automaten in der Ecke an. Claire stand bereits vor dem Apparat und blies den Schaum von ihrem dampfenden Cappuccino. »Ist der Wasserkocher in der Küche kaputt?«, fragte er. »Oh, hallo«, entgegnete sie. »Nein, aber der lösliche Kaffee da schmeckt abscheulich. Wobei ich nicht sicher bin, ob das Gebräu hier viel besser ist.« Sie probierte einen Schluck und verzog das Gesicht. Heck lächelte und wählte einen Tee. »Ich habe gerade dein Auto gesehen«, sagte Claire. »Was ist denn damit passiert?« »Ach das …« Er versuchte zu lachen. »Das sind die Abnutzungserscheinungen, die der Job so mit sich bringt.« »Fährt es denn noch?« »Nicht vorschriftsmäßig. Zumindest lässt Gemma mich damit nicht mehr fahren. Sie hat mir einen Ersatzwagen aus dem Fuhrpark der hiesigen Kripo besorgt. Einen VW Golf. Etwa tausend Jahre alt. Was auch passiert, irgendwie läuft es immer darauf hinaus, dass ich in einer Schrottkarre herumkurve. Aber egal, wie läuft’s bei dir?« »Alles bestens«, erwiderte sie mit einem trockenen Lächeln. »Mir wird definitiv nicht langweilig. Als ich heute Morgen reinkam, hatte ich fünfundachtzig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Eine war von einem Fernseh-Dokumentarfilmer. Er wollte wissen, wie nah wir dran sind, diesen Fall abzuschließen, weil er einen Film über Folterkiller plant und ›die Kreuziger‹ gerne als Highlight mit reinbringen würde – das war seine Wortwahl, nicht meine.« Heck schnaubte verächtlich. »Mördergroupies. An diese Spezies musst du dich auch gewöhnen.« »Ich bezweifle, dass sie auch so scharf auf diese Geschichten wären, wenn wir sie leibhaftig mit der Realität konfrontieren würden.« »Da bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht so sicher.« Heck trank seinen Tee aus und warf den leeren Plastikbecher in den nächsten Abfalleimer. »Ich muss los. Wir haben ein paar neue Spuren.« »Heck«, sagte sie, als er schon wegging. »Danke.« Er sah sich zu ihr um. »Wofür?« »Für alles … dafür, dass du so ein netter Kollege bist und versuchst, mich aufzumuntern.« »Hin und wieder brauchen wir alle mal ein aufmunterndes Schulterklopfen.« Sie nickte und lächelte, doch er konnte nicht umhin zu registrieren, dass ihr Gesicht bereits fahl und müde aussah – dabei war noch nicht mal Vormittag. Als Gracie und Chantelle in der pechschwarzen Finsternis wieder zu sich kamen, konnten sie nichts anderes tun, als sich aneinanderzuklammern und zu weinen. Die betäubende Wirkung der Droge hatte recht bald nachgelassen, und der ganze Horror ihrer prekären Lage war ihnen nach und nach bewusst geworden. Sie befanden sich in einem unterirdischen Verlies, so viel war klar. Es war feucht, und der üble Geruch verriet ihnen, dass ganz in der Nähe offenbar irgendwelche Abwässer entsorgt wurden. »Das muss ein Spiel sein«, stammelte Chantelle. »Irgendein grausames, fieses Spiel.« »Ich glaube nicht, dass es ein Spiel ist«, entgegnete Gracie. »Warum tun sie uns sonst so etwas an?« »Das kann ich dir auch nicht sagen, Süße.« Gracie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, die Stärkere zu sein, obwohl auch sie vor Entsetzen zitterte. Einige der Geschichten, die sie in der Vergangenheit gehört hatte, waren so grauenvoll, dass sie lieber nicht daran denken wollte: Da waren nicht nur die Mädchen, die ermordet worden waren – Morde gab es wie Sand am Meer. Nachdem ihnen einige der Dinge angetan worden waren, von denen Gracie gehört hatte, musste es für die Opfer beinahe eine Erleichterung gewesen sein, am Ende getötet zu werden. Da gab es Mädchen, die jahrelang in einem Kleiderschrank eingesperrt waren, in dem es nur winzige Löcher zum Atmen gab; Mädchen, die mit nach unten gezogenen, mit Sekundenkleber festklebten Augenlidern und mit zusammengehefteten Schamlippen aufgefunden worden waren; Mädchen, die in Kellern angekettet und als Babyfabriken missbraucht worden waren. Gott allein wusste, was sie hier unten erwartete. Gracie hatte bereits beschlossen, dass sie Chantelle töten würde, bevor sie zuließe, dass ihr etwas Derartiges angetan würde, und danach würde sie sich selbst umbringen. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte, aber sie würde lieber sterben, als gefoltert und misshandelt zu werden. Doch was auch immer die prekäre Lage, in der sie sich befanden, ihr am Ende abverlangte, im Moment wusste sie eines mit Sicherheit: Sie musste stark sein und für ihre kindhafte Freundin da sein. Deshalb erstickte sie ihre eigenen Schluchzer, wischte sich die Tränen und den Schleim weg, der ihr aus der Nase lief, und drückte Chantelle noch fester an sich. Der Kopf der jüngeren Frau ruhte auf ihrer Schulter. Gracie küsste das trockene, strähnige Haar ihrer Freundin und kämmte es mit den Fingern herunter. »Warum tun sie uns so etwas an, Grace?«, fragte Chantelle schluchzend. »Warum hassen sie uns so sehr? Wir tun doch niemandem etwas.« »Ich weiß es nicht, Kleine … Ich weiß es einfach nicht.« »Wir bieten doch nur eine Dienstleistung an. Wir sind diejenigen, die das gesamte Risiko auf sich nehmen und den ganzen Schmutz ertragen müssen … und dafür nicht einmal viel kriegen. Ein paar läppische Pfund, mehr nicht.« »Ich weiß, Kleine.« »Weißt du noch vor zwei Jahren, als dieses Arschloch mich verprügelt hat? Mich mit seinem Gürtel geschlagen hat, bis ich kaum noch gehen konnte? Und mich syphilisverseuchte Hure genannt hat?« »Ja, das weiß ich noch.« Diesen Tag konnte Gracie wohl kaum vergessen haben. Es war an einem Samstagabend im Hochsommer passiert, und sie war diejenige gewesen, die Chantelle halbwegs zum Krankenhaus getragen hatte und dann in der Notaufnahme neben ihr gestanden und sie gestützt hatte, weil es keinen Sitzplatz gegeben hatte. Sie hatten fast drei Stunden warten müssen und waren von den Mitarbeitern des Krankenhauses praktisch komplett ignoriert worden, da sie aufgrund von Chantelles nuttigem Outfit und aufgrund ihres verschmierten Make-ups davon ausgegangen waren, dass es sich bei ihnen nur um zwei weitere Schlampen handelte, die sich in der Innenstadt fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatten. »Warum hat er das getan?«, brachte Chantelle hervor. »Ich gehe doch regelmäßig zu den Gesundheitskontrollen. Ich würde mich doch nicht auf die Straße stellen, wenn ich irgendetwas hätte, das weißt du doch.« »Ich weiß …« »Und diese hübsche kleine Blondine. Was hat sie davon?« »Wer weiß das schon, meine Kleine. Vielleicht ist sie auch eine Gefangene?« »Das glaube ich nicht …« »Nein.« Das glaubte Gracie auch nicht. Im Rückblick war diese platinblonde aufgebrezelte Tussi irgendwie viel zu selbstsicher aufgetreten. Ein schmächtiges siebzehnjähriges Ding – älter konnte das Mädel nicht sein –, das absolut lässig auf zwei Straßenprostituierte zugegangen war und angesichts der heruntergekommenen Umgebung, in der es die beiden antraf, nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte. Wie hatte eine vierundvierzigjährige Frau wie Gracie nicht durchschauen können, dass da etwas nicht stimmte? Inzwischen war ihr klar, dass das Mädchen seine Rolle gut einstudiert hatte: Es hatte ihnen diese Lügen über den Pornofilm aufgetischt, ihnen lächerlich viel Geld angeboten und sie zu einer Fahrt in einer Nobelkarosse eingeladen. Als ob es Routine wäre. Bei dem Gedanken daran, wie naiv sie gewesen war, konnte auch Gracie sich nicht mehr länger zurückhalten und wimmerte leise. »Was ist?«, fragte Chantelle. »Nichts … gar nichts, Süße.« »Was ist? Sag es mir!« »Ich hoffe, du hast deinen Spaß, du kleine Schlampe!«, schrie Gracie in die Finsternis über ihnen. Als sie hier unten zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie als Erstes die Wand abgetastet, die sie umgab. Es gab keinen Eingang, was bedeutete, dass sie von oben hinuntergeworfen worden sein mussten – sie befanden sich in einer Art Grube. »Hörst du mich?«, schrie sie, diesmal so schrill, dass sie regelrecht kreischte. »Du Schlampe! Du mieses kleines Dreckstück! Geilt dich das auf? Indem du Leute einsperrst, die dir nie etwas getan haben?« »Pst!«, ermahnte Chantelle sie leise und legte ihr zwei rotzverschmierte Finger auf die Lippen. »Du verärgerst sie noch.« Was macht das schon?, hätte Gracie beinahe erwidert. Was können sie uns schon antun, das sie nicht längst geplant haben? Doch sie biss sich auf die Zunge. Stattdessen zog sie ihre Freundin wieder eng zu sich heran und umarmte sie. Dieses Mal schluchzten sie beide. Nachdem sie von Cameron Boyd und Terry Mullany erfahren hatten, stellte Mike Garrickson zwei Gruppen von jeweils vier Zweierteams zusammen, deren Auftrag lautete, die beiden Verdächtigen in den nächsten Tagen rund um die Uhr zu observieren. In Longsight, Manchester – einem in jeder Hinsicht heruntergekommenen Viertel –, würden Heck und Gregson sowie drei weitere Detective-Zweierteams einander in achtstündigen Schichten ablösen, die sie überwiegend damit verbringen würden, auf der Straße vor Boyds Sozialwohnung in ihren Autos herumzusitzen oder ihm in schmuddeliger Kleidung unauffällig auf Schritt und Tritt durch zwielichtige Gassen zu folgen, akribisch darauf zu achten, mit wem er sprach, und dabei über einen speziell für sie reservierten Funkkanal in Verbindung zu bleiben. Einige Kilometer weiter würde in Rusholme eine identische Operation zur Observierung von Terry Mullany ablaufen. Wenn sie nicht bereits gewusst hätten, dass Cameron Boyd ein Krimineller war, hätten sie dies aufgrund seines Verhaltens und seines Aussehens mühelos schlussfolgern können. Er war knapp einen Meter fünfundachtzig groß und kräftig gebaut und hatte etwas Wildes an sich. Er hatte ein schmales Gesicht, schlitzartige Augen und war immer unrasiert. Sein Haar war eine einzige zerzauste, schmierige, mausbraune Mähne, seine Wangen zerklüftet und vernarbt. Seine Hände und sein Hals waren mit den üblichen geschmacklosen Tattoos übersät, seine Kleidung bestand im Wesentlichen aus ölverschmierten Jeans, einer abgetragenen Lederjacke und einer ausrangierten Militärkluft. Wenn er ging, stolzierte er mit hochgezogenen Schultern und wolfsartig vorgeschobenem Kopf. Seine etwas dümmliche Niedertracht ließ sich schon an seinen alltäglichen Aktivitäten ablesen, obwohl diese äußerst beschränkt waren. Das Observationsteam sah ihn selten vor Mittag, doch um diese Zeit folgte es ihm in der Regel von seiner Wohnung zur nächsten Fish-and-Chips-Bude, zum Buchmacher oder zum Kiosk, wo er sich Milch, eine Zeitung und ein Päckchen Zigaretten kaufte. Manchmal machte er einen Abstecher in das örtliche Spirituosengeschäft und kam mit einer Plastiktüte voller Bierdosen wieder heraus. Überall gingen ihm die Leute aus dem Weg. Er hielt älteren Menschen oder Müttern mit Kindern nicht die Türen auf, schnippte seine Zigarettenstummel lässig auf den Boden und warf seine Bierdosen und Pommestüten achtlos weg, ohne nach einem Mülleimer Ausschau zu halten. An den Abenden zog er durch sämtliche Kneipen der Umgebung, verkehrte mit anderen gleichgesinnten Gestalten und torkelte erst nach Mitternacht nach Hause, wobei er in der Regel mindestens einmal stehen blieb und an jemandes Torpfosten pinkelte. Auch wenn er das Ganze mit professionellen Augen betrachtete, fiel es Heck schwer, angesichts der geistlosen Untätigkeit, mit der Boyd seine Tage vertrödelte, nicht in Depression zu verfallen: diese sinnentleerten Tage, diese lässige, zum Himmel stinkende Faulheit, dieses endlose Schmarotzen auf Kosten des Staates, dieses dreiste Hinnehmen der Tatsache, dass kein einziger der Allgemeinheit abgeluchster Penny für irgendetwas Nützliches eingesetzt wurde. Heck wusste, dass er voreingenommen war. Na und? Das war schließlich Teil seiner Jobbeschreibung. Nur dass sie Cameron Boyd, während sie ihn beschatteten, bei keiner einzigen kriminellen Tat ertappten. Und das war der eigentliche Grund ihres zunehmenden Missmuts. Heck war zwar immer noch überzeugt, dass Boyd nicht der Drahtzieher hinter diesen Morden war, doch in irgendeiner Weise war er ganz offensichtlich in den Fall verwickelt – auch wenn dies mit Blick auf die Historie seiner bisher begangenen, eher gewöhnlichen Straftaten ein ziemliches Rätsel darstellte –, und der Wunsch, dieses Rätsel zu lösen, nagte unerbittlich an Heck. Wenn schon sonst nichts dabei herauskam, war er ziemlich sicher davon ausgegangen, dass sie Boyd, wenn sie ihn rund um die Uhr observierten, früher oder später bei irgendetwas Illegalem erwischen würden, sodass sie die Gelegenheit hätten, sich ihn zu schnappen. Doch dies war nicht passiert. Sie waren auch daran interessiert, ob er sie womöglich zu irgendeinem Verschlag oder einer Garage führte, die als mögliche Stätten für die Kreuzigungen gedient haben könnten. Doch offenbar hatte Boyd keinen Zutritt zu derartigen Räumlichkeiten, und nach allem, was Heck von Shawna McCluskey erfuhr, traf dies auch für Terry Mullany zu. Am neunten Tag dieser ermüdenden Observierung war der Geburtstag der Königin, was, abgesehen von kurzen Nachrichtenmeldungen über Salutsalven im Hyde Park und am Tower of London, kaum für Aufregung sorgte. Auch Cameron Boyd unterbrach sein stumpfsinniges Dasein nicht, um den Tag zu feiern. Geschweige denn, um ihn zu entweihen. Doch da weitere Feiertage anstanden, wurde beschlossen, die Observierung fortzusetzen. Am Tag nach dem Geburtstag der Königin verbrachten Heck und Gregson erneut ereignislose Stunden in einem Zivilfahrzeug der Polizei in der Nähe von Boyds Wohnung. Diesmal hatten sie sich in der Fahrerkabine eines schmuddeligen alten Bedford-Lieferwagens eingerichtet, den sie etwa zwanzig Meter weiter die Straße hinunter geparkt hatten, anstatt wie sonst direkt gegenüber der Wohnung auf dem offenen Brachland zu stehen. Von dieser Position aus mussten sie den Bereich vor Boyds Wohnung durch die Außenspiegel und den Rückspiegel im Auge behalten, was ihnen zusätzliche Konzentration abverlangte und noch ermüdender war. Zudem war das Innere des Lieferwagens auch noch ziemlich abstoßend – schmuddelig und klamm, und es roch nach Zigaretten und Essig von den Fish and Chips, die ihre Kollegen vorher verdrückt hatten. Was jedoch auch nicht dazu beitrug, ihren Appetit im Zaum zu halten, der sich jetzt meldete, da der Nachmittag seinem Ende zuging. »Wer ist dran, uns was zu beißen zu holen?«, fragte Heck. »Ich, glaube ich.« Gregson rieb sich mit den Daumen die Überbleibsel des Nickerchens aus den Augen, das Heck ihm gewährt hatte. »Das Übliche?« Heck grummelte bejahend. »Das Übliche« konnte entweder ein Hamburger mit Pommes vom nächsten McDonald’s sein oder ein fettiges Wurstbrötchen vom Bäcker gleich neben dem McDonald’s oder ein Baguettebrötchen mit Bacon und Ketchup aus dem Delikatessengeschäft an der nächsten Ecke. Er hatte ein Stadium erreicht, in dem ihm das egal war. Gregson, der in seiner Jeans, seiner Donkeyjacke und mit seinen Stiefeln aussah wie ein Arbeiter, glitt aus dem Lieferwagen und schlenderte lässig davon. Heck behielt weiter die Spiegel im Auge und fragte sich wieder einmal, ob sie möglicherweise einer komplett falschen Spur folgten. Und ob es sein konnte, dass sein anfängliches Bauchgefühl richtig gewesen war und Boyd und Mullany absolut nichts mit diesem Fall zu tun hatten. Bei dem brennenden Lastwagen, in dem sie Mullanys Daumenabdruck gefunden hatten, konnte es sich um einen Zwischenfall handeln, der rein zufällig gleichzeitig stattgefunden hatte; aufgrund der geschmolzenen Reifenprofile hatte sich nicht mit Sicherheit feststellen lassen, dass es sich bei dem Lastwagen um denjenigen handelte, dessen Abdruck sie auf dem Schlackehügel gefunden hatten. Aber nein … Der Fund von Boyds DNA ließ sich nicht bestreiten – dies war etwas, wofür sie definitiv eine Erklärung finden mussten. Heck grübelte ein paar Minuten über all dies nach, während der Wind draußen vor dem Lieferwagen Abfälle über die Straße trieb. Sie standen in der Norfolk Avenue, ein Straßenname, der irgendwie recht angenehm klang. Das Gleiche galt für die Suffolk Avenue – die nächste Parallelstraße – und die Cumbria Road, die danach kam, und ebenso für die dann folgende Hampshire Street und den Derbyshire Walk. Nur waren es leider allesamt heruntergekommene, saustallmäßige Straßen, deren Bürgersteige von klapprigen Rostlauben und kaputten Zäunen gesäumt wurden, hinter denen in den Gärten haufenweise Hausmüll vor sich hinfaulte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und Andy Gregson stieg wieder ein – etwas hastiger als sonst. Er reichte Heck eine Dose Cola und eine Tüte, die eine Pastete enthielt, und hielt ihm dann eine Abendzeitung hin. »Hier, guck dir das mal an«, sagte er. Heck, dem die untypisch geröteten Wangen seines Partners auffielen, legte die Tüte und die Coladose aufs Armaturenbrett und faltete die Zeitung auseinander. Das Foto, das nahezu die gesamte Titelseite füllte, war ein Abdruck einer der zahlreichen Aufnahmen, die Vorbeifahrende auf der Autobahn vom Schauplatz der Kreuzigung gemacht und ins Internet gestellt hatten, wobei die Opfer schärfer waren als auf den ersten veröffentlichten Bildern. Doch das war nicht das Schlimmste. Die riesige Schlagzeile lautete: SCHÄNDUNGSTAG! Darüber stand in etwas kleinerer Schriftgröße: Verzweifelte Jagd auf Serienmörder – Polizei sucht sogenannten »Feiertagsschänder« Heck bekam kurz eine Gänsehaut, als er die beiden ersten Absätze überflog. Das Blut an der Autobahnbrücke, an der die Zwillings-Massenmörder Jordan und Jason Savage während einer Verfolgungsjagd der Polizei ums Leben kamen, ist noch nicht getrocknet, und noch haben sich die Wogen nach dem Bekanntwerden der schweren Ermittlungspannen bei diesem Fall nicht geglättet – und schon macht ein weiterer Irrer die Gegend unsicher. Dieser neue Verrückte, auf dessen Konto in den zurückliegenden sechs Monaten sieben brutale Morde gehen, wird von der mit seiner Erfassung betrauten Sonderkommission der Polizei als »der Feiertagsschänder« bezeichnet, da er mit seinen Morden einem Feiertagskalender zu folgen scheint. Obwohl er bei seinen Taten großen Wert auf Öffentlichkeit legt, um unsere wichtigsten Feiertage und Feste zu entweihen, konnte der unbekannte Täter bisher ungestraft zuschlagen und morden, da die Polizei offenbar nicht in der Lage ist, ihn zu stoppen. Die dreifache Kreuzigung, die vor Kurzem das ganze Land so erschüttert hat, ist nur ein kleiner Teil dieser furchtbaren Serie von Morden … »Sie haben alles«, stellte Gregson fest. »Sie haben alle infrage kommenden Fälle miteinander in Verbindung gebracht. Sie nennen ihn sogar ›Feiertagsschänder‹. Wie, um alles in der Welt, sind sie an dieses Detail gelangt?« Der Name Feiertagsschänder, den Shawna McCluskey unbeabsichtigt geprägt hatte, war hängen geblieben, denn es hatte sich bei Serienmorden die Gepflogenheit eingeschlichen, auf Spitznamen zurückzugreifen. Erst recht war es in diesem Fall, bei dem die genaue Anzahl der Täter nicht bekannt war, leichter erschienen, einfach vom Feiertagsschänder zu reden, anstatt von »den Tätern« oder »den für diese Taten Verantwortlichen«. Doch angesichts dessen, wie heikel diese Ermittlung war, hatte Heck es von Anfang an für unklug gehalten, dem Ganzen so einen reißerischen Namen zu verpassen. Wie es jetzt aussah, schien er mit seinen Vorbehalten richtig gelegen zu haben. »Wahrscheinlich von einem von uns«, sagte er. Gregsons Wangen wurden noch röter. »Willst du damit sagen, dass in Merseyside jemand gequatscht hat?« »Oder jemand aus dem Dezernat für Serienverbrechen. Aber das ist egal. Letztendlich quatscht immer irgendjemand. Die Medien zahlen für solche Informationen einfach zu gut. Wir werden so was nie allzu lange für uns behalten können.« Er legte die Zeitung hin und konnte sich nur zu gut vorstellen, was für eine Wut dieser Artikel auf der oberen Etage von Scotland Yard ausgelöst haben musste. Bei dem Gedanken an die Telefonate, mit denen Gemmas Büro jetzt bombardiert werden würde, zuckte er innerlich zusammen. Sie bekam natürlich einen Haufen mehr dafür bezahlt, dass sie so eine Verantwortung trug, und vielleicht bot das ja einen gewissen Trost … Trotzdem war er froh, in diesem Moment nicht in ihrer Haut zu stecken. »Es wird eine Untersuchung geben«, stellte Gregson fest. »Das sollte es auch.« Heck setzte sich aufrecht hin. »Ist aber nicht unser Problem. Apropos Problem, was ist denn die nächste große Gelegenheit, für die wir uns wappnen müssen?« Gregson warf einen Blick in seinen Notizblock. »Georgstag … das ist morgen.« Heck dachte darüber nach. Georgstag. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass das nichts Gutes verhieß. »Am Tag danach ist der Vorabend des Markustages«, fuhr Gregson fort. »Darüber weiß ich nicht viel.« »Er gilt als ein guter Tag, um die Zukunft vorherzusagen.« »Super. Vielleicht erschlagen sie dann jemanden mit einer Kristallkugel. Der wirkliche Knaller ist Eric Fisher zufolge in acht Tagen. Der dreißigste April … Beltane. Eric hat mir erklärt, das sei ein richtiger heidnischer Sabbat mit allem Drum und Dran. He … Boyd macht sich vom Acker!« »Kann ihn nicht sehen«, entgegnete Heck und blickte in den Spiegel an seiner Seite. »Er kommt da lang.« Heck faltete die Zeitung wieder auseinander und rutschte ein bisschen tiefer in seinen Sitz, sodass er sich hinter dem Papier verstecken konnte. Gregson bückte sich in den Fußraum und tat so, als würde er eine imaginäre Werkzeugtasche durchwühlen. Sie beobachteten Boyd verstohlen, als er die Straße entlangging. »Du bist letztes Mal gegangen, heute bin ich dran«, stellte Heck fest, rollte die Zeitung zusammen und steckte sie in die hintere Tasche seiner Hose. »Lass mir fünf Minuten Vorsprung und komm dann mit dem Wagen nach. Ruf mich nicht an. Ich rufe dich an.« Gregson nickte, und Heck glitt aus dem Wagen. Fünfzig Meter vor ihm überquerte Boyd die Straße und verschwand in einer Gasse. Heck folgte ihm so unauffällig wie möglich. Zunächst ging es wie immer planlos durch das Gewirr aus Wohnblocks und Reihenhäusern. Doch diesmal betrat er keines der ansässigen Buchmacherbüros und auch keines der Spirituosengeschäfte, sondern ging immer weiter durch Longsight und dann nach West Gorton hinein, wo er ein kleines Eckcafé betrat. Heck wartete an der Bushaltestelle gegenüber, las erneut in seiner Zeitung und beobachtete verstohlen, wie Boyd sich an einem Tisch am Fenster niederließ und Eier, Pommes und Brote mit Butter herunterschlang. Heck informierte Gregson per Handy, wo er war. Dieser tauchte einige Minuten später auf und parkte den Lieferwagen in einer Nebenstraße. Es war sieben Uhr, als Boyd weiterzog, das Tageslicht verblasste langsam, aber sicher. Zwei Busse, deren Scheinwerfer bereits eingeschaltet gewesen waren, hatten an der Bushaltestelle gehalten, ohne dass Heck eingestiegen war. Um nicht aufzufallen, war er in den dritten eingestiegen, an der nächsten Haltestelle wieder ausgestiegen und zurückgejoggt. Genau in dem Moment, als er das Café wieder erreichte, trat Boyd hinaus auf den Bürgersteig. Heck zog sich schnell in einen Türeingang zurück, doch Boyd ging zügigen Schrittes in die andere Richtung, die Hände in den Jackentaschen. Heck wartete einen Augenblick, bevor er die Verfolgung fortsetzte, Gregson anrief und ihn informierte. Die Dämmerung wich der Dunkelheit, die Straßenlaternen gingen flackernd an. Etwa dreißig Meter vor ihm betrat Boyd einen Pub, der »The Hayrick« hieß. Der Name beschwor ein Bild von ländlicher Idylle herauf: von einem Landhaus mit einer mit schwarzen Holzbalken verzierten Außenfassade und einem Strohdach. Doch in Wahrheit war es ein heruntergekommenes Gebäude mit Mauern aus einem Gemisch aus roten Backsteinen und grauem Putz, schmutzigen Fenstern und einem rostigen Eisenpfahl, an dem einst ein Schild mit dem Namen des Pubs gehangen hatte. »Andy?«, sagte Heck in sein Handy. »Wo bist du?« »Hyde Road«, erwiderte Gregson. »Und du?« »Vorm ›The Hayrick‹ an der Gorton Lane. Ich gehe rein und bestelle zwei Getränke, als ob ich auf jemanden warten würde. Komm in zehn Minuten nach.« »Alles klar.« Das Innere des in dämmriges Licht getauchten Ladens passte zum Äußeren. Die Sitzpolster waren abgesessen, und obwohl das Rauchverbot schon seit etlichen Jahren in Kraft war, waren die Wände und die Decke mit gelblichen Flecken übersät, was darauf hinwies, wie lange es her war, dass der Raum zum letzten Mal gestrichen worden war. Die wenigen Gäste passten zum Interieur. An einem Ende der Theke saß ein alter, gebeugter Mann mit strähnigem graugrünem Haar und nippte an einem großen Scotch. In der Mitte der Theke saß eine übergewichtige Frau mittleren Alters, die zu viel Lippenstift aufgetragen hatte. Ihr knapper Jeansminirock entblößte dicke weiße, in Netzstrümpfe eingezwängte Oberschenkel. Zwei höchstens siebenzehnjährige Jungen mit kurz geschorenem Haar und abstrusen Rasurmustern an den Hinterköpfen stritten lauthals miteinander und kippten Bier in sich hinein, während sie den Spielautomaten ohne Unterlass mit Geldmünzen fütterten. Neben ihnen saß ein gelangweilt aussehendes Mädchen. Es war ebenfalls auffällig geschminkt, trug auch einen Minirock und hochhackige Schuhe und konnte trotz des Kinderwagens, der neben ihm stand, höchstens sechzehn Jahre alt sein. Boyd saß allein in einer Ecke, auf dem Tisch vor ihm stand ein Bier. »Zwei Bitter, bitte«, sagte Heck. »Pints.« Der Barkeeper, ein Hundertzwanzig-Kilo-Koloss mit einem ramponierten Gesicht und einer ungepflegten roten Mähne, bediente ihn wortlos. Heck warf einen Blick zur Seite zu der Frau in den Netzstrümpfen. Sie lächelte. Es war ein hübsches Lächeln, herzlich und freundlich. Unter der dicken Schminkschicht war sie früher vielleicht sogar mal ein Hingucker gewesen. Doch Heck verzichtete darauf, sie anzusprechen. Er nahm die beiden Gläser, schlenderte an Boyds Tisch vorbei – der Kriminelle sah ihn nicht einmal an – und ging durch eine offene Tür in den Billardraum, in dem gerade niemand war. Er suchte sich eine Position diagonal zum Eingang des Raums, sodass er Boyd im Auge behalten konnte, und baute, um den Schein zu wahren, die Kugeln auf. Nach fünf Minuten kam Andy Gregson hereingeschlendert. Seit sie die Oberservierung gestartet hatten, war Boyd in allen möglichen Kneipen gewesen – alle mehr oder weniger austauschbar –, aber in diese hier waren sie ihm bisher noch nicht gefolgt. »Der Kerl versteht es zu leben, was?«, sagte Gregson leise, während sie gemächlich eine Partie Billard anfingen. »Willst du meine Meinung hören?«, entgegnete Heck. »Er hält sich gerade bedeckt zwischen zwei Jobs.« »Meinst du?« »Niemand führt so ein eintöniges Leben. Wie es scheint, ist es bei Mullany genauso. Lässt sich abends volllaufen, hängt den ganzen Vormittag im Bett rum, geht zum Mittagessen in irgendeine Fressbude, nachmittags schaut er bei den Buchmachern vorbei, abends säuft er sich wieder einen an … trifft ein paar Leute, quatscht ein bisschen und geht wieder nach Hause. Zu schlicht, das alles. Er und Mullany sind dicke Kumpels. Aber sie haben sich seit zwei Wochen nicht gesehen. Das kommt mir auch verdächtig vor.« »Wer sitzt denn Mullany heute Abend im Nacken?«, fragte Gregson. »Gary und Shawna.« Heck lochte eine Halbe ein. »Morgen haben wir eine Besprechung mit den beiden und tauschen uns aus. Vorausgesetzt, dass heute Abend nichts Interessantes mehr passiert.« Obwohl Shawna McCluskey sieben Jahre lang als Polizistin in Manchester gearbeitet hatte, war sie nie im Revierbereich E eingesetzt gewesen, der für South Manchester zuständig war. Sie hatte im acht Kilometer entfernten Dienstbereich F in Salford Dienst geschoben und kannte Cameron Boyd und Terry Mullany deshalb nur aufgrund ihres Rufs. Sie hatte nie mit ihnen persönlich zu tun gehabt und auch mit keinem anderen Kriminellen aus dieser Gegend. Insofern war es naheliegend gewesen, sie dort zu einer Observierung in Zivil einzusetzen. Doch wie sich herausstellte, hatte sie Pech, denn ausgerechnet jetzt tauchte Theo Taylor auf, wegen seiner pferdegebissartigen Zähne genannt Mr Ed. Er war Mitglied einer kriminellen Bande, und während ihrer Zeit in Salford hatte Shawna ihn dreimal verhaftet – einmal wegen Einbruchs, einmal wegen unerlaubten Waffenbesitzes und einmal wegen Raubes. Für die letzte dieser Straftaten hätte er eigentlich für ein paar Jahre ins Gefängnis wandern müssen, doch sein Anwalt hatte sich selbst übertroffen und konnte mit den abgefahrensten juristischen Finessen den Richter derart beeinflussen, dass Mr Ed als freier Mann aus dem Gerichtssaal spazierte. Shawna und ihre Kolleginnen und Kollegen bei der Kriminalpolizei von Salford waren sich damals ziemlich verschaukelt vorgekommen, aber das Gesetz war nun mal das Gesetz, auch wenn es sich mitunter als Arschloch erwies. Und letztendlich war es sowieso egal gewesen, da Mr Ed kurz darauf wie vom Erdboden verschluckt gewesen war, vermutlich wegen Umzugs, worüber sie alle höchst erfreut gewesen waren. Das Problem war nur, dass er offenbar hierhergezogen war, nach Rusholme. »Detective Constable McCluskey, hab ich recht?«, rief Mr Ed. »Wusste ich’s doch, verdammte Hacke!« Sie waren gerade in einem Supermarkt. Es war ungewöhnlich für Terry Mullany, einkaufen zu gehen. Shawna McCluskey und Gary Quinnell waren ziemlich überrascht, auch wenn sich herausstellte, dass Mullany den Laden nur betreten hatte, um sich eine Kiste Bier zu kaufen. Doch es war wirklich Pech, dass sie in dem Supermarkt ausgerechnet auf Mr Ed trafen. »Was wollen Sie mir denn diesmal anhängen, Detective?«, rief er. Shawna blickte den Gang hinunter und starrte ihn ungläubig an. Er trug einen langen gelben Mantel und darunter einen schicken lilafarbenen Laufanzug, ein Outfit, das angesichts seiner großen schlaksigen Figur ein wenig lächerlich wirkte. Er hatte sich seine Zähne immer noch nicht richten lassen – sie ragten aus seinem Mund wie eine Ansammlung nicht zueinanderpassender gelber Haken –, doch er lachte lauthals, als er mit ausgestreckten Armen auf sie zukam, gefolgt von einigen seiner kichernden bescheuerten Kumpels. »Was wird es sein?«, rief er. »Ladendiebstahl? Scheiße, ich hab mir noch gar nichts ausgesucht … aber egal, ein Versuch ist es allemal wert, oder? Ich werde mit größter Freude zusehen, wie Ihre Anklage im Gerichtssaal wieder in verdammte Stücke gerissen wird.« Shawna, der Mr Ed gerade ziemlich egal war, machte sich Sorgen wegen Terry Mullany. Sie sah sich um und blickte den Gang hinunter zu den Kassen. Mullany stand mit seiner Bierkiste am Ende der Schlange, doch wie die anderen Kunden, die sich dort drängten, hatte auch er den Aufruhr mitbekommen und drehte sich um. Er starrte sie durchdringend an. Vielleicht fand er es merkwürdig, dass er sie oder jemanden wie sie in den vergangenen Tagen schon ein- oder zweimal gesehen hatte – jedenfalls löste er sich plötzlich vom Ende der Schlange, ließ seine Bierkiste einfach stehen und stürmte mit schweren, stapfenden Schritten auf sie zu. Shawna erstarrte. Sie wusste nicht, was er vorhatte, doch dann entnahm sie seinem starren Blick ins Leere, dass er in Wahrheit an ihr vorbeisah. Er wollte fliehen, nicht angreifen. Mullany war eine ungehobelte krötenartige Gestalt mit einem lang gezogenen Mund, einer breiten, platten Nase und tief in den Augenhöhlen seines blassen, fleischigen Gesichts liegenden Augen. Allerdings war er mindestens eins achtzig groß und brachte gut fünfundvierzig Kilo mehr auf die Waage als sie. Doch Shawna war nicht umsonst bei der Greater Manchester Police ausgebildet worden, und dort hatte man sie gelehrt, ein Arschloch nicht entkommen zu lassen. Und so stellte sie sich ihm in den Weg. Mullany kam weiter auf sie zu. Sie ging in die Hocke, riss die Arme nach vorn und hoffte, ihn zu Boden zu bringen. Doch das einzige Resultat war sein jeansbekleidetes Knie in ihrem Gesicht. Schmerz schoss durch ihren Kopf, begleitet vom Knacken des Knorpelgewebes. Und dann flog sie auf den Rücken, die Seite ihres Schädels krachte mit voller Wucht auf den Boden. »He!«, hörte sie jemanden rufen. Es war dieser Knallkopf, Mr Ed, der offenbar ganz baff – und ziemlich bestürzt – war, dass der ganze Aufruhr nicht ihm galt. Blut blubberte in den unteren Bereich ihrer Kehle, als sie den Kopf reckte, um zu sehen, was hinter ihr passierte. Mr Ed und seine Kumpane sprangen zur Seite, als Mullany mit seinem gewaltigen Körper an ihnen vorbeipreschte. Er rempelte mit der linken Schulter Mr Eds Brustkorb und katapultierte diesen rückwärts in eine ordentlich aufgeschichtete Pyramide aus Dosen mit Ravioli. »G-Gary«, stammelte sie in ihr Funkgerät. »Er hat mich erwischt. Der Mistkerl kommt hinten raus …« Mullany stürmte durch den Lagerraum des Supermarkts, trat Kartons aus dem Weg, rannte in Mitarbeiter hinein und sandte sie zu Boden. Er lief durch einen hinteren Liefereingang nach draußen, sprang von der Betonentladefläche herunter auf eine Verladerampe und fischte sein Handy aus der Tasche. Ein Motor heulte auf, und Reifen quietschten, als ein verbeulter Volvo um die nächste Ecke geschossen kam. Der Anruf wurde beantwortet. Mullany wartete gar nicht erst, bis sein Kumpel sich meldete, sondern redete sofort drauflos. »Mach die Fliege! Sie sind uns auf der Spur! Keine Ahnung, wo du steckst, aber hau verdammt noch mal ab!« Als Gary Quinnell aus dem Volvo sprang und sich vor ihm aufbaute, fiel es Mullany im ersten Moment, jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde, schwer, sich vorzustellen, wie dieser Kerl überhaupt in den Wagen gepasst haben konnte. Der Polizist war nicht nur groß, er war zudem breit wie ein Ochse und hatte einen Hals, so dick wie ein Telefonmast. »Gib auf, Junge«, forderte Gary Quinnell ihn mit drohendem Tonfall auf. Mullany schleuderte sein Handy über die nächste Mauer, betete zu Gott, dass es in einem Fluss oder einem Abwassergully landen möge, aus dem es nicht geborgen werden konnte, und versuchte, wieder loszurennen. Quinnell sprang ihm in den Weg. Mullany versuchte, die Richtung zu wechseln. Doch Quinnell versperrte ihm erneut den Weg. Das rugbymäßige Manöver, mit dem der große Polizist seinen Gegner zu Fall brachte, war etwas erfolgreicher als der vorherige Versuch seiner Kollegin. Als sich die bullige Schulter mit voller Wucht in Mullanys gewaltigen Bauch rammte, fühlte es sich für ihn so an, als würde er in zwei Teile gerissen. Der Flüchtige krachte mit solcher Wucht auf den Betonboden, dass die Luft zischend aus seinen Lungen entwich. Quinnell landete auf ihm, einhundertfünfzehn Kilogramm Knochen und Muskeln, sein schinkenkeulenartiger Unterarm legte sich um Mullanys Hals und drückte ihm die Luftröhre zu. »Sie sind festgenommen, Sie kleines Arschloch!« Im »The Hayrick« hörte Cameron Boyd nur den Anfang des Tumults. Er stand vor Schreck kerzengerade da, das Handy an sein Ohr gepresst. Kreidebleich drehte er sich um und inspizierte den Pub. Auf den ersten Blick fiel ihm niemand ins Auge, der ihm verdächtig vorkam. Die Schlampe an der Theke? Niemals. Der Barkeeper? War auch eine Niete. Er hatte das fette Arschloch schon ein Dutzend Male hinter der Theke gesehen. Die beiden Typen in der Ecke waren zu jung. Dann hörte er ein anderes Handy klingeln. Er spähte nach links durch die Tür in den Billardraum. Da waren zwei Typen drin, wenn er sich nicht irrte. Einer hatte rotes Haar, Sommersprossen und auffällige Ohren. Doch es war der andere, den Boyd den Anruf entgegennehmen sah – der schlanke, dunkelhaarige Kerl. Jetzt stand er mit dem Handy am Ohr da, in der anderen Hand hielt er einen Billardstock. Ein verwegen aussehender Gast, aber er schien aufgeregt zu sein. Der mit den Ohren trat wieder in sein Blickfeld und starrte hinaus in den Hauptbereich des Pubs. Ihre Blicke trafen sich. Und in dem Moment wusste er es. Sie wussten es beide. »Tut mir leid, Heck, ich wurde umgenietet«, sagte Shawna in Hecks Ohr. Sie klang halb benommen. »Ein verdammter Idiot von früher. Wir mussten Mullany hochnehmen.« Ein Tisch fiel krachend um, als Gregson aus dem Billardraum stürmte. Heck wirbelte herum – gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Boyd, eine Spur herunterknallender Gläser hinter sich herziehend, durch den Pub sprintete und durch die Tür verschwand, die zu den Toiletten führte. Gregson eilte hinter ihm her, Heck nahm ebenfalls die Verfolgung auf. In dem engen, düsteren Flur gerieten beide Beamte unter Beschuss. Boyd hatte sein eigenes Pintglas mitgenommen und warf es jetzt nach ihnen. Es knallte gegen die Wand, zersplitterte und zwang die beiden, sich zu ducken. Boyd rannte weiter und suchte durch einen Hinterausgang das Weite. »Alles klar mit dir?«, rief Heck. »Ja!« »Der Mistkerl haut ab … du weißt, was das bedeutet, oder?« »Allerdings, Sergeant!« »Was auch immer passiert … ganz egal, was, lass ihn auf keinen Fall entkommen.« Hinter dem Pub befand sich ein kleiner Parkplatz. Die holprige Zufahrt auf den Parkplatz führte links um das Gebäude herum auf die Hauptstraße. Doch auf der anderen Seite zweigte von dem Parkplatz eine kleine Gasse ab. Von Boyd war nichts zu sehen. Heck und Gregson blieben atemlos stehen. »Check du die Vorderseite«, sagte Heck und taumelte zur Mündung der Gasse. »Wenn du ihn nicht siehst, schnapp dir den Wagen.« Gregson nickte und stürmte los. Heck war gut zwanzig Meter in die Gasse vorgedrungen, die sich zwischen nackten Backsteinwänden bergab wand, als er vor sich eine Dose scheppern hörte. »Detective Sergeant Heckenburg, Dezernat für Serienverbrechen … an Echo Control?«, rief er und schaltete sich durch die verschiedenen Kanäle seines Funkgeräts. »Dezernat für Serienverbrechen?«, ertönte die Antwort. »Verfolge einen Verdächtigen für die Feiertagsschändungsmorde – in der Gasse hinter dem Pub ›The Hayrick‹! Brauche Verstärkung. Sofort! Kommen.« »Verstanden, Sergeant. Wir schicken jemanden. Ende.« Die Gasse fiel immer steiler ab. Heck kam an einer rollenden Dose vorbei. Jemand musste gerade erst im Vorbeirennen gegen sie getreten haben. Das Handy in seiner Tasche piepte. Er riss es sich ans Ohr. »Heckenburg!« »Sergeant, ich bin’s!«, rief Gregson. Dem tuckernden Motor zufolge war er wieder im Transporter. »Wo bist du?« »Keine Ahnung … ich sag’s dir sofort. Versuch, hinter den Pub zu kommen.« Er erreichte das Ende der Gasse und landete wieder auf ebenem Gelände. Zu seiner Rechten ging eine Straße ab, die von Reihenhäuserzeilen gesäumt war, doch direkt vor ihm befand sich ein eingeschossiges Gebäude mit einem flachen Dach, das aussah wie das Lokal eines Arbeitervereins. Hinter dem Gebäude erstreckte sich eine Schotterfläche, auf der verstreut ein paar geparkte Autos standen. Dahinter zeichneten sich die Umrisse hoher, massiver Wohnblöcke ab. In der Ferne rannte eine Gestalt auf die Wohnblöcke zu. »Hab ihn!«, rief Heck in sein Funkgerät. »Zielperson rennt auf die Wohnblöcke hinter dem Lokal des St-Mary-Magdalene-Vereins zu. Ende.« In der Ferne hörte er Martinshörner, aber sie waren noch ziemlich weit weg. Das Funkgerät knisterte, Funksprüche jagten hin und her. »Sergeant?«, brüllte Gregson in sein Handy. »Kann dich nicht finden!« »Vergiss das Handy, das ist, als ob der Blinde den Lahmen führen würde, Andy! Halt dich an die Funksprüche.« Etwas weiter vor ihm sprang Boyd über eine metallene Leitplanke, kletterte eine befestigte Böschung hinunter und verschwand in einer Unterführung. Heck sprang ebenfalls über die Leitplanke und verrenkte sich beinahe den Knöchel, als er im Seitenschritt die Steinplatten hinunterhastete. Am Fuß der Böschung strauchelte er, fiel hin und konnte es gerade noch so vermeiden, in verstreuten Scherben zu landen. Als er wieder auf die Füße kam, hatte Boyd beinahe einen Vorsprung von achtzig Metern und rannte, so schnell er konnte. »Detective Sergeant Heckenburg, wir brauchen Ihre exakte Position, kommen!«, meldete sich die Stimme aus der Funkzentrale. Heck gab sie durch, während er weiterrannte, obwohl er wusste, dass sein Funkspruch angesichts der Massen von Stahl und Beton über ihm und um ihn herum nur bruchstückhaft übermittelt werden würde. »Bei der Zielperson handelt es sich um Cameron Boyd!«, fügte er hinzu. »Hellhäutiger Mann, dreiunddreißig Jahre alt, kräftig gebaut. Dürfte Ihnen bestens bekannt sein, denke ich. Trägt eine schwarze Canvasjacke, ein weißes T-Shirt und eine kakifarbene Hose!« Am Ende der Unterführung bog Boyd nach links ab und verschwand. Heck schlidderte einige Sekunden später um die gleiche Ecke und sah ihn über einen Spielplatz rennen. Der Abend war jetzt vom Heulen der Martinshörner erfüllt. In seinem seitlichen Sichtfeld nahm er aufzuckende Blaulichter wahr, aber sie waren immer noch weit entfernt – einige rasten über Brücken in die falsche Richtung davon, andere verharrten auf Überführungen, von denen aus die Besatzungen der Streifenwagen versuchten, ihn zu lokalisieren. Währenddessen kroch Boyd auf der anderen Seite des Spielplatzes unter einem Tor aus Maschendraht hindurch. Heck rannte weiter und verfolgte ihn die nächste Straße hinunter. Sie war auf beiden Seiten von Reihenhäusern gesäumt und am Ende von einigen Betonpollern begrenzt, doch genau in dem Moment, in dem Boyd diese erreichte, huschten die Strahlen eines Scheinwerferpaars über ihn, und auf der anderen Seite der Poller kam ein Auto quietschend zum Stehen. Es war der Bedford-Transporter. Die Fahrertür wurde aufgerissen, und Andy Gregson sprang heraus. Boyd kam rutschend zum Stehen. Er wirbelte herum, sah Heck … und stürmte nach links auf einen Zaun zu, der aus aneinandergenagelten Haustüren konstruiert worden war. Mit einer sportlichen Gewandtheit, die er nur in seiner Verzweiflung aufbringen konnte, sprang er hoch, umfasste mit beiden Händen die obere Kante der wackligen Konstruktion und zog sich in einer einzigen geschmeidigen Bewegung hinauf und hinüber auf die andere Seite. »Zurück in den Wagen!«, rief Heck Gregson zu. »Versuch, ihm den Weg abzuschneiden!« Der jüngere Polizist nickte und machte kehrt. Schweißgebadet und mit vor Anstrengung schmerzender Lunge kletterte Heck den Zaun hoch, hievte sich ebenfalls darüber und landete in einem dunklen Hinterhof, in dem ein geschossartiges Geschöpf auf ihn zujagte und knurrte. Es war ein Pitbull, der jedoch zum Glück angekettet war. Heck ging in einem Bogen um ihn herum und verließ den Hof durch ein offenes Tor, hinter dem sich zur Linken ein schmaler Zutritt zum Fuß einer Treppe befand. Am oberen Ende der Treppe leuchtete eine nackte Glühbirne über einem gewölbten Ziegelsteineingang. Es ertönte ein Krachen von zersplitterndem Holz. Heck stürmte die Treppe hoch, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Der Eingang führte auf einen Gang, von dem mehrere Sozialwohnungen abgingen. Von der ersten Tür auf der linken Seite war nur noch eine am Boden liegende zerschmetterte Holzfaserplatte übrig. Heck bahnte sich einen Weg darüber. Auf der anderen Seite der kaputten Tür kniete ein schwerer Mann mittleren Alters und hielt sich die Nase, aus der Blut strömte. Er hatte offenbar in dem Sessel in der Ecke des Zimmers vor dem kleinen eingeschalteten Fernseher gesessen, sah Heck mit wirrem Blick an und zeigte auf eine offene Tür. »Was ist das hier für eine Adresse?«, fragte Heck. »G-Gornall Rise«, stammelte der Mann. Heck übermittelte die Informationen über Funk und stürmte weiter in ein kleines Schlafzimmer, dessen Fenster offen stand. Das Fenster führte auf ein Schrägdach. Heck stieg hinaus und hastete das Dach hinunter, seine Gummisohlen rutschten über die vom Regen glitschigen Schieferdachpfannen. Am unteren Dachrand klaffte ein zweieinhalb Meter breiter Abgrund zwischen diesem und dem nächsten Dach, von dem aus eine Feuerleiter im Zickzack gut sechs Meter hinab auf eine düstere Gasse führte. Boyd war bereits unten, rannte um eine Ecke und stieß dabei ein paar Mülleimer auf Rädern zur Seite, die scheppernd wegrollten. Heck ging ein paar Meter zurück, nahm Anlauf und sprang über den Abgrund auf die Feuertreppe zu. Er krachte mit voller Wucht dagegen, schaffte es gerade so, sich festzuhalten, und baumelte einen Augenblick lang an einem Arm – rostiges Eisen fraß sich brennend in seine verdrehten Finger –, bevor es ihm schließlich gelang, die Sprosse richtig zu packen, Halt zu finden und hinabzuklettern. Er stürmte um die Ecke und fand sich vor einem Stahlzaun wieder, über den man hinunterblickte auf einen breiten, canyonartigen Abgrund. Unten rauschte der Verkehr in beide Richtungen. Etwa fünfzig Meter zu seiner Rechten arbeitete Boyd sich über eine gewölbte Stahlbrücke vor. Er erreichte die andere Seite und verschwand in einem der Zugänge. Heck folgte ihm erschöpft. Der Zugang entpuppte sich als Eingang zu einem gekachelten Tunnel. Dort angekommen, rannte Heck durch ihn hindurch, über ihm dröhnte ohrenbetäubender, vibrierender Lärm. Es klang wie ein Zug, und als er einige Sekunden später eine weitere Treppe erklomm, landete er auf dem Bahnsteig für die nach Westen abgehenden Züge des Bahnhofs Ashbury. Was er in dem Tunnel gehört hatte, war ein Zug, der soeben eingefahren war und jetzt abfahrbereit am Bahnsteig stand. Es war ein Nahverkehrszug, der nur aus vier Abteilen bestand. Nach allem, was Heck durch die schmutzigen Scheiben sehen konnte, befanden sich nur sehr wenige Fahrgäste darin. Er ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen. Am anderen Ende bestieg eine ältere Dame mit zwei Kindern den Zug. In seiner Nähe stieg ein junger Mann mit einem Rucksack ein. Sonst sah er niemanden, aber die Türen standen schon mindestens seit einer Minute offen – Boyd konnte also eingestiegen sein, bevor Heck den Bahnsteig erreicht hatte. Er verharrte einen Moment, unschlüssig, was er tun sollte. Ein schrilles elektronisches Piepen kündigte an, dass die Türen im Begriff waren, sich zu schließen, und riss ihn aus seiner Starre. Er hastete in das nächste Abteil. Die Türen glitten zischend zu, und der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung. Er war so schnell in den Zug gesprungen, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Doch kaum hatte er Halt gefunden, da sprang keine fünf Meter vor ihm eine Gestalt, die ihm den Rücken zugewandt hatte, von ihrem Sitz auf und wirbelte herum. Es war Boyd. Er war weiß wie ein Gespenst und in Schweiß gebadet, sein Haar war ein einziges zerzaustes, fettiges Gewusel. »Verfickter Mistkerl!«, fluchte er, wobei zwischen seinen verrotteten braunen Zähnen Speichel hervorquoll. »Musstest es ja drauf ankommen lassen, oder?« Er schob seine rechte Hand unter seine linke Achselhöhle und zog einen vielleicht dreißig Zentimeter langen Schraubenzieher hervor, dessen Griff mit Klebeband umwickelt war und dessen Klinge vorn zu einer scharfen Spitze zurechtgefeilt worden war. Heck wappnete sich, doch Boyd griff ihn nicht an. Stattdessen wich er rückwärts über den langen Gang nach hinten. Die Fahrgäste hatten inzwischen mitbekommen, dass etwas passierte. Sie erstarrten oder suchten das Weite, aufgeschreckt vom Anblick der gezogenen Waffe. Eine der Zuginsassinnen saß rechts von Boyd: eine junge Frau, vielleicht achtzehn Jahre alt – schwarz gekleidet, mit schrill geschminktem Gesicht, Piercings und einer grün gesprayten Punkfrisur. Sie schrie, als Boyd sie am Kragen ihres schweren Mantels packte, sie auf die Füße zerrte und ihr die Spitze seiner Stichwaffe an den Hals drückte. »Verfickter Mistkerl!«, zischte er erneut. »Alle ganz ruhig bleiben!«, rief Heck. »Ich bin Polizist, und es besteht keine Notwendigkeit, dass irgendjemand von Ihnen einschreitet.« »Ja … lass sie nur wissen, wer du bist, du verfickter Mistkerl!« Boyd lachte. »Du wirst dafür sorgen, dass diese Schlampe ihr Leben aushaucht und all die anderen auch. Ich warne dich, verdammt … verschwinde!« »Darüber denken Sie besser noch mal nach, Cameron.« Heck ging vorsichtig auf ihn zu. »Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße und können nirgendwohin.« Das Mädchen wimmerte. Die Spitze war so fest gegen ihren weißen Hals gedrückt, dass Blutstropfen zum Vorschein kamen. »Ich warne dich, ich bringe die Schlampe um!« »Und ich schiebe Ihnen dieses Teil so tief in den Arsch, dass Sie mit den Zähnen darauf herumkauen können!« Niemand sah die Tür zwischen den Abteilen hinter Boyd aufschwingen, als der Schaffner hereinkam, ein großer Mann von den Westindischen Inseln. Selbst Heck, der in die Richtung blickte, sah ihn erst, als es schon zu spät war. Im ersten Moment wirkte der Schaffner angesichts dessen, was da vor sich ging, erschrocken, doch dann verhärtete sich sein Ausdruck – vielleicht waren in seinem Zug schon öfter Fahrgäste überfallen worden. Er näherte sich von hinten und hatte seinen Fahrkartenapparat bereits hoch über den Kopf gehoben, da bemerkte Boyd ihn im letzten Moment. Er hob einen Fuß, platzierte ihn auf dem Rücken seiner Geisel, trat das Mädchen mit voller Wucht in Hecks Richtung und wirbelte herum. Der Schaffner holte zu einer Rechten aus, doch Boyd blockte den Schlag mit seiner linken Hand ab und setzte seine Stichwaffe ein. Er stach nicht zu, sondern benutzte sie wie einen Schlagstock und ließ sie mit voller Wucht auf die Nase des Schaffners krachen, dessen Nasenbein beidseitig brach. Der Schaffner taumelte nach hinten und fiel auf einen Sitz. Irgendwo zwischen Boyds Tritt in den Rücken und der Kollision mit Heck war das Mädchen ohnmächtig geworden. Heck musste es auffangen und auf den Boden legen. Er blickte auf – gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Boyd den Fahrkartenapparat an dessen Riemen herumwirbelte und auf ihn zuschleuderte. Es war ein schweres Gerät aus Stahl und kam mit ziemlicher Wucht auf ihn zu. Er duckte sich, doch es streifte ihn an der Schläfe und ließ ihn in die Knie gehen. Heiße Flüssigkeit strömte an der Seite von Hecks Gesicht herunter, als er erneut aufblickte und die Fassung wiederzugewinnen versuchte. Er sah gerade noch, wie Boyd am Ende des Gangs durch die Tür verschwand. Benommen stolperte Heck hinter ihm her und blieb kurz stehen, um nachzusehen, wie es dem Schaffner ging, der immer noch auf dem Sitz kauerte. Das ebenholzschwarze Gesicht des Mannes war nur noch eine zertrümmerte, blutige Masse, und er war benommen, aber bei Bewusstsein. »Kümmern Sie sich um den Mann!«, rief Heck den anderen Fahrgästen zu, während er weiter den Gang entlanghastete und dabei Ortsbestimmungen in sein Funkgerät rief. Als er das nächste Abteil betrat, fuhr der Zug gerade in einen Bahnhof ein. Die Türen gingen zischend auf. Fahrgäste, die nicht mitbekommen hatten, was los war, standen auf, um auszusteigen, und versperrten ihm den Weg. »Aus dem Weg! Polizei!« Er versuchte, sich an ihnen vorbeizudrängen. Am anderen Ende des Abteils sprang Boyd auf den Bahnsteig. Heck fluchte, während er sich seitlich durch die Menge schob und aus der nächsten Tür nach draußen zwängte. Er war von Menschen umdrängt und musste sie mit den Schultern zur Seite stoßen. Dabei versuchte er, sich als Polizist zu erkennen zu geben. Er blickte auf und sah, dass Boyd bereits die schmale Fußgängerbrücke überquerte, die zum Ausgang des Bahnhofs führte. Er würde den Ausgang in wenigen Sekunden erreichen. Heck blickte sich um und sah hinter sich. Der Bahnhof Ardwick erhob sich über einer viel befahrenen Straße. Etwa vierzig Meter entfernt, auf der anderen Seite der nach Westen führenden Gleise, befand sich eine brusthohe Steinbrüstung. Zwei rostige Eisenbügel wiesen auf eine Notleiter hin, die auf der anderen Seite der Brüstung hinabführte. Es würde bedeuten, zwei Bahntrassen überqueren zu müssen, aber auf diesem Weg wäre er schneller, als wenn er versuchte, die Verfolgung über die überfüllte Fußgängerbrücke fortzusetzen. Er hielt sich nicht lange damit auf, abzuwägen, wie weise dieser Entschluss war, sondern sprang vom Bahnsteig hinunter auf die Gleise, vergewisserte sich kurz, dass kein Zug kam, sprintete über die Schienen und stürmte zu der Brüstung – wo er leider feststellen musste, dass die Straße viel tiefer unter ihm lag, als er gedacht hatte. Gut zwölf Meter unter ihm schoben sich endlose Verkehrsströme in beide Richtungen, das Echo von Motorengeräuschen hallte in den Tunneln und unter der Brücke wider. Die Leiter hätte eigentlich auf dem Bürgersteig unter ihm enden sollen, doch von seinem Standpunkt aus sah es nicht so aus, als ob sie tatsächlich so weit reichte. Er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, schwang sich über die Brüstung und kletterte die Leiter mit einem Klingeln in den Ohren hinab. Die Leiter war unangenehm schmal. Er konnte nur hinabsteigen, indem er eine Hand direkt unter die andere und einen Fuß direkt unter den anderen setzte. Als er etwa die Mitte der Leiter erreicht hatte, stellte er fest, dass sie aus mehreren Abschnitten bestand, die übereinandergeschoben waren. Durch sein Gewicht wurde automatisch der zweite Leiterabschnitt entkuppelt, und er glitt gut drei Meter nach unten, dann endete die Rutschpartie ruckelnd und so abrupt, dass er beinahe den Halt verlor und abstürzte, doch die Wucht seines Gewichts entkoppelte den dritten Abschnitt, die gleiche Prozedur wiederholte sich mit dem vierten und letzten – und so glitt er immer weiter hinunter Richtung Boden. Als er fast unten war, rutschten seine Hände ab, und er fiel die letzten eineinhalb Meter, landete jedoch auf den Füßen. Er ging um die Ecke auf eine kopfsteingepflasterte Nebenstraße – genau im richtigen Moment, um sich Cameron Boyd in den Weg zu stellen, der, vom Ausgang des Bahnhofs kommend, auf ihn zurannte. Der Ausdruck auf Boyds schweißgebadetem Gesicht war unvergleichlich und hätte Heck belustigt, wenn er nicht selber am Ende seiner Kräfte gewesen wäre. Der Verbrecher drehte ab, rannte zurück auf die Hauptstraße, fädelte sich zwischen hupenden Autos hindurch und hechtete über Motorhauben. Heck folgte ihm, weitere Hupen ertönten, Autos wurden zur Seite gerissen, um ihn nicht zu erfassen. Er hatte nicht genug Luft, um auf den Schwall von Beschimpfungen, die lauthals auf ihn einprasselten, etwas zu erwidern. Über den Tumult hinweg waren Martinshörner zu hören, doch noch war kein zuckendes Blaulicht zu sehen. Boyd schaffte es auf die andere Straßenseite und verschwand in einem Durchgang zwischen zwei schmuddeligen Geschäften. Heck brüllte in sein Funkgerät. »Bahnhof Ardwick! Überquere gerade die Hauptstraße … ich glaube, es ist die Devonshire Street!« Am Ende des Durchgangs befand sich ein hohes, vergittertes Tor – doch es stand offen. Boyd hatte es bereits passiert und stürmte nun über ein kleines, mit verstreuten Backsteinen übersätes Grundstück. Heck stapfte hinter ihm her. Direkt vor ihnen trennte ein Maschendrahtzaun das Grundstück von einem Eisenbahngelände mit Abstellgleisen, auf dem Betonmischmaschinen, Baucontainer und JCB-Bagger erkennen ließen, dass dort Bauarbeiten im Gange waren. Boyd blieb stehen, hob ein Stück einer rostigen dicken Kette auf und schleuderte sie Heck entgegen. Bevor er reagieren konnte, erfasst sie seine Beine und brachten ihn zu Fall. Dies verschaffte Boyd Zeit, doch genau in diesem Moment schoben sich die Lichtkegel von zwei Scheinwerfern wie Lanzen zwischen den Baucontainern und den mit Plastikfolien zugedeckten Baumaterialstapeln hindurch. Schlingernd kam der Bedford-Transporter in Sicht. »Andy, guter Junge!«, rief Heck und befreite sich von der Kette. Er stand auf und strauchelte in Richtung der Abstellgleise. Boyd stolperte auf die Bahntrasse zu, doch der hohe Maschendrahtzaun würde ihn daran hindern, weiterzukommen. Als er den Transporter mit kreischenden Bremsen genau hinter sich zum Stehen kommen hörte, versuchte er, zwischen hoch aufgeschichteten Backsteinstapeln zu entkommen. Der Stapel direkt vor ihm war nur etwa einen Meter zwanzig hoch. Er stieg hinauf, stakste über ihn hinweg und versuchte, auf den nächsten zu springen, der gut einen halben Meter höher war. Heck war noch fünfzig Meter entfernt, aber er konnte beobachten, was geschah: Andy Gregson war ebenfalls die Backsteinstapel hinaufgeklettert und verfolgte Boyd. »Wohin wollen Sie denn wohl fliehen?«, rief Gregson. »Verdammter Idiot! Geben Sie auf!« Boyd kletterte auf den nächsten Backsteinstapel und weiter auf den dann folgenden. Gregson war der deutlich Ausgeruhtere von den beiden, ganz zu schweigen davon, dass er zudem jünger und fitter war. Während sie von einem Stapel Backsteine auf den nächsten, immer höher werdenden kletterten und unter ihren Füßen lose Steine verrutschten, holte Gregson immer weiter auf. Boyd war schon gut viereinhalb Meter hoch und gerade dabei, den höchsten Stapel zu erklimmen, als der erste Stein sich unter seinem rutschenden Fuß löste. Es war ein Unfall – so viel war klar. Heck sah es ganz deutlich, während er auf die Backsteinstapel zurannte. Doch der Stein fiel gut zwei Meter tief und traf Gregson ins Gesicht. Der zweite fiel genauso tief, und das Gleiche galt für den dritten, der ihn mitten auf dem Schädel traf. Der Stapel war schlecht aufgeschichtet. Er bestand aus einzelnen, einander haltenden Türmen anstatt aus sorgfältig austarierten Lagen. Als einer dieser Türme umkippte, folgte der nächste und dann noch einer. Dann fiel die ganze Konstruktion in sich zusammen, Boyd krachte auf der anderen Seite des Stapels auf den Boden und rang nach Luft, weil es ihm von dem Aufprall den Atem verschlug, doch er war noch geistesgegenwärtig genug, sich außer Gefahr zu bringen. Andy Gregson hatte weniger Glück. Er war bereits von den ersten drei Backsteinen außer Gefecht gesetzt worden und halb bewusstlos zusammengesackt, als die Steinlawine über ihm zusammenbrach. »Andy!«, schrie Heck, doch seine Stimme wurde von dem polternden, kakofonen Rumpeln weitgehend übertönt. Nachdem er sich ein paar Sekunden lang mit wedelnden Händen einen Weg durch die dichte, ihm den Atem raubende Backsteinstaubwolke gebahnt hatte, fand er den jungen Polizisten in Klappmesserposition, allerdings nach hinten verbogen, halb unter zerbrochenen Backsteinen begraben. Sein Kopf und sein Torso waren komplett mit Steinen bedeckt, aber er regte sich leicht. »Detective Sergeant Heckenburg an Echo Control!«, rief Heck in sein Funkgerät. »Dringende Mitteilung! Detective Constable Gregson außer Gefecht und schwer verletzt. Schicken Sie umgehend einen Krankenwagen zu den Abstellgleisen an der Devonshire Street! Umgehend! Und schicken Sie mir endlich Verstärkung, verdammt noch mal!« Hektisch schaufelte er mit den Händen den Schutt zur Seite. »Andy?« Er legte erst ein völlig schmutzüberzogenes, blutverschmiertes Hemd frei und dann ein schlimm zugerichtetes Gesicht. Beide Augenhöhlen und Wangenknochen waren vermutlich gebrochen, die Nase geplättet, bis weit über den Haaransatz sickerte aus zahlreichen Platzwunden Blut. Heck legte zwei Finger an Gregsons Hals, um die Schlagader zu ertasten. Sie pulsierte noch – aber der Junge verlor seinen Lebenssaft mit rasender Geschwindigkeit. Heck hörte die Martinshörner, aber sie klangen noch sehr weit entfernt. »Schicken Sie jemanden her!«, brüllte er in sein Funkgerät. »Jetzt! Der Verletzte hat ein schweres Kopftrauma und zahlreiche andere Verletzungen …« »Mir geht’s gut … Sergeant«, murmelte Gregson. »Alles in Ordnung.« »Du wirst wieder auf die Beine kommen«, versicherte Heck ihm. »Der Krankenwagen ist sofort da.« Das Rascheln von Maschendraht erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte auf. Keine dreißig Meter entfernt versuchte Cameron Boyd auf der anderen Seite des Backsteinhaufens, den Maschendrahtzaun hinaufzuklettern. Heck konnte das Knurren in seiner Stimme kaum unterdrücken. »Ich bin gleich wieder bei dir«, sagte er in Gregsons Ohr. »Bin höchstens eine Minute weg.« Boyd, der zu schwach aussah, um noch weiterklettern zu können, hatte es nur etwa eineinhalb Meter den Zaun hoch geschafft. Das Gewicht seines eigenen Körpers machte ihm sichtlich zu schaffen. Es hätte für Heck kein Problem darstellen sollen, ihn von hinten zu packen und runterzuziehen. Doch wieder spürte Boyd mit dem Instinkt eines Dschungeltiers den sich nähernden Feind. Er drehte sich um und sprang herunter. Seine Knie wurden weich, und er war so erschöpft, dass er dem ersten Schwinger nicht ausweichen konnte, den Heck ihm verpasste. Er erwischte ihn mit voller Wucht auf der linken Wange und brachte ihn zu Boden. »Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern«, sagte Heck. Boyd versuchte, auf allen vieren wegzukrabbeln. Heck trat ihm in den Rücken. »Doch es kann Ihre Verteidigung beeinträchtigen …« Boyd machte eine Rolle vorwärts, schaffte es diesmal, auf die Beine zu kommen, langte unter seine Jacke und holte seine Stichwaffe hervor. Heck grinste schief – jetzt konnte er sich auf Notwehr berufen. »… sollten Sie trotz Befragung eine Aussage unterlassen, auf die Sie später vor Gericht angewiesen sein könnten.« Boyd griff an, die Stichwaffe erhoben. Heck rammte ihm den Vorderarm gegen die Kehle. »Doch alles, was Sie sagen …« Boyd verlor seine Stichwaffe und ging gurgelnd zu Boden. Heck packte ihn an seinem schweißgebadeten Kragen und zog ihn etwa dreißig Zentimeter hoch, um den rechten Haken gezielt auf seinem Kiefer platzieren zu können. »…kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.« »Nur damit Sie Bescheid wissen: Wir haben die Verletzungen meines Mandanten fotografiert und beabsichtigen, offiziell Anzeige gegen Sie zu erstatten«, sagte der Rechtsanwalt. Sein Name war Snodgrass. Er war tadellos gekleidet, wie Anwälte es immer waren, zudem war er groß, hatte ein schwach ausgeprägtes Kinn, kurzes sandfarbenes Haar und blasse hellblaue Augen. »Tun Sie das«, entgegnete Heck, während sie den Flur des Untersuchungshaftbereichs der Polizeiwache von Longsight entlanggingen. »Sowohl Detective Constable Gregson als auch ich werden bei jeder Befragung mit Freude berichten, dass wir gesehen haben, wie Ihr Mandant von einem viereinhalb Meter hohen Backsteinstapel heruntergefallen ist.« »Er sollte im Krankenhaus sein und nicht hier.« »Der Amtsarzt der Greater Manchester Police hat ihn für vernehmungsfähig erklärt. Das reicht mir.« »Ihre Haltung ist wenig hilfreich, und das in hohem Maße, Sergeant Heckenburg.« »Falsch, Mr. Snodgrass«, fuhr Heck ihn an. »Was wenig hilfreich ist, ist, dass Sie darauf bestehen, beide Verdächtige zu vertreten.« Die Türen der beiden separaten Vernehmungsräume befanden sich einander gegenüber. Gary Quinnell stand vor dem Verhörraum, der links vom Flur abging, Shawna McCluskey, auf deren Nase ein beinahe ebenso großes Pflaster prangte wie auf Hecks linker Schläfe, hatte sich vor dem Raum platziert, der rechts vom Flur abging. Terry Mullany befand sich in dem Raum, den Quinnell bewachte, Cameron Boyd in dem anderen. Snodgrass zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Da meine beiden Mandanten wegen des Verdachts festgenommen wurden, dieselben Verbrechen begangen zu haben, nämlich eine Serie abscheulicher Morde, scheint mir das vollkommen angebracht.« »Es ist nicht annähernd angebracht«, erwiderte Heck scharf. »Es ist die älteste Verzögerungstaktik aller Zeiten, aber die zieht bei mir nicht! Sie wissen genau, dass wir unsere Verdächtigen auf diese Weise nur einen nach dem anderen vernehmen können. Sie spielen bewusst auf Zeit.« Normalerweise war es nicht seine Art, Rechtsvertreter derart anzugehen. Diese Typen erledigten trotz der allgemeinen Vorbehalte, die ihnen entgegengebracht wurden, auch nur ihren Job, und ihre rechtsverdreherischen Künste hatten in der Vergangenheit manch einem bedrängten Polizeibeamten zum Vorteil gereicht. Doch während sie hier plauderten, befand Gemma sich im Königlichen Krankenhaus von Longsight, wo Andy Gregson sich einer lebensrettenden Operation unterzog. »Ihnen ist schon klar, dass Sie vor Gericht auseinandergenommen werden, oder?« Boyd grinste Heck über den Tisch im Verhörraum hinweg an. Es war kein schöner Anblick: Seine braunen Zähne waren ohnehin schon hässlich genug, aber jetzt fehlten auch noch einige. Die Ränder um seinen angeschwollenen Mund waren immer noch blutverschmiert. »Warum denn, Cameron?«, fragte Heck. Boyd warf Snodgrass, der neben ihm saß und sich Notizen machte, einen vor Selbstbewusstsein strotzenden Blick zu. »Warum, will er wissen! Wie wär’s damit: Weil Sie mir bei meiner Festnahme einen verdammten Tritt ins Gesicht verpasst haben.« »Sie haben sich der Festnahme widersetzt, Cameron … und zwar äußerst gewaltsam. Genau genommen sind Sie mit einer tödlichen Waffe auf mich losgegangen.« Heck legte eine versiegelte Plastiktüte auf den Tisch, die Boyds sogenannten Eisendorn enthielt. »Für die Aufnahme: Ich zeige Cameron Boyd Beweisstück MH1, bei dem es sich um einen gewerblich genutzten Schraubenzieher handelt, dessen oberes Ende angespitzt wurde. Dieses Werkzeug gehört Ihnen, Cameron, nicht wahr?« »Hab das Ding noch nie in meinem verdammten Leben gesehen.« »Es wurde noch nicht überprüft, aber angesichts der Tatsache, dass Sie den Schraubenzieher wie ein Messer geschwungen haben, als Sie damit auf mich losgegangen sind, bin ich mir ziemlich sicher, dass er über und über mit Ihren Fingerabdrücken übersät ist.« »Die haben Sie mir untergeschoben. Sie haben mir das Teil in die Hand gedrückt, als ich k.o. war.« »Sie haben die Waffe auch gegen eine junge Frau namens Sally Baines eingesetzt. Sie war heute Abend in dem Zug von Glossop nach Manchester Piccadilly unterwegs, dem gleichen Zug, den Sie um etwa zwanzig vor zehn im Bahnhof Ashbury bestiegen haben. Vielleicht erinnern Sie sich … Sie haben sie in den Polizeigriff genommen und ihr die Waffe an die Kehle gehalten. Sie haben sie sogar verletzt, Cameron, sie hat geblutet. Dabei hat sie nichts weiter getan, als dazusitzen und eine Zeitschrift zu lesen.« Boyd zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Tut mir leid für die Tussi, aber das war ich nicht.« »Außer Sally Baines war da noch ein gewisser Martin Ruckworth. Er war der Schaffner in besagtem Zug. Erinnern Sie sich an ihn? Sie haben ihm den angespitzten Schraubenzieher auf die Nase geschmettert und ihm schwere Gesichtsverletzungen zugefügt. Daran werden Sie sich doch bestimmt erinnern?« »Gleiche Antwort. War ich nicht.« »Und dann waren da noch all die anderen Leute in dem Zug, die Sie ebenfalls gesehen haben«, sagte Shawna McCluskey. Boyd sah sie an und zuckte mit den Schultern. »Sie haben irgendjemanden gesehen. Tut mir ja leid, dass so ’ne üble Sache passiert ist, aber wie ich schon sagte, ich war’s nicht.« »Wenn es stimmt, was Sie sagen«, fuhr Heck fort, »warum sind Sie dann auf die Abstellgleise geflohen, als ich am Ausgang des Bahnhofs Ardwick vor Ihnen stand?« »Jetzt kommen wir der Wahrheit schon näher.« Boyd betrachtete seine abgekauten schmutzigen Fingernägel. »Ich war nicht in diesem Zug, aber ich war auf dem Bahnhof Ardwick. Ich habe die Abfahrtzeiten der Züge auf der Anschlagtafel studiert. Ich besuche morgen meine Mutter in Hadfield. Dann gehe ich weg, biege um die Ecke, und da stehen Sie plötzlich vor mir. Sie waren gerade von dieser Leiter gesprungen. Ich hatte keine verdammte Ahnung, wer Sie waren, aber Sie sehen aus wie ein richtiger Gangster, das müssen Sie zugeben. Sie kamen direkt auf mich zu und haben mir Angst eingejagt, da bin ich abgehauen. Als Sie mich dann auch noch verfolgt haben, habe ich die Beine richtig in die Hand genommen. Was hätte ich denn sonst machen sollen?« »Sie behaupten also, das Opfer einer Verwechslung zu sein?«, fragte Shawna ihn. »Dass Detective Sergeant Heckenburg und Detective Constable Gregson eigentlich hinter jemand anderem her waren und Sie den beiden irrtümlich in die Quere kamen und mit dieser Person verwechselt wurden?« »Wollen Sie mir weismachen, dass so was nicht passieren kann?«, entgegnete Boyd. »Abends im Dunkeln? Und so wie dieser Typ durch die Gegend gerast ist? Wie ein Geisteskranker, sage ich Ihnen. Mit verdrehten Augen, und er hat geschwitzt wie ein Schwein.« Sie lächelte. »Eine interessante Geschichte, Cameron. Aber die Verfolgungsjagd begann in Wirklichkeit schon, als Sie in Gorton aus dem Pub namens ›The Hayrick‹ gestürmt sind, in dem Detective Sergeant Heckenburg und Detective Constable Gregson Sie früher am Abend bereits observiert haben.« »Vielleicht haben sie jemanden observiert, aber mich jedenfalls nicht.« »Was uns wirklich interessiert, Cameron, ist, warum Sie den Pub überhaupt Hals über Kopf verlassen haben«, sagte Heck. »Wir haben Ihr Handy, deshalb wissen wir, dass Sie genau in dem Moment losgestürmt sind, in dem Sie von Ihrem Komplizen Terry Mullany einen Anruf erhielten.« »Terry ist ein Kumpel von mir. Er ruft mich ab und zu an. Das heißt gar nichts.« »Sie geben also zu, dass Sie in dem Pub ›The Hayrick‹ waren, als Sie diesen Anruf erhielten.« »Was spielt das schon für eine verfickte Rolle? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.« »Und warum sind Sie losgerannt wie ein geölter Blitz?«, fragte Shawna. »Warum haben Sie so einen verzweifelten Fluchtversuch unternommen, dass Sie dabei drei unschuldige Menschen verletzt haben, einen davon sogar schwer?« »Bestreiten Sie die Vorfälle im Zug so hartnäckig, wie Sie wollen, Cameron«, schaltete Heck sich wieder ein. »Aber wir haben Ihre Fingerabdrücke auf der Waffe, und wir haben so viele Zeugenaussagen, dass wir damit diesen Raum tapezieren könnten. Wir müssen nur eine Gegenüberstellung vornehmen, und all die Leute, die Sie attackiert haben, ganz zu schweigen von den übrigen Fahrgästen, würden Sie mühelos identifizieren. Und dann haben wir auch noch das Filmmaterial aus den Überwachungskameras.« »Das ist ein abgekartetes Spiel«, entgegnete Boyd und grinste höhnisch. Er benahm sich immer noch wie jemand, der nichts zu befürchten hatte, doch ein paar Schweißtropfen, die ihm die linke Wange hinunterrannen, deuteten darauf hin, dass er doch nicht so ungerührt war. »Ist doch immer das Gleiche.« »Reden wir über etwas anderes«, sagte Heck. »Wo waren Sie letztes Jahr während der Guy-Fawkes-Nacht?« Boyd tat so, als belustigte ihn die Frage. »Moment mal … Sie wollen mir doch nicht etwa diese Feiertagsmorde anhängen, oder?« »Wo waren Sie?«, wiederholte Shawna die Frage. »Wahrscheinlich in irgendeinem Pub und hab mir das Gratisfeuerwerk angesehen … wie jeder andere Arsch mit ein bisschen Grips im Hirn.« »Sie fahren oft rüber nach Preston, stimmt’s?« »Da war ich in meinem ganzen verfickten Leben noch nie.« »Und in Yorkshire?«, fragte Heck. »Treiben Sie sich da häufiger mal rum?« »So selten wie verfickt noch mal möglich.« »Waren Sie im vergangenen Dezember da? Um Weihnachten herum?« »Nein. Ich verbringe Weihnachten am liebsten zu Hause.« Heck lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir haben einen Zeugen, der etwas anderes behauptet. Wir haben einen Zeugen, der zwar nicht bestätigen kann, dass Sie in Yorkshire waren, aber in Leeds, und zwar am Schauplatz des zweiten Mordes.« Boyd schnaubte. »Wer ist dieser verdammte Zeuge?« »Sie, Cameron«, erwiderte Shawna. »Sie selber sind der Zeuge.« Snodgrass blickte neugierig von seinen Papieren auf. Boyd war einen Augenblick sprachlos. »Sie wirken ein bisschen überrascht«, stellte Heck fest. »Sie labern irgendeine Scheiße, deshalb.« »Ist Ihre DNA Scheiße?« Boyd erstarrte. Snodgrass legte seine Papiere hin. Heck musterte Boyd interessiert. Die angespannte Körpersprache des Kriminellen zeugte eher von Angst als von Schuld. »P- …Passen Sie auf«, stammelte er. »Ich weiß nicht, was Sie glauben, für einen Treffer gelandet zu haben, aber Terry und ich haben nie jemanden umgebracht.« »Sie und Terry, was?«, entgegnete Heck. »Sie geben also wenigstens zu, dass Sie und Terry bei dieser Nummer gemeinsame Sache gemacht haben?« »Wir haben bei gar nichts gemeinsame Sache gemacht!«, brüllte Boyd. »Haben Sie das kapiert, Sie Scheißbulle!« Snodgrass legte ihm eine Hand auf den Arm, doch Boyd schüttelte sie wütend ab. Heck blieb ruhig. »Und warum haben Sie dann beide die Fliege gemacht, als Sie gemerkt haben, dass wir hinter Ihnen her waren?« »Das hat nichts mit dieser Sache zu tun.« »Womit dann?« »Diese verdammten Morde werden Sie mir nicht anhängen!« »Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, Ihre Version der Geschichte zu erzählen.« »Sie haben Terry auch eingebuchtet, stimmt’s?« »Er ist in dem Raum gegenüber«, bestätigte Shawna. »Er wird Ihnen exakt das Gleiche sagen. Wir haben nichts mit dieser Feiertagsschändungsscheiße zu tun.« »Dass Sie es abstreiten, ist das Mindeste, was das Gericht erwarten wird«, entgegnete Heck. »Aber bisher steht Ihr Wort gegen die Laborergebnisse der Spurensicherung. Die Chancen stehen nicht gut, Freundchen.« »Entschuldigen Sie bitte, Sergeant«, schritt Snodgrass ein. »Darf ich kurz mit meinem Mandanten unter vier Augen sprechen?« Heck sah erst den einen an, dann den anderen. Boyd hatte auf einmal einen wirren Blick und wirkte nervös, Snodgrass wirkte wie immer völlig unbeeindruckt. »Selbstverständlich«, sagte er. »Vernehmung unterbrochen um 22.38 Uhr.« Ein paar Minuten später standen Shawna und Heck auf dem Flur und tranken Tee. »Was meinst du?«, fragte Shawna leise. Heck schüttelte den Kopf. »Das ist alles ein totaler Schwachsinn.« »Was meinst du damit?« »Boyd ist kein Serienmörder. Er ist ein Arschloch, und er hat sich tatsächlich für ungeheuer clever gehalten, indem er völlig offensichtliche Fakten abstritt. Ein hirnloser Idiot, der es für einen Sieg hält, Zeit im Verhörraum zu gewinnen.« »Die Liste seiner Gewaltverbrechen reicht zurück bis in seine Jugend.« Heck warf seinen Plastikbecher in den nächsten Abfalleimer. »Aber was sollten ihm diese Morde bringen? Du kennst doch sein Vorstrafenregister … Er ist ein Dieb und ein Säufer.« »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Heck … Wir haben seine DNA. Er muss es sein.« »Das glaube ich nicht, Shawna. Ich glaube es wirklich nicht.« Bevor sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, öffnete sich die Tür des Verhörraums, und Snodgrass kam heraus. »Sergeant, mein Mandant möchte noch mal mit Ihnen reden.« »Ach, tatsächlich?« »Er will ein Geständnis ablegen.« Im ersten Moment glaubte Heck, sich verhört zu haben. »Er gibt es also zu?« »Nein«, entgegnete Snodgrass mit verhaltener Zuversicht. »Jedenfalls nicht diese Morde.« »Eine Einbruchserie?«, fragte Gemma und wirkte genauso ungehalten, wie Heck es erwartet hatte, als er rausgegangen war auf den Parkplatz der Polizeiwache, um sich dort mit ihr zu treffen. Als ob die große neue Entwicklung dieses Tages – die Feiertagsschändungsmorde waren an die Öffentlichkeit durchgesickert – nicht schon nervenaufreibend genug gewesen wäre, musste er ihr jetzt auch noch diese schlechte Nachricht überbringen. »Schwerer Einbruchdiebstahl«, stellte Heck klar. »Die beiden haben ziemlich heftige Dinger gedreht.« Sie knallte die Autotür zu. »Boyd und Mullany?« »Ja. Drei haben sie zugegeben.« »Wo?« »In Levenshulme, Fallowfield und Stockport.« »Wer ist zuständig?« »Das Dezernat für Schwerverbrechen der Greater Manchester Police. Sie sind auf dem Weg hierher. Offenbar wollen sie mit uns reden.« »Dann war das also der Grund dafür, dass Boyd und Mullany abgehauen sind?«, fragte Gemma. »Macht ja Sinn. Sie dachten, sie hätten die Polizei am Hals. Hatten sie ja auch, nur aus einem komplett anderen Grund … aber das wussten sie natürlich nicht.« »Und Boyd erwartet von uns, dass wir ihm das abkaufen? Obwohl seine DNA-Spuren eine völlig andere Sprache sprechen?« »Ich fürchte, da ist noch was, Gemma.« Heck bemühte sich, nicht so trübe aus der Wäsche zu gucken, wie er sich fühlte. »Wir haben vorhin noch etwas anderes herausgefunden, als wir uns seine Vorgeschichte erneut angesehen haben. Wie es aussieht, hat er kürzlich gesessen.« Sie betraten die Wache. Im Eingangsbereich gesellte Shawna sich zu ihnen und setzte Hecks Bericht fort. »Er hat achtundzwanzig Tage abgebrummt, weil er den Türsteher eines Nachtklubs tätlich angegriffen hat.« »Wann?«, fragte Gemma. »Er hat die Haft am vierundzwanzigsten November des vergangenen Jahres angetreten«, erwiderte Shawna. »Und ist am einundzwanzigsten Dezember wieder rausgekommen.« »Ernest Shapiro wurde spätestens am siebzehnten Dezember in diesen Schornstein in Leeds eingemauert«, fügte Heck hinzu. »Also während Boyd seine Haftstrafe absaß.« »Und warum hat er uns das nicht sofort nach seiner Verhaftung erzählt, anstatt uns seine diversen anderen Straftaten zu beichten?« »Weil er nicht wusste, dass Shapiro schon über eine Woche lang in diesem Schornstein eingemauert war, als er gefunden wurde«, erwiderte Shawna. »Er dachte, der Mord hätte sich um Weihnachten herum ereignet, als er selber wieder auf freiem Fuß und somit verdächtig war.« Gemma stand schweigend da, ihr Gesicht war weiß vor Fassungslosigkeit. »Gemma«, sagte Heck leise, »Cameron Boyd kann nicht der Feiertagsschänder sein.« »Also wurde am Tatort des Weihnachtsmordes absichtlich falsches Beweismaterial platziert?« Heck nickte. »Ein Versuch der tatsächlichen Mörder, Boyd das Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Das Streichholzheftchen in dem verbrannten Lastwagen war auch ein Fake. Deshalb haben sie das Führerhaus nicht abgefackelt – weil sie uns dort Mullanys Fingerabdrücke hinterlassen hatten, damit wir sie finden. Es war nur ein Köder.« »Das Feuer hätte durchaus aufs Führerhaus übergreifen können«, stellte Gemma fest. »Wenn sie unbedingt wollten, dass wir es finden, sind sie ein ziemliches Risiko eingegangen.« »Wenn sie den Wagen erst angezündet haben, kurz bevor wir den Hinweis erhalten haben, hielt sich das Risiko in Grenzen. Und in Wahrheit wissen wir gar nicht, wann der Wagen in Brand gesetzt wurde. Im Nachhinein erscheint es mir unwahrscheinlich, dass er die ganze Nacht gebrannt hat.« Heck schüttelte den Kopf. »Zumindest bei diesem Daumenabdruck hätte ich das Spiel durchschauen müssen … Das war einfach zu perfekt. Außerdem lag das Streichholzheftchen im Führerhaus. Warum sollte jemand, der wirklich versucht, seine Spuren zu verwischen, noch mal zurück ins Führerhaus steigen, nachdem das Feuer entfacht war? Wenn der Brandstifter schon so leichtsinnig war, seine Streichhölzer wegzuwerfen, hätte er es draußen gemacht. Doch das konnten sie nicht riskieren, denn es hätte ja schütten können, und in dem Fall wäre das Streichholzbriefchen aufgeweicht worden und der Daumenabdruck somit für uns unbrauchbar gewesen. Jemand hat uns an der Nase herumgeführt. Aber wir haben uns bereitwillig einen Bären aufbinden lassen, weil wir das Offensichtliche übersehen haben.« »Also, Cameron, wen haben Sie gegen sich aufgebracht?«, fragte Gemma. Boyd saß ihr gegenüber am Tisch im Verhörraum und hatte wieder sein braunes Halloween-Grinsen aufgesetzt. Er war nicht gerade glücklich über die Wende, die das Ganze genommen hatte, doch er schien zufrieden, wieder die Oberhand gewonnen zu haben – beziehungsweise das, was er dafür hielt. »Was weiß ich denn. Wie weit wollen wir zurückgehen?« »Es scheint Sie nicht groß zu kratzen, dass jemand versucht hat, Ihnen eine Mordserie anzuhängen«, stellte Heck fest. Boyd zuckte mit den Schultern. »Das Gleiche habt ihr doch auch versucht … bis ihr gecheckt habt, dass es nicht klappt.« »Fällt Ihnen irgendjemand ein?«, fragte Gemma. »Jetzt wollen Sie, dass ich Ihnen helfe? Ist das Ihr verdammter Ernst?« »Immerhin hatte dieser Irre es auf Sie abgesehen«, erinnerte Heck ihn. »Nicht auf uns.« Boyd lachte. »Was soll ich Ihnen sagen? Ich bin ein verdammter Verbrecher. Ich mache mir auf beiden Seiten Feinde, das war immer schon so.« »Strengen Sie Ihre grauen Zellen ein bisschen an, Cameron«, insistierte Heck. »Wer auch immer es war, ist dem normalen Gossenabschaum, mit dem Sie sich sonst umgeben, um einiges überlegen. Das Streichholzbriefchen mit dem Fingerabdruck war einfach zu beschaffen. Wahrscheinlich wurde es aus einem Mülleimer hinter Terry Mullanys Haus gefischt. Aber wie, zum Teufel, ist Ihre DNA an dem Weihnachtsopfer gelandet? Sie sind ein cleverer Bursche, Boyd, Sie haben es doch sicher gemerkt, wenn Ihnen jemand ein Büschel Haare ausgerissen hat!« Boyd zuckte erneut mit den Schultern. »Und wenn Sie mir die Scheiße aus dem Leib prügeln würden … oh, pardon, das haben Sie ja schon gemacht! Aber keine Sorge.« Er grinste wieder. »Mein Anwalt hat die Fotos. Wir nehmen Sie vor Gericht auseinander. Daran hat sich nichts geändert.« Obwohl es zu dieser späten Stunde auf der Intensivstation ruhiger zuging als tagsüber, herrschte dort hektischeres Treiben als auf den meisten anderen Krankenhausstationen. Weich besohlte Schuhe huschten wispernd über polierte Böden, während das Pflegepersonal geschäftig zwischen den Zimmern hin und her eilte, Vermerke überprüfte und den Patienten Medikamente verabreichte. Andy Gregson lag in einem speziellen Raum ganz am Ende des Hauptflurs. Heck betrachtete ihn durch das Beobachtungsfenster. Der junge Polizist lag regungslos auf einem erhöhten Bett, sein Kopf war unter mehreren Schichten postoperativ angelegter Verbände und diversen Ernährungs- und Atemschläuchen verborgen. Mehrere Kabel verbanden ihn mit einer Reihe von piependen Monitoren. Er hing auch am Tropf, und ein junger Krankenpfleger in blauem Kittel wechselte gerade den Infusionsbeutel. Neben dem Bett saß eine sehr junge Frau – kaum älter als ein Teenager – zusammengerollt auf einem Sessel und schlief. Sie war zweifelsohne Gregsons Frau, Marnie. Ihr Make-up war schweißverschmiert, ihr rotbraunes, schulterlanges Haar zerzaust. Ein aufmerksamer Krankenhausmitarbeiter hatte ihr eine Decke übergelegt. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte jemand mit Glasgower Dialekt. Heck drehte sich um und sah eine stämmige rothaarige Frau neben sich stehen. Sie trug ebenfalls einen OP-Kittel; dem Schildchen an ihrem Kragen zufolge war sie Mavis Malone, die Oberschwester. »Entschuldigung«, sagte Heck und zeigte ihr seinen Dienstausweis. »Detective Sergeant Heckenburg. Ich bin der Partner von Detective Constable Gregson.« Sie betrachtete ihn mit einem geschäftsmäßigen Stirnrunzeln, und ihm wurde bewusst, dass sie seinen eigenen Gesundheitszustand abschätzte. »Sie sehen so aus, als hätten Sie auch Prügel eingesteckt.« »Ja, es war ein harter Abend.« »Darf ich Ihre Wunde versorgen?« »Ist schon in Ordnung.« »Ich glaube, es wäre angesagt.« Heck fasste sich an die Schläfe und stellte fest, dass von dem früher aufgeklebten Pflaster nur noch ein klebriger, labberiger Schnipsel vorhanden war. Als er die Hand wieder wegnahm, waren seine Fingerspitzen blutverschmiert. »Äh … wäre vielleicht doch eine gute Idee.« Sie lächelte und führte ihn zu einem an der Seite stehenden Tisch. »Wie geht es Andy?«, fragte er. »Er wird wieder gesund werden.« Sie reinigte die Schnittwunde und legte vorsichtig und behutsam einen frischen Verband an. »Er hat eine Schädelimpressionsfraktur erlitten, die der Neurochirurg ohne Komplikationen hat anheben können. Außerdem haben wir das extradurale Hämatom darunter entfernt. Die Computertomografie-Aufnahme hätte gezeigt, wenn irgendwo noch weitere Blutungen aufgetreten wären, aber es gibt keine. Er bekommt jetzt Mannitol, das wird helfen, die Schwellung unter Kontrolle zu behalten.« »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich verstehe nur Bahnhof. Wird er wieder hundertprozentig auf dem Damm sein? Wird er wieder arbeiten können?« »Wenn es mit seiner Genesung so weitergeht, wird er bald wieder voll und ganz hergestellt sein.« Heck ging zurück zu dem Beobachtungsfenster und fragte sich, warum er keine größere Erleichterung verspürte. Vermutlich waren seine Sinne vor Übermüdung zu abgestumpft. Hinter der Glasscheibe lag das junge Paar regungslos; Marnie zusammengerollt in ihrem Sessel, Gregson bewusstlos im Krankenbett. Sie boten ein Bild von verletzter Unschuld. Als Mordkommissar sah man so etwas oft, doch es war jedes Mal besonders schmerzlich, wenn ein eigener Kollege betroffen war. Heck schlurfte müde zurück durch die Intensivstation und versuchte kurz, aber vergeblich, all seine Sorgen aus seinem Kopf zu verbannen. Da die DNA-Spuren und der Fingerabdruck zu nichts geführt hatten, waren die Ermittlungen erneut in einer Sackgasse gelandet. Wie sie nun weitermachen sollten, war ihm wirklich ein Rätsel. »Machen Sie sich keine Sorgen, er wird wieder gesund«, munterte Schwester Malone ihn lächelnd auf, als er an ihrem Tresen vorbeiging. Heck bedankte sich mit einem Nicken für ihre Anteilnahme, doch es fiel ihm schwer, das Lächeln zu erwidern. Der Parkplatz draußen, der tagsüber brechend voll war, war jetzt nahezu leer – abgesehen von Gemmas BMW, der soeben in die Parkbucht neben Hecks geliehenem VW Golf eingebogen war. »Ob ich da jetzt wirklich noch mal reingehen will?«, fragte Gemma, während sie ausstieg, und betrachtete widerstrebend das große anonyme Gebäude, in dem die meisten Lichter jetzt entweder ausgeschaltet oder heruntergedimmt waren. Heck zuckte mit den Schultern. »Das liegt ganz bei dir. Im Moment ist er nicht ansprechbar.« »Wie geht es ihm?« »Laut Personal kommt er wieder auf die Beine.« »Und wie geht es dir?« »Tja, kann ich auch nicht richtig sagen.« Er atmete geräuschvoll ein und steckte die Hände in die Taschen. »Ich bin müde … und gleichzeitig aufgedreht. Keine Ahnung, ob ich heute Nacht schlafen kann.« »Du solltest es jedenfalls versuchen. Hier …« Sie zog eine kleine Thermoskanne aus ihrer Manteltasche. Als sie sie aufschraubte, entstieg ihr der Duft von Kaffee, vermischt mit einem anderem Aroma – irischem Whiskey. Sie füllte den Plastikbecher und reichte ihn ihm. »Ich kann dir nicht versprechen, dass dir das beim Einschlafen hilft, aber es ist immer ein gutes Betäubungsmittel.« Er nahm ein paar Schlucke und gab ihr den Becher zurück. »Was hältst du von Boyd?« »Ich glaube, mir ist im ganzen Leben noch kein dämlicherer Typ begegnet.« »Er hat nur seine eigenen Interessen im Sinn.« »Was du nicht sagst … Und er will uns nicht helfen, jemanden zu finden, der ihn derart hasst, dass er ihm eine ganze Serie von Foltermorden anhängen will?« »Wie er sagte, gibt es haufenweise Leute, die ihn hassen. Solange er in Untersuchungshaft sitzt, ist er geschützt. Sein Problem ist jetzt, wie er seinen Kopf in den drei schweren Fällen von Einbruchdiebstahl aus der Schlinge zieht.« Sie lachte freudlos auf. »Ha, dabei wünsche ich ihm viel Glück. Hast du mit Marnie Gregson gesprochen?« »Sie hat geschlafen.« »Schade. Ein paar tröstende Worte von dem Partner ihres Mannes, über den dieser ihr so viel Gutes erzählt hat, hätten ihr sicher gutgetan.« »Er hat Gutes über mich erzählt?« Heck war baff. Womit, um alles in der Welt, hatte er das verdient? Hatte er den jungen Detective durch sein lebensmüdes Auftreten beeindruckt? Oder durch seine Respektlosigkeit und sein unbekümmertes Selbstbewusstsein? Dass Gregson noch so ein Grünschnabel war und all dies nicht als albernes, unsicheres Gehabe durchschaut hatte, machte ihn irgendwie noch liebenswerter und seine Verletzungen noch unerträglicher. »Was hätte ich ihr schon Tröstendes sagen können?«, brachte Heck schließlich hervor. »Ich hätte ihr nicht mal sagen können, dass es für eine gute Sache war.« Gemma sparte sich eine Antwort darauf. Stattdessen sah sie hinauf zum Himmel. »Sieht nach Regen aus.« Sie drückte auf den Knopf an ihrem Schlüssel, und die Türen des BMWs entriegelten sich. Als sie drinnen saßen, füllte sie den Becher wieder auf und reichte ihn Heck erneut. Er nippte niedergeschlagen daran. »Weißt du, Mark …« Sie klang jetzt einfühlsam; es kam nur selten vor, dass sie ihn mit dem Vornamen anredete. »Es war ein zermürbender Tag. Aber es ist nicht alles schlecht. Da es dir sonst niemand sagen wird, werde ich es tun: Was du heute Abend vollbracht hast … war tolle Polizeiarbeit.« »He, ist doch klar. Ich bin nun mal ein Superbulle.« Doch er klang nicht so, als ob er seinen eigenen Worten Glauben schenkte. Er reichte Gemma den Becher zurück. »Ich möchte nur, dass du weißt, wie froh ich bin, dich in meinem Team zu haben.« »Ist das jetzt die Zuckerbrot-und-Peitsche-Methode?«, fragte Heck. »Du kannst manchmal wirklich unausstehlich sein, aber … das trifft wohl auf uns alle zu, was?« Er beobachtete mit glasigen Augen, wie ein Rettungswagen mit quietschenden Reifen vor der Flügeltür der Notaufnahme zum Stehen kam. Ein Notarztteam eilte nach draußen, während die Rettungssanitäter die Tragbahre hinten aus dem Rettungswagen holten, einer von ihnen hielt eine Infusionsflasche hoch. »Wir hätten all die Jahre zusammenbleiben sollen«, sagte er langsam. »Wir hätten versuchen sollen, unsere Krise zu überstehen.« Gemma nippte an ihrem Kaffee mit Schuss. »Klar, dann hätten wir diesen Schlamassel hier nicht am Hals.« »Dann müssten wir das hier nicht um drei Uhr morgens auf Krankenhausparkplätzen tun.« »Wie bitte?« Sie wandte sich zu ihm um. »Wir machen doch gar nichts.« »Vielleicht ist genau das das Problem.« Sie blickte wieder nach vorn durch die Windschutzscheibe. »Betrachte die Vergangenheit nicht durch eine rosarote Brille, Heck. Sonst lernst du nie aus deinen Fehlern.« »Fehler?« Heck war sich vage dessen bewusst, dass er nicht mehr vernünftig denken konnte, dass die Müdigkeit seinen Geist benebelte, aber manchmal sah man die Dinge in so einem Zustand auch klarer, oder etwa nicht? Und als er sich jetzt an seine und Gemmas gemeinsame Vergangenheit erinnerte – als sie beide junge, überfliegermäßige Detective Constables in Bethnal Green gewesen waren, unter dem gleichen Stress und der gleichen Anspannung gestanden hatten, den gleichen hektischen Tagesablauf hatten bewältigen und ähnlich viele erschöpfende Dienststunden hatten abreißen müssen und sich folglich am Ende des Tages in die Arme gefallen und ohne Vorspiel direkt zur Sache gekommen waren –, fand er eigentlich nicht, dass das Ganze unter einem besonders schlechten Stern gestanden hatte. Weder mitternächtliche Telefonanrufe noch in aller Herrgottsfrühe klingelnde Wecker hatten für ihre Beziehung eine größere Gefahr dargestellt. »Das Ganze hat uns zu sehr abgelenkt, Heck«, stellte Gemma nahezu gleichgültig fest. »Wir wären niemals weitergekommen.« »Na ja, was weiterkommen heißt, kann man so oder so sehen«, entgegnete Heck. »Du magst es ja geschafft haben. Aber sieh mich an. Sieh dir an, was ich erreicht habe.« Sie musterte ihn halb belustigt. »Du wolltest es doch auch nicht anders. Das erzählst du zumindest jedem. Was sollte denn sonst dieses ganze Held-der-Arbeiterklasse-Gerede, mit dem du dich immer gebrüstet hast? ›Ich bin Ermittler, kein Sesselfurzer. Ich bin ein Detective, kein Anzugträger.‹ Ja, ja, sehr nobel von dir. Aber komm mir bloß nicht mit irgendwelchen mitleidheischenden Geschichten …« »Halt die Klappe!« »Wie bitte?« »Du hast richtig gehört.« »Moment mal, du hast mir nicht den Mund zu verbieten, ich bin deine Vorgesetzte! Oder hast du das vergessen?« »Ja, muss ich wohl.« Er sah wieder hinaus zu dem Rettungswagen. »Du machst das alles so locker.« Sie verfielen in schläfriges Schweigen. »Man höre sich uns beide an«, sagte Gemma schließlich. »Wie ein altes Ehepaar.« »Aber ohne die Vorzüge.« »Oh mein Gott, entspann dich! Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass du auch noch ausflippst.« »Tut mir leid, es ist nur …« Er seufzte. »Tja … die Wahrheit ist, ich bin einsam.« »Mach dich an Claire heran. Du scheinst dich doch gut mit ihr zu verstehen.« »Wir sind einfach nur Kollegen, die sich gut verstehen, mehr nicht. Claire hat ganz schön zu kämpfen.« »Was du nicht sagst.« »Versteh mich nicht falsch, ich finde sie sexy und hübsch … Aber jedes Mal, wenn ich sie sehe, sehe ich ein verängstigtes kleines Mädchen. Und ich will kein kleines Mädchen … Ich will eine Frau.« Er drehte sich wieder zu ihr um. »Mit der ich die ganze Nacht Sex haben kann, so wild und phantasievoll, wie es nur irgend geht. Die mir ins Ohr knurrt. Die mich zurückbeißt, wenn ich sie beiße. Kurzum, ich will eine Löwin …« Als Gemma ihn diesmal ansah, war ihr Blick beinahe vorwurfsvoll. »Du bist wirklich ein Schwein, das weißt du, Heck, oder? Du hast mich verlassen!« »Glaubst du, daran musst du mich erinnern?« »Ist mir doch egal.« »Ich glaube, du brauchst eine kleine Erinnerung.« Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Voll auf den Mund, und er versuchte, mit seiner Zunge an ihren Lippen vorbeizukommen – doch sie presste die ihren fest zusammen. Schließlich gab er auf und zog sich zurück. »Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte sie kühl. »Verdammt, Gemma …« Sie drehte den Zündschlüssel um, und der Motor sprang an. »Du bist gestresst, Heck. Und ausgelaugt. Du brauchst ein bisschen Schlaf. Das gilt für uns alle.« »Du willst mich zurück. Das weiß ich.« »Selbst wenn es so wäre – würdest du mich denn wollen?« Sie sah ihn aufrichtig an. »Wirklich und ernsthaft? Und nicht nur für guten Sex? Sei jetzt ehrlich. Denn wenn wir uns darauf einließen, würde uns das morgen früh ziemlich zu schaffen machen.« »Na schön. Es ist nur … In Zeiten wie diesen, du weißt schon.« »Oh ja, Heck, ich weiß sehr wohl. Nur dass die Zeiten nicht immer so sind wie diese, nicht wahr? Selbst in unserer Welt ist es nicht jeden Tag so, dass ein bisschen hemmungsloser Sex dich auf andere Gedanken bringt und dich den Scheiß um dich herum vergessen lässt.« »Ich vermisse dich wirklich«, sagte er. Sie legte den Gang ein. »Du siehst mich doch jeden Tag.« »Nein, das tue ich nicht. Ich sehe eine Karikatur von dir. Ich sehe eine Fassade, die du aufgesetzt hast.« »Ja, natürlich … Ich bin ja auch eine Anzugträgerin.« »Das habe ich nie auf dich bezogen.« »Geh ins Bett, Heck. Bevor du noch etwas sagst, was du wirklich bereust.« Er stieg missmutig aus, schloss die Tür hinter sich – und stand in einem Eisregen, der auf ihn niederging. Zumindest mit ihrer Wetterprognose hatte Gemma richtig gelegen. Und wenn er ehrlich war, hatte sie wahrscheinlich auch in der anderen Angelegenheit recht gehabt. Er klopfte an das Beifahrerfenster. Sie ließ es herunter. »Entschuldigung«, brachte er hervor. »Dieses Wort ist ja beinahe ein Fremdwort für dich«, sagte sie. »Weißt du eigentlich, was es bedeutet?« »Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich gesagt habe, dass ich mit dir ins Bett will … sondern dafür, dass ich dich eine Karikatur genannt habe.« »Das war wirklich mal was Neues, muss ich schon sagen. Und jetzt geh nach Hause, Sergeant. Ich sehe dich dann morgen früh.« Sie brauste, eine Abgaswolke hinter sich auspustend, vom Parkplatz und ließ Heck im strömenden Regen stehen. »Super gelaufen«, sagte er zu sich selbst. Doch wenn man den zu Ende gegangenen Tag als Maßstab nahm, war es das vermutlich wirklich. »Soll das heißen, dass der Zwischenfall in Longsight nichts mit den Feiertagsschändungsmorden zu tun hat?«, fragte der erste Reporter. »So ist es«, erwiderte Claire. »Aber es stimmt doch, dass ein Detective der Polizei von Merseyside, der an den Ermittlungen beteiligt ist, verletzt wurde, oder?« »Wie Sie der offiziellen Pressemitteilung sicher entnommen haben, hat sich Detective Constable Andrew Gregson, der normalerweise bei der Kriminalpolizei St Helens arbeitet, im Königlichen Krankenhaus Longsight einer neurochirurgischen Operation unterzogen. Die Operation war erfolgreich, und es gibt bereits vielversprechende Anzeichen, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet.« »Wie hat er sich die Verletzung zugezogen?« »Alle Informationen dazu finden Sie in der Pressemitteilung.« Claire gab sich alle Mühe, nicht ungehalten zu klingen, doch sie hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen. Das Letzte, was sie jetzt – um sieben Uhr morgens – gebrauchen konnte, war eine weitere Konfrontation auf der Eingangstreppe der Polizeiwache. Direkt nach dem Aufstehen hatte sie einen Blick auf den schiefergrauen Himmel und den nieselnden Regen geworfen und gedacht, dass das schlechte Wetter einige Reporter abschrecken würde, doch da hatte sie sich offenbar geirrt. Sie waren alle wieder da, unter Regenschirmen und Anorakkapuzen zusammengerottet wie eine Schar ausgehungerter Aasgeier. »Wenn ich richtig verstanden habe«, meldete sich die Blondine zu Wort, »wurden die beiden Verdächtigen wegen einer Serie schwerer Einbruchdiebstähle in Untersuchungshaft genommen, in der die Greater Manchester Police ermittelt hat. Gibt es zwischen diesen Einbruchdiebstählen und den Feiertagsschändungsmorden definitiv keine Verbindung?« »Soweit wir wissen, nicht«, entgegnete Claire. »Und was hat dann das Dezernat für Serienverbrechen …?« »Verschiedene Polizeiabteilungen unterstützen einander gelegentlich. Das ist nichts Ungewöhnliches.« »Was die Morde anbelangt, sollen Ihre Leute ja auch ermitteln«, meldete sich der gestandene Liverpooler Schreiberling mit dem Toupet zu Wort. »Können Sie sicher sein, dass bisher nicht mehr als sieben Morde verübt wurden?« Claire nickte. »Davon gehen wir aus.« »Aber vor noch nicht allzu langer Zeit sind Sie noch sicher davon ausgegangen, dass es nur drei sind. Zumindest haben Sie uns das so erzählt.« »Sagt Ihnen der Name Tara Greenwood etwas?«, fragte Blondie. »Wie bitte?«, fragte Claire zurück. »Oder Lorna Arkwright? Das sind die Namen zweier Opfer bisher ungelöster Mordfälle aus den Jahren 2009 und 2010. Der eine Mord ereignete sich am ersten April und der andere am Remembrance Sunday, dem Gedenktag zu Ehren der Gefallenen der beiden Weltkriege.« Claire hatte nicht den leisesten Schimmer, wovon die Frau redete. Deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als halbherzig mit den Schultern zu zucken. »Ich bin sicher, wenn Sie in die Geschichte zurückblicken und sich die Fälle ungelöster Verbrechen vornehmen, werden Sie auf eine unerfreulich hohe Anzahl ungeklärter Fälle stoßen, die an speziellen Daten verübt wurden.« »Ja, aber die Frage ist – nehmen Sie sich diese Fälle auch noch mal im Hinblick auf diese speziellen Daten vor?«, fragte jemand anderes. »Die Öffentlichkeit ist äußerst beunruhigt, nicht zuletzt, weil das Ermittlerteam, das diese Wahnsinnigen fassen soll, das Gleiche ist, das im Fall der M1-Mörder entscheidende Hinweise ignoriert und zugelassen hat, dass fünf weitere Menschen getötet wurden.« »Das gleiche Team, das gestern Abend in Manchester die falschen Verdächtigen festgenommen hat«, fügte der Toupetträger hinzu. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, in was für einer Gefahr wir uns alle befinden«, stellte Blondie klar. Das war der Moment, in dem Heck dazwischenging. Er war auf dem Weg zur auf der Rückseite der Wache untergebrachten Einsatzzentrale gewesen, doch der Anblick der drängelnden, schubsenden Journaille, die auf ihr Recht pochte, »ihren Job erledigen zu können«, hatte bei ihm das Fass zum Überlaufen gebracht. »Was die Öffentlichkeit und ihr Recht auf Information angeht«, legte er los, während er sich neben Claire auf die Treppe stellte, »Tara Greenwood wurde am ersten April 2009 in Lincolnshire mit einem Knüppel zu Tode geprügelt …« »Äh, und wer sind Sie, bitte schön?«, fragte Blondie, die das plötzliche Auftreten dieses markant aussehenden, angespannt wirkenden Mannes mit den Abschürfungen und den Prellungen im Gesicht verwirrte. »Detective Sergeant Heckenburg«, erwiderte er. »Vielleicht erinnern Sie sich, dass der Hauptverdächtige im Fall des Mordes an Tara Greenwood ihr Lebensgefährte Johnny Repton war. Er wurde festgenommen und später freigesprochen, nachdem einige Zeugen, die seinem großen Freundeskreis entstammten, ihm mit Aussagen, die in vielen Fällen höchst fragwürdig waren, ein passendes Alibi verschafft hatten. Lorna Arkwright wurde 2010 am Remembrance Sunday in Humberside auf dem Nachhauseweg von einem Nachtklub überfallen, vergewaltigt und stranguliert. Der Hauptverdächtige in diesem Fall war Wayne Hubbard, ein entflohener Häftling, der wegen drei anderer Vergewaltigungen im Gefängnis saß. Hubbard ist bis zum heutigen Tag unser Hauptverdächtiger, denn er wurde nie gefasst. Er wurde von Freunden ins Ausland geschmuggelt, nachdem diese ihm zunächst in seiner Heimat in verschiedenen Häusern Zuflucht gewährt hatten. Wir gehen davon aus, dass er die Vergewaltigung von Lorna Arkwright – die, nur fürs Protokoll, erst dreizehn Jahre alt war – begangen hat, während er sich dort versteckt hielt. So viel also zum Thema Öffentlichkeit und ihr Recht auf Information. Vielleicht sollten Sie lieber fragen, wie viel die Öffentlichkeit bereits weiß?« Er hatte die Journalistenschar dazu gebracht, zu verstummen und ihn perplex anzustarren. »Manchmal ist das mehr, als Sie vielleicht denken. Das ist alles für heute Morgen.« Er drehte sich um und führte Claire zurück in die Wache. Hinter ihnen bestürmte die Medienmeute sie erneut lauthals mit Fragen, doch er schloss die Tür der Wache. »Ich … ich muss ihnen noch ein paar weitere aktuelle Informationen geben«, stammelte Claire. »Egal.« Er führte sie durch den Personaleingang, dann durch die Polizeiwache und durch den Hinterausgang wieder raus auf den Parkplatz, den sie überquerten. »Oh mein Gott«, entfuhr es ihr, als ihr die ganze Tragweite dessen, war er gerade gesagt hatte, bewusst wurde. »Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: »Öffentlichkeit mitschuldig an den Feiertagsschändungsmorden!« »Letzten Endes ist es doch auch so, oder? Wer kreiert denn diese Monster, wenn nicht die Gesellschaft?« »Solche Schlagzeilen kann die Operation Feiertag im Moment aber nicht gebrauchen.« »Es sind nur Schlagzeilen, Claire. Sie haben eine Lebensdauer von einem Tag. Damit können wir leben.« Sie erreichten das Nebengebäude, doch Claire blieb stehen. In ihrem momentanen Zustand wollte sie nicht hineingehen. Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. »Um Himmels willen, Heck! Dich mag das alles ja nicht weiter berühren … aber sie werden wegen dieser ungelösten Mordfälle erneut über mich herfallen, womöglich kommen sie mir auch noch mit anderen. Und ich weiß rein gar nichts über diese Fälle!« »Sprich mit Eric Fisher«, riet er ihr und reichte ihr ein Papiertaschentuch. »Warum mit ihm?« »Claire, wir sind nicht von gestern. Wir haben uns bereits jeden ungelösten Mord der vergangenen fünf Jahre vorgenommen, der an einem besonderen Datum verübt wurde. Keiner von ihnen weist Ähnlichkeiten mit den jetzigen Morden auf. In nahezu allen Fällen gab es naheliegende Tatverdächtige, die so gerade eben am Knast vorbeigeschrammt sind. Rede mit Eric. Er bringt dich auf den neuesten Stand.« »Das hätte ja auch schon früher jemand tun können«, entgegnete sie in noch schärferem Ton. »Da hast du recht.« »Ich bin mir da draußen wie eine totale Vollidiotin vorgekommen …« Ihm lag auf der Zunge, sie darauf hinzuweisen, dass sie dem Ermittlungsteam angehöre und es deshalb an ihr sei, selber ein paar Recherchen anzustellen. Er wusste zwar, dass sie aufgrund ihrer anderen Aufgaben kaum eine Minute übrig hatte, doch es hätte sicher nicht geschadet, wenn sie die Problematik zumindest mal zur Sprache gebracht hätte. Aber Claire war gerade dabei, ihre Feuertaufe zu bestehen, und Heck ahnte bereits, dass sie diese nur mit größter Mühe überstehen würde. Es würde für sie alle schwer werden. Was ihn betraf, so sah er seiner Begegnung mit Gemma heute nicht mit freudigen Gefühlen entgegen – nicht nach der Art, wie sie am Abend zuvor auseinandergegangen waren. Natürlich war Gemma die erste Person, die er sah, als er die Einsatzzentrale betrat. Sie marschierte direkt auf ihn zu, in Begleitung von Mike Garrickson. Beide hatten ihre Mäntel an. »Es gab einen weiteren Mord«, sagte sie, bevor er fragen konnte. Heck blieb abrupt stehen. Angesichts all der Aufregung hatte er total vergessen, dass heute Georgstag war. Er blickte zu Shawna McCluskey, die an einer Seite des Raums an einem Schreibtisch saß. Sie sah regelrecht krank aus. »Wird das reinste Kinderspiel sein, da drinnen was zu finden, oder?«, beschwerte sich Charlie Finnegan von der Rückbank in Hecks VW Golf, als sie auf den Parkplatz vor dem Zoo von Horwich bogen. »Wie viele Besucher tummeln sich hier jeden Tag? Tausend, zweitausend …« »Hör auf, Charlie!«, wies Shawna ihn zurecht. »Wir wissen alle, dass das hier eine einzige Scheißnummer werden wird.« Sie stiegen aus und standen auf dem regennassen Parkplatz. »Jedenfalls gibt es jede Menge Überwachungskameras«, stellte Gary Quinnell fest und ließ seinen Blick an der Begrenzungsmauer des Zoos entlangschweifen, die ungefähr viereinhalb Meter hoch war und etwa alle fünfzig Meter mit einer Überwachungskamera bestückt. »Ich vertraue nicht mehr auf Technologie«, entgegnete Shawna. »Bisher hat sie uns nicht ein einziges Mal weitergeholfen.« Heck sagte nichts. Es war inzwischen kurz vor Mittag, aber die Luft war kalt, und der Himmel hatte sich verdunkelt. Es nieselte immer noch, zuckendes Blaulicht flackerte über den nassen Asphalt. Beamte der Greater Manchester Police standen schweigend in Grüppchen beieinander, auf ihren fluoreszierenden Regenmänteln glitzerten Regentropfen. Ein paar Meter weiter stieg Gemma aus ihrem BMW und schlüpfte in ihren Regenmantel. Garrickson stieg nach ihr aus. Claire saß ebenfalls in Gemmas Wagen, doch sie machte keine Anstalten auszusteigen; vermutlich war sie angewiesen worden, noch zu warten. Sie betrachtete Heck reglos durch die Fensterscheibe. Er versuchte zu lächeln, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht. Wenn er ehrlich war, war sein eigenes Lächeln auch kaum mehr als ein angedeuteter Versuch, eine heitere Miene aufzusetzen. »Bitte achten Sie darauf, in den öffentlich zugänglichen Bereichen zu bleiben«, sagte Gemma und führte sie durch den Haupteingang des Zoos. »Natürlich sind alle Orte zu meiden, die von der Spurensicherung abgesperrt wurden.« »Noch mehr Kameras«, stellte Quinnell fest, als sie zu einem Versammlungsplatz kamen, an dessen einer Seite sich Toiletten befanden und an der anderen Souvenirläden, die alle geschlossen waren. »Was ist mit Wachpersonal?« »In der Nacht hatten zwei Wachmänner Dienst«, erwiderte Garrickson. »Zwei alte Knaben, die ständig auf die Uhr sehen und es kaum erwarten können, in Rente zu gehen. Sie waren diejenigen, die heute Morgen Alarm geschlagen haben.« »Und zur Tatzeit haben sie nichts bemerkt?« »Wohl kaum. Sie waren mit Flunitrazepam kaltgestellt.« Quinnell drehte sich um. »Das ist doch das gleiche Mittel, mit dem auch die Kreuzigungsopfer betäubt wurden.« »So ist es.« »Wie wurden sie betäubt?«, fragte Shawna. »Wie es aussieht, hatte einer der beiden Wachmänner die Angewohnheit, hin und wieder zum Rauchen nach draußen zu gehen … Er benutzte dabei den Notausgang, der nach hinten aus ihrem Büro führt, und ließ diesen offen. Die gleiche Tür führt auch zu der Kochnische, wo die beiden ihre Teeutensilien aufbewahren.« Quinnell sah beeindruckt aus. »Unsere Täter haben ihre Hausaufgaben gemacht.« »Ich glaube, das dürfte noch nicht alles sein«, sagte Heck. »Aber darüber werden wir erst Gewissheit haben, wenn wir das Bildmaterial aus den Überwachungskameras ausgewertet haben. Und feststellen, ob sie sich hier womöglich extrem gut auskennen …« »Worauf willst du hinaus?«, fragte Shawna. »Dass es einer von den Zoo-Angestellten war?« Er zuckte mit den Schultern. »An Orten wie diesen bekommt die Öffentlichkeit nur ein Viertel dessen zu sehen, was hier vor sich geht. Falls die Täter diesen Zoo kennen sollten wie ihre eigene Westentasche, müssen wir das in Erwägung ziehen.« Gemma hatte inzwischen die große Tafel mit dem Plan des Zoos konsultiert, die sich in der Mitte des Versammlungsplatzes befand, und marschierte wortlos weiter. Die anderen folgten ihr. Der Zoo von Horwich, der in den 1930er-Jahren eröffnet worden war und einer der ältesten Englands war, verfügte über eine Besichtigungsfläche von vierzig Hektar, erstreckte sich jedoch insgesamt über ein Gebiet von mehr als einhundertzwanzig Hektar. Der Zoo war ein sehr beliebtes Ausflugsziel und wurde vom Forbes Magazine regelmäßig zu den besten zoologischen Gärten der Welt gezählt. Er war in jener typisch familienfreundlichen Weise angelegt: Asphaltierte, sich häufig verzweigende Wege schlängelten sich durch eine gepflegte, üppige, dschungelähnliche Vegetation, führten über ansteigende Laufstege und durch unterirdische Fußgängertunnel und boten den Besuchern stets den günstigsten Blickwinkel auf die zahlreichen Tiergehege, von denen die meisten – schließlich begann gerade die Sommersaison – belegt waren: Die großen Raubkatzen streiften in ihren Käfigen umher; Giraffen fraßen vom überhängenden Laub der Bäume; Schimpansen saßen regennass zusammengedrängt in Grüppchen auf ihren von Gräben umgebenen Inseln und beobachteten das Geschehen ruhig, als ob sie sich dessen bewusst wären, dass etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Außerdem gab es Picknickbereiche mit Tischen und Stühlen aus Bambus und Kinderspielplätze für die Kleinsten mit Klettergerüsten und Schaukeln. Alles war menschenleer bis auf die gelegentlich anzutreffenden Beamten der Greater Manchester Police in ihren von Kopf bis Fuß reichenden leuchtend grünen, nassen, glänzenden Regenmänteln. Sie nahmen einen gewundenen, mit Bildern von Schlangen und Eidechsen markierten Seitenpfad und erreichten das Reptilienhaus. Mit seinem Dach, gekrönt von Turmspitzen, den mit grünen Terrakottafliesen dekorierten Wänden und den hohen, schmalen, tropische Pflanzen darstellenden Buntglasfenstern sah es von außen aus wie das Imitat eines viktorianischen Gebäudes. Sie hielten nur kurz an und blickten hoch zu der Überwachungskamera an der Südostecke des Gebäudes, deren Linse von einem Aluminiumpfeil durchbohrt worden war. »Wie nah muss man wohl an die Kamera herangegangen sein, um so einen Schuss zu platzieren?«, fragte Shawna. »Ein Normalsterblicher würde es nicht mal von hier schaffen«, entgegnete Quinnell. »Wer das getan hat, ist ein Normalsterblicher«, stellte Garrickson klar. »Jetzt verrennen Sie sich nicht in Übertreibungen!« Niemand widersprach ihm. Die Mörder hatten das Reptilienhaus offenbar durch einen Personaleingang an der Rückseite betreten, dessen Tür sie mit einem Vorschlaghammer eingeschlagen hatten, nachdem sie zuvor die Alarmanlage deaktiviert hatten, indem sie die Außenkabel mit einer Drahtschere durchtrennt hatten. Für Heck war das ein weiteres Indiz dafür, dass die Täter sich an diesem Ort bestens auskannten. Drinnen stellte sich ihnen ein grimmig dreinschauender uniformierter Polizist als Inspector Perkins von der Polizeiwache Bolton Central vor und bot ihnen an, sie auf eine der Zuschauergalerien hinaufzuführen, wo die Eindringlinge nicht gewesen seien. Während sie die Treppe hinaufstiegen, trommelte der Regen auf die Dachziegel und lief draußen in Rinnsalen die Buntglasfenster hinunter, was im trüben Licht des Treppenhauses streifenartige Schatteneffekte erzeugte. Schließlich gelangten sie zu einer Stahlbrüstung, an der bereits mehrere Kameras und starke Halogenstrahler aufgebaut worden waren, und blickten durch ein geneigtes Plexiglasdach in eine Grube, die ungefähr drei Meter tief war und einen Umfang von zehn mal sechs Metern hatte. Die Grube war zu mindestens zwei Dritteln mit grünlichem Wasser gefüllt, an dessen Oberfläche eine rote Schicht trieb. An den Rändern der Grube wucherten üppige tropische Pflanzen. Der eigentliche Bewohner der Grube, ein mehr als sechs Meter langes männliches Krokodil, war in ein umschlossenes Gehege in einem anderen Teil des Gebäudes geschafft worden. Momentan befanden sich zwei Gerichtsmediziner im Wasser, die zusätzlich zu ihren normalen Tyvek-Schutzanzügen auch noch Wathosen trugen, um das untersuchen zu können, was von der letzten Mahlzeit des Krokodils noch übrig war. »Georgstag«, stellte Eric Fisher noch einmal fest. »Das hätten wir kommen sehen müssen.« »Niemand hätte das hier kommen sehen können«, entgegnete Garrickson. Selbst ihn schockierte der Anblick dessen, was er sah. Dass das Opfer mal ein Mensch gewesen war, war unverkennbar, aber nur, weil noch ein Rumpf vorhanden war sowie Überreste der vier Extremitäten, die alle grausam verstümmelt waren. Die Haut war komplett abgerissen, das Fleisch und die Muskeln von den Knochen gezerrt. Die inneren Organe waren ebenfalls herausgerissen und bildeten nur noch eine einzige glänzende, schleimige Masse. Zwar war noch ein Kopf mit dem Hals verbunden, doch er war zu etwas nicht mehr Identifizierbarem zermalmt. Weiße Knochenpartien schimmerten zwischen Fetzen verunstalteten Fleisches und dicken blutverklebten Haarbüscheln hindurch. Das Gesicht existierte nicht mehr. Die aus einem einzigen Strang bestehende Kette, mit der das Opfer gefesselt gewesen war, war noch deutlich zu erkennen, das Vorhängeschloss, mit dem die Enden verbunden worden waren, hing sogar noch an Ort und Stelle, während Fetzen blutgetränkter Kleidung überall verstreut zwischen den tropischen Pflanzen herumlagen. Eine pinkfarbene hochhackige Sandale, in der ein abgetrennter Fuß mit grün lackierten Zehennägeln steckte, lag am Rand der Wassergrube auf einer Schlammbank und offenbarte, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau gehandelt hatte. »Wie es aussieht, hatte Congo keinen Hunger«, sagte Inspector Perkins mit tonloser Stimme. »Ansonsten wäre nichts übrig geblieben.« Garrickson sah ihn von der Seite an. »Congo?« »Das Krokodil, das das hier angerichtet hat.« »Wie meinen Sie das – ›hatte keinen Hunger‹?«, fragte Gemma. Perkins zuckte mit den Schultern. »Die Tiere werden hier ordentlich gefüttert. Deshalb hatte das Krokodil keinen Hunger.« Schließlich war es Heck, der den lähmenden entsetzlichen Gedanken, der sie alle erfasst hatte, laut aussprach. »Sie meinen, es hat nur mit ihr … gespielt.« Perkins nickte und schluckte. Er konnte den Blick nicht von den Überresten des grausigen Gemetzels unter ihnen abwenden. Sein Gesicht war weiß wie Buttermilch. »Es heißt … die ganze Nacht. Als die Wachmänner heute Morgen um sechs Uhr hier reinkamen, war es immer noch dabei.« »Jesus, Maria und Joseph«, brachte Shawna hervor. Eigentlich hatte sie es nicht als Gebet gemeint, doch Gary Quinnell knüpfte an: »Habt Erbarmen mit uns allen … und mit dieser armen Seele, die hier allein und unter solchen Qualen sterben musste.« Keiner von den anderen war gläubig, doch niemand wandte etwas ein. Über Nacht wurde der Zoo von Horwich zum Tatort mit dem größten Aufgebot an Spurensuchern und Ermittlern, das die Geschichte Großbritanniens je gesehen hatte, doch wie Charlie Finnegan gesagt hatte, erwies es sich als ein einziger Albtraum, irgendwelche nützlichen Informationen zusammenzutragen. Trotz der Allgegenwärtigkeit von Kameras auf dem Gelände lieferte die Auswertung des Bildmaterials erstaunlich wenig Brauchbares, was Hecks Vermutung zu bestätigen schien, dass die Täter mit dem Gelände vertraut waren. In einem Bericht mit seinen Beobachtungen hielt er fest: Die Eindringlinge verfügten entweder über einen präzisen Grundriss des Zoos, oder sie waren mit den Abläufen bestens vertraut. Dies ergibt sich aus der höchst effizienten Überwältigung des Wachpersonals – die allem Anschein nach von einem einzelnen Eindringling verübt wurde – und aus der Schnelligkeit, mit der die anderen so zielsicher von der Stelle, an der sie sich Zutritt verschafft haben, zum Reptilienhaus gelangt sind. Die Täter sind über die Mauer an der nordöstlichen Ecke des Zoos eingedrungen (die dort nur knapp zweieinhalb Meter hoch ist und an einen Streifen unbewohntes Brachland angrenzt, der vor Ort als Rotes Moos bekannt ist), von wo aus sie bis zum Reptilienhaus etwa fünfhundert Meter zurücklegen mussten. In beide Richtungen sind sie diesen Weg in absoluter Dunkelheit und ohne Taschenlampe gegangen. Es ist ferner bemerkenswert, dass die Eindringlinge es auf beiden Wegen geschafft haben, sämtliche Stellen zu umgehen, an denen sich die Hauptüberwachungskameras des Zoos befinden. Daraus können wir schließen, dass sie von der Mauer zum Reptilienhaus und zurück nicht die direkte Strecke gewählt haben. Sie sind südlich um das Löwengehege und das Tigergehege herumgegangen, hätten die Strecke jedoch verkürzen können. Ohne diesen Umweg hätten sie jedoch an der Publikumsattraktion »Nachtwald« vorbeigemusst, wo zwei Überwachungskameras aufgestellt sind, eine nach Osten und eine nach Westen ausgerichtet. Sie sind auch um das Nashorn- und das Kamelgehege herumgegangen, anstatt den kürzeren Weg an der Lemureninsel vorbei zu nehmen. In beiden Fällen führte der Weg an einer Kamera vorbei, doch die Kamera an der Lemureninsel, der sie ausgewichen sind, funktioniert, wohingegen die Kamera am Verbindungsweg zwischen Kamelgehege und Nashorngehege, der sie sich ausgesetzt haben, defekt ist. Einen weiteren Hinweis bietet die Kamera, die den südlichen Zugangsbereich zum Reptilienhaus abdeckt. Diese Kamera war ebenfalls funktionsfähig, und den Eindringlingen blieb nichts anderes übrig, als direkt unter ihr herzugehen, um in das Reptilienhaus zu gelangen. Somit weist die Tatsache, dass die Linse der Kamera mit einem gezielten Pfeilschuss zerstört und die Kamera damit funktionsunfähig gemacht wurde, nicht nur darauf hin, dass der Bogenschütze oder die Bogenschützin äußerst erfahren und zielsicher ist (was bereits aus dem im Februar verübten Doppelmord in den West Pennine Moors geschlossen werden konnte), sondern beweist auch, dass die Täter sich der Gefahr, die von dieser speziellen Kamera ausging, absolut bewusst waren und im Voraus geplant haben, wie sie ausgeschaltet werden kann. All dies deutet auf Kenntnisse hinsichtlich der Sicherheitsvorkehrungen des Zoos hin, die weit über das normale Maß hinausgehen. Ich empfehle dringend, sämtliche Mitarbeiter des Zoos von Horwich genau zu überprüfen und einer strengen Befragung zu unterziehen. Trotz allem hatten die Mörder es also nicht ganz vermeiden können, gefilmt zu werden. Die Kamera, die auf dem Dach der großen Voliere installiert war, hatte aus einiger Entfernung aufgenommen, wie sie um zwei Uhr morgens am Nashorngehege vorbeigingen. Sie waren zu fünft oder sechst – die exakte Anzahl ließ sich nicht genau bestimmen –, allesamt in schwarze Kleidung gehüllt, mit schwarzen Kapuzen und Sturmhauben, und sie hatten Rucksäcke aufgeschnallt. Erschütternderweise führten zwei der maskierten Kapuzenträger eine sich wehrende Gestalt zwischen sich, die aussah, als wäre sie in ein Bettlaken eingewickelt worden. Sie waren eindeutig an der nordöstlichen Ecke auf das Gelände eingedrungen, denn auch wenn sie die Leitern, die sie zum Übersteigen der Mauer benutzt hatten, wieder mitgenommen hatten, waren auf der Erde am Fuß der Mauer jede Menge Abdrücke gefunden worden. Außerdem war der oben auf der Mauer angebrachte Stacheldraht an dieser Stelle frisch entfernt worden. Wie bei den anderen Morden schien es eine qualvolle Ewigkeit zu dauern, bis sie wenigstens diese mageren Ergebnisse auf dem Tisch hatten. Die Mitglieder des Teams hatten sich durch stundenlange Aufnahmen gequält, bevor sie fündig geworden waren. Die kriminaltechnische Untersuchung der Wege, die die Mörder genommen hatten, würde sich mindestens noch einen weiteren Tag lang hinziehen und hatte bislang nichts Verwertbares ergeben. In der Zwischenzeit schien die Welt außerhalb der belagerten Zufluchtsstätte, als die sich die Einsatzzentrale in der Wache Manor Hill erwies, aus den Fugen zu geraten. Auf sämtlichen Nachrichtenkanälen herrschte Dauererregung – die Tageszeitungen drehten förmlich durch. Claires Gesicht war ständig im Fernsehen und sah von Mal zu Mal erschöpfter und abgekämpfter aus. Als sie am Morgen nach dem Mord im Zoo die Fotos von der entstellten Leiche gesehen hatte, war sie als Erstes auf die Toilette gewankt und hatte sich übergeben. Fairerweise musste gesagt werden, dass sie nicht die Einzige war, die so regiert hatte. Aufgrund der starken Verstümmelungen, die das bisher noch nicht identifizierte Opfer erlitten hatte, bedurfte es nahezu einer kompletten arbeitsintensiven Woche, bis ein endgültiger Autopsiebericht vorlag. Als Gemma ihn endlich erhielt, versammelte sie alle verfügbaren Mitarbeiter des Teams in der Einsatzzentrale. »Bei dem Opfer handelt es sich um eine weiße, Mitte bis Ende zwanzig Jahre alte Frau«, verkündete sie. »Sie werden erleichtert sein zu erfahren … Sie werden möglicherweise erleichtert sein zu erfahren, dass ihrem Körper die meisten Wunden erst nach Eintritt des Todes zugefügt wurden. Die tatsächliche Todesursache war ein Herzaneurysma. Wer auch immer die Frau war, ihr Herz war bereits geschädigt, vermutlich infolge von Alkohol- und Drogenmissbrauch. In diesem bereits geschwächten Zustand war das Herz nicht in der Lage, den extremen Angststress auszuhalten, den die Frau erlitten hat, als sie heruntergelassen wurde in das …« Für einen kurzen Moment fiel es Gemma schwer, die richtigen Worte zu finden; eine Schrecksekunde lang dachte Heck, sie würde in Tränen ausbrechen. »Als … sie heruntergelassen wurde in das Krokodilbecken. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren, sie ist vor Angst gestorben.« Niemand sagte etwas, während die Ungeheuerlichkeit dieser Tat im Raum hing. Ganz gewiss fühlte sich keiner der Anwesenden in irgendeiner Weise erleichtert. Vielleicht war es ein ganz kleines bisschen besser, schon tot gewesen zu sein, als über mehrere Stunden hinweg bei lebendigem Leib von einem Krokodil systematisch in Stücke gerissen zu werden, doch der bloße Versuch, sich vorzustellen, was für eine blanke Panik diese arme Frau erfasst haben musste, war beinahe unerträglich. Wie angsterfüllt musste jemand sein, damit der Organismus aus Schock den eigenen Tod herbeiführte? Hecks und Claires Blicke trafen sich. Sie befand sich auf der anderen Seite des Raums. Ihr Gesicht war grau, ihre Augen voller Tränen. Gemma legte den Bericht auf den Tisch, sodass ihn jeder selbst lesen konnte. »In jedermanns beruflichem Leben gibt es Dinge, die einem zum ersten Mal unterkommen«, sagte sie in einem irgendwie befremdenden Plauderton. »Aber ich glaube, mir sind noch nie bei einem einzelnen Fall so viele Dinge begegnet, mit denen ich zum ersten Mal zu tun hatte.« »Und wir haben absolut keine Ahnung, wer sie war?«, fragte Shawna McCluskey. »Natürlich führen wir einen Abgleich ihrer DNA mit den gespeicherten Profilen durch«, entgegnete Gemma. »Aber bisher gab es noch keinen Treffer.« »Alkoholikerin?«, meldete Eric Fisher sich zu Wort. »Und Drogenkonsumentin? Dann ist sie bestimmt bei uns aktenkundig.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir nehmen nicht mehr so viele Prostituierte fest wie früher.« »Sind wir denn sicher, dass sie eine Prosituierte war, Ma’am?«, fragte jemand anders. »Was von ihrer Kleidung übrig ist, scheint darauf hinzudeuten.« Fotos der Kleidung des Opfers – Streifen von schwarzen Nylonstrümpfen, zerfetzte Überreste eines schwarzen Netzhemdes und natürlich diese hochhackige rosafarbene Sandale – waren bereits auf der Leinwand hinter Gemma zu sehen. Heck musterte sie aufmerksam. Im Großbritannien dieser Tage war es mitunter schwer, Mädchen auf dem Strich von Mädchen auf einer Zechtour zu unterscheiden – und das galt sowohl für ihr Benehmen als auch für ihre spärliche Bekleidung –, doch diese zerfetzten Kleidungsüberreste hatten etwas Flittchenhaftes und Verlebtes, das darauf hindeutete, dass es sich nicht einfach nur um eine Samstagabend-Ausgehmontur handelte. »In dem Fall sollten wir uns die Vermisstenanzeigen vornehmen«, stellte Heck fest. »Und uns dabei auf Prostituierte und Drogensüchtige konzentrieren.« Gemma nickte matt. Das würde natürlich ewig dauern. Aber ungeachtet dessen war jede Spur eine Spur, und es war ja nicht so, als würden sie nicht auch anderen Hinweisen nachgehen, die sich aus den im Zoo gefundenen Spuren ergaben. Die Kette, mit der das Opfer gefesselt gewesen war, würde akribisch untersucht werden. Poliertes Metall war immer ein gefundenes Fressen für die Jungs von der Kriminaltechnik. Es konservierte auf angenehme Weise Fingerabdrücke, und wenn es mit Scharnieren versehen, aus mehren Stücken zusammengefügt oder gegliedert war wie eine Kette, bestanden gute Aussichten, dass irgendwelche Körperspuren an ihm hafteten: ein abgezwacktes Hautpartikel oder ein eingeklemmtes Haar. Zudem waren Beamte abgestellt worden, um die Aufnahmen aus sämtlichen Geschwindigkeits- und Verkehrsüberwachungskameras der infrage kommenden Gegend zusammenzutragen, es gab also jede Menge auszuwertendes Material. Es war allesamt nützliches Material, doch Gemma hatte nicht erkennen lassen, dass sie zufrieden war, jedenfalls noch nicht. Heck betrachtete ihre Körpersprache. Er hatte sie noch nie so entmutigt gesehen. »Außerdem müssen wir bedenken, dass in zwei Tagen Beltane ist«, fuhr sie fort. »Als Eric seine Liste zusammengestellt hat, hat er darauf hingewiesen, dass dies ein Datum ist, das am ehesten mit … einem Opfer, einer Schändung, oder wie auch immer Sie es nennen wollen, in Verbindung zu bringen ist.« »Können sie denn nach dem letzten Mord wirklich so schnell einen neuen in Szene setzen?«, fragte Charlie Finnegan. Gemma zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir nicht. Wir wissen gar nichts. Aber denken Sie mal nach … der dreißigste April. Beltane, oder Walpurgisnacht, wie die Nacht vor dem Ersten Mai in Teilen Europas genannt wird, ist eines der wichtigsten Feste im Kalender des Okkultismus. Da geht es um Hexen, Druiden, Dämonologie.« »Also ein Tag wie maßgeschneidert dafür, dass etwas Schlimmes passiert«, stellte Gary Quinnell fest. »Genau. Aber da wir weder wissen, wo, noch in welcher Form sich dieses schlimme Ereignis präsentieren wird, können wir nicht viel tun, um uns darauf vorzubereiten.« Gemma zuckte erneut mit den Schultern. »Alles, was ich sagen kann, ist: Seien Sie sich dessen bewusst, dass etwas passieren kann. Halten Sie Augen und Ohren auf. Das war’s dann fürs Erste.« Die Mitarbeiter des Teams machten sich wieder an die Arbeit. Heck betrachtete Gemma noch einen Moment lang. Es bereitete ihm Sorge, wie verloren sie inmitten der allgemeinen Geschäftigkeit wirkte. Doch der Zustand währte nur ein paar Sekunden, dann war sie wieder sie selbst, souverän wie immer – sie hob die Stimme, um Anweisungen zu erteilen, und wies alle und jeden zurecht, weil ihr alles nicht schnell genug ging. Trotzdem gefiel Heck nicht, was er gerade gesehen hatte. Sonst hatte sie immer einen kühlen Kopf bewahrt, war der Fels in der Brandung gewesen, die oberste Organisatorin, und vielleicht wuchs ihr die Last einer Operation, die sich unbeherrschbar in alle Richtungen ausweitete, zum ersten Mal über den Kopf. Zehn Minuten später rief sie ihn in ihr Büro und bat ihn, die Tür hinter sich zu schließen. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und taxierte ihn abschätzend. »Es ist vermutlich ein bisschen spät, um dich das zu fragen, aber ich nehme an, du hast noch nie mit etwas Ähnlichem wie diesen Fällen zu tun gehabt, oder?« Heck schüttelte den Kopf. »Noch nie.« Sie drückte die Fingerknöchel gegen ihre Stirn. »Natürlich ist es eine Mordermittlung wie jede andere. Wir dürfen uns von den makabren Begleitumständen nicht ablenken lassen. Wir müssen den Fall auf die gleiche althergebrachte Weise angehen wie jeden anderen auch.« Doch der Ton, mit dem sie dies sagte, alarmierte ihn, denn er hörte heraus, dass ihr Versuch, ihm die Linie vorzugeben, nicht nur ihm galt, sondern mindestens genauso sehr ihr selbst. Sie sah müde und gestresst aus, und – obwohl er es so niemals sagen würde – verletzlich. »Gemma« und »verletzlich« waren zwei Worte, die einfach nicht in einem Satz zusammen verwendet werden konnten, doch tatsächlich ließ sie eine gewisse Ermattung durchscheinen, als ob sie kurz aus der Rolle fiele und es ihr egal wäre, dass dies jemand mitbekam. Oder dass er es mitbekam. Er fragte sich, in welcher Eigenschaft er zu ihr gebeten worden war: als ihr Untergebener, als Kollege, als Freund … oder war da noch etwas anderes? »Also müssen wir uns konzentrieren, Heck. Insbesondere du. Nicht, dass du das bisher nicht getan hättest …« Sie bedachte ihn mit einem Blick, der beinahe einem Flehen gleichkam. »Aber ich brauche meine besten Leute in absoluter Topform … Andernfalls befürchte ich, dass diese Dreckskerle über uns triumphieren.« »Das werden sie nicht«, entgegnete er. »Das garantiere ich dir.« »Sie werden über uns triumphiert haben, wenn sie noch ein weiteres Mal zuschlagen. Ganz zu schweigen davon, wenn sie noch hundertmal zuschlagen, und im Moment sieht es ganz danach aus, als würden sie einen Rekord aufstellen wollen.« »Wir werden sie kriegen.« Sie stand auf und zog sich den Blazer ihres Kostüms an. »Dann behalt das im Kopf. Wir fahren ins Strangeways Prison.« »Ins Strangeways Prison?« »In den Untersuchungshafttrakt. Offenbar hat Cameron Boyd Lust auf ein Schwätzchen. Keine Sorge … Ich bitte dich nicht darum mitzukommen, damit du mir die Hand hältst. Er hat ausdrücklich nach uns beiden verlangt.« Als sie aus ihrem Büro in die Einsatzzentrale traten, war es dort beengter, voller und lauter denn je. Trotz der zusätzlichen Ausgaben, die damit verbunden waren, hatte Kommando Gold Gemmas Antrag auf personelle Verstärkung nicht abweisen können. Dies bedeutete, dass weitere Schreibtische in die winzigen noch verfügbaren Lücken in der Einsatzzentrale hatten gequetscht werden müssen und weitere Computer und Telefone angeschlossen worden waren, was alles zu dem allgemeinen Lärm beitrug. Mitten in diesem Trubel traf Heck auf Claire, die wie angewurzelt vor einer Schautafel stand, auf der Fotos von dem Tatort im Zoo zusammengetragen waren. Ausnahmsweise war sie weder geschminkt, noch hatte sie ihr Haar zurechtgemacht. Ihre Wangen waren aschfahl. Selbst ihre pfefferminzgrünen Augen hatten an Glanz verloren. »Du siehst furchtbar aus«, stellte er erschrocken fest. Sie wies mit einem Nicken auf die Fotos vor ihr. »Es könnte mir schlechter gehen.« »Warum gehst du nicht raus und schnappst ein bisschen frische Luft?« »Genau. Um mich wieder von der Medienmeute zerfleischen zu lassen.« »Claire …« »Es gibt da doch so einen Ausdruck, oder? Die Banalität des Bösen.« Ihre Stimme klang beinahe weinerlich, doch sie verharrte gebannt vor den Tatortfotos und fixierte das groteske Bildermosaik, als versuchte sie, in ihm irgendeinen Sinn zu entdecken. »Es heißt doch, dass die abscheulichsten Verbrechen oft von unscheinbaren Menschen begangen werden, die ansonsten nicht viel zu melden haben. Aber die Menschen, die dies getan haben, haben etwas zu melden, was meinst du, Heck? Daran ist nichts Banales!« »Claire, jetzt hör mir mal zu …« Sie schüttelte den Kopf. »Dies übersteigt meine schlimmsten Vorstellungen. Ich bin nicht naiv und wusste, dass ich blutige, an die Nieren gehende Dinge sehen würde. Ich war deshalb nervös, dachte aber, dass ich damit klarkommen würde. Wenn ich allerdings ganz ehrlich bin … ich weiß nicht, ob ich es wirklich kann. Ich glaube nicht, dass ich dem hier gewachsen bin.« Heck ließ seinen Blick zur Tür wandern. Gemma war bereits rausgegangen zum Auto. »Claire, das macht uns allen zu schaffen, diese …« »Nein, Mark. Dir macht es nicht zu schaffen. Dir nicht.« Ihre Feststellung hatte beinahe etwas Anklagendes. »Du bist bei dieser Sache voll und ganz in deinem Element. Du magst vielleicht sagen, dass du das Ganze hasst, und das tust du wahrscheinlich sogar. Aber es ist genau das, worin du gut bist. Genau das, wofür du lebst. Einige Leute wären davon sicher beeindruckt, aber ich … ich kann es nicht einmal nachvollziehen.« Sie wandte sich ab und ging zurück in ihr eigenes Büro, in dem das Telefon wieder einmal ohne Unterlass bimmelte. »Wir reden später«, rief er hinter ihr her. Draußen bot Heck an, den Wagen zu fahren, und Gemma willigte ein, was nur äußerst selten vorkam. Doch als sie auf der Straße waren, schien sie sich wieder zu fassen, warf einen Blick in ihren Schminkspiegel und zuckte angesichts dessen, was sie dort sah, zusammen. Sie nahm eine Bürste aus ihrer Handtasche, kämmte ihre unbändigen aschblonden Locken und trug etwas frischen Lippenstift und Eyeliner auf. Gemma war nicht der Typ Frau, der übermäßig Wert aufs Aussehen legte, aber sie wusste, dass sie attraktiv war, und wusste auch diese Karte auszuspielen – alles, was ihr zum Vorteil gereichte und ihr mehr Stärke verlieh, war ihr willkommen. »Gute Idee«, stellte Heck fest. »Was?« »Dich herzurichten. Deine Leute werden das zu schätzen wissen.« »Klar, weil man ihnen nicht zumuten kann, Befehle von einer Tussi entgegenzunehmen, die nicht scharf ist.« »Du weißt, was ich meine. Wenn sie sehen, dass du einknickst, werden auch sie den Biss verlieren.« »Ich weiß.« Sie klappte ihren Schminkspiegel zu. »Aber … Mein Gott, Heck, mir graut davor, was in zwei Tagen passieren mag. Ich meine … Beltane. Das war für mich bisher völlig bedeutungslos. Ein Wort, das ich nur aus Teufelsanbeter-Filmen kannte. Und jetzt?« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn es so einfach wäre, müssten wir nur die nächste nicht mehr für religiöse Zwecke genutzte Kirche überwachen«, entgegnete er. »Erzähl mir noch mal von deiner Theorie … der zufolge irgendein abgedrehter Intellektueller hinter diesen Morden steckt.« »Nun ja«, begann er, »da ist irgendein gebildeter Geist am Werk, auch wenn er ziemlich durchgeknallt ist. Aber ich würde mir selbst etwas vormachen, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Dinge so aus dem Ruder gelaufen sind, dass ich überhaupt nicht mehr sicher bin, was da abläuft. Irgendjemand legt es entweder darauf an, diese uralten Festtage zu verhöhnen oder sie in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen … und sich gleichzeitig an einer Welt zu rächen, die ihm nicht die gebührende Wertschätzung entgegenbringt. Das ist normalerweise das Motiv dieser ichbesessenen Psychopathen.« Gemma überdachte seine Worte. »Es herrscht allgemein die Meinung vor, dass Unwissenheit und Benachteiligung Hass hervorbringen. Wer es geschafft hat, durch Bildung die Karriereleiter hochzuklettern, hat nur selten Bedürfnisse, die er außerhalb des Systems, in dem er sich bewegt, durch Gewalt ausleben muss.« »Es gibt immer Ausnahmen«, entgegnete Heck. »Guck dir Harold Shipman an. Was auch immer hier im Gange ist – da spielt jemand ein aufwendiges, durchdachtes Spiel und genießt in tiefen Zügen das Leid, das er damit verursacht. Aber wie auch immer, wir haben es jedenfalls nicht mit gewöhnlicher Kriminalität zu tun. Dafür ist das Ganze zu kunstvoll aufgezogen.« »Tja … eine makabre Zirkusvorstellung.« Er nickte. »Und rate mal, wer dabei die verdammten Clowns sind.« Cameron Boyd kam mit der Attitüde eines Mannes, der wusste, dass er am längeren Hebel saß, in den Besucherraum des Gefängnisses geschlendert. Die Stahltür fiel ins Schloss, und er ließ sich Gemma und Heck gegenüber an dem Tisch auf den Stuhl plumpsen. »Super, Sie wiederzusehen.« Er stellte seinen orangefarbenen Overall zur Schau. »Wie gefällt Ihnen meine neue Kluft?« »Steht Ihnen gut«, erwiderte Heck. »Ist nicht besonders stylish.« »Sie werden sich dran gewöhnen.« Boyd grinste und zeigte seine braunen Zähne. »Da bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht so sicher.« »Schenken Sie sich diesen Stuss, Boyd«, sagte Gemma. »Sie haben uns aus einer wichtigen Ermittlung gerissen, also verschwenden Sie nicht mehr von unserer Zeit als unbedingt nötig.« Boyd betrachtete sie, als wäre er belustigt. »Sie kommen gerne schnell zur Sache, was, Miss Piper? Ich dachte, Sie hätten nach dem letzten Mal – als Sie den Falschen geschnappt haben – gelernt, etwas vorsichtiger zu sein.« »Soll ich Ihnen was sagen, Cameron«, entgegnete Gemma, »Ihr cleveres Gehabe wäre überzeugender, wenn Ihnen nicht ein langer Aufenthalt im Gefängnis bevorstünde.« »Witzig, dass Sie das erwähnen. Genau darüber wollte ich nämlich mit Ihnen beiden reden.« Er beugte sich vor, immer noch grinsend. »Sie glauben, Sie hätten mich für eine ganze Zeit aus dem Verkehr gezogen, richtig? Nur bin ich dummerweise nicht derjenige, den Sie eigentlich haben wollen.« »So ist es«, bestätigte Heck. »Sie haben nur als Ablenkungsmanöver gedient, mehr nicht.« »Wenn das so ist, können Sie ja ein gutes Wort für mich einlegen.« »Wie bitte?«, fragte Gemma. Boyd grinste immer noch. »Bei unserem letzten Gespräch haben Sie mich gefragt, ob ich mich daran erinnere, wann mir jemand ein Büschel Haare ausgerissen haben könnte. Tja, stellen Sie sich vor … es ist mir eingefallen.« »Wer?« »Ne, ne, so nicht.« Er drohte mit dem Finger. »Im Leben ist nichts umsonst. Na gut, abgesehen von dem Essen hier drinnen vielleicht. Es ist ein einziger Scheißfraß, aber es schmeckt immer besser, wenn der Steuerzahler die Rechnung berappt. Wie auch immer … ich kann Ihnen genau sagen, wer mir die Haare ausgerissen hat und wann es passiert ist. Aber Sie werden mir einen Gefallen tun müssen.« »Reden Sie weiter«, forderte Gemma ihn auf. »Wie Sie ja wissen, werden Terry Mullany und ich wegen dreifachen schweren Einbruchdiebstahls vor Gericht stehen. Wir haben nicht die Spur einer Chance. Wir kriegen jeder locker fünfzehn Jahre aufgebrummt.« »Das wäre aber jammerschade«, entgegnete Heck und lachte in sich hinein. »Für Sie auch, Sie Wichser!«, fuhr Boyd ihn an. »Immer schön freundlich bleiben, Cameron«, warnte Gemma ihn. »Sonst gehen wir, und Sie können jeden Deal vergessen.« »Ich will, dass die Anklage herabgesetzt wird. Drehen Sie es so, dass ich wegen stinknormalen Einbruchs angeklagt werde, nehmen Sie das Wörtchen ›schwer‹ heraus – und ich erzähle Ihnen, was Sie wissen wollen.« »Sie machen wohl Witze.« »Sehe ich so aus?« »Sie haben Menschen in ihrem eigenen Zuhause gefesselt«, stellte Gemma fest. »Sie haben ihnen angespitzte Objekte an ihre Kehlen und Augäpfel gehalten.« »Sie werden darüber hinwegkommen. Was wollen Sie, ich wandere doch in jedem Fall in den Knast … der einzige Unterschied ist, dass es dann höchstens auf drei oder vier Jahre hinauslaufen wird.« »Sie wollen der Justiz ein Schnippchen schlagen«, stellte Heck fest. Boyd lehnte sich zurück. »Das ist der Preis für meine Information.« »Er ist zu hoch«, stellte Gemma klar. »Ich kenne die Akten über diese Einbrüche, die Sie und Terry Mullany begangen haben. Ich habe auch mit den Detectives aus Manchester gesprochen, die in diesen Fällen ermittelt haben. Es waren mit die schlimmsten Einbruchdiebstähle, die mir je untergekommen sind. Für meine Begriffe wären selbst fünfzehn Jahre zu kurz. Mullany und Sie sollten lebenslang hinter Gittern schmoren.« »In dem Fall ist das Gespräch hiermit beendet.« Boyd stand auf. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht erst mal darüber nachdenken wollen?« »Darüber gibt es nichts nachzudenken«, stellte sie entschieden klar. Er grinste wieder und hämmerte gegen die Tür. »Ihr Pech.« Draußen hatte es aufgehört zu regnen, aber es war immer noch bewölkt und kalt. Gemma stieg nicht sofort in Hecks Golf ein, sondern blieb draußen stehen und grübelte. Sie blickte zurück auf den seelenlosen Backsteinklotz, der das Strangeways Prison beherbergte. »Boyd ist ein Riesenschwätzer, das ist dir klar, oder?«, sagte Heck. »Tja … jedenfalls werden wir es jetzt wohl nie erfahren.« »Hast du in Erwägung gezogen, dich auf den Deal einzulassen?« »Das ist nicht dein Ernst, oder?« »Dass er als stinknormaler Einbrecher vor Gericht stünde, hieße ja nicht, dass der Richter sich nicht mit den Fakten vertraut machen würde. Er würde ein knallhartes Urteil fällen.« »Trotzdem käme Boyd viel zu billig davon.« »Das stimmt, aber für mich ist die Sache klar.« Heck lockerte seine Krawatte. »Wer auch immer sich Boyds DNA verschafft hat, ist die Verbindung zum Feiertagsschänder. Diese Verbindung könnte uns direkt zu ihm führen.« Gemma schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht mal, dass ich es überhaupt hinkriegen würde, die Anklage abzumildern, selbst wenn ich wollte. Ich habe da drinnen gerade nicht übertrieben – diese Einbrüche waren schwerste Straftaten. Die Greater Manchester Police würde uns die Hölle heißmachen, wenn wir es versuchten. Und mit Recht. Tut mir leid, Heck, aber in unserem Job muss es so was wie Prinzipien geben. Boyd und Mullany müssen so lange wie möglich aus dem Verkehr gezogen werden. Und ich werde den Teufel tun, das zu verhindern, egal, was dabei für mich herausspringen würde.« »Selbst wenn dadurch Leben gerettet werden könnten?« Sie starrte ihn entgeistert an, doch bevor sie antworten konnte, piepte ihr Handy. Ihr Gesicht wurde noch länger, als sie auf dem Display die Nummer des Anrufers sah. »Guten Tag, Sir«, meldete sie sich. Heck wartete geduldig, während Gemma immer wieder nickte und hin und wieder ein oder zwei Worte einfließen ließ: »Ja, Sir … selbstverständlich … morgen, in Ordnung.« »Dann also morgen?«, fragte Heck, als sie das Gespräch beendet hatte. »Am frühen Nachmittag … in Joe Wullertons Büro.« »Hast du nicht später in dieser Woche auch noch einen Auftritt im Old Bailey?« »So ist es. Cooper gegen Regina. Joe sagt, ich soll schon einen Tag früher runterkommen und auf diese Weise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.« Gemma bedachte Heck mit einem matten Lächeln. »War schön, dich kennengelernt zu haben.« »Er wird nur einen Bericht über den Stand der Ermittlungen haben wollen.« »Und begeistert sein, was ich ihm zu bieten habe?« »Wirst du Boyds Angebot erwähnen?« »Einen Teufel werde ich tun! Ich kenne die Antwort doch im Voraus: ›Frau Piper, Sie sind eine hochrangige, äußerst vertrauenswürdige Polizeibeamtin. Sie sollen Verbrecher jagen, nicht welche bestechen. Und wenn Sie das nicht hinbekommen, erledigt eben jemand anderes den Job.‹« »Es kann nicht schaden, ihn über Boyds Angebot in Kenntnis zu setzen. Würde dir zumindest die Last der Verantwortung nehmen.« Sie starrte ihn erneut konsterniert an. »Sehe ich so aus, als müsste mir eine Last genommen werden?« »Willst du die Wahrheit hören?« »Steig einfach ein.« Sie fuhren die vierzig Kilometer nach Merseyside nahezu wortlos zurück und kommentierten nicht einmal den dichten Feierabendverkehr. Auf halber Strecke fing es wieder an zu regnen, graue Schauer fegten über die trostlose postindustrielle Landschaft. Gemma sagte immer noch nichts, sie saß nur da und starrte an den hin und her flappenden Scheibenwischern vorbei aus dem Fenster. Sie bogen auf den Parkplatz ihres Motels und betrachteten das unscheinbare Gebäude. Es wirkte gesichtslos und allein auf seine Funktion als Übernachtungsmöglichkeit beschränkt. »Wir müssen noch nicht reingehen«, sagte Heck. »Wir könnten uns noch irgendwo einen Drink genehmigen. Um ein bisschen abzuschalten. Könnte sicher nicht schaden … wir sind beide ausgelaugt.« »Nein.« Sie bedachte ihn von der Seite mit einem abschätzenden Blick. »Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre. Denn wenn wir noch zusammen was trinken gehen, könnte es bei meinem derzeitigen Gefühlszustand durchaus passieren … dass ich diesmal diejenige bin, die dich ins Bett zerren will. Und wie ich bereits sagte, wäre das für keinen von uns beiden gut.« Sie stieg aus und schlug die Tür zu. »Das meinst du vielleicht«, murmelte Heck leise. »Heck!«, brüllte Garrickson durch die Einsatzzentrale. Der Detective Chief Inspector saß auf Gemmas Platz, doch er sah nicht so aus, als ob er sich dort besonders wohlfühlte – im Gegenteil, er wirkte eher gestresst. Seine Krawatte hing lose, was für ihn untypisch war, sein Jackett hatte er in eine Ecke geworfen. Seine Aufmerksamkeit wanderte ständig zwischen den auf seinem Schreibtisch verstreuten Unterlagen und dem Bildschirm seines geöffneten Laptops hin und her. »Was haben Sie heute auf dem Programm?«, fragte er, ohne aufzublicken. »Wir nehmen uns sämtliche Mitarbeiter des Zoos vor«, erwiderte Heck. »Außerdem dachte ich, es könnte hilfreich sein, auch eine Liste ehemaliger Zooangestellter zu erstellen. Alle zu erfassen, die dort gearbeitet haben und vor Kurzem gegangen sind.« »Gute Idee. Schreiben Sie es auf, und beauftragen Sie jemand anderen damit. Ich habe gerade einen Anruf von Detective Inspector Kane aus unserer Zentrale in Leeds erhalten.« »Aha?« Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Er hat eine weitere Leiche für uns.« »Oh mein Gott …!« »Ich persönlich bin mir allerdings noch nicht so sicher, ob das wirklich was mit unserem Fall zu tun hat.« Garrickson drehte seinen Laptop um. Heck sah hinab auf das grobkörnige Bildmaterial eines weiteren Tatortes, diesmal prangte in der oberen rechten Ecke das Logo der Polizei von West Yorkshire. Die Qualität war so schlecht, dass er zunächst kaum etwas erkennen konnte. Erschwert wurde dies durch den grellen Schein von Lichtern, zudem tropfte Wasser von irgendeiner Art Gerüst, das sich über dem fotografierten Objekt befand. Nach allem, was Heck erkannte, lag eine zerlumpte Gestalt in Embryonalstellung zusammengekauert inmitten eines Haufens zerknüllter, vom Regen durchweichter Pappe. Der Kopf der Gestalt war kaum mehr als solcher zu erkennen und sah aus wie ein durchweichter, platt gedrückter Schuhkarton. Das Blut, das die Pappe durchtränkt hatte, war inzwischen schwarz. »Das Foto wurde vor etwa zwei Stunden in Manningham, Bradford, aufgenommen«, erklärte Garrickson. »Irgendeinem Penner wurde mit einem Stein der Schädel eingeschlagen.« »Klingt nicht so, als hätte das was mit unserem Fall zu tun«, entgegnete Heck. »Dachte ich auch. Aber die Polizei vor Ort hat Kane informiert, dass es sich bei dem Fundort der Leiche vermutlich um den Ort handelt, von dem aus die Unbekannte aus dem Krokodilbecken entführt wurde. Offenbar ähnelt die Kleidung, deren Fotos wir in Umlauf gebracht haben, in auffälliger Weise derjenigen einer …«, er warf einen Blick auf ein Notizbuch, »gewissen dort ansässigen Prostituierten namens Chantelle Richards. Sie ist seit gut einem Monat nicht mehr an ihrem Stammplatz aufgetaucht und zusammen mit einer Kollegin namens Gracie Allen verschwunden.« »Und das hier ist ihr Stammplatz?« »Scheint so. Ich halte es für möglich, dass dieser arme Teufel zufällig gesehen hat, wer die beiden Frauen entführt hat, und ihm deshalb der Schädel eingeschlagen wurde.« Heck nickte. Das sollten sie sich definitiv näher ansehen. »Gut, dass Ben Kane vor Ort ist.« Garrickson schaltete seinen Computer aus. »Ben Kane hat die Sache für uns übernommen. Ich habe die Röntgenaufnahmen von dem Gebiss des Mädchens aus dem Krokodilbecken eingescannt und ihm geschickt. Er hat sie in einer Klinik vorgelegt, in der Chantelle Richards ihre regelmäßigen Gesundheitschecks hat durchführen lassen. Aber Kane leitet vor Ort schon die Ermittlungen im Fall des Weihnachtsmannmordes. Er kann also unmöglich alles alleine schaffen.« Heck wusste schon, was als Nächstes kam. »Ich nehme an, Sie wollen, dass ich hinfahre?« Garrickson lehnte sich zurück. »Warum nicht? Sie sind doch unser Mann mit den umfassenden Befugnissen – jedenfalls erzählen mir das alle immerzu.« Er raffte die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen – Heck sah, dass es sich um Faxseiten handelte – und schob sie ihm ungeordnet hin. »Hier steht alles, was Sie wissen müssen. Und jetzt hopp, hopp, Sergeant! Wir haben ein paar Killer zu schnappen!« Obwohl es bis Bradford rein entfernungsmäßig nicht weit war – etwa achtzig Kilometer, und die Autobahn M62, die in einer Berg-und-Talfahrt die hoch gelegenen Pennine Moors überquerte, führte direkt dorthin –, kam Heck wegen des dichten Verkehrs nur schleppend voran, und es wurde noch schlimmer. Als Heck im Schneckentempo das Autobahnkreuz Rockingstone Moss passierte, brach ein Gewitter los. Wolken, die so regenschwanger waren, dass sie leuchtend grünviolett gefärbt waren, öffneten inmitten zuckender Blitze ihre Schleusen, und dann ging ein gewaltiger Platzregen nieder, trommelte auf Autodächer und prasselte auf Windschutzscheiben. Das Hochmoorgras wurde von dem Regenbombardement platt auf den Boden gedrückt, nach kurzer Zeit stand das Wasser auf der Straße mehrere Zentimeter hoch. Heck erreichte die zweitgrößte Stadt von West Yorkshire schließlich am frühen Nachmittag, etliche Stunden später als gedacht. Es schüttete immer noch, völlig durchnässte Fußgänger eilten über Straßen, auf denen der Verkehr zum Erliegen gekommen war, und suchten Schutz unter Regenschirmen oder Aktentaschen. Wenigstens trotzte Hecks Navi den Elementen und führte ihn schließlich zu den angegebenen Koordinaten, einem heruntergekommenen Gebiet mit unbebauten Parzellen und abbruchreifen Gebäuden. Doch in den engen Seitenstraßen parkten bereits derart viele Streifenwagen und Zivilfahrzeuge der örtlichen uniformierten Polizei und der Kripo, dass er mehr als einen halben Kilometer entfernt parken musste. Er zog sich seinen Anorak an, setzte die Kapuze auf und ging eine Gasse entlang, die zu beiden Seiten von vernagelten Reihenhäusern gesäumt war. Nicht weit vor ihm zuckten Blaulichter unter einer verfallenen Eisenbahnüberführung. Detective Inspector Ben Kanes übliche »Hörsaal«-Kleidung war komplett unter Ölzeug verborgen. Er wartete an der äußeren Absperrung des Tatorts auf einer kopfsteingepflasterten Seitenstraße, die zwischen einer verfallenen Fabrik und der Überführung lag. Das weitläufige Gelände dahinter war ein einziger Wald aus durchnässtem Schrott: entsorgte Kühlschränke, Autowracks, kaputte Möbel und verrottete, schimmelzerfressene Matratzen. »Wo sind denn die anderen?«, frage Kane, als er sah, dass Heck allein war. »Welche anderen?«, fragte Heck zurück und spähte über die Absperrung. Dank der großen Bogenlampen, die die Polizei von West Yorkshire unter der Brücke angebracht hatte, war der reglose Körper des Obdachlosen sogar über die Entfernung von gut dreißig Metern hinweg zu sehen. »Du machst wohl Witze, oder?«, entgegnete Kane. Er zeigte auf diverse Männer und Frauen, vermutlich Beamte der Polizei von West Yorkshire, von denen einige Schutzanzüge trugen, andere Regenkappen und -mäntel. Sie standen wachsam und schweigend da und hatten unter jedem Vorsprung, den es gab, Schutz vor dem Regen gesucht. »Die halten uns alle jetzt schon für einen Haufen Vollidioten.« »Aber die Zeitungen haben sie auch gelesen, oder?«, fragte Heck. »Das dürfte wohl kaum erforderlich sein. Sie warten darauf zu erfahren, ob wir den Fall nun übernehmen oder nicht, damit sie endlich mit der Untersuchung des Tatortes beginnen können. Ich glaube kaum, dass sie davon ausgegangen sind, den ganzen Tag ausharren zu müssen.« Heck deutete mit einem Nicken auf die Leiche. »Der da hat doch keine Eile, oder?« »Sehr witzig. Die Sache ist die, dass wir nach fünf Stunden immer noch nicht verkünden können, ob wir den Fall übernehmen oder West Yorkshire. Und wenn ich Verstärkung anfordere, schickt man mir einen einzigen Mann.« »Wir haben noch ein paar weitere Opfer, um die wir uns kümmern müssen«, erinnerte Heck ihn. »Todeszeitpunkt?« »Dem Arzt zufolge vor etwa zwanzig Tagen.« »Die gleiche Nacht, in der diese Chantelle Richards verschwunden ist?« »In etwa.« »Haben die Röntgenaufnahmen schon was ergeben?« »Noch nicht. Die Klinik, der ich die Aufnahmen geschickt habe, ist so eine Art Tagesklinik, in der man sich nicht anmelden muss. Dort lassen sich jede Menge Obdachlose behandeln. Da geht es an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr zu wie in einem Taubenschlag.« »Tja, wir können schlecht verlangen, dass die lebenden Patienten warten müssen, damit sich erst mal jemand um die toten kümmert.« Heck sah sich um. »Mir ist schon klar, dass die arme Sau das Arschloch von Bradford war, aber es hätte trotzdem nicht drei Wochen dauern dürfen, bis dieser arme Teufel gefunden wurde.« »Er lag ja in diesem Karton«, entgegnete Kane. »Hätte da locker noch viel länger vor sich hinfaulen können, aber die Kollegen aus West Yorkshire haben hier mal nach dem Rechten gesehen, als zwei Prostituierte, die vor Ort anschaffen, einen Flyer der Crimestoppers wegen des Mädchens in dem Krokodilbecken in die Hände bekommen haben und glaubten, die Kleidung wiederzuerkennen. Ihnen wurde bewusst, dass sie ihre beiden Kolleginnen, Chantelle Richards und Gracie Allen, schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatten, und meldeten dies der Polizei.« Er reichte Heck zwei in Plastikhüllen steckende Dokumente. »Das sind ihre Zeugenaussagen. Offenbar war das hier der Stammplatz von Chantelle Richards und Gracie Allen, deshalb haben sich die Kollegen aus West Yorkshire mal ein bisschen umgesehen, und siehe da …« Heck ließ seinen Blick über das Ödland unter der Eisenbahnbrücke schweifen. »Was ist mit den anderen Pennern? Hat von denen keiner was gesehen – immerhin wurden zwei Nutten entführt und diesem armen Schwein der Schädel eingeschlagen?« »Mensch, Heck! Ich hab doch selber erst vor ein paar Stunden von dieser Sache erfahren, und eigentlich soll ich unsere Einsatzzentrale in Leeds leiten. Ich habe weder die Zeit noch die Leute, um die Straßen nach Obdachlosen abzugrasen, die vielleicht etwas wissen könnten. Genau deshalb habe ich ja gehofft, dass die gnädige Frau vielleicht ein Team herschicken würde.« »Hat eine der vermissten Frauen Familienangehörige?« Kane konsultierte erneut seine Notizen. »Chantelle Richards ja. Sie hat zwei Kinder, die aber nicht bei ihr leben. Sie befinden sich offiziell in der Obhut ihrer Mutter.« »Hat man ihnen schon die Fotos von der Kleidung gezeigt?« »Keine Ahnung.« »Wissen sie überhaupt, dass sie als vermisst gemeldet wurde?« »Natürlich. Na ja, jedenfalls die Mutter. Sie macht sich bestimmt furchtbare Sorgen.« »Puh, meinst du …« »Ich weiß, worauf du hinauswillst.« Kane senkte die Stimme und flüsterte in barschem Ton: »Du meinst, es sollte ihr jemand einen Besuch abstatten. Aber eins sage ich dir: Falls du glauben solltest, dass ich derjenige bin, der einer liebenswürdigen alten Oma und zwei süßen Knirpsen erzählt, dass ihre geliebte Tochter beziehungsweise Mama möglicherweise – möglicherweise, Heck! – von einem verdammten Krokodil in Stücke gerissen wurde, dann vergiss es!« Heck konnte ihm das kaum verübeln. Es war eine Aufgabe, die kein Polizeibeamter gerne freiwillig übernahm. »Wie wär’s mit einem Familienkontaktbeamten?« »So was haben wir hier nicht. Das einzige Opfer, das wir hier bisher hatten, ist Ernest Shapiro, und der hatte keine Familienangehörigen.« »Können die Kollegen aus West Yorkshire uns da nicht aushelfen?« »Ich kann ja mal fragen.« »Das hast du noch nicht getan?« »Komm bloß nicht auf die Idee, dich zum Richter über mich aufzuschwingen, Heck! Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Außerdem müssen wir sowieso erst mal auf die Antwort aus der Tagesklinik warten. Wenn wir Glück haben, ist es gar nicht Chantelle Richards. Dann können wir diesen ganzen Scheiß an die Kollegen von West Yorkshire zurückgeben und uns wieder auf unseren eigentlichen Fall konzentrieren.« »Egal ob sich herausstellt, dass Chantelle Richards das Mädel aus dem Krokodilbecken ist oder nicht – allein die Tatsache, dass sie es sein könnte, ist schon ein Fortschritt. Wir können doch nicht davon absehen, die Familie zu informieren, bloß weil wir den Schwarzen Peter lieber jemand anders zuschieben würden.« Kane steckte die Hände in die Taschen seines Anoraks. »Wenn das so ist, Detective Sergeant Heckenburg …«, sagte er mit düsterer Miene, »… du bist der Mann aus der zentralen Einsatzleitung.« Heck entschied sich, nicht auf die Antwort aus der Tagesklinik zu warten, und zwar zum einen, weil die Familie ein Recht darauf hatte, auf den neuesten Stand gebracht zu werden, und zum anderen, weil noch etwas an ihm nagte. Über den Hochhäusern der Stadt und über den alten Dächern der Fabriken krachten immer noch Donner an einem vorzeitig verdunkelten Himmel. Es goss in Strömen, als er versuchte, seinen Wagen durch den chaotischen Spätnachmittagsverkehr zu manövrieren, und seine Scheinwerfer ihre Strahlen durch den Platzregen warfen. »Garrickson«, meldete sich die Stimme am anderen Ende der Verbindung. »Ich bin’s«, rief Heck in sein Handy und versuchte, den Anweisungen seines Navis zu folgen, das ihn zu einem Ort namens Great Horton führen sollte. »Was gibt’s?«, fragte Garrickson. Heck warf einen Blick auf die Zeugenaussagen. »Die Kleidung der Frau aus dem Krokodilbecken wurde identifiziert. Von zwei Prostituiertenkolleginnen des vermissten Mädels. Na schön, schwarze Strümpfe, ein Jeansrock und pinkfarbene Stöckelsandalen … jedes Teil für sich genommen gibt es diese Klamotten wie Sand am Meer, aber alles zusammen … da müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn das Zufall wäre. Ich glaube, die vermisste Nutte wird sich als unser Krokodilmädel entpuppen, und das bedeutet, dass der tote Penner auch ein Fall für uns ist.« Es herrschte kurzes Schweigen, während Garrickson diese Neuigkeit verarbeitete und sich zweifelsohne fragte, wie, um alles in der Welt, sie jetzt auch noch in Bradford eine weitere Einsatzzentrale einrichten sollten. »Scheiße … aber wir müssen uns absolut sicher sein, bevor wir die Sache offiziell übernehmen.« »Die Sicherheit werden wir bald haben. Sir, da ist noch was.« »Ich höre.« »Für Chantelle Richards mag es zwar zu spät sein, aber vielleicht noch nicht für die andere, Gracie Allen.« »Gibt es irgendeinen Hinweis darauf, dass sie noch lebt?« »Nein, wir haben absolut gar nichts. Sie ist bisher nicht aufgetaucht, aber wir können verdammt sicher sein, dass sie irgendwann auftauchen wird, und weiß der Himmel, was sie ihr dann angetan haben werden. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende versuchen, um das abzuwenden.« »Ich bin ganz Ohr.« »Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass wir Claire Moody eine Lüge in Umlauf bringen lassen. Dass sie den Medien erzählt, wir hätten ein paar mutmaßliche Täter festgenommen, die singen. Es ist ein Schuss ins Blaue, aber vielleicht schreckt es den Rest der Bande auf, und sie suchen das Weite, bevor sie noch weitere Gräueltaten begehen.« Garrickson dachte darüber nach. »Wenn wir sie in Panik versetzen, könnten wir sie genauso gut dazu bringen, die Frau umzubringen und sich ihrer zu entledigen.« »Das werden sie sowieso tun.« »Darüber muss ich natürlich zuerst mit Detective Superintendent Piper sprechen.« »Machen Sie das lieber schnell, Sir. Diese Truppe arbeitet nach ihrem eigenen Zeitplan.« »Ich versuche, sie sofort zu erreichen.« Garrickson beendete die Verbindung. Heck hatte darauf verzichtet, Garrickson gegenüber zu erwähnen, dass die Bande ihre zweite Gefangene zumindest schnell töten würde, ohne sie mit Ritualen zu quälen oder zu foltern, wenn sie sie aus Angst vor der Polizei überstürzt umbrachten. Für die arme Frau wäre zwar nicht viel gewonnen, aber es wäre zumindest besser für sie als die Alternative. Zehn Minuten später erreichte er das Zuhause von Irene Richards, der Mutter der jüngeren vermissten Prostituierten. Das Viertel, in dem sich das Haus befand, war besser als die heruntergekommene Gegend, in der die beiden Frauen entführt worden waren, doch unter dem bleiernen Himmel und dem hinunterprasselnden Regen wirkten die alten Reihenhäuser düster und trostlos. Das Reihenhaus, in dem Irene Richards wohnte, lag gegenüber eines kleinen Parks, doch selbst der war eine einzige vom Unwetter gepeitschte Wildnis. Ein schmaler gepflasterter Fußweg führte an der Vorderseite der Häuserreihe entlang. Irene Richards wohnte in Haus Nummer neun. Drinnen brannte warmes Licht. Genau in dem Moment, in dem Heck an die rot gestrichene Haustür klopfte, klingelte sein Handy. »Kane hier«, meldete sich eine weit entfernt klingende, niedergeschlagene Stimme. »Ja?« »Habe gerade den Bericht der Klinik erhalten. Die Röntgenbilder stimmen überein.« Die Haustür wurde geöffnet. »Hast du mich gehört, Heck?«, sagte Kane in sein Ohr. »Das Mädchen aus dem Krokodilbecken ist definitiv Chantelle Richards.« Heck schaffte es, sich auf die Frau zu konzentrieren, die in der Tür stand. Wie Kane vorhergesagt hatte, sah sie aus wie eine liebenswürdige ältere Dame. Wahrscheinlich war sie erst Anfang sechzig. Sie trug Hausschuhe, eine Freizeithose, ein Sweatshirt und darüber eine Strickjacke. Sie hatte gepflegte weiße Locken und ein höfliches, aber zugleich fragendes Lächeln aufgesetzt. Zwei hübsche Kinder, ein Mädchen und ein Junge, die vielleicht zwei und drei Jahre alt waren, standen rechts und links neben ihrer Oma und hielten jedes eine ihrer Hände. Das Mädchen trug ein Kleid mit Blumenmuster und Schnallenschuhe, der Junge ein T-Shirt mit einem Donald-Duck-Aufdruck. Als Gemma aus Joe Wullertons Büro kam und im Gebäude von New Scotland Yard die Treppe hinunterging, war sie ein kleines bisschen optimistischer als vorher. Die Besprechung hätte definitiv sehr viel schlechter laufen können. Zumindest hatte sie noch einen Job und ein Team, obwohl sie immer noch das Gefühl hatte, dass beides an einem seidenen Faden hing. Draußen grollten Donner. Durch jedes Fenster sah sie einen Himmel über London, dessen graue Farbe beinahe ins Grünliche überging, was im Inneren des Gebäudes eine unheimliche, gespenstische Düsternis erzeugte. In der Ferne zuckten Blitze. Auf den Dächern, die das Gebäude umgaben, prasselte Regen nieder. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass Wullerton – ein kräftig gebauter Mann in den Fünfzigern mit einem dichten Schnauzer, müden Augen und einer Vorliebe für Strickjacken und Hemden mit offenem Kragen – nicht nur heuchelte, wenn er den Eindruck erweckte, ein umgänglicher Mensch zu sein. Doch hinter dieser onkelhaften Fassade hatte sie immer schon einen Kern aus Stahl vermutet, und den hatte er heute offenbart. »Lassen Sie uns analysieren, womit wir es zu tun haben, Gemma«, hatte er erhitzt festgestellt. »Das Dezernat für Serienverbrechen wurde insbesondere zu dem Zweck ins Leben gerufen, den vor Ort arbeitenden Ermittlungsteams bei der Aufklärung schwerer Verbrechen mit Informationen, Know-how und Ratschlägen zur Seite zu stehen. Niemand ist besser qualifiziert als Sie und Ihr Team, um solche Fälle zu bearbeiten. Niemand. Sie sind unsere letzte Verteidigungslinie. Aber wie wird die Öffentlichkeit es aufnehmen, wenn Sie keinen Erfolg haben? Die Wahrheit ist, dass nach dieser Geschichte vielleicht niemand mehr von uns auf seinem Posten bleiben wird. Vergessen Sie nicht, ich leite Kommando Gold. In den Augen vieler trage auch ich Schuld. Die Existenz der National Crime Group selbst kann hier auf dem Spiel stehen, wenn es auf einmal heißt: Sind wir eine Verbrechensbekämpfungstruppe oder eine teure Luxuseinheit? Die Sache liegt bei Ihnen, Gemma.« Als sie das Dezernat für Serienverbrechen erreichte, war es nahezu komplett verwaist, was natürlich kein Wunder war, da fast alle Mitarbeiter oben im Norden im Einsatz waren. In Wahrheit empfand Gemma das als Erleichterung. Ihr war nicht danach, mit jemandem zu sprechen. Sie marschierte den Hauptflur entlang, holte ihre Schlüssel aus ihrer Manteltasche und schloss ihr Büro auf. Dann streifte sie ihre Schuhe ab und ließ sich in ihren Schreibtischstuhl fallen. Die Worte, mit denen Joe Wullerton sie verabschiedet hatte, hallten immer noch in ihrem Kopf nach. »Ich bin kein Chef von der Sorte, die sagt ›Ist mir ganz egal, wie Sie es anstellen‹ … Wir sind Teil eines Apparats und müssen in den Grenzen unseres Systems operieren, aber nutzen Sie jedes Mittel, das Ihnen zur Verfügung steht, gehen Sie bis an die Grenze, blicken Sie über den Tellerrand. Schnappen Sie diese Psychopathen, Gemma … und zwar schnell!« Sie schaltete den in der Ecke stehenden Fernseher ein, stellte den Wasserkocher an, warf einen Teebeutel in eine Tasse und gab ein wenig Milchpulver hinzu. Während das Wasser anfing zu kochen, lehnte sie sich am Schreibtisch in ihrem Stuhl zurück und zappte durch die Programme, bis sie bei einem Nachrichtenbeitrag landete, in dem es um den Fall ging. Auf dem Bildschirm war Claire Moody zu sehen, inmitten eines chaotischen Berichts. Ihr Haar war zerzaust, ihre Wangen aschfahl. Sie sah nicht gerade toll aus, aber das spielte keine Rolle, solange sie ihren Job erledigte. »Können Sie uns sagen, auf welchem Polizeirevier sich die beiden verhafteten Verdächtigen befinden?«, fragte ein Reporter. »Nein, das kann ich Ihnen aus Sicherheitsgründen nicht mitteilen«, erwiderte Claire. Wenn sie doch bloß zwei Verdächtige in Haft hätten, dachte Gemma. Garrickson hatte sie angerufen und sie gerade noch erwischt, bevor sie in Wullertons Büro verschwunden war. Er hatte ihr von Hecks Vorschlag berichtet, eine Falschmeldung zu verbreiten, um auf diese Weise zu versuchen, die vermisste Prostituierte Gracie Allen zu retten. Gemma hatte, fast ohne nachzudenken, eingewilligt. Es war nicht gerade eine Superidee, aber was hatten sie sonst schon für Möglichkeiten? Auf dem Bildschirm ging die hartnäckige Befragung weiter. Diesmal befand Claire sich in einem Raum, was dem Ganzen den Anstrich einer richtigen, vorbereiteten Pressekonferenz verlieh. Das war vernünftig, denn es machte einen professionellen Eindruck, so, als habe das Ermittlungsteam alles im Griff. Allerdings saß Claire allein vor der Journalistenschar. Das Mindeste wäre eigentlich gewesen, dass Garrickson sich an ihre Seite gesetzt hätte. »Können wir mit weiteren Verhaftungen rechnen?«, fragte jemand. »Das hoffen wir, ja.« »Aber gehen Sie davon aus?« »Es ist zu früh, um dazu etwas sagen zu können.« Gemma biss sich auf die Lippe. Das war keine überzeugende Antwort gewesen. Claire hätte einfach »Ja« sagen sollen. Warum, zum Teufel, nicht? Sie logen doch sowieso schon, dass sich die Balken bogen. Die Absicht, die dahintersteckte, war schließlich, die Schuldigen aufzuscheuchen, und nicht, sie einzulullen und in Sicherheit zu wiegen. »In Verbindung mit welchen dieser Morde wurden die Verdächtigen festgenommen?«, fragte ein anderer Reporter. »Soweit mir bekannt ist, in Verbindung mit, äh …«, Claire geriet ins Stocken. »Ich glaube, in Verbindung mit dem, äh … Mord an Tara Greenwood.« Gemma rutschte das Herz in die Hose. Es entstand eine kurze Stille, dann folgte ein Bombardement verblüffter Fragen. »Tara Greenwood wurde doch schon 2009 in Lincolnshire ermordet«, stellte ein Polizeireporter eines Fernsehsenders fest. »Heißt das, dass die Ermittlungen ausgeweitet wurden?« »War Lorna Arkwright auch ein Opfer der Feiertagsschänder?«, rief eine andere Stimme in den Raum. »Tut mir leid … Entschuldigung«, sagte Claire hastig. »Ich habe mich versprochen. Der Verdächtige, den wir zurzeit in Gewahrsam haben, wurde nicht in Verbindung mit dem Fall Tara Greenwood festgenommen.« »Der Verdächtige? Eben gerade haben Sie doch noch von zwei Verhafteten gesprochen.« »Ja, natürlich, zwei …« »Werden die beiden Verdächtigen mit verschiedenen Morden in Verbindung gebracht?« »Ja, ich denke schon.« Claire machte nicht den Eindruck, als ob sie irgendetwas von dem glaubte, was sie sagte. Ihr Blick war ausdruckslos, als ihre Augen das Blitzlichtgewitter reflektierten. »Ist einer der beiden wegen des Mordes an Tara Greenwood inhaftiert?« »Nein … bitte entschuldigen Sie. Der Mord an Tara Greenwood hat nichts mit dieser Mordserie zu tun.« »Für welche Morde genau wurden die Verdächtigen denn nun festgenommen?«, fragte der Polizeireporter des Fernsehsenders. »Unser Hauptverdächtiger befindet sich wegen des Mordes an Ernest Shapiro in Untersuchungshaft.« »Könnten wir noch mal klarstellen, ob es nun eigentlich einen zweiten festgenommenen Verdächtigen gibt?«, fragte jemand anderes. »Sie scheinen sich da ja nicht so sicher zu sein.« »Der andere Verdächtige wurde in Manchester verhaftet«, erwiderte Claire. »Auf der Seite der Pennines haben sich diverse Morde zugetragen, Miss Moody. Welcher wird dem Verhafteten denn zur Last gelegt?« »Tara Greenwood«, erwiderte Claire. »Oh, Entschuldigen Sie bitte, nein, sie ist nicht … die Verdächtige, wollte ich sagen. Sie haben wir nicht dazu befragt …« »Sie? Soll das heißen, dass es sich bei dem zweiten Verdächtigen um eine Frau handelt?« »Es gibt keine … tut mir leid, ich meinte Tara Greenwood. Nein, Ernest Shapiro. Es gibt keine zweite …« »Es gibt keinen zweiten Verdächtigen?« »Nein, ich wollte sagen, dass der zweite Verdächtige keine Frau ist.« Gemma drückte den Ausknopf und knallte sich ihr Handy ans Ohr. »Ja Ma’am?«, meldete sich Garricksons ferne Stimme. »Alles in Ordnung?« »Nein, nichts ist in Ordnung, verdammt noch mal! Und Sie sollten der Letzte sein, der diese Frage stellt! Holen Sie sie sofort da raus!« »Mitten aus der Pressekonferenz?« »Wo sind Sie, Mike? Haben Sie sich auf dem verdammten Klo versteckt? Holen Sie sie da raus, bevor wir als ein noch unfähigerer Haufen kompletter Idioten dastehen! Und bei meiner Rückkehr liegt besser eine schriftliche Erklärung von Ihnen auf meinem Schreibtisch, in der Sie darlegen, warum Sie auf der Pressekonferenz nicht mit am Tisch gesessen und Claire zur Seite gestanden haben!« Sie beendete die Verbindung und schleuderte ihr Handy auf den Boden. Es gab eine Regel, die sie streng befolgte: Sie brach grundsätzlich nicht in Tränen aus. Während ihres Berufslebens hatte es viele Anlässe gegeben, bei denen ihr zum Weinen zumute gewesen war – um trauernde Witwen, misshandelte Kinder, oder wenn Vergewaltigungsopfer oder Opfer eines Raubüberfalls ihr schluchzend und zitternd zu erklären versucht hatten, was passiert war. Aber sie hatte immer dem Drang widerstanden, aus Selbstmitleid zu weinen. Das hatte ihr verstorbener Vater, der auf der Karriereleiter nicht über den Rang eines Inspectors hinausgeklettert war, ihr ans Herz gelegt. »Das ist ein Männerberuf, mein Schatz«, hatte er ihr an dem Tag gesagt, an dem sie ihm strahlend verkündet hatte, dass sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden war. »Das war immer so und wird immer so sein. Was auch immer dir also da draußen widerfährt, lass dich nicht unterkriegen. Wenn du dich kleinkriegen lässt, machen sie dich so platt, als würdest du unter einer Tonne Pferdescheiße begraben. Was auch immer jemand sagt oder tut – zucke nicht mit der Wimper, schrecke nicht zurück, und vor allem wag es nicht, auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Denn das ist alles, was sie brauchen, um dich in Stücke reißen zu können.« Sie hatte sich schon oft an diese weisen Worte geklammert, und jetzt tat sie es wieder – beinahe so verbissen, wie sie sich an der Kante ihres Schreibtischs festklammerte. Am frühen Abend trafen zwei Zivilbeamtinnen der West Yorkshire Police, die auf die Betreuung Angehöriger von Opfern von Gewaltverbrechen spezialisiert waren, in dem Reihenhaus in Great Horton ein, um Heck abzulösen. Draußen blieb Heck einige Minuten im Platzregen stehen und dachte, dass nur der Zorn dieser Urgewalt imstande war, den Kummer, das Entsetzen und die Verzweiflung wegzuwaschen, deren Zeuge er im Kreise der trauernden Familie so viele Stunden lang gewesen war. »He, Heck!« Ben Kane, der unter einem riesigen Regenschirm Schutz vor dem Regen suchte, kam auf ihn zu. »Hab es schließlich doch noch hingekriegt, dir jemanden zu schicken.« »Hättest du mich nicht noch ein bisschen länger da drinnen lassen können?«, entgegnete Heck. »Hat richtig Spaß gemacht.« Er marschierte an Kane vorbei und steuerte die Autos an. »Wo willst du denn hin? Wir müssen reden.« Heck sah sich um. »Worüber?« »Darüber, ob Barack Obamas Frau Unterwäsche trägt oder ohne rumläuft. Was glaubst du denn wohl, worüber? Richten wir nun hier in Bradford eine weitere Einsatzzentrale ein, oder soll ich mich auch noch um diesen Mord kümmern? Ich habe schließlich schon eine Ermittlung in Leeds am Hals.« Heck zuckte mit den Schultern. »Fahr zurück nach Leeds, und kümmere dich um den Fall.« »Bestimmt?« »Ja. Fahr und starr ein paar Tage lang diesen kaputten Schornstein an. In der Zwischenzeit schnappe ich mir die Arschlöcher, die das angerichtet haben.« Über den Höhenrücken der Pennines donnerte es immer noch, als Heck nach Westen in Richtung Lancashire fuhr. Strömender Regen überflutete die trostlose Landschaft. Auf dem Beifahrersitz stand sein geöffneter Laptop, auf dessen Tastatur er einhändig tippte, während er mit der anderen Hand lenkte. Als er fertig war, hatte er die Hochmoore bereits hinter sich gelassen und fuhr hinunter auf Manchester zu. Er klappte den Laptop zu, holte sein Handy aus der Tasche und rief Jen Weeks an. Inzwischen war es natürlich schon nach achtzehn Uhr, und die Zivilangestellten waren vermutlich bereits nach Hause gegangen. Doch er hatte Glück. »Hallo Jen, ich bin’s, Heck«, meldete er sich. »Tut mir leid, dass ich um diese Zeit noch anrufe. Ich weiß, dass ihr Mädels eigentlich schon Feierabend habt, aber ich brauche noch etwas. Und zwar eine Sondergenehmigung für einen Gefangenenbesuch. Es geht um den gleichen Mann wie beim letzten Mal. Cameron Boyd. Er sitzt im Untersuchungshafttrakt im Strangeways Prison.« Sie leierte ein paar Einwände herunter, die womöglich gegen den Besuch sprachen. »Nein«, stellte Heck klar, »darüber müssen wir uns definitiv keine Sorgen machen. Boyd wird hocherfreut sein, wenn er hört, dass ich komme.« Das Gewitter verfolgte Heck auf dem ganzen Weg bis nach Manchester. Während er sein Auto durch die viel befahrenen Straßen manövrierte, prasselte der Regen unaufhörlich nieder. Als das Gefängnis schließlich in Sicht kam, überragte der riesige rote Backsteinkomplex alles andere wie ein gotisches Bollwerk der Industrialisierung, das Regenwasser strömte an der fensterlosen Fassade hinunter und sprudelte aus den Rinnen und Rohren. Die kurze Entfernung vom Besucherparkplatz zum Eingang reichte aus, um Heck bis auf die Haut zu durchnässen. Cameron Boyd fand das urkomisch. »Oh Mann, Scheiße!«, brachte er lachend hervor, als er sich an dem gleichen Tisch niederließ, an dem Heck und Gemma am Tag zuvor mit ihm geredet hatten. »Ein bisschen nass geregnet, was?« Heck grinste. »Wird Ihnen ja so bald nicht mehr passieren können, nicht wahr?« »Klugscheißer!« Boyd sah sich in dem ansonsten leeren Besucherraum um. »Und …? Wo haben Sie Ihre sexy Chefin heute gelassen?« »Sie hat zu tun.« »Zu viel zu tun, um mich zu besuchen? Das überrascht mich aber. Hätte nicht gedacht, dass ein einfacher Detective Sergeant befugt sein könnte, die Art von Deal klarzumachen, auf den ich aus bin.« Heck stellte seinen Laptop auf den Tisch und schaltete ihn ein. »Der einzige Deal, der hier für Sie rausspringen könnte, Cameron, könnte darin bestehen, dass ein freundlicher Gefängnisdirektor Ihnen eine etwas größere Zelle zuweist … vorausgesetzt, Sie helfen uns, den Feiertagsschänder zu schnappen. So sieht die Sache aus.« Boyd lachte erneut in sich hinein. »Immer noch der dicke Macker, was? Ist offenbar die einzige Taktik, die Sie draufhaben.« »Wer hat Ihnen die Haarbüschel herausgerissen, die wir unter Ernest Shapiros Fingernägeln gefunden haben?« »Seit unserer letzten Unterhaltung hat sich nichts geändert. Sie wissen, was Sie zu tun haben.« »Ich denke, Sie werden feststellen, dass sich sehr wohl etwas geändert hat, Cameron.« Er drehte seinen Laptop um. »Sehen Sie das hier?« Boyd konnte es sich nicht verkneifen, einen Blick auf das Display zu werfen – und sah jede Menge Worte. »Das ist eine Zeugenaussage«, erklärte Heck. »Und zwar von mir. Ich werde sie als Nachtrag meinem Festnahmeprotokoll hinzufügen.« »Na und? Ist mir doch scheißegal.« »Laut diesem Nachtrag habe ich mich an etwas erinnert, was für Ihren Fall durchaus relevant ist. Es betrifft Detective Constable Gregsons Versuch, Sie zu verhaften.« Boyds höhnisches Grinsen verblasste. »Was diesem stümperhaften Anfängerarsch passiert ist, war ein Unfall.« »Ich fürchte, nicht.« Heck schüttelte den Kopf. »Sie saßen oben auf dem Backsteinhaufen und haben auf einmal angefangen, absichtlich Steine auf ihn hinunterzuwerfen. Sie haben ihn vier- oder fünfmal getroffen … wie es aussieht, am Kopf. Der aufgetürmte Haufen ist erst in dem Moment eingestürzt, als Sie mich kommen sahen und versucht haben zu türmen.« »Sie sind ein verdammter Lügner!« Heck tat so, als sei er gekränkt. »Sie glauben mir nicht? Steht aber alles hier, sehen Sie … es muss also stimmen.« »Sie sind ein verdammtes verlogenes Arschloch!« »Letzen Endes ist es völlig egal, was Sie davon halten, Cameron. Denn diese Zeugenaussage ist als Datei an eine E-Mail angehängt, und ich muss nur noch auf ›Abschicken‹ drücken, verstehen Sie?« Er platzierte den Cursor auf dem »Senden«-Button, sein Daumen schwebte bedrohlich über der Entertaste. »Sobald ich die Mail abschicke, landet sie direkt bei Detective Inspector Burgess, der für Ihren Fall zuständig ist. Das bedeutet, dass Ihnen hier in der Untersuchungshaft eine weitere Tat zur Last gelegt wird und Sie zusätzlich zu allem anderen auch noch wegen des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten angeklagt werden.« »Sie sind ein einziger Haufen Scheiße!« »Statt fünfzehn Jahren für schweren Einbruchdiebstahl kriegen Sie lebenslang, Cameron. Und es kann noch schlimmer kommen … Andy Gregson ist noch nicht über den Berg.« »Sie miese, verfickte Ratte! So was können Sie nicht einfach mal gerade so erfinden. Niemand wird Ihnen glauben.« »Wollen wir wetten? Ich habe an dem Abend auch ein Kopftrauma erlitten … Vielleicht erinnern Sie sich an den Fahrkartenapparat, den Sie mir ins Gesicht geschleudert haben?« Heck zeigte auf den verblassenden Bluterguss an seiner Schläfe. »Ich wurde deswegen in dem gleichen Krankenhaus behandelt, in das Gregson eingeliefert wurde. Es gibt also medizinische Unterlagen darüber. Niemand wäre überrascht, dass meine Erinnerung an den Vorfall erst zeitverzögert zurückgekehrt ist.« »Es war ein Unfall, Sie verdammtes Arschloch! Meine Anwälte werden ihren großen Tag mit Ihnen haben.« »Glauben Sie wirklich? Was denken Sie, wie oft ich schon vor Gericht gestanden und als Zeuge ausgesagt habe, Cameron? Was glauben Sie, wie viele Arschlöcher wie Sie aufgrund meiner Aussagen im Knast vor sich hinschimmeln?« »Sie verfickter Drecksack! Meine Anwälte nehmen Sie auseinander!« »Wollen Sie das Risiko wirklich eingehen? Wo es doch um nichts weiter geht, als mir etwas zu erzählen, was Ihnen sowieso am Arsch vorbeigehen kann?« Boyd umklammerte die Tischkante so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Er starrte Heck mit hasserfülltem Blick an, doch es hatte ihm die Sprache verschlagen. »Ich habe sogar das entsprechende Schriftstück dabei«, sagte Heck, zog ein offizielles Formular unter seinem Mantel hervor und legte es auf den Tisch. Danach holte er einen Kugelschreiber aus seiner Tasche. »Sie geben mir die gewünschte Zeugenaussage, und ich klicke auf ›Löschen‹ anstatt auf ›Senden‹.« »Sie beschissener …« Boyd war immer noch sprachlos vor Wut. »Ihre Entscheidung, Cameron.« Boyd wollte erkennbar nichts sagen. Mit der Polizei zu kooperieren widersprach sozusagen seiner Religion. Aber er steckte auch ohne die Aussicht auf eine möglicherweise lebenslange Haftstrafe schon tief genug in der Scheiße. »Es … es war in dem Pub ›The Moorside‹. In Levenshulme.« »Wann?«, fragte Heck. »Vor ein paar Monaten.« »Können Sie mir ein Datum nennen?« »Irgendwann Anfang November.« »Erzählen Sie mir, was passiert ist.« »Da kam diese Blondine mit diesem Typen reinspaziert«, entgegnete er. »Ich hatte die beiden noch nie gesehen. Waren eigentlich noch Kinder. Vielleicht achtzehn, wenn überhaupt. Aber die Kleine machte echt was her, und sie war angezogen wie ’ne richtig geile Tussi.« »Beschreiben Sie sie.« »Wie ich schon sagte … blond, sehr lange Haare. Fast bis auf den Arsch. Enges weißes Top, Jeansminirock.« »Und der Typ?« Boyd zuckte mit den Achseln. »Auf den habe ich nicht weiter geachtet. Ungefähr genauso alt. Groß, eins dreiundachtzig oder eins fünfundachtzig. Ziemlich gut gebaut … wie ein Sportler. Und ein bisschen schnieke.« »Wie meinen Sie das?« Boyd sah mit Unbehagen zu, wie Heck all dies in das Zeugenaussage-Formular eintrug. »Also, wenn mein Name da auftaucht und vor Gericht laut vorgelesen wird …« »Der Feiertagsschänder kriegt lebenslänglich, Cameron – oder Sie!«, fuhr Heck ihn an. »Fangen Sie jetzt also bitte nicht an rumzuspinnen, wo wir endlich ein bisschen vorankommen. Dieser Typ war schnieke, sagten Sie – inwiefern?« »Ich hab ihn nicht reden gehört. Aber er wirkte irgendwie fehl am Platz … Der gehörte nicht in einen Pub wie ›The Moorside‹. Er sah irgendwie kultiviert aus.« »Irgendwelche besonderen Merkmale, die Ihnen bei dem Mädchen oder dem Typen aufgefallen sind?«, fragte Heck. »Tattoos, Piercings, Muttermale, Narben?« »Ich bitte Sie! Das ist fünf Monate her!« »Erzählen Sie mir genau, was passiert ist.« »Sie kamen ungefähr um acht Uhr abends rein. Erst sind sie unter sich geblieben. Aber dann fing die Tussi an, die Stammgäste anzubaggern.« »Wie meinen Sie das?« »Na ja … es lief Musik. Und sie fängt an zu tanzen. Aber richtig aufreizend. Und fordert jeden auf, mit ihr zu tanzen – all die alten Knacker.« »Und was hat ihr Freund gemacht?« »Der saß nur in der Ecke und hat an seiner Diet Coke genippt. Daran kann ich mich genau erinnern, weil ich gedacht habe: ›Mann, was für ein verdammter Schlappschwanz ist das denn‹.« »Was hatte er an?« »Eine Donkeyjacke, Jeans und Joggingschuhe.« »Und er hat nichts gesagt?« »Nein. Deshalb dachte ich irgendwann, dass sie vielleicht eine Nutte sein könnte und er ihr Zuhälter.« »Ein schnieker Zuhälter?« »Na ja … macht keinen Sinn, oder? Also habe ich gedacht, dass sie vielleicht so ’ne Swingertorte ist, Sie wissen schon. Eine, die sich die Seele aus dem Leib fickt, während er danebensitzt und sich einen runterholt. Jedenfalls ist sie irgendwann zu mir gekommen und hat sich auf mein Knie gesetzt. Ohne jede Aufforderung. Ich habe keine Ahnung mehr, was sie gesagt hat, aber sie fing an zu stöhnen, als wäre sie total aufgegeilt. Hat mich gefragt, wo denn die Action abginge oder so was.« »War sie auch schnieke?« Boyd dachte nach. »Irgendwie schon. Die kam nicht aus Manchester. Aber auf so was hab ich natürlich nicht so geachtet, hatte schließlich einen Wahnsinnsständer in der Hose.« »Und ihr Typ hat nichts dazu gesagt?« Boyd schüttelte erneut den Kopf. »Der saß einfach nur da. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, wenn dieser Schwachkopf jetzt dazwischenfunkt, hau ich ihm so einen auf die Nuss, dass er erst Mitte nächster Woche wieder zu sich kommt … diese Schlampe bettelt doch darum. Aber wie auch immer, bevor ich michs versah, haben wir geknutscht, aber richtig, mit Zungenkuss. Dann hat sie mich an meinem Gürtel nach draußen gezogen, und ich hab sie hinter dem Pub an die Scheißhauswand gedrückt und es ihr besorgt.« Boyd grinste, als er sich das erquickliche Erlebnis noch einmal in Erinnerung rief. »Sie hatte kein Höschen an, und ich hatte einen steinharten Knochen. Mein Hosenschlitz war im Nu auf, und ich bin sofort in sie rein …« »Die Details können Sie mir ersparen.« »He, wollen Sie nun hören, was passiert ist, oder nicht?« Boyd sah Heck herausfordernd an, als wollte er sagen »Alles oder gar nichts«. »Ihre Hände waren überall, okay? Sie hat gekeucht und geschrien. Ich hab ihr die Seele aus dem Leib gefickt. Hatte mich nicht mal ausgezogen … aber sie zerrt an meinen Klamotten herum. Und reißt mir auch an den Haaren.« »An den Haaren?« »Ja. Sie war so aufgegeilt, dass sie mir büschelweise Haare ausgerissen hat. Ich war natürlich auch aufgegeilt, deshalb hab ich das beim Bumsen gar nicht richtig mitgekriegt, und es war mir auch egal.« Heck dachte über diese Worte nach. »Was ist danach passiert?« »Nun ja, als wir fertig waren, bin ich einfach runtergesunken auf meinen Arsch. Ich war total ausgelaugt. Sie ist einfach weggeschlendert … hat ihren Rock glatt gezogen, mir noch eine Kusshand zugeworfen – und das war’s. Der Typ kam aus dem Pub, sie sind zusammen um die Ecke gegangen, und weg waren sie.« »Würden Sie sie wiedererkennen, wenn Sie ihr noch einmal begegnen würden?« »Ja, aber ich hab sie nicht wieder gesehen.« »Und den Typen?« »Vielleicht würde ich den auch wiedererkennen, keine Ahnung.« »Cameron … vor zehn Minuten haben Sie mir gesagt, dass man mich vor Gericht wegen meiner Lügen auseinandernehmen würde. Jetzt mal im Ernst – was glauben Sie denn, wie diese Zeugenaussage klingt?« Boyd zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mir nicht glauben wollen – es gibt einen Beweis. Eine Überwachungskamera auf der Rückseite von ›The Moorside‹ hat die Nummer komplett aufgezeichnet.« »Das Ganze ist im November passiert. Wie stehen wohl die Chancen, dass die Aufzeichnung noch existiert?« Boyd beugte sich vor, als ob er Heck etwas Vertrauliches mitteilen wollte. »Einer der Barkeeper in dem Pub ist ein gewisser Pete Dwyer. Er wohnt über der Kneipe. Der Typ ist pornosüchtig. Ich war mal in seiner Bude … Da sieht’s aus wie in einem Hinterzimmer in Bangkok. Zufällig ist er auch für die Überwachungskameras zuständig, und wie ich Dwyer kenne, ist diese blonde Torte inzwischen ein Filmstar. Also … Reicht Ihnen das?« Heck seufzte. »Nur ein totaler Schwachkopf würde einem so eine Lüge auftischen und davon ausgehen, dass sie nicht auffliegt. Und Sie sind ein totaler Schwachkopf, Cameron. Aber im Moment lassen Sie mir ja keine große Wahl.« Er setzte einen Punkt hinter den letzten Absatz und schob das Blatt zusammen mit dem Stift über den Tisch. »Lesen Sie das und unterschreiben Sie.« Boyd folgte der Aufforderung. Doch als Heck das Papier zusammenfaltete, in der Innentasche seines Jacketts verschwinden ließ, den Kugelschreiber wegpackte und den Laptop zuklappte, sah Boyd ihn argwöhnisch an. »He! Sie wollten doch noch Ihre zum Himmel stinkende Aussage löschen.« »Immer mit der Ruhe.« Heck stand auf. »Erst mal sehen, was Pete Dwyer dazu zu sagen hat.« »Er wird Ihnen bestätigen, dass ich die Wahrheit gesagt habe.« »Wenn er das tut, ist ja alles klar.« Heck ging zur Tür und klopfte. »Ach, und eins noch, Cameron … ich würde Ihnen ja wirklich gerne aus der Patsche helfen, aber ich müsste Sie anlügen, wenn ich verhehlen würde, dass es extrem nützlich für mich wäre, während der nächsten fünfzehn Jahre oder so einen Gefängnisspitzel zu haben.« »Sie Schweinehund!«, zischte Boyd. Die Tür ging auf. »Und was meine Zeugenaussage angeht«, entgegnete Heck, »die wird nirgendwohin geschickt, solange Sie mich immer schön mit Informationen versorgen.« Heck stapfte über den von Nässe glänzenden Parkplatz auf das Motel zu. Er hatte keine Ahnung, wie spät es inzwischen war, aber er war so erschöpft, dass er sich nur noch seine klamme Kleidung ausziehen und ins Bett fallen wollte. Obwohl er Hunger hatte, hatte er weder Energie noch Lust nachzusehen, ob er etwas Essbares auftreiben konnte. Sein Zimmer befand sich auf halber Höhe einer vom Erdgeschoss zum ersten Stock hinaufführenden Treppe, wo diese einen Absatz hatte. Es lag am Ende eines kurzes Flures, von dem nur zwei weitere Zimmer abgingen. Obwohl fast das komplette Dezernat für Serienverbrechen in diesem Motel untergebracht war, hatte er auf dieser Ebene noch nie jemand anderen gesehen oder gehört. Bis jetzt. Claire saß mit gesenktem Kopf auf dem Treppenabsatz, die Arme hatte sie um ihre Knie geschlungen. Angesichts ihrer zusammengekauerten Haltung dachte Heck im ersten Moment, sie würde schlafen. Sie trug einen Bademantel und flauschige Hausschuhe; ihr Haar war feucht und strähnig, als hätte sie gerade geduscht. Doch als sie zu ihm hochblickte, sah sie alles andere als entspannt aus. Ihre Augen waren rot und verquollen, ihre Lippen bebten. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Du bist spät. Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf dich.« »Tut mir leid. Dieser Job lässt einen nie ruhen. Alles klar bei dir?« »Nein, nicht wirklich.« Sie lachte freudlos bei dem Gedanken an den Job. Sie war nicht betrunken, aber Heck roch Alkohol. »Heute habe ich alles vergeigt. Bei der Pressekonferenz.« »Ich habe ein bisschen davon im Radio mitbekommen«, sagte er, wobei ihm das Ganze im Moment ziemlich egal war. Claires offensichtliche Verwirrung mochte zwar hässliche Folgen haben, aber in Wahrheit war er zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. »Eine tolle Vorstellung, die ich da geliefert habe, was? Kein Wunder, dass Detective Chief Inspector Garrickson mich anschließend nach Strich und Faden zusammengefaltet hat. Er war total angepisst. So eine Standpauke musste ich noch nie über mich ergehen lassen.« »Ignorier ihn einfach.« »Ich habe euch alle enttäuscht.« »Ich hab es dir doch neulich schon gesagt – Schlagzeilen sind Eintagsfliegen.« »Vielleicht ist es ein Tag zu viel?« »Warum sitzt du hier auf der Treppe?« »Was glaubst du denn?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist schon fast zehn …« »Diese Prostituierte wird wegen mir sterben, stimmt’s?« »Claire, diese Prostituierte wird sterben, weil sie sich in den Händen irgendwelcher Perverser befindet, die ihren Kick daraus beziehen, Menschen wehzutun.« »Ich habe ihr Todesurteil unterschrieben. So hat es Detective Chief Inspector Garrickson gesagt.« »Der Versuch, das Leben dieser Frau durch die Verbreitung der Lüge zu retten, wir seien den Arschlöchern auf den Fersen, war doch ein totaler Schuss ins Blaue ohne jede Aussicht auf Erfolg. Du solltest dir auf keinen Fall die Schuld für irgendetwas geben.« Sie bedachte ihn mit einem tapferen, aber bitteren Lächeln. »Na schön, ich verrate dir, warum ich hier bin. Nach einem wirklich beschissenen Tag … bin ich auf der Suche nach ein bisschen Mark-Heckenburg-Weisheit. Ich dachte mir, wenn der Mann, von dem man mir warnend erzählt hat, dass er in einem Nonnenkloster Salben gegen sexuell übertragbare Krankheiten verkaufen könne, mir nicht zeigen kann, wie man dem Ganzen einen positiven Dreh verpassen kann, kann es niemand. Und ja …«, sie torkelte leicht, als sie aufstand, »bevor du fragst: Ich habe schon ein paar Drinks intus.« »Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob du noch einen willst? Einen kleinen Absacker. Ich habe eine Flasche in meinem Zimmer.« Noch vor ein paar Tagen hätte so ein Vorschlag absolut unverschämt geklungen, doch seitdem war viel Wasser die Themse hinuntergeflossen. »Ja, klar.« Sie holte Luft und kratzte sich an der Stirn. »Warum nicht?« Hecks Zimmer war nichts Besonderes: weiß angestrichene Backsteinwände, Filzteppichfliesen, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Einzelbett, eine Jalousie vor dem Fenster (durch das man einen trostlosen Ausblick auf die M62 hatte), ein langweiliges Bild, außerdem gab es ein kleines separates Bad mit einer Dusche, die so eng war, dass einige seiner männlichen Bekannten sie nur seitwärts hätten betreten können. »Jetzt mal im Ernst, Claire, mach dir keinen Kopf um diese Pressekonferenz«, sagte er und schloss die Tür hinter ihnen. »Niemand von uns ist perfekt, und am wenigsten dieser arrogante Lackaffe von einem Detective Chief Inspector.« »Du lässt die Dinge nie allzu nah an dich heran, stimmt’s?«, entgegnete sie und ließ sich auf den Stuhl sinken. Es klang nicht unbedingt wie ein Kompliment. Heck holte eine Flasche Bushmills und zwei Pappbecher hervor. »Sogar inmitten dieses grauenvollen Albtraums schaffst du es irgendwie, cool zu bleiben«, stellte sie fest. »Und machst einfach stur weiter, entschlossen, den Fall zu lösen.« Er zuckte mit den Achseln und schenkte ihnen beiden drei Fingerbreit ein. »Das ist mein Job.« »Und mein Job war, die Sache unter der Decke zu halten, aber sieh dir nur an, was passiert ist.« Er reichte ihr ihren Drink und setzte sich auf die Bettkante. »Es ist nicht deine Schuld, dass etwas durchgesickert ist. Das Ganze ist ein hässliches Spiel. Nicht alle unsere Feinde befinden sich auf der anderen Seite. Selbst Gemma und ich haben das noch nicht ganz kapiert, dabei sind wir schon seit vielen Jahren dabei.« »Nette Ansprache.« Sie nippte niedergeschlagen an ihrem Whiskey. »Aber ich weiß, was ihr beiden über mich denkt.« »Garrickson spricht weder für mich noch für Gemma …« »Was Garrickson gesagt hat, ist mir egal. Er spuckt nur große Töne, weil er ein Idiot ist und ein Bürotyrann. Gemma und du, ihr seid taktvoller, aber ihr denkt alle das Gleiche.« »Woher willst du das wissen?« Claire nahm einen weiteren kräftigen Schluck. »Weil ich genauso denken würde, wenn ich an eurer Stelle wäre. Ich bin eine totale Belastung für euch … ein schwaches Glied in der Kette, und ein schwaches Glied in der Kette ist eins zu viel, wenn es darum geht, eine Mörderbande zu schnappen. So ist es doch, oder? Jeder in diesem Team muss in Topform sein, und davon bin ich weit entfernt.« »Es war verrückt, dich gleich in deinem ersten Monat mit so einem Wahnsinnsjob zu betrauen.« »Interessant.« Sie hielt ihm den Becher hin, damit er ihr nachschenkte, was er bereitwillig tat. »Du bist nicht willens, mich anzulügen … mir zu erzählen, dass schon alles gut werden wird.« »Damit würde ich dir keinen Gefallen tun.« »Genau. Und deshalb reiche ich gleich morgen früh meine Kündigung ein.« Heck hatte schon mit etwas in der Art gerechnet, doch irgendwie berührte es ihn nicht sonderlich. Er hatte begonnen, Claire zu mögen, und bewunderte ihre Tatkraft. Wenn er an seinen ersten Eindruck von ihr dachte – dass sie vor allem gut aussah und ansonsten vermutlich nicht viel im Kopf hatte –, schämte er sich jetzt dafür. Aber er hatte auch gesehen, wie sie sich abgemüht hatte, um klarzukommen. Wenn Gewalt ihr so zu schaffen machte – und das war trotz all ihrer Bemühungen offensichtlich –, war sie schlicht und ergreifend am falschen Ort. »Wie ich sehe, versuchst du nicht, es mir auszureden«, stellte sie fest. »Es ist deine Entscheidung.« »Es würde auch nichts ändern, wenn du es versuchen würdest.« Sie stand auf, durchquerte das kleine Zimmer und ließ sich neben Heck aufs Bett plumpsen. Dabei öffnete sich ihr Bademantel, und es zeigte sich, dass sie darunter nackt war. Es hätte ein erotischer Augenblick sein können, doch sie schien sich dessen kaum bewusst zu sein. Sie zitterte und lehnte ihren Kopf an Hecks Schulter. »Ich wusste gar nicht, dass so etwas Böses in der Welt existiert.« Er legte einen Arm um sie und küsste ihr Haar; es war ein sanfter, platonischer Kuss. »Es ist nicht immer so schlimm, weißt du.« »Ich dachte, du würdest mich nicht anlügen.« »Das ist keine Lüge.« »Dieses Dezernat jagt die Schlimmsten der Schlimmsten. Das ist Sinn und Zweck dieser Abteilung.« »Wir schnappen sie aber auch und schützen so die Gesellschaft vor ihnen.« »Da hast du recht, und das gibt dir vielleicht von Zeit zu Zeit einen Motivationsschub. Aber versuch nicht, Dinge schönzureden, die nicht schönzureden sind. Bist du der Ergreifung der Mörder auch nur ein Stück näher gekommen?« »Wir haben ein paar neue Spuren.« »Mit anderen Worten ›Nein‹. Siehst du, Mark … Selbst du hast ein Talent dafür, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Ein größeres Talent als ich jedenfalls, dabei bin ich diejenige, die dafür bezahlt wird.« »Claire, es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Nicht jeder kann diese Art von Arbeit verdauen.« »Sie haben mich da draußen wie eine Feindin behandelt.« Als sie sich daran erinnerte, wirkte sie einen Moment lang nicht nur verletzt, sondern geschockt – wie betäubt. »Ich wollte sie informieren, und … auf einmal war es so, als wäre ich die Kriminelle … und nicht die Mörder, die all diese grauenhaften Taten begehen. Ich.« »Niemand reagiert verträglich auf furchtbare Geschehnisse wie diese. Nicht die Öffentlichkeit, nicht die Medien … sie schlagen einfach um sich. Wenn wir in der Schusslinie sind, was wir oft sind, weil wir normalerweise die einzigen Greifbaren sind, müssen wir es einfach mit Fassung ertragen.« »Dann ist es um meine Fassung wohl nicht annähernd so gut bestellt wie um deine, fürchte ich.« Sie wandte ihm den Kopf zu, als wollte sie seine Physiognomie genauer studieren – und küsste ihn auf die Seite seines Mundes. »Was tust du da?«, fragte er behutsam. Sie schlang langsam ihre Arme um ihn. »Heck, vielleicht sehen wir uns morgen zum letzten Mal«, hauchte sie mit belegter Stimme. »Warum sollten wir das Ganze also nicht mit einem krönenden Abschluss beenden?« »Claire, du bist durcheinander …« »Komm schon, du willst es doch genauso wie ich.« »Außerdem bist du betrunken.« »Na und …« Selbst als ihre Lippen sich berührten, wusste Heck, dass dies eine schlechte Idee war, doch ihr kurvenreicher Körper drückte gegen seinen, und auch wenn ihre Zunge ein wenig unangenehm nach Alkohol schmeckte, war ihre Süße unbestreitbar. Gracie wusste nicht, wann genau Chantelle aus dem Erdloch verschwunden war. Tag und Nacht hatten an diesem Ort, an dem es nahezu immer stockdunkel war, keine Bedeutung mehr. Alle paar Stunden wurde ein Eimer mit Wasser und etwas zu essen heruntergelassen, wobei Letzteres nicht groß variierte – Brot, Bacon, Käse, egal, ob es als Frühstück, Mittag- oder Abendessen gedacht war. Sie hatte schnell jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon hier unten war. Wenn sie eine Vermutung anstellte, würde sie sagen, dass es vielleicht eine Woche her war, als sie aufgewacht war und festgestellt hatte, dass sie allein war. Bis zu jenem Moment war es ihr unmöglich erschienen, dass jemand herunterkommen und sich eine von ihnen schnappen und wegschaffen konnte, ohne dass die andere es mitbekam. Chantelle würde sich doch bestimmt gewehrt haben, oder? Das hätte ausreichen müssen, sie aus ihrem unruhigen Schlaf zu wecken. Aber sie konnte sich an nichts Derartiges erinnern. In den einsamen Stunden, die dem Verschwinden ihrer Freundin gefolgt waren, war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie vielleicht betäubt worden war. Ihr war übel gewesen, und sie hatte gefröstelt und irrsinnige Kopfschmerzen gehabt, doch es war schwer, den Grund dafür irgendeiner eindeutigen Ursache zuzuschreiben, denn die Einkerkerung in diesem Verlies war ihrer Gesundheit wohl kaum besonders zuträglich. Trotz des Wassers, das sie regelmäßig trank, schmerzte ihr der Hals von ihrem beständigen Flehen in die Dunkelheit über ihr. Bei den wenigen Gelegenheiten, wenn das Licht heruntergelassen wurde, damit sie in den Eimer blicken konnte, taten ihr die Augen weh, weil sie nur so wenig benutzt wurden. Da es keine Sitzgelegenheit gab, auf der sie sich niederlassen konnte, kauerte sie immer auf dem Boden oder hockte an die Mauer gelehnt da, ihre Gelenke schmerzten, ihre Glieder waren verkrampft. Und dann war da noch der Gestank ihrer eigenen Exkremente. Auf der anderen Seite des Erdlochs hatte sich inzwischen ein ganzer Berg davon angehäuft, und der Gestank war unerträglich geworden. Manchmal musste sie sich davon übergeben und sogar weiterwürgen, wenn nichts mehr in ihr war, was schon für sich genommen eine Qual war. Gott allein wusste, was für Keime sie hier unten einatmete. »Wer auch immer ihr seid … Was auch immer ihr mit mir vorhabt, ihr macht es besser bald«, krächzte sie in die Finsternis. »Denn ich bin ziemlich sicher, dass ich hier unten krepiere.« Ihr Kopf fiel zur Seite auf ihre schmerzende Schulter. Die bloße Anstrengung, die Stimme zu erheben, erschöpfte sie schon. Das Knarren von Holz hallte zu ihr herunter. Gracie erstarrte, riss die Augen auf und starrte angestrengt nach oben. Ein Licht erschien, aber nicht die über dem Eimer an dem Kabel befestigte nackte Glühbirne, die sie schon so oft gesehen hatte. Dieses Licht hatte einen rötlichen Ton, flackerte leicht und schwenkte von einer Seite zur anderen. Eine Petroleumlampe, wurde ihr bewusst. Sie befand sich vielleicht drei Meter über ihr, kam jedoch langsam herab. Mit einem Rums landete etwas auf dem Boden des Erdlochs. Der sich ausbreitende Schein der Lampe offenbarte, dass es sich um eine Strickleiter handelte. Gracie krabbelte rückwärts, bis sie gegen die Mauer stieß. Schweißperlen bedeckten ihr Gesicht, ihr Herz raste wie wild. War es das? War dies der Moment? Eine dunkle gekrümmte Gestalt kletterte die Strickleiter herunter. Die Lampe, die Gracie sah, schwang an ihrem Gürtel hin und her, der rötliche Schein reflektierte von der runden, das Erdloch umgebenden Backsteinmauer. Aufgrund der Umrisse erkannte Gracie, dass es sich bei der herunterkletternden Gestalt um einen Mann handelte. Als er den Boden des Verlieses erreichte, hatte er ihr den Rücken zugewandt, doch sie sah, dass er groß war und kräftig gebaut. Er trug Stiefel und einen Regenmantel. Die Kapuze war nicht aufgesetzt, sodass eine strubbelige, dichte, schwarze Kurzhaarfrisur zu erkennen war. Noch bevor er sich zu ihr umdrehte, wusste sie, wen sie vor sich hatte – den jungen Mann, der sie und Chantelle zusammen mit dem blonden Mädchen in die Gefangenschaft gelockt hatte. Bei jener Gelegenheit hatte er trotz seiner beeindruckenden physischen Erscheinung nervös und schüchtern gewirkt. Er hatte eine Brille getragen und das Lächeln eines kleinen Jungen aufgesetzt, aber er war ihr durchaus gut aussehend erschienen – mit einem markanten Kinn, strahlend blauen Augen, festen roten Lippen und einer geraden, spitzen Nase. Wenn sie ehrlich war, war er immer noch gut aussehend, doch auf eine irgendwie kalte, herbe Art. Als er die Petroleumlampe von seinem Gürtel nahm und sie mit seiner behandschuhten Faust hochhielt, sah sie ungläubig, wie jung er tatsächlich war. Höchstens achtzehn Jahre alt. Mit der anderen Hand zog er irgendetwas unter seinem Regenmantel hervor: eine flache, metallene Vorrichtung, die in etwa die Größe und die Umrisse eines kleinen Telefonbuchs hatte. Als er das Gerät auf den Boden stellte und sie die gummierte Oberseite und die neonfarbenen Ziffern sah, die über die mit Glas abgedeckte Vorderseite huschten, wurde ihr bewusst, dass es sich um eine Waage handelte. Es war ein derart banales alltägliches Gerät, dass es im ersten Augenblick – vielleicht absurderweise – dazu beitrug, ihre schreckliche Angst ein wenig zu verringern, doch im nächsten Moment wurde ihr wieder bewusst, wie schlimm ihre Lage war. »Was … Was hast du mit mir vor?«, stammelte sie. Er sah sie nicht an, sondern bedeutete ihr nur, aufzustehen. Gleichzeitig fischte er irgendetwas Zusammengerolltes aus seiner Tasche und entrollte es. Es sah aus wie ein Maßband. Gracie schaffte es, langsam und mit einem Übelkeitsgefühl im Magen auf die Beine zu kommen. »Sieh mal – ich habe keine Ahnung, was das alles soll. Wenn du wenigstens mit mir reden würdest …« Doch er blieb stumm und konzentrierte sich, als er das Maßband neben ihr herabbaumeln ließ und offenbar zur Kenntnis nahm, dass sie eins fünfundsechzig groß war. Dann schnippte er mit den Fingern und bedeutete ihr, auf die Waage zu steigen. »Du willst mich wiegen?« Sie lachte beinahe angesichts der Verrücktheit dieses Anliegens. Er schnippte erneut mit den Fingern, diesmal gereizt, vermied es jedoch nach wie vor, ihr in die Augen zu sehen, obwohl die seinen, worauf auch immer sie sich fokussierten, plötzlich funkelten, als wären sie von gewaltiger, aber unterdrückter Wut erfüllt. Erneut verängstigt, stieg Gracie benommen und mit ihren oberschenkellangen Stiefeln unbeholfen auf die Waage und stand schwankend da. Das Ganze wäre zum Schreien lächerlich gewesen, wenn ihr nicht vor Angst und Erschöpfung schlecht gewesen wäre. Einen Moment später stieß er sie mit dem Ellbogen zur Seite, hob die Waage auf und schob sie wieder unter seinen Regenmantel. »Bitte«, flehte sie. »Hör einfach auf mit diesem Irrsinn. Ich flehe dich an … Das bringt dir doch alles nichts.« Als er sich wieder zu der Strickleiter umwandte, wurde ihre Stimme lauter und zusehends schrill. »Um Himmels willen, du willst mich doch nicht wieder hier in der Finsternis zurücklassen?« Sie taumelte zu ihm, verkrallte ihre Finger in seiner Kleidung, versuchte, sich an ihn zu klammern. Er wirbelte herum, sodass sie einander gegenüberstanden, packte langsam und geduldig, jedoch mit einer Kraft, der sie nichts entgegenzusetzen hatte, mit seinen behandschuhten Pranken ihre Handgelenke und riss sie von sich los. Für einen kurzen Moment waren ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt – Gracies ausgezehrtes und tränenüberströmtes Gesicht und das makellose, eisig gleichgültige ihres Kidnappers. Mit einem einzigen Stoß schubste er sie weg, und sie taumelte rückwärts. Sie fiel und landete hart auf dem Hintern, doch sie spürte den Schmerz kaum, der durch ihren geschwächten Körper schoss. »Bitte … mach das nicht«, wimmerte sie. »Lass mich nicht hier unten. Bitte, ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr.« »Es dauert nicht mehr lange.« Es waren die ersten Worte, die er an sie richtete – die ersten Worte überhaupt, die jemand zu ihr sagte, seit Chantelle verschwunden war –, und im ersten Moment war Gracie so baff, dass sie die Lippen aufeinanderpresste und sprachlos und ungläubig zu ihm aufblickte. Er lächelte über ihre Reaktion, aber es war das kälteste Lächeln, das sie je gesehen hatte. Es war nicht mal ein Lächeln, das sie als boshaft bezeichnet hätte – es war eher ein absolut ausdrucksloses Lächeln. Ein Lächeln ohne jegliche Emotion. »Und … was dann?«, fragte sie mit bebender Stimme und wurde sich erst zu spät dessen bewusst, was für ein Fehler es vielleicht sein könnte, so eine Frage zu stellen. Er stellte einen Fuß auf die unterste Sprosse der Strickleiter und hielt mit gesenktem Kopf inne, als würde er nachdenken. »Kennst du den Maifeiertag?« Er klang gebildet. Er hatte absolut keinen Akzent, doch auf einmal schwang eine Emotion mit. Anspannung vielleicht. Entrüstung. »Den Maifeiertag?« Er blickte über seine Schulter, seine Augen glänzten wie polierte Knöpfe. »Heutzutage ist der Erste Mai ein widerlicher politischer Feiertag … okkupiert von denen, die unsere geliebten religiösen und kulturellen Traditionen durch eine seelenlose humanistische Doktrin ihrer eigenen Denkschule ersetzt haben, eine Doktrin, die sich in Wirklichkeit als die barbarischste der gesamten Menschheitsgeschichte erwiesen hat …« Du lieber Gott, dachte sie, noch perplexer. Was redet er da für ein Zeug? Er muss geistesgestört sein. »Ich … Ich kenne den Maifeiertag«, brachte sie vorsichtig hervor. »Glaube ich jedenfalls.« »Schön.« Er begann, die Strickleiter hochzuklettern, umgeben von dem mit ihm aufsteigenden höllenartigen Schein der Petroleumlampe und nichts als schwarze Finsternis hinter sich zurücklassend. »Wir … oder vielmehr du wirst die Glorie, die diesem Tag einst innewohnte, wiederherstellen.« »Warte bitte … Erklär mir, was du damit meinst!« Doch er sagte nichts mehr und war einige Sekunden später verschwunden. Etwas Schweres aus Holz fiel über ihr mit einem Rums zu, und zu Gracies hoffnungslosem Wehklagen erlosch der letzte Hauch des orangeroten Lichtscheins. Der Pub »The Moorside« befand sich in einem hohen, schmalen Backsteingebäude in der Nähe einer gewölbten Brücke und eines nicht mehr genutzten Bahnhofs an der Eisenbahnlinie von Manchester nach Buxton. An der einen Seite des Pubs lag ein großer viktorianischer Friedhof samt rußigen Gräbern und mürrisch dreinschauenden, moosüberzogenen Engeln, an der anderen Seite erstreckte sich eine ausgedehnte Siedlung Sozialwohnungen. Das Gebiet, auf dem sich Letztere befand, war zweifellos früher einmal das Moor gewesen, auf das man von »The Moorside« geblickt hatte. Heck sah aus dem Fenster seines Autos. Dies war zweifellos der am trostlosesten aussehende Pub, zu dem ihn die laufende Ermittlung bisher geführt hatte. Na gut, der stürmische, von schweren Regenwolken verdeckte Himmel bildete eine düstere Kulisse, und seine eigene Stimmung tat auch ein Übriges. Er war an diesem Morgen fröstelnd und allein aufgewacht. Die Blicke, die er am Abend zuvor durch Claires geöffneten Bademantel erhascht hatte, hatten ihn in der gleichen Weise erregt, wie sie jeden Mann erregt hätten, doch sie war in diesem Moment betrunken und verletzlich gewesen. Er hatte sie lange und innig geküsst, war jedoch noch zu Verstand gekommen, bevor sie zu weit gegangen waren, und hatte die beiden Seiten ihres Bademantels trotz ihres gelallten Protests – und trotz einer inneren Stimme, die bis zur Heiserkeit auf ihn eingeschrien hatte, dass verzweifelte Blödmänner wie er es sich nicht leisten konnten, so verdammt anständig zu sein – wieder zusammengebunden, sie über den Flur zurück in ihr eigenes Zimmer geführt und sie in ihr Bett gelegt, als sie dort ankamen. Auf der Türschwelle war sie bereits eingeschlafen. Es war eine jener edlen Taten, für die er vielleicht im Himmel belohnt werden würde, jedoch nicht auf Erden, dachte er missmutig. Und zu alledem war er am Morgen nicht nur allein aufgewacht, sondern hatte auch noch eine unter seiner Zimmertür hereingeschobene Nachricht der betreffenden Dame gefunden, in der sie noch einmal klarstellte, dass sie den Job an den Nagel hängen werde. Es sei ihr einfach zu viel, hatte sie geschrieben, und auch wenn sie davon ausgehe, sich irgendwann abzuhärten, sehe sie im Moment nur eine Zukunft vor Augen, die sie an Orte führe, an denen sie nicht sein wolle. Sie hoffe, er verstehe dies und denke nicht zu schlecht über sie. »Danke für alles«, waren die letzten Worte auf Claires Zettel. Heck verschloss die Türen seines VW Golf und ging in den Pub. Obwohl das Gebäude sehr groß war, wurde nur ein Teil von ihm genutzt. Türen, die in andere Bereiche führten, waren geschlossen und verriegelt, vor ihnen waren Tische und Stühle aufgestapelt. Die Theke war relativ kurz, höchstens zweieinhalb Meter lang. Auf einer Seite lag ein Stapel zerlesener Zeitungen, auf der anderen stand ein tragbarer Fernseher, in dem die ersten Pferderennen des Tages übertragen wurden. Es war noch nicht einmal Mittagszeit, doch in dem Pub hingen bereits ein paar einsame, arbeitslose Trinker herum. Die weibliche Bedienung hinter der Theke war durchaus eine erfreuliche Erscheinung: Jung und hübsch, ihr blondes Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr weißes T-Shirt und ihre enge Jeans betonten ihre Rundungen. Als sie den Mund aufmachte, sprach sie mit polnischem Akzent. »Hallo. Was darf ich Ihnen servieren?« Heck zückte seinen Dienstausweis, und ihr freundliches Willkommenslächeln verblasste. »Detective Sergeant Heckenburg«, stellte er sich vor. »Wenn ich richtig informiert bin, arbeitet hier ein Typ namens Pete Dwyer.« Sie nickte unsicher. »Ja … äh, Pete arbeitet heute nicht.« »Wie man hört, wohnt er über dem Pub.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wohnt er da oben oder nicht?« Heck hatte längst keine Nerven mehr für irgendwelche Ausflüchte. »Ich … äh …« Plötzlich schien sie kein Englisch mehr zu verstehen. »Jetzt hören Sie mir mal zu, Miss, wenn Sie erwarten, dass ich Ihnen glaube, dass Sie nicht wissen, ob einer Ihrer Arbeitskollegen in diesem Gebäude wohnt oder nicht, wollen Sie mich für dumm verkaufen, und das schätze ich gar nicht. Ich schätze es sogar so wenig, dass Sie sich wegen Behinderung einer laufenden Ermittlung in Haft wiederfinden könnten, wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, was ich wissen will. Pete Dwyer? Wo ist er?« Sie warf einen nervösen Blick zu den anderen Pubgästen, doch keiner von ihnen schien ihnen besondere Beachtung zu schenken. Da sie trotzdem kein Risiko eingehen wollte, holte sie einen Stift hervor und kritzelte eine Zahl auf einen Bierdeckel. Sie lautete »19«. Heck nickte und ging weg. Zu den Etagen über dem Pub gelangte man durch eine Tür links neben dem Durchgang zu den Toiletten. Die Treppe war schmuddelig und nicht beleuchtet, die Tapete vermodert, der Teppich abgewetzt. Auf seinem Weg nach oben kam er an mehreren Zimmern vorbei. Einige standen offen, in ihnen war es dunkel und muffig, und ihnen entstieg der Geruch nach abgestandenem Bier. Schließlich fand er Nummer neunzehn. Es lag im obersten Geschoss des Gebäudes und ging von einem engen, knarrenden Treppenabsatz ab, der nur von einem einzelnen, staubüberzogenen Dachfenster beleuchtet wurde. Durch die einzige Tür auf diesem Absatz drang leise hämmernde Musik: Hardrock, begleitet von andauerndem Keuchen und Stöhnen. In seiner Bude sieht’s aus wie in einem Hinterzimmer in Bangkok, hatte Cameron Boyd gesagt. Heck klopfte. »Wer ist da?«, meldete sich eine schroffe Stimme. »Ich muss kurz mit Ihnen reden, Pete.« »Ich habe gefragt, wer da ist.« »Könnten Sie mal kurz rauskommen? Es dauert nur einen Augenblick.« Auf der anderen Seite der Tür war ein Schlurfen zu hören, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Der Kerl, der die Nase herausstreckte, war groß und dürr. Er hatte dichtes schwarzes Haar und ein langes, mit Aknenarben übersätes, hohlwangiges Gesicht. Er war nur mit Boxershorts und nicht zueinanderpassenden Socken bekleidet. Heck stürmte vor, rammte mit der Schulter die Tür auf und stieß Pete Dwyer nach hinten. »Detective Sergeant Heckenburg, Dezernat für Serienverbrechen. Darf ich reinkommen? Oh … danke.« Dwyer krachte mit solcher Wucht auf den Boden, dass es im ganzen Raum vibrierte und ein kurzes Flimmern über die diversen Computermonitore huschte. Auf allen liefen verschiedene perverse Pornofilme – auf dem, auf den Heck direkt blickte, machte eine sommersprossige Rothaarige mit geflochtenen Zöpfen in einem Stall voller Mist mit einem Shetlandpony herum. Fasziniert sah Heck sich weiter um. Die Bretter wackliger Regale bogen sich unter dem Gewicht unzähliger DVDs. Einige von ihnen befanden sich in Plastikhüllen mit bunten Covern, was sie legal aussehen ließ, andere steckten in Pappumschlägen mit selbst gefertigten Aufklebern. In einer Ecke stand eine geöffnete überquellende Kiste mit importierten Filmen. Heck vermutete zumindest, dass es sich um Importware handelte, da Fotos japanischer Schulmädchen sämtliche Cover zierten. Auf dem Boden lag schmuddelige Kleidung verstreut zwischen Bierdosen, ungewaschenen Tellern und benutztem Besteck. Das ungemachte Bett sah klamm und schmutzig aus. »Hab dich dabei gestört, als du dir gerade einen runtergeholt hast, was?«, fragte Heck. »Oder hast du ein Gewerbe angemeldet?« Dwyer rappelte sich wütend wieder hoch auf die Beine – doch er blieb deutlich auf Abstand. »He, für wen, zum Teufel, halten Sie sich überhaupt?« »Ich habe Ihnen gesagt, wer ich bin.« Heck zeigte ihm seinen Dienstausweis, betrachtete jedoch weiter einen Monitor nach dem anderen. »Junge, Junge, das nennt man wohl eine extreme Marktnische, was, Pete? An den normalen Kram kommt man vermutlich zu leicht ran. Typen wie Sie müssen dieser Tage über das Übliche hinausgehen, um Profit zu machen.« »Ist alles für meinen Eigengebrauch«, entgegnete Dwyer defensiv. »Selbst wenn, will ich lieber gar nicht daran denken, was das Dezernat zur Bekämpfung von Cyberkriminalität von alldem halten wird.« »Ich tue nichts Verbotenes. Nichts von alledem ist illegal.« »Vielleicht. Wer weiß. Aber sie werden das Ganze erst mal genau unter die Lupe nehmen wollen. Alles mitnehmen aufs Revier – in sterilen Beweistüten natürlich.« Heck zog eine Schublade auf. Sie war voller nicht beschrifteter CDs und USB-Sticks. Er schüttelte den Kopf. »Ganz schön viel Speicherplatz hier, Pete. Dürfte uns ziemlich viel Zeit kosten, uns das alles anzusehen. Aber wir müssen auf Nummer sicher gehen, falls Sie wissen, was ich meine.« »Das können Sie nicht tun.« Dwyer wedelte mit einem ausgestreckten Finger. »Das ist eine illegale Durchsuchung.« »Was wäre, wenn ich Ihnen verraten würde, dass wir gar nicht an Ihrer Sammlung interessiert sind?« »Ist mir scheißegal. Sie können mir nicht drohen. Ich kenne meine Rechte.« Heck lächelte. »Sie haben keine Rechte. Sie sind ein schmutziger kleiner Parasit, der die Unzulänglichkeiten anderer Leute ausnutzt. Ganz egal also, ob dies eine illegale Durchsuchung ist oder nicht – die nächste wird auf jeden Fall vorschriftsmäßig sein. Und wenn es in diesem Raum irgendetwas gibt, das nicht da sein sollte, wandern Sie in den Knast. Es liegt ganz bei Ihnen.« Dwyer atmete immer noch schwer. »Was … Was wollen Sie wissen?« »Cameron Boyd.« »Oh Scheiße …« »Keine Sorge. Er sitzt ein und wird wahrscheinlich noch eine ganze Weile hinter Gittern bleiben.« »Er hat Komplizen.« »Indirekt werden Sie Camerons Arsch retten, er dürfte also wahrscheinlich froh sein, wenn Sie mit mir reden.« »Was hat er diesmal ausgefressen?« »Er hat es im November hinter diesem Pub irgendeiner blonden Tussi im Stehen besorgt.« Dwyer sah perplex aus, nickte aber. »Ja, daran erinnere ich mich.« »Schön … Dann erzählen Sie mir mal, was passiert ist.« »Tja …« Dwyer schien immer noch überrascht, dass er nicht zu etwas Gravierenderem befragt wurde. »Es war ein bisschen merkwürdig, würde ich sagen. Sie kam in den Pub und hat ihn sofort angemacht. Sie hat nichts dafür genommen, falls Sie darauf hinauswollen … zumindest nicht, dass ich wüsste.« »Und sie hat Boyd gewählt, weil ihr sein Aussehen gefallen hat?« »Sie hat ihn aus irgendeinem Grund ausgewählt. Niemandem gefällt sein Aussehen.« »Sie erinnern sich offenbar gut an das Ganze. Haben Sie die Nummer der beiden gefilmt?« »Nicht gezielt. Aber auf dem Band der Überwachungskamera für den Außenbereich war sie drauf.« »Dann lassen Sie uns mal einen Blick auf die Aufnahme werfen.« Dwyer sah ihn argwöhnisch an, durchwühlte eine andere Schublade und nahm einen USB-Stick heraus. »Ich habe es kopiert und bearbeitet, um es für einen dieser Zusammenschnitte zu verwenden. Sie wissen schon … Material aus echten Überwachungskameras von Leuten, die es miteinander treiben.« »Nein. Ich weiß nichts von solchem Zeug.« »Ist eine Marktnische.« Dwyer schob den USB-Stick in eine Computerbuchse. »Man sieht nie besonders viel. Doch selbst unter dieser Voraussetzung ist das hier absolute Schrottqualität.« Die Aufnahme, die auf dem Monitor erschien, war schwarz-weiß und durchgehend pixelig. Man erkannte zwar zwei Gestalten vor einer Backsteinmauer, doch ansonsten sah man kaum etwas. Bei einer der beiden Gestalten konnte es sich um Boyd handeln, die andere sah aus wie ein schlankes blondes Mädchen, allerdings war nur ihr Kopf von oben und ein Teil ihres Profils zu sehen. »War sie seitdem noch mal da?« »Falls ja, habe ich sie jedenfalls nicht gesehen.« »Und davor?« Dwyer zuckte mit den Schultern. »Mir ist sie nie aufgefallen. Aber ich kann Ihnen jemanden nennen, der sie vielleicht schon mal gesehen hat. Mick Muppet.« Heck zog eine Augenbraue hoch. »Einer unserer Stammgäste. Er gehört zum festen Inventar.« Mick Muppet war ein derart treuer Gast im »The Moorside«, dass er seinen eigenen persönlichen Stammplatz hatte – in einer Nische gleich links neben der Theke, wo sich eine Holztafel mit der Aufschrift Micks Ecke fand. Er war zwischen Mitte und Ende achtzig, braunhäutig und unglaublich runzelig, doch er erinnerte in gespenstischer Weise an Waldorf aus der Muppet Show, woraus sich sein Spitzname herleitete. Beide Wangen waren von dichten weißen Koteletten geziert, er hatte einen riesigen Kiefer, große, schwermütige Augen und dazwischen eine knollige Nase voller Auswüchse. Etwas unpassend zu seinem Aussehen trug er einen Tropenhut und eine uralte Bomberjacke in Tarnfarbe. »Bevor Sie fragen – ich bin Exangehöriger einer Kommandotruppe«, grummelte er und leerte sein Pint Mild Ale. »Hab ich mir schon gedacht«, entgegnete Heck und zog sich einen Stuhl heran. »Was dagegen, wenn ich mich setze?« »Ist ein freies Land. Dank Menschen wie mir.« »Ich bin Polizist.« »Was Sie nicht sagen.« »Können wir uns ein bisschen unterhalten?« »Meine Kehle ist etwas trocken.« Mick hustete. »Bin kein guter Gesprächspartner, wenn meine Kehle trocken ist.« Heck wandte sich zur Theke, wo Dwyer inzwischen neben der polnischen Bedienung erschienen war und ihn und Mick nervös beobachtete, während er die Zipfel seines Hemdes unter den Bund seiner Jeans stopfte. »Noch ein Mild Ale, bitte«, rief Heck. »Danke, sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mick, als das randvolle Glas vor ihm abgestellt wurde. »Sie kommen wegen dieser Tussi, stimmt’s? Dieser blonden Schlampe, die im letzten November hier aufgetaucht ist?« »Wie haben Sie das erraten?« »Es war ’ne merkwürdige Nummer. Ziemlich junges Ding für das, was sie hier abgezogen hat. Sie wurde ermordet, stimmt’s?« »Nicht, dass wir wüssten.« Mick sah halbwegs überrascht aus. »Ich hätte dem Arschloch, das sie mit nach draußen genommen hat, nicht über den Weg getraut, das kann ich Ihnen sagen.« »Jemand hat sie mit nach draußen genommen?«, fragte Heck. Mick nickte und nippte an seinem Bier. »Ein fies aussehendes junges Stück Scheiße aus Longsight. Gibt einen Haufen übles Pack hier. Diebe und Drogensüchtige. Verwandeln dieses Land in einen einzigen Scheißhaufen.« »Wissen Sie, wer sie ist, Mick? Wir müssen nämlich unbedingt mit ihr reden.« Mick trank sein Bier aus, stellte das leere Glas ab und leckte sich die Lippen. »Es ist eine ernste Angelegenheit«, fuhr Heck geduldig fort. »Mein Durst auch, junger Mann, mein Durst auch.« Heck gab der Bedienung ein Zeichen, noch ein Mild Ale zu bringen. Als es ihm hingestellt wurde, sah Mick es schwermütig an. »Wenn ich an ein Ale denke, muss ich immer an den Bus denken.« »Sie meinen, weil nie einer da ist, wenn man einen braucht.« »Genau. Und wenn dann endlich einer kommt, kommen meistens gleich zwei auf einmal …« »Bringen Sie ihm noch eins«, rief Heck. »Und? Wissen Sie, wer sie ist?« »Ihren Namen kann ich Ihnen nicht nennen, junger Mann. Sie hat ihn schließlich nicht laut ausposaunt, falls Sie das denken. Und selbst wenn, wäre es bestimmt nicht ihr richtiger gewesen … wenn man bedenkt, dass sie an so einen Ort gekommen ist, um einen Schwanz in ihre Möse zu kriegen.« »Würden Sie sie wiedererkennen?« »Könnte sein. Hab sie vorher schon mal gesehen.« Heck betrachtete ihn aufmerksam. »In diesem Pub?« Micks Lippen bebten, während er nachdachte. »Es gibt so viele Pubs, wissen Sie. Kann mich nicht erinnern.« Er stupste die vor ihm stehenden Gläser an, obwohl eines der beiden noch fast voll war. »Bisher haben Sie sich ganz gut erinnert.« »In meinem Alter muss das Gehirn regelmäßig geölt werden.« »Pete!«, rief Heck in Richtung Theke. »Noch ein Mild Ale, bitte.« »Sie war nicht im Pub selbst«, sagte Mick. »Sie war draußen. Ein paar Wochen vor dieser Nummer mit dem Stück Scheiße aus Longsight. Hab sie gegen Mittag gesehen, als ich hergekommen bin. Da hatte sie sich nicht aufgedonnert, um zu vögeln. Trug, glaube ich, einen Anorak. Konnte nur ein bisschen von ihrem Oberkörper sehen, weil sie auf dem Beifahrersitz dieser protzigen Edelkarosse saß. Die hatten einfach nur da geparkt … wie um den Ort auszukundschaften.« »Wer saß am Steuer? Der junge Typ, der sie beim zweiten Mal begleitet hat?« »Glaube ich nicht.« Mick dachte nach und lächelte zufrieden, als das nächste Pint vor ihm abgestellt wurde. »Ein älterer Kerl, schwerer. Konnte ihn nicht richtig sehen. Ich bin achtundachtzig, wissen Sie. Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie überhaupt so viel aus mir rausgekriegt haben.« »Würden Sie diesen Mann wiedererkennen?« »Ich glaube, er trug eine Brille – mit kleinen Gläsern, ich bin mir aber nicht sicher.« »Was ist mit dem Auto? Sie sagten, es war eine Luxuskutsche.« Mick sah nach unten. Die leeren Gläser waren abgeräumt worden. Vor ihm stand nur noch ein Pint, das allerdings voll war. »Sieht ein bisschen einsam aus, finden Sie nicht auch?« »Wenn Sie so weiterbechern, erinnern Sie sich gleich wirklich an nichts mehr.« »Werden Sie erst mal so alt wie ich, junger Mann, dann können Sie mir Vorträge über die Gefahren des Trinkens halten.« »Wissen Sie was, Mike … Ihre Hilfe bei dieser Geschichte wird nicht unbeachtet bleiben. Sie könnten uns helfen, ein sehr schweres Verbrechen aufzuklären, aber wenn Sie mich weiter so hinhalten, könnte das durchaus als ein Vergehen ausgelegt werden.« Mick grinste. »Noch was, was Sie besser verstehen, wenn Sie erst mal so alt sind wie ich, junger Mann: als ob mich das kratzen würde.« »Noch eins, bitte!«, rief Heck zur Theke. »Die Marke kann ich Ihnen nicht sagen«, stellte Mick klar. »Rauchgrau. Supernobel. Soll ich Ihnen eine Zeichnung machen?« Heck starrte ihn völlig baff an. Mick zuckte mit den Schultern. »Es liegt ganz bei Ihnen, junger Mann, aber was Besseres werden Sie nicht kriegen. Ich habe mal zehn Wochen an einem Beobachtungsposten an der Straße nach Imphal ausgeharrt und Truppenbewegungen der Japsen ausgespäht.« Heck schlenderte zur Theke. »Ich brauche Papier und einen Stift.« »Das hier ist kein Klassenzimmer«, stellte Dwyer verärgert klar. »He Mann, tun Sie einfach, worum ich Sie bitte. Cameron wird es Ihnen danken.« »Was ist mit den fünf Pints?« »Setzen Sie die auf Ihre Rechnung.« »Hä?« Dwyer sah ihn fassungslos an. »Saufquittungen kann man bei der Kripo nicht mehr auf die Spesenabrechnung setzen. In welchem Jahrzehnt leben Sie, Pete?« Die Beweiskraft der Zeichnung in Hecks Tasche war von begrenztem Wert. Mick Muppet mochte einst ein Ass im Anfertigen von Zeichnungen japanischer Panzer und Artilleriegeschütze gewesen sein, doch im Lauf der zurückliegenden neunundsechzig Jahre hatten seine Fertigkeiten deutlich nachgelassen. Seine grobe Zeichnung, die er allein aus dem Gedächtnis angefertigt hatte, stellte möglicherweise – aber wirklich nur möglicherweise – einen Jaguar XF dar, doch selbst wenn er das anschaulichste Kunstwerk seit Andy Warhols fünfzehn Minuten Ruhm erschaffen hätte – Mick Muppet hatte den Wagen nicht als Jaguar benannt. Er hatte selber eingeräumt, dass er keine Ahnung hatte, um welches Fabrikat und Modell es sich bei dem Auto gehandelt hatte, und selbst wenn er es gewusst hätte, hätten sie ohne das Fahrzeugkennzeichen mit diesen Angaben nicht viel anfangen können. Doch Heck beschloss, fürs Erste daran festzuhalten – vor allem, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass die Ermittlungsrichtung, der er seit gut drei Wochen folgte, zu absolut nichts geführt hatte. Es war schon später Nachmittag, als er wieder vor der Polizeiwache Manor Hill vorfuhr, doch noch bevor er das Gebäude auch nur betreten konnte, traf er Garrickson, der herauskam und sich einen Anorak über seinen Anzug zog. »Wo waren Sie denn?«, fragte der Detective Chief Inspector. »Boyds DNA zurückverfolgen.« »Und?« »Bisher nichts.« »Dann vergessen Sie das erst mal.« Garrickson ging zielstrebig über den Parkplatz und bedeutete Heck, ihm zu folgen. »Sie fahren mit mir nach Preston.« »Nach Preston?« »Während Ihrer ausgedehnten Abwesenheit hat sich eine Menge getan.« »Erzählen Sie mir nicht, dass wir eine neue Leiche haben.« »Das nicht, aber wir sind noch nicht aus dem Schneider … Es ist noch sieben Stunden lang Beltane.« »Wir sollten uns nicht zu sehr in diesen Termin verbeißen«, stellte Heck klar. »Erics Liste zufolge gibt es im Mai achtzehn mögliche Tage.« »Nicht wenn wir ihnen vorher das Handwerk legen.« Gary Quinnell kam aus dem Polizeirevier geschlendert. Er zog sich ebenfalls eine Regenjacke über. »Was ist los?«, fragte Heck, als der große Waliser neben ihm in seinen Schritt einfiel. »Wir haben eine neue Spur. Eine verdammt gute.« Sie stiegen in Garricksons Ford Kuga und fuhren an dem Belagerungsring aus Journalisten und Übertragungswagen vorbei. Auch wenn er nicht unbedingt freundlich war, schien der Detective Chief Inspector in einer etwas versöhnlicheren Stimmung zu sein als sonst. »Wissen Sie, dass Claire Moody in den Sack gehauen hat?«, fragte er. »Ja«, erwiderte Heck. »Hat uns eh absolut nichts genützt. Wir werden sie nicht vermissen, aber ich habe ihr zum Abschied noch einen kräftigen Einlauf verpasst.« Heck lag eine Erwiderung auf der Zunge, doch er riss sich zusammen und lenkte das Gespräch lieber auf unverfänglicheres Terrain. »Was ist das für eine neue Spur?« »Eigentlich ist es ein bisschen paradox.« Garrickson schüttelte den Kopf, während er fuhr. »Die Häuptlinge haben uns angewiesen dichtzuhalten, aber wenn nicht irgendein Arschloch mit der Presse gequatscht hätte, wäre es niemals zu diesem Durchbruch gekommen.« »Ich kann nicht ganz folgen.« »Es geht um eine Tussi namens Tabby Touchstone. Sie gibt offenbar eine Horrorzeitschrift heraus.« »Eine Horrorzeitschrift?« »Ja.« Garrickson kicherte, ohne jedoch wirklich belustigt zu sein. »Auf solche Schwachköpfe müssen wir offenbar bauen, um diesen verdammten Fall zu lösen. Aber wie auch immer, sie hat sich heute Nachmittag bei uns gemeldet. Vor etwa sechs Jahren ist ihr etwas Merkwürdiges passiert. Irgendein Horrorautor hat ihr eine Geschichte mit dem Titel Blutfest geschickt. Sie handelt von einem Haufen durchgeknallter Mörder, die alte Festtage mit Menschenopfern feiern. Klingelt da was bei Ihnen?« »Wie heißt der Autor?«, fragte Heck. »Dan Tubbs. Genau, ich habe auch noch nie von ihm gehört. Aber das Entscheidende ist: Einige der Morde in dieser Blutfest-Geschichte ähneln in gewisser Weise den Morden, die wir untersuchen.« »Was soll das heißen? Dass das Ganze ein Abklatsch irgendeiner billigen Groschenheft-Horrorgeschichte ist?« »Abgedreht, was? Wenn man bedenkt, wie viele graue Zellen wir darauf verwendet haben. Ich würde mich vor Lachen bepissen, wenn mir nicht nach Weinen zumute wäre. Aber es geht noch weiter … Tabby Touchstone hat die Geschichte nicht gebracht – mit der Begründung, dass sie unglaubwürdig sei. Dass sie sich nicht im wirklichen Leben zutragen könne.« »Ganz schön auf Zack, diese Tabby Touchstone«, stellte Quinnell fest. »Doch auf ihre Zurückweisung hat dieser Tubbs stinkig reagiert und ihr einen Drohbrief geschickt, in dem er ihr versprochen hat, ihr das Gegenteil zu beweisen.« »Und diesem Tubbs statten wir jetzt also einen Besuch ab, richtig?«, fragte Heck. »Ich habe vor einer halben Stunde das Wählerverzeichnis überprüft. Er ist immer noch unter der gleichen Adresse gemeldet, von der er ihr damals geschrieben hat. Ribbleton in Preston, nur knapp fünfzig Kilometer von hier, aber weniger als einen Kilometer von dem Brachland entfernt, auf dem Barry Butterfield in der Guy-Fawkes-Nacht in ein geröstetes Schwein verwandelt wurde.« »Den Brief brauchen wir auch«, stellte Heck klar. »Den bekommen wir. Tabby Touchstone ist eine von der pingeligen Sorte. Bewahrt alle Unterlagen auf. Genau in diesem Moment nehmen Beamte der Kripo Brighton ihre Aussage auf.« Sie wechselten von der M62 auf die M6 und erreichten eine halbe Stunde später Preston in der Grafschaft Lancashire. Sie fuhren durch das Zentrum des Vorortstadtteils Ribbleton, durchquerten ein heruntergekommenes Viertel nach dem anderen und parkten schließlich in der Nebenstraße der Plumpton Brow, an der der mysteriöse Dan Tubbs wohnte. Heck war davon ausgegangen, dass sie auf einige Leute des Teams treffen würden, das den Lagerfeuermord untersuchte, doch Garrickson hatte sie nicht informiert. »Die haben alle Hände voll zu tun«, erklärte er, als sie aus dem Ford Kuga stiegen. Heck sah sich um. Es hatte aufgehört zu nieseln, aber die trostlosen Straßen waren noch nass. Es war kalt und windig und fühlte sich eher an wie im Herbst als wie mitten im Frühling. »Schön … und warum haben wir nicht ein paar Kollegen von der Wache Manor Hill mitgenommen?«, fragte er. »Die haben auch zu tun.« Das war mit ziemlicher Sicherheit wahr. Keiner der an der Operation Feiertag Beteiligten saß herum und setzte Büroklammerketten zusammen, doch auch wenn sie zu dritt imstande sein sollten, mit einem einzelnen Festzunehmenden klarzukommen, hätte Gemma es bestimmt nicht für klug gehalten, so ein Risiko einzugehen, und dafür gesorgt, dass zusätzliche Kräfte als Verstärkung zur Verfügung gestanden hätten. Garrickson hätte eigentlich genauso denken müssen, doch aus irgendeinem Grund hatte er sich dagegen entschieden. Heck fragte sich, ob der Detective Chief Inspector auf Gemmas schwarzer Liste stand, weil er Claire auf der Pressekonferenz im Regen hatte stehen lassen, und jetzt versuchte, seine Position zu festigen, indem er sich selbst die Rolle desjenigen zuwies, der den Fall löste. Er hatte Heck und Quinnell als Verstärkung mitgenommen, wollte jedoch nicht zu viele helfende Hände, um die Lorbeeren nicht mit zu vielen teilen zu müssen. Das schien nicht der beste Grund, um unterbesetzt bei Tubbs hereinzuspazieren. Sie gingen durch eine knöcheltief mit Abfall übersäte Verbindungsgasse zwischen den beiden Straßen. Als sie die Plumpton Brow erreichten, warteten sie am Ende der Straße und beobachteten Nummer sechsunddreißig – die Adresse, unter der Tubbs gemeldet war. Von ihrem Standpunkt aus war es das dritte Haus. Wie alle anderen war es in einem armseligen Zustand. Das Mauerwerk war schäbig und mit Ruß überzogen, die Haustür verschrammt und eingedellt. Doch hinter dem Fenster im oberen Geschoss war ein dünner Vorhang zugezogen, und dahinter brannte Licht. »Sollen wir einfach da reinplatzen und den Kerl festnehmen?«, fragte Quinnell, der Hecks Vorbehalte zunehmend zu teilen schien. Gemma hatte viel Zeit darauf verwendet, ihren Mitarbeitern im Dezernat für Serienverbrechen beizubringen, Vorsicht walten zu lassen. Das hatte etwas für sich, doch an Garricksons Einwand, dass sie bereits zu viel Zeit damit verschwendet hatten, Verdächtige zu beobachten, anstatt sie zu verhaften, war auch etwas Wahres. Sie mussten endlich Fortschritte machen. Sie verharrten noch einen Moment und peilten die Lage. Es war immer noch kein Mensch zu sehen. »Heck, Sie kommen mit mir zur Haustür«, sagte Garrickson schließlich. »Gary … hintenrum. Achten Sie darauf, dass niemand Sie sieht.« Quinnell nickte und ging die Verbindungsgasse zurück. Heck und Garrickson warteten. Die Straße war nicht länger menschenleer. Am anderen Ende erschien eine Gestalt und spazierte langsam auf sie zu. Sie zogen sich ein paar Schritte zurück. Es war eine alte Frau in einem abgetragenen Regenmantel und in Schlappen. Ihr strähniges, graues Haar war auf Lockenwickler gerollt. Sie betrat eines der Häuser. Die Tür fiel mit einem nachhallenden Rums zu. Sie warteten weiter. »Warum sagen Sie nichts, wenn Sie der Meinung sind, dass ich die Sache falsch angehe?«, fragte Garrickson. Heck zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihre Show, Sir. Sie sind derjenige, der damit triumphieren oder untergehen wird. Im Übrigen bin ich auch der Meinung, dass wir Verhaftungen vornehmen sollten.« Garrickson nahm erneut das Haus ins Visier. »Es ist eine gute Spur. Das müssen Sie zugeben.« »Die beste, der wir bisher nachgegangen sind … und genau das gibt mir zu denken. Dieser Tubbs kündigt jemandem an, dass er eine Serie Verbrechen begehen wird, die er sich für eine erfundene Geschichte ausgedacht hat? Und dann tut er es tatsächlich? Ich hätte gedacht, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der ein bisschen mehr Grips im Kopf hat.« »Jedenfalls erfüllt er die von Ihnen vermutete Bedingung. Wie sagten Sie noch … dass es sich bei dem Täter Ihrer Vermutung nach entweder um einen Gelehrten oder um einen Schriftsteller handelt?« Dem musste Heck zustimmen. Garricksons Handy klingelte. Es war Quinnell, um ihn wissen zu lassen, dass er jetzt hinter dem Haus in Position war. »Also gut.« Garrickson zog den Reißverschluss seines Anoraks hoch. »Dann wollen wir mal.« Als sie über die Straße auf das Haus zugingen, sah Heck erneut zu dem Fenster im oberen Geschoss hinauf. Er hätte schwören können, dass sich der Vorhang bewegt hatte. »Als Erstes reden wir mit ihm«, sagte Garrickson. »Aber wenn er sich nicht kooperationswillig zeigt, nehmen wir ihn hart ran. Egal, was der Scheißkerl sagt – er kommt mit uns.« Als sie an die Haustür klopften, hörten sie schwere Schritte eine Innentreppe herunterstapfen. Die Tür wurde so weit nach innen aufgerissen, wie die Sicherheitskette es zuließ, und ein grobes Gesicht spähte nach draußen. Der Mann überragte die beiden Polizisten um einige Zentimeter, hatte ein aufgedunsenes, bärtiges Gesicht und starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. Ein gewaltiger Bierbauch wölbte sich unter seinem Strickpulli, dabei konnte er höchstens achtundzwanzig Jahre alt sein. »Ja?«, fragte er argwöhnisch. »Daniel Tubbs?«, entgegnete Garrickson. »Wer will das wissen?«, fragte er aggressiv. Garrickson zückte seinen Dienstausweis, woraufhin ihm die Tür mit einer solchen Wucht ins Gesicht gerammt wurde, dass von den Backsteinen über dem Türsturz Staub hinabrieselte. Selbst Heck wurde kalt erwischt, doch aus irgendeinem Grund schnappte die Tür nicht ins Schloss, sondern sprang zurück, und als Garrickson sich mit der Schulter gegen sie stemmte, riss die Sicherheitskette aus ihrer Verankerung. Sie fanden sich in einem düsteren, tapetenlosen, mit schäbigem Linoleum ausgelegten Eingangsflur wieder. Der Flur führte durch das ganze Haus zur Rückseite, wo inzwischen wahrscheinlich die Hintertür offen stand und Tubbs dabei war, sich zu verdünnisieren. Doch das tat er nicht. Stattdessen wartete er etwa drei Meter vor ihnen auf sie. Aber das war nicht alles. Vor ihm stand ein riesiger knurrender, sabbernder Dobermann mit angelegten Ohren und entblößten säbelartigen Reißzähnen. »Töte sie, Toby!«, befahl Tubbs. »Wir sind Polizisten!«, versuchte Garrickson zu rufen. Doch der Hund war schon bei ihnen und schnappte nach ihnen. Bevor Heck nach hinten ausweichen konnte, versenkte der Hund seine Zähne durch sein linkes Hosenbein in seinen Oberschenkel und riss an ihm. »Allmächtiger!« Heck ließ beide Fäuste mit voller Wucht auf den langen, schmalen Schädel des Hundes niedersausen, doch ohne jeglichen Erfolg. Die Kiefer des Dobermanns blieben fest in seinem Fleisch verbissen. Garrickson trat und boxte ebenfalls auf den Hund ein. »Rufen Sie Ihren Köter zurück, Sie durchgeknallter Schwachkopf … Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir Polizisten sind!« »Kümmern Sie sich nicht um mich …«, brachte Heck keuchend hervor. »Schnappen Sie sich das Arschloch!« Garrickson kämpfte sich an der Bestie vorbei. Ein paar Meter vor ihm erwartete Tubbs ihn. Er grinste durch seinen zerzausten Bart. »Sie stecken tiefer in der Scheiße, als Sie sich je hätten träumen lassen, Freundchen!«, rief Garrickson. »Sie auch.« Tubbs holte einen Baseballschläger hinter seinem Rücken hervor, hob ihn über seinen Kopf und ließ ihn, wie ein Irrer brüllend, niedersausen. Garrickson blieb nichts anderes übrig, als zur Abwehr seinen linken Arm zu heben. Die Wucht des Aufpralls ging durch Mark und Bein. Heck war sicher, dass selbst Gary Quinnell draußen hinter dem Haus das Splittern und Knirschen zerbrechender Knochen gehört haben musste. Dem lauten Krachen und Klopfen nach zu urteilen, das von der Rückseite des Hauses zu ihnen drang, war er bereits dabei, sich gewaltsam Zutritt zum Haus zu verschaffen. »Gary, beeil dich!«, brüllte Heck. »Scheiße!« Der Dobermann hatte seinen Biss gelockert, jedoch nur, um seine Kiefer um Hecks linkes Knie zu legen und mit gnadenloser Kraft zuzubeißen. Heck versuchte, sich loszureißen und nach hinten zu springen, jedoch vergeblich. Blut strömte bereits durch die zahlreichen Risse in seinem Hosenbein. Garrickson war auf die Knie gesackt, sein linker Unterarm hing in einem grausig schiefen Winkel. Tubbs, dessen Augen wie verfärbte Murmeln aus einem violett angelaufenen Gesicht glotzten, stand triumphierend über ihm. Heck hatte keine Wahl – er stach dem Hund gleichzeitig die ausgestreckten Zeigefinger in die Augen. Jaulend schreckte der Dobermann zurück. Heck folgte ihm und trat ihm mit voller Wucht gegen die Kehle. Der Hund sackte zusammen wie eine leblose Masse. »DRECKSAU!«, schrie Tubbs und stürmte mit dem Baseballschläger in der Hand auf Heck los. Doch Garrickson war ihm noch im Weg und schaffte es, seinen unversehrten Arm um Tubbs’ Beine zu legen. Der Übergewichtige fiel der Länge nach auf den Linoleumboden. Garrickson schrie auf, da sich sein zertrümmerter Arm während des Manövers erneut verdrehte. Heck stürmte zu Tubbs, der versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und rang mit ihm, wurde jedoch hochgehoben und seitwärts auf einen Heizkörper geschleudert. An der Rückseite des Hauses ging das wilde Klopfen weiter, bis die Tür nach innen aufflog, Milchglasscherben niederprasselten und Quinnell sich endlich zu ihnen vorkämpfte. Tubbs, der Heck am Kragen gepackt gegen die Wand drückte und im Begriff war, ihm mit dem Schläger den Schädel einzuschlagen, wurde von Quinnells Erscheinen abgelenkt. Heck nutzte den Moment, ließ sein unversehrtes Bein mit voller Wucht auf den Fuß des Angreifers niedersausen und drehte den Absatz seines Schuhs mit aller Kraft auf dessen Zehen. Tubbs taumelte zurück, schlug jedoch trotzdem mit dem Schläger zu, aber Heck duckte sich; ein Stück Putz wurde aus der Wand geschlagen. Schließlich griff Quinnell in den Kampf ein. Er verfügte wie Tubbs über einiges an Körpergewicht, war aber wesentlich fitter. Sie rangen wild miteinander, doch Quinnell gewann schnell die Oberhand und landete einen ausreichend kraftvollen Treffer auf Tubbs’ Kiefer, um ihn auf die Knie sinken zu lassen, sodass Heck ihm hinter dem Rücken Handschellen anlegen konnte. »Sie durchgeknallter Idiot!«, schrie Heck ihm keuchend ins Ohr. »Selbst wenn Sie nicht der Kerl sind, den wir suchen … Für diese Nummer sitzen Sie, bis Sie sechzig sind.« »Hören Sie … Meine unkontrollierten Wutanfälle machen mir zu schaffen«, protestierte Tubbs. »Sie meinen, Sie haben einen miesen Charakter«, stellte Quinnell fest, der mit einer Hand Tubbs’ in Handschellen steckendes Handgelenk umklammerte. »Es ist eine Art Depression. Mir wurden dagegen sogar Beruhigungsmittel verschrieben.« »Überrascht mich nicht. Sie gehören in die Klapsmühle, Mann. Aber Sie können sich glücklich schätzen, wenn Sie so billig davonkommen.« Sie standen auf dem Bürgersteig an der Plumpton Brow vor dem Haus Nummer sechsunddreißig. Inzwischen parkten dort auch einige Streifenwagen der örtlichen Polizei und ein Gefangenentransporter. Anwohner standen vor ihren Haustüren und tuschelten miteinander. Tubbs sah betrübt dem Krankenwagen hinterher, der mit Garrickson über die dunkle Straße davonfuhr. Er schien ehrlich zu bedauern, was er getan hatte. Dies war nur ein Teil seiner Persönlichkeitsveränderung, die er in den zurückliegenden fünfzehn Minuten durchgemacht hatte. Die Wut war aus ihm entwichen wie Wasser, das durch ein Sieb gegossen wird, und sein Verhalten hatte nahezu kindische Züge angenommen. Die aufzuckenden Blaulichter, deren Schein von der Front seines Hauses reflektiert wurde, schienen ihn zu verstören. Heck stand ein paar Meter weiter bei einem uniformierten Polizeibeamten. Seine Wunde war von einem der Sanitäter gereinigt worden, und sein Hosenbein wurde von Sicherheitsnadeln zusammengehalten. »He, warten Sie!«, rief Tubbs, als zwei Polizeibeamte ihn abführten. »Warten Sie … bitte.« Heck hob die Hand, und sie blieben stehen. »Hören Sie, ich will … Ich will reinen Tisch machen, okay!«, stammelte Tubbs. »Ich will reinen Tisch machen!« »Sie wissen, dass immer noch alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann, oder?«, erklärte Heck ihm. »Ja, ja … klar. Es ist zwei Monate her, als ich es getan habe! Ich bin bereit zu kooperieren. Ich werde Ihnen alles erzählen. Ich will einfach nur, dass es raus ist. Und dass es aus und vorbei ist.« »Was haben Sie getan?«, fragte Heck. »Diese Kreditkarte benutzt. Ein paar Sachen damit gekauft. Ich weiß, dass es komplett bescheuert war, das zu tun, aber ich bin pleite, verstehen Sie.« Heck und Quinnell sahen sich an. »Was für eine Kreditkarte?«, fragte Heck. »Die von Les Atkinson«, erwiderte Tubbs. »Diesem Typen aus dem Pub. Er ist immer hackevoll. Es war ganz einfach, ihm die Karte abzunehmen. Er hat erst ein paar Tage später gemerkt, dass sie weg war. Er dachte, er hätte sie verloren, verdammt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, deshalb habe ich sie nur ein einziges Mal benutzt. Ich weiß, dass ich ein Idiot bin, aber es ist das einzige Verbrechen, das ich je begangen habe. Seitdem habe ich hier gesessen, mir vor Angst in die Hose gemacht und darauf gewartet, dass Sie aufkreuzen. Deshalb bin ich gerade vor Panik ausgerastet.« Heck fühlte sich, als müsste er sich hinlegen. »Was ist Ihre wahre Geschichte, Dan? Wer sind Sie genau, und warum stehen Sie jeden Morgen auf?« »Ich bin Schriftsteller.« »Ist das Ihre Hauptbeschäftigung?« »Ich war Pförtner bei der Gesundheitsbehörde, aber vor ein paar Jahren wurde mir betriebsbedingt gekündigt. Als es passierte, dachte ich, es wäre gut, dass es sich so gefügt hat … dachte, ich könnte mich ganz aufs Schreiben konzentrieren. Aber ich habe so gut wie nichts veröffentlicht.« »Was ist mit Blutfest?«, fragte Quinnell. Tubbs sah ihn völlig perplex an. »Hä?« Heck nahm die Frage auf. »Haben Sie nicht eine Geschichte mit dem Titel Blutfest geschrieben?« »Eine Erzählung … ja. Woher wissen Sie das?« »Worum ging es in der Geschichte?« »Äh …« Tubbs sah immer noch völlig verdutzt aus. »Um einen heidnischen Kult. Die Anhänger dieses Kults haben ihre Opfer an besonderen Feiertagen dargebracht. Sie können sich die Geschichte gerne selber ansehen. Ich habe oben in meiner Wohnung jede Menge überschüssige Exemplare.« Heck und Quinnell gingen ins obere Geschoss des Hauses, während Tubbs von den örtlichen Polizeibeamten unten im Flur festgehalten wurde. Sie folgten seinen hochgerufenen Anweisungen und landeten in einem nach hinten hinausgehenden Zimmer, in dem es außer ein paar Regalen, in denen sich fleckige, bedruckte Blätter stapelten, keine weiteren Möbel gab. Auf einer Seite des mittleren Regalbretts befand sich ein etwas geordneterer Stapel von etwa fünfzig Heftchen. Auf den ersten Blick sahen sie nicht nach viel mehr aus als nach primitiv zusammengehefteten Studentenblättchen, doch alle hatten die gleiche Illustration auf dem Cover: einen auf einer Lanze aufgesetzten abgetrennten Kopf und zwei ebenfalls auf Lanzen aufgesetzte abgetrennte Hände. Darüber stand der Titel: Blutfest. Heck blätterte eines der Heftchen durch und verharrte auf einigen Seiten, um sie zu überfliegen. »Hör dir das mal an … Valentinstag. Ein Liebespaar wird beim Vögeln im Auto ertappt. Ihre Herzen werden herausgeschnitten und mit einem Pfeil an einen Baum genagelt.« »Ist nicht ganz so, wie es sich zugetragen hat.« »Aber nah dran. Wie ist es damit … Karfreitag? Ein Priester wird in seiner eigenen Kirche an ein aus Kirchenbänken konstruiertes Kreuz genagelt. Zwei ansässige Penner, die versucht haben, vom Kirchendach Bleiziegel mitgehen zu lassen, werden zu beiden Seiten neben ihm gekreuzigt.« Quinnell sah ihn perplex an. Dazu gab es nicht viel mehr zu sagen. Tubbs warf ihnen einen fragenden Blick zu, als sie die schmale Treppe wieder heruntergestapft kamen. »Sie haben gesagt, dass Sie hier gesessen und sich vor Schiss in die Hose gemacht haben, Dan«, sagte Heck und schlug dem Verhafteten eines der Heftchen gegen die Brust. »Dafür hatten Sie auch einen verdammt guten Grund.« »Wer sind Sie? Die verdammte Literaturpolizei? Es ist nur eine erfundene Geschichte. Und die wollte noch nicht mal jemand veröffentlichen. Ich habe sie nur an einen einzigen Verlag geschickt, und die Verlegerin hat die Veröffentlichung abgelehnt. Sie hat gesagt, die Geschichte sei völlig unrealistisch.« »Das wissen wir«, stellte Quinnell klar. »Aber haben Sie ihr daraufhin nicht gedroht, ihr ›das Gegenteil zu beweisen‹?« »Moment mal … warten Sie!« Ein Ausdruck blanken Entsetzens zeichnete sich auf Tubbs’ grobem Gesicht ab. »Sie spielen doch nicht etwa auf diese Morde des Feiertagsschänders an, oder? Herr im Himmel, das können Sie doch nicht ernst meinen.« »Haben Sie einen Drohbrief an Tabby Touchstone geschrieben oder nicht?« »Ja, ja.« Tubbs nickte wie wild. »Aber es war ein hirnrissiger Schwachsinnsbrief. Sie haben doch gesehen, wie ich bin. Ich raste aus und tue alle möglichen Dinge, die ich nicht ernst meine.« Auch wenn nichts anderes zu erwarten gewesen war, als dass Tubbs alles vehement abstritt, konnte Heck sein Bauchgefühl nicht ignorieren, das ihn schon seit einer Weile begleitete und ihm sagte, dass dies nicht ihr Mann war. Er blickte sich flüchtig um und sah Geschirr, das so verdreckt war, dass Pilzkulturen auf ihm gediehen, Teppiche, auf denen sich Krümel aus Jahrzehnten angesammelt hatten, ein Kaminsims im Wohnzimmer, auf dem sich Tablettenpackungen stapelten. Und zu alledem war Tubbs ein totaler Trottel – groß und verrückt genug, jemanden aus dem Nichts heraus niederzuschlagen, doch ohne die organisatorischen Fähigkeiten, sein eigenes Leben in den Griff zu kriegen, geschweige denn, eine Serie durchdachter, vorgeplanter Morde zu begehen. »Als die Serie der Feiertagsschändungsmorde begann«, sagte Heck, »haben Sie da nie gedacht: ›Moment mal, da gibt es ja eine Verbindung zu meiner Geschichte. Hat da etwa jemand meine Ideen übernommen?‹« Tubbs stöhnte laut auf. »Ich habe Ihnen doch gesagt … Niemand hat die Geschichte je gekauft. Und ich habe sie nur an einen einzigen Verlag geschickt und danach nie wieder, nachdem diese Tussi mir mitgeteilt hatte, was für einen Haufen Scheiße ich da verzapft hätte!« Er wand sich langsam und krampfhaft, und es kostete Quinnell und die beiden uniformierten Polizisten einige Mühe, ihn wieder zu bändigen, doch diesmal trat er nicht um sich und schrie und brüllte auch nicht. Er erschlaffte in ihrem Griff und atmete schwer. Tränen, die vermutlich eher seiner Sorge als seiner Wut entsprangen, rollten ihm die Wangen herunter. »Dann ist Tabby Touchstone also der einzige Mensch außer Ihnen, der Ihre Geschichte je zu Gesicht bekommen hat?«, fragte Heck. »Ja. Sie hat sie für so bescheuert befunden, dass ich nicht gewagt habe, sie noch woanders anzubieten.« »Und was haben Sie damit gemeint, als Sie ihr mitgeteilt haben, ihr ›das Gegenteil beweisen‹ zu wollen?« »Mein Gott, ich meinte damit, dass ich die Geschichte überarbeiten und dann selber veröffentlichen würde. Dass ich mir damit eine goldene Nase verdienen würde, ohne einen nutzlosen Zwischenhändler einzuschalten. Aber wie Sie oben in dem Zimmer gesehen haben, habe ich nie auch nur ein einziges verdammtes Exemplar verkauft. Das Ganze hat mich nur Geld gekostet und mir nichts eingebracht.« »Und Sie sind absolut sicher, dass niemand sonst die Geschichte je gelesen hat?« »Absolut niemand wollte sie kaufen … Oh!« Tubbs’ Ausdruck änderte sich schlagartig. »Oh … Scheiße!« »Was ist?«, fragte Heck. »Vor sechs Jahren … die britische Horrormesse in Bristol. Ich habe die Hefte mitgenommen. Oh Scheiße, jeder Arsch hätte sich eins mitnehmen können.« »Wovon reden Sie?« »Ich konnte sie nicht verkaufen, also dachte ich, ich könnte sie ja verschenken … Sie wissen schon, als Werbegag, um mich bekannter zu machen. Also habe ich sie im Hotel auf allen möglichen Tischen ausgelegt. Aber alles in allem höchstens zwanzig Exemplare.« »Wie viele wurden denn mitgenommen?« »Keine Ahnung. Ich bin nie herumgegangen, um nachzuzählen.« Heck kniff sich in den Nasenrücken, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte. Dann wandte er sich dem uniformierten Polizisten zu. »Wenn Sie und Ihre Leute ihn aufs zentrale Revier von Preston mitnehmen könnten, wäre das super. Er wird unter dem Verdacht verhaftet, eine Kreditkarte geklaut und diese betrügerisch zum Kauf von Waren eingesetzt zu haben, sowie wegen ernsthafter Verletzung eines Polizeibeamten und aller möglichen Anklagepunkte, die mir wegen dieses Hundes noch einfallen. Ich komme in zehn Minuten nach und kümmere mich um ihn.« Tubbs wurde unter anhaltendem Protest abgeführt und in den vergitterten hinteren Bereich des Gefangenentransporters gesetzt. Der Wagen verschwand in einer Abgaswolke. Quinnell lehnte sich gegen den zersplitterten Türpfosten. »Was glaubst du?« »Er ist es nicht.« Heck rieb sich seinen verletzten Oberschenkel, der jetzt, da das verletzte Fleisch zusammengedrückt wurde, entsetzlich pochte. »Ich wünschte, er wäre es, aber er ist es nicht.« »Und was hältst du von dieser Tabby Touchstone? Klingt … keine Ahnung, ein bisschen abgedreht.« »Muss sie ja auch sein. Sie gibt schließlich eine Horrorzeitschrift heraus. Ist wahrscheinlich sowieso nur ihr Künstlername. Wir werden sehen, was die Kollegen aus Brighton von ihr halten, aber ich würde mir da nicht allzu große Hoffnungen machen.« Es schien lächerlich für eine Frau ihres Alters, doch Claire hatte noch nie in ihrem Leben versucht, so spät in der Nacht so eine lange Strecke zurückzulegen. Jedenfalls nicht allein. Anfangs war es ihr als eine vernünftige Idee erschienen, um Mitternacht loszufahren. Die Straßen würden leer sein, sie wäre also in weniger als drei Stunden zu Hause. Und wenn sie tatsächlich von Sorgen und Verunsicherung gequält werden würde, weil sie sich einfach so aus dem Staub gemacht hatte? In dem Fall würden ein paar Stunden hinter dem Lenkrad, in denen sie die Augen auf den sich endlos vor ihr ausbreitenden schwarzen Asphalt heften musste, vielleicht dazu beitragen, die Dinge zu relativieren. Allerdings hatte sie nicht erwartet, dass die Straßen derart verwaist sein würden. Die Wälder und Felder, die sie umgaben, waren eine einzige unbeleuchtete Ödnis. Hin und wieder war auf der Gegenfahrbahn ein Auto vorbeigerauscht, doch auf ihrer Spur hatte sie nur ein einziges Auto gesehen, seitdem sie auf die M62 gefahren war – und selbst dies hatte sie ein wenig nervös gemacht. Denn es war immer noch da, etwa sechzig Meter hinter ihr, nicht zu erkennen natürlich, nicht mehr als ein Paar starre, strahlende Augen, aber es fuhr konstant etwa einhundertzehn Stundenkilometer – genau wie sie. Im ersten Moment hatte sie sich eingebildet, dass es ihr womöglich schon vom Motel aus gefolgt und bereits auf dem Autobahnzubringer hinter ihr gewesen war. Sie hatte sich gefragt, ob es vielleicht einer der Beamten des Teams war, der checken wollte, was sie vorhatte, und ihr nun folgte. Doch diesen Gedanken hatte sie schon bald als ein Hirngespinst verworfen, das ihrem schlechten Gewissen entsprungen war. Na schön, es war nicht gerade die feine Art, sich mitten in einer laufenden Ermittlung einfach so davonzustehlen, nicht einmal, wenn man zum Zivilpersonal gehörte. Es konnte durchaus als eine Pflichtverletzung angesehen werden. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie jemand geahnt haben könnte, dass sie das, was sie gerade tat, zu tun plante – weil sie es schlicht und einfach gar nicht geplant hatte. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, auch wenn es (trotz einer weiteren Standpauke, die Detective Chief Inspector Garrickson ihr erteilt hatte) wahrlich keine einfache Entscheidung gewesen war. Ihr gefiel nicht, was sie tat. Sie hasste sich selbst dafür – doch sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, welchem Zweck es gedient haben würde, wenn sie weiter auf der Wache Manor Hill geblieben wäre. Sie hatte alle enttäuscht, sich selbst eingeschlossen. Offenkundig taugte sie nicht für den Job und war nicht mehr als die Zielscheibe des allgemeinen Gespötts. Nicht dass sie exakt diese Überlegungen in ihrem Kündigungsschreiben aufgeführt hatte, das sie Superintendent Piper per E-Mail geschickt hatte. Sie hatte Gemma nicht viel mehr mittgeteilt als das, was sie Heck in der Nacht zuvor gesagt hatte: Sie war für die ihr zugetragene Position einfach nicht geeignet, und je früher sie nicht mehr dabei war, umso besser für alle. Bisher hatte sie keine Antwort erhalten. Sie warf erneut einen Blick in den Rückspiegel. Das Auto hinter ihr war weiter zurückgefallen. Es lag sogar so weit zurück, dass es beinahe aus ihrem Sichtfeld verschwand, was sie vermutlich als eine kleine Erleichterung werten konnte. Dass es sie auf einer freien Autobahn noch nicht überholt hatte, obwohl sie gerade mal einhundertzehn Stundenkilometer fuhr, war schon ein wenig verdächtig, aber es machte wirklich keinen Sinn anzunehmen, dass jemand aus dem Team sie überwachte. Sie hatten im Moment Wichtigeres zu tun. Sie warf erneut einen Blick in den Rückspiegel. Das Auto befand sich jetzt am äußersten Ende ihres Sichtfeldes hinter ihr und fiel noch weiter zurück. Aber Herrgott noch mal … sich einfach so mitten in der Nacht davonzustehlen sah nach einer ziemlichen Verzweiflungstat aus. Claire wurde erneut von Zweifeln geplagt. Wie würde sie dastehen? Selbst die Wohlmeinenden würden sagen, dass sie vor ihrer Verantwortung floh, und egal, wie man es auch drehte und wendete, ließ sich nicht bestreiten, dass dies tatsächlich der Fall war. Sie war der felsenfesten Überzeugung, dass sie mit ihrem Fehler allen die Arbeit vermasselt hatte, und wusste nicht, wie sie ihnen wieder gegenübertreten sollte. Und wenn die zweite entführte Prostituierte aufgrund ihrer, wie Garrickson es ihr in scharfem Ton unter die Nase gerieben hatte, »verdammten Unfähigkeit« starb, konnte sie unmöglich noch dabei sein und gezwungen sein, die Hochglanzaufnahmen des Tatorts zu betrachten, die genau dies bewiesen. Doch es machte keinen Sinn, sich einzureden, dass sie dieses Gefühl von elender Feigheit nicht zutiefst beschämte. Claire hatte sich immer ihre Loyalität und Selbstdisziplin zugutegehalten. Natürlich hatte sie noch nie mit etwas derart Entsetzlichem zu tun gehabt, aber von Natur aus war sie eigentlich nicht jemand, der so schnell aufgab. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mieser fühlte sie sich. Sie blickte erneut in den Spiegel. Das andere Auto hatte wieder ein wenig aufgeholt, war aber immer noch gut hundert Meter hinter ihr. Dann erweckte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit: ein Warnlämpchen neben der Lenksäule. Es war die Tankanzeige. Claires erste Reaktion war ein Schock. Sie hatte erst ein paar Tage zuvor vollgetankt und den Wagen seitdem kaum benutzt. Ihre zweite Reaktion bestand darin, sich erneut mit Selbstvorwürfen zu überziehen. Mein Gott, wie bescheuert von ihr, sich derart mit anderen Dingen zu beschäftigen, dass sie das nicht vorher gemerkt hatte. Ihre dritte Reaktion war Panik, weil die Nadel der Tankanzeige schon unter den roten Balken gerutscht war und es bis zur nächsten Tankstelle ihrem Navi zufolge noch gut zehn Kilometer waren. Sie wechselte auf die Kriechspur und versuchte zu kalkulieren, ob sie es bis zur Tankstelle schaffen würde, rechnete jedoch mit dem Schlimmsten. Der Tankanzeige zufolge fuhr sie bereits mit dem letzten Tropfen. Vor ihr kam eine Abfahrt in Sicht, von der aus es dem Schild zufolge nach Clock Face und Bold Heath ging, zwei Ortschaften, von denen sie noch nie gehört hatte. Doch das war natürlich völlig egal, Hauptsache, es gab eine Tankstelle in der Nähe. Sie wechselte auf die Abbiegespur. Von der M62 abzufahren war wahrscheinlich in jedem Fall eine gute Idee, wenn sie jeden Moment mit leerem Tank dastand. Die Abfahrt mündete nach hundert Metern in einer T-Kreuzung. Claire bremste ab, als sie sich der Abzweigung näherte, wagte jedoch nicht zu halten, da sie befürchtete, nicht erneut anfahren zu können. Sie bog nach links ab und schwenkte auf eine Straße ein, die wie eine verlassene Landstraße aussah. Es gab noch kein Hinweisschild, aber bis zur nächsten Tankstelle konnte es sicher nicht mehr weit sein. Merseyside war zwar eine eher ländlichere Grafschaft, aber überall verstreut gab es Ballungszentren, auch wenn im Moment nur weitere mondbeschienene Felder und finstere Wälder an ihren Fenstern vorbeihuschten. Sie warf erneut einen Blick auf die Tankanzeige. Die Nadel stand so tief, dass es ihr ein Rätsel war, wieso sie überhaupt noch fuhr. Selbst wenn sie an einem Pub oder an einem Restaurant vorbeikäme, würden diese zu dieser späten Stunde geschlossen sein – aber zumindest könnten deren Parkplätze noch zugänglich sein, sodass sie wenigstens die Straße würde verlassen können. Doch was dann? Konnte sie die Automobile Association anrufen? Sie wusste nicht, ob die Pannenhelfer auch ausrückten, wenn jemand so dösig war, mit leerem Tank dazustehen. Bestimmt gab es auch einen örtlichen Pannendienst, aber da stellte sich die gleiche Frage. Das Naheliegendste war, in der Einsatzzentrale anzurufen. Die war rund um die Uhr besetzt. Irgendjemand würde abnehmen, allerdings würde sie sich vorkommen wie die größte Vollidiotin auf Erden. Sie spähte angestrengt vor sich und nahm, sooft es ging, den Fuß vom Gaspedal und rollte im Leerlauf, um Benzin zu sparen. Sie bog um eine Haarnadelkurve, die schwarz-weiße Zickzack-Markierung blitzte kurz im Scheinwerferlicht auf. Hinter der Kurve erstreckte sich ein weiteres dichtes Waldgebiet, die belaubten Bäume rückten zu beiden Seiten bis an die Straße heran. Und dann die Rettung: Sie bog um eine zweite Kurve und sah gut dreißig Meter vor sich auf der linken Seite etwas, das aussah wie eine Tankstelle mit allem Drum und Dran, einschließlich Überdachung und angeschlossenem Laden. Es brannte kein Licht, aber das war kaum überraschend und spielte auch keine Rolle. Zumindest war sie am richtigen Ort, um am nächsten Morgen tanken zu können. Sie schaffte die letzten Meter problemlos, doch als sie auf den zementierten Bereich vor den Zapfsäulen rollte, gab der Motor den Geist auf. Sie sackte erleichtert zusammen. Es verging eine Weile, bis sie schließlich wieder aufblickte – und sah, dass die Fenster und Türen des Ladens mit rostzerfressenen Gittern und Vorhängeschlössern versperrt waren. Einige der Scheiben hinter den Gittern waren zerbrochen. Sie nahm den Außenbereich der Tankstelle in Augenschein und sah, dass er mit Laub und Abfällen übersät war. Die Zapfsäulen waren mit einer dicken Staubschicht überzogen. Claire schloss ungläubig die Augen. Sie ließ den Kopf sinken, ihr Kinn fiel auf ihre Brust. Jetzt blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als die Automobile Association anzurufen. Na schön, vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Selbst wenn sie niemanden schickten, konnten sie ihr zumindest einen Rat geben, was sie tun sollte. Sie durchwühlte ihre auf dem Beifahrersitz liegende Handtasche nach ihrem Handy, konnte es jedoch nicht finden. Frustriert knipste sie das Innenlicht an, spähte in die Tasche und durchwühlte sie mit beiden Händen, doch von dem Handy war zwischen ihren Toilettenartikeln und ihren Schminksachen nichts zu sehen. Verwirrt stieg sie aus und ging um den Wagen herum, um im Fußraum vor dem Beifahrersitz nachzusehen – und sah mit Schrecken, dass die Klappe über dem Tankverschluss offen stand. Der Tankdeckel selbst war aufgedreht und hing lose an dem Plastikanhänger von der Tanköffnung herab. Zumindest war damit das Rätsel gelöst, warum sie kein Benzin mehr hatte. Offenbar hatte sie vergessen, den Deckel nach dem Tanken vor zwei Tagen wieder zuzudrehen, und war mit offenem Tank durch die Gegend gefahren … aber das klang auch unwahrscheinlich. Verfügte nicht jeder halbwegs moderne Benzintank über ein Ventil, das das Herausschwappen des Treibstoffs verhinderte? Mit Schrecken wurde ihr klar, dass jemand den Tankdeckel geöffnet haben musste. Um den Deckel herum gab es keine Spuren von Beschädigung, also war er nicht mit Gewalt geöffnet worden. Was nur eines bedeuten konnte: Jemand war in ihrem Auto gewesen und hatte den Hebel unter der Lenksäule betätigt. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich langsam auf. Hatte jemand ihr Auto aufgebrochen? Nein – sie konnte keine Einbruchspuren erkennen. Was bedeutete, dass sich jemand Zutritt verschafft hatte, als es nicht abgeschlossen gewesen war, und der einzige Zeitpunkt, der dafür infrage kam, war der Moment am Motel gewesen, in dem sie vor der Rezeption vorgefahren und noch mal reingegangen war, um ihren Zimmerschlüssel abzugeben. Da sie den Nachtportier nicht sofort gefunden hatte, war ihr Auto mindestens zwanzig Minuten lang unbeaufsichtigt gewesen. Aber hätte das gereicht? Sie kam zu dem Schluss, dass es denkbar war, aber wie wahrscheinlich war es, dass ein Benzindieb, der auf eine Gelegenheit wartete, da draußen mitten im Nirwana … Gütiger Himmel! Ob bei dieser Gelegenheit auch jemand ihr Handy hatte mitgehen lassen? Sie riss die Beifahrertür auf und durchsuchte den Fußraum und den Platz unter dem Sitz. Keine Spur von ihrem Handy. Sie durchwühlte noch einmal ihre Handtasche. Es war definitiv nicht da. Was jedoch noch beunruhigender war – ihr Portemonnaie war da, und es enthielt mindestens fünfzig Pfund in Scheinen und Kleingeld sowie all ihre Kreditkarten. Also war irgendein gewöhnlicher Dieb in ihr Auto eingedrungen, hatte ihre Handtasche durchsucht – und ihr Handy geklaut, aber ihr Portemonnaie dagelassen? Wohl eher nicht. Vor Angst erschaudernd, musterte Claire das stille Gestrüpp, das die verlassene Tankstelle von allen Seiten umwucherte. Sie versuchte, sich einzureden, dass all das bloße Vermutungen waren. Bisher war nichts weiter passiert, als dass ihr Tank leer war … aber nein, das stimmte nicht ganz – das Benzin war ihr gestohlen worden. Und ihr Handy ebenfalls. War es möglich, dass der Dieb, wer auch immer es gewesen sein mochte, das Motel ausgespäht und auf eine passende Gelegenheit gewartet hatte, zuschlagen zu können? Natürlich wusste sie die Antwort bereits. Ein paar Worte, die sie von Sergeant Fisher aufgeschnappt hatte, hallten in ihren Ohren wider: Was auch immer diese Verrückten zu ihren Taten treibt, sie sind verdammt gut organisiert. Man denke nur daran, wie sie ihre Opfer auswählen … und sie sich schnappen. Sie sind so gut organisiert, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie sogar unsere Ermittlungen verfolgen, um gegebenenfalls improvisieren zu können … falls wir zu nah an sie herankommen. Sie dachte erneut an das Auto, das ihr auf der Autobahn gefolgt war – und genau in diesem Moment hörte sie ein lauter werdendes Motorengeräusch. Sie wirbelte herum. Zwei Scheinwerferkegel bewegten sich aus der Richtung, aus der sie gekommen war, auf Claire zu. Der Wagen näherte sich langsam – als würden die Insassen nach etwas Ausschau halten. Claire wich über den Außenbereich der Tankstelle zurück. Selbst wenn sie ein Versteck finden würde, stand ihr Micra für jedermann sichtbar da. Sie würden wissen, dass sie da war. Das ist doch verrückt, versuchte sie sich einzureden. Es können unmöglich die gleichen Leute sein. Gütiger Gott im Himmel! Bilder der Opfer – deformierte Überreste, menschliche Wesen, zu Brei und Knorpel reduziert – schwammen vor ihren Augen. Und wie oft hatten die Täter sie vermutlich im Fernsehen gesehen? Herr im Himmel, bitte nicht das … nicht ich! Sie drehte sich um und rannte blind drauflos. Angesichts des immer lauter werdenden Motorengeräuschs und des immer heller werdenden Scheinwerferlichts warf sie sich gegen die Tür des Ladens, Tränen des blanken Entsetzens stiegen ihr in die Augen. Sie rüttelte mit beiden Händen an den verfallenen Metallteilen, und zu ihrer absoluten Überraschung schwangen sie nach innen auf. Claire stand blinzelnd auf der Türschwelle und starrte in das dunkle, moderige Innere. Sie tappte vorwärts und stapfte durch einen Haufen vergilbter Wurfsendungen. Das Innere des Ladens war voller undeutlicher Umrisse, die in der Finsternis kaum zu erkennen waren: leere, skelettartige Regale, die sich verzogen hatten und schief standen. Sie stolperte zwischen ihnen hindurch, strauchelte, rieb sich die Schienbeine auf. Aufgewirbelter Staub ließ sie niesen. Dann strahlte helles Licht durch das vergitterte Fenster. Unheimliche Schatten huschten über die hintere Wand, als Scheinwerferlicht den Außenbereich der Tankstelle erhellte. Claire wirbelte hilflos herum, unsicher, wohin sie sich wenden sollte – und im gleichen Augenblick waren die Scheinwerferlichter auch schon wieder verschwunden. Sie wagte es kaum zu glauben. War das Auto vorbeigefahren? Sie rührte sich nicht von der Stelle, ihr Herz hämmerte gegen ihre Brustwand. Der tuckernde Motor war zu hören, doch das Geräusch verblasste allmählich, während der Wagen davonfuhr. Sie harrte noch einige Sekunden aus, bevor sie ausatmete, und ließ einige Minuten verstreichen, bevor sie riskierte, zurück zur Tür zu gehen und nach draußen auf den Außenbereich der Tankstelle zu spähen. Der Micra stand einsam vor den verfallenen Zapfsäulen. Sie lauschte erneut. Stille. Sie wagte sich nach draußen und ging argwöhnisch auf ihr Auto zu. Sie wusste nicht einmal mit Gewissheit, dass sie beklaut worden war. Vielleicht war sie doch einfach nur nachlässig gewesen, als sie das letzte Mal getankt hatte? Vielleicht hatte sie ihr Handy verloren? Sie lehnte sich gegen die Karosserie, wartete, bis ihr rasendes Herz sich ein wenig beruhigt hatte, und ging dann um den Wagen herum zu der niedrigen Mauer, die den vorderen Bereich der Tankstelle von der Straße trennte. Die Frühlingsnacht war absolut still und zum ersten Mal in diesem Jahr richtig mild. Blütenduft lag in der Luft und der Geruch von frisch gemähtem Gras. Das ländliche England, wurde ihr bewusst, und sie verwünschte sich selbst dafür, dass sie Gespenster sah – denn es war eine Gegend, in der Verbrechen eher nicht zur Tagesordnung gehörten. Sie blickte nach links die schmale Straße entlang, in die das Auto, das die Gegend zu erkunden schien, gerade verschwunden war. Aber es war noch da. Parkte etwa vierzig Meter weiter. Die Vorderseite ihr zugewandt. Plötzlich erstrahlten die Scheinwerfer auf Fernlicht gestellt. Claire musste alles geben, was in ihr steckte, um sich loszureißen und zurück zu dem Tankstellenladen zu wanken. Hinter ihr wurde ein Motor gestartet. Keuchend tappte sie wieder zurück in den Laden und knallte die Tür hinter sich zu. Da ihre Augen sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie genug, um sich einen alten Wischmopp zu schnappen, der in ihrer Nähe an der Wand lehnte, und sie verrammelte die Tür damit, indem sie die eine Seite des Mopps gegen die Innenseite der Tür stellte und die andere gegen die nächste Fußleiste rammte. Sie sah sich nach allen Seiten um und suchte nach einem Versteck. Während sie dies tat, drang hinter ihr erneut gleißendes Licht in den Raum. Diesmal huschten die Schatten in andere Richtungen über die Wände. Das Auto rollte auf den Außenbereich der Tankstelle. Mit einem Knarzen wurde die Handbremse angezogen. Claire versuchte, den Raum zu durchqueren, ohne irgendwo anzustoßen. Es war immerhin möglich, dass sie nicht wussten, wohin sie gegangen war. Sie könnten, wenn sie Glück hatte, glauben, dass der verlassene Laden abgeschlossen gewesen war. Draußen waren Schritte zu hören. Sie wirbelte erneut herum. Durch das vergitterte Fenster konnte sie nichts Genaues erkennen, aber eine Gestalt – eine verschwommene Silhouette – huschte vorbei und steuerte die Tür an. Hier drinnen würde sie sicher sein, flüsterte sie sich selbst zu. Sie würden nicht glauben, dass sie es geschafft hatte, in den Laden zu kommen. Sie würden sie stattdessen im angrenzenden Wald suchen. Sie erkannte die Ladentheke direkt vor sich. Dahinter konnte sie ein hohes, schmales Rechteck ausmachen, das noch schwärzer war als die Finsternis, die es umgab. Es war eine Tür, wie ihr bewusst wurde, und sie stand einen Spaltbreit offen. Sie ging auf die Theke zu und stieß etwas Metallenes um, das lauter gescheppert hätte, wenn es nicht über einen Teppich verstreuter Zeitschriften gerollt wäre. Trotzdem erstarrte sie und wagte nicht mehr zu atmen. Auch draußen war es einen Augenblick lang absolut still, dann folgte ein dumpfes, lang gezogenes Knarren. Jemand stemmte sich von außen gegen die Ladentür. Verzweifelt kletterte Claire über die Theke. Auf der anderen Seite war der Boden mit Plastikflaschen und leeren Chipstüten übersät, die unter ihren Füßen knirschten und raschelten, als sie auf sie trat. Das Knarren der Ladentür hörte schlagartig auf. Claire blieb ebenfalls stehen, ihr Gesicht war mit Schweißperlen überzogen. Rums! … Ein kräftiger Schlag hallte durch das ganze Gebäude. Ein weiterer Schlag folgte und dann noch einer. Claire taumelte von Panik erfasst weiter. Sie hätte es eigentlich nicht für möglich gehalten, dass man so eine höllische Angst verspüren konnte, ohne zusammenzubrechen. Sie drückte gegen die halb offene Tür, und sie schwang auf. Dahinter befand sich ein weiterer Raum, der nahezu vollkommen dunkel war. Nur durch ein Milchglasfenster weit oben fiel fahles Mondlicht. Claire ließ den Blick schnell durch den Raum schweifen, erkannte auf der Seite etwas, das wie eine weitere Tür aussah – und erstarrte beim Anblick einer menschlichen Gestalt, die direkt neben der Tür stand. Einen Augenblick lang war sie so erschüttert, dass sie nicht einmal wimmern konnte. Doch dann wurde ihr bewusst, was es war, zum einen aufgrund der steifen, reglosen Haltung der Gestalt, zum anderen aufgrund ihres haarlosen Schädels und ihres leeren, ausdruckslosen Gesichts. Eine Schaufensterpuppe auf einem Podest. Wie naheliegend. Ein erneutes Krachen an der Vorderseite des kleinen Gebäudes veranlasste sie, durch den Raum auf die andere Tür zuzustürmen. Sie stand ebenfalls halb offen. Dahinter ging ein schmaler Flur zu einer offenen Tür, die nach draußen führte, wo diesiges Mondlicht einen asphaltierten Parkplatz sprenkelte. Hinter dem Parkplatz erhob sich eine Sträucherreihe. Claire zögerte. Der Weg war wie für sie beleuchtet. Es war ein direkter Fluchtweg raus aus diesem Gebäude, doch aus irgendeinem Grund zögerte sie. Wer auch immer ihr gefolgt war, versuchte immer noch, durch die vordere Ladentür ins Gebäude zu kommen. Ein weiterer schwerer Schlag landete auf der Tür. Der Wischmoppstiel erwies sich als robuster, als sie gedacht hatte, aber viel länger würde er nicht standhalten können. Sie marschierte auf den Flur zu, blieb jedoch nach vier Schritten stehen. Bewegung. Hatten sich die Sträucher bewegt? Nein, das war es nicht, denn jetzt sah sie es erneut. Es war ein Schatten auf dem Asphalt. Im ersten Moment war es schwer, zwischen all den Schatten einen speziellen auszumachen, doch als sie angestrengt starrte, war es eindeutig. Der Schatten hatte unzweifelhaft die Umrisse eines Mannes. Eines Mannes mit einem unglaublich breiten Oberkörper und unglaublich langen, affenartigen Armen. Claire huschte über den Flur zurück in den Lagerraum. Ein weiterer donnernder Schlag hallte durch das Gebäude, begleitet vom Splittern von Holz. Der Wischmopp begann nachzugeben. Hilflos drehte und wendete sie sich zu allen Seiten. Menschen, lebendig eingemauert, an Kreuze genagelt, an Krokodile verfüttert! Oh, Herr im Himmel! Mit tränenüberströmten Wangen zwängte sie sich in den dunklen, engen Raum hinter der Schaufensterpuppe. Wer wusste schon … Vielleicht suchten sie ja nicht allzu intensiv? Oder sie suchten doch intensiv und übersahen sie hier. Es gab einen weiteren Schlag, gefolgt von einem lauten Knacken, als der Wischmopp zerbrach. Aus dem Flur, der hinter das Gebäude nach draußen führte, hörte sie Füße über die Fliesen stapfen. »Es gibt immer noch eine Chance«, wimmerte sie leise. »Es gibt immer eine Chance.« »Heute nicht«, flüsterte jemand aus der Dunkelheit hinter ihr. Bevor Claire reagieren konnte, legte sich ein schlanker, jedoch muskulöser Arm um ihren Hals und erstickte den Schrei in ihrer Brust. Heißer Atem strömte über ihren Nacken. »Heute definitiv nicht.« Heck und Quinnell waren etliche Stunden auf dem Hauptrevier von Preston damit beschäftigt, Tubbs wegen seiner zahlreichen Vergehen zu verhören. Da seine Unsicherheit zunehmend verflog und seine eher aggressive Seite wieder zum Vorschein kam, zeigte sich der Gefangene nicht mehr so entgegenkommend wie im Anschluss an seine Verhaftung. Doch sein hartnäckiges Abstreiten, etwas mit den Feiertagsschändungsmorden zu tun zu haben, klang glaubwürdig. Eine genauere Betrachtung seines Vorlebens wies darauf hin, dass er keine bekannten kriminellen Komplizen hatte und, zumindest bisher, auch keinerlei Vorstrafen, erst recht nicht wegen sadistischer oder sexueller Straftaten. Darüber hinaus hatte eine Durchsuchung seiner Wohnung durch Beamte der Polizei von Preston außer einer Kreditkarte mit dem Namen von jemand anderem nichts Verdächtiges ergeben. Letzten Endes wurde Tubbs Kreditkartendiebstahl, Betrug und der Angriff auf Detective Chief Inspector Garrickson zur Last gelegt, wofür er in Untersuchungshaft genommen wurde. Als sie mit Tubbs fertig waren, fuhren Heck und Quinnell zum Royal Preston Hospital, wo sie erfuhren, dass Garrickson komplizierte Brüche der Speiche und der Elle erlitten hatte. Der Detective Chief Inspector saß allein im Wartebereich der Notaufnahme. Er war von der Taille aufwärts nackt und hatte sich den Anorak über die Schulter gelegt, sein linker Arm war von den Fingerspitzen bis zur Schulter eingegipst. Aufgrund der Schmerzmittel, mit denen er vollgepumpt war, sah er nur halb wach aus, sein Gesicht war grau und zerknittert wie nasses Papier. Doch trotz seines geschwächten Zustands hoben sich seine Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln, als Heck und Quinnell hereinmarschierten. »Haben wir ihn eingebuchtet?«, fragte er benommen. »Nicht wegen Mordes, Chef«, entgegnete Heck. »Er ist es nicht.« Garrickson nickte, als ob ihm dies schon die ganze Zeit klar gewesen wäre. »So eine verfluchte Scheiße!« »Das sehen Sie ganz richtig«, stimmte Quinnell zu. Sie halfen ihm nach draußen, wo im Osten eine blau-goldene Morgendämmerung aufstieg und die Vögel in den Hecken zwitscherten. Der Frühling schien endlich Einzug zu halten. Garrickson war so benommen, dass er sich nicht nach weiteren Einzelheiten erkundigte, stattdessen schlief er auf der Rückfahrt zum Motel nach zehn Minuten ein. Fünf Minuten danach nickte auch Quinnell auf dem Beifahrersitz ein. Heck gähnte beim Fahren. Ihm tat alles weh, und er war von oben bis unten steif, doch der Frust und die Enttäuschung hielten ihn wach. Dann piepte sein Handy. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war kurz nach fünf Uhr morgens, was ihn vermuten ließ, dass es sich um schlechte Neuigkeiten handelte. Als er sah, dass es Shawna McCluskey war, wusste er, dass es schlechte Neuigkeiten waren. Der Maibaum war an einem Ort namens Fiddler’s Meadow errichtet worden. Genau genommen handelte es sich um ein Feld auf einem Bauernhof im ländlichen Cheshire auf halbem Weg zwischen Whitchurch und Nantwich. Im Grunde war es nur dem Namen nach ein Maibaum. Er bestand aus einem langen Holzpfahl, der weiß angestrichen und mit einer von oben nach unten verlaufenden, aufgemalten rosafarbenen Girlande verziert war. Ein paar Bändchen baumelten von ihm herab, um seine eigentliche Bestimmung zu veranschaulichen, doch diese Bändchen waren irrelevant. Das offensichtlichste Objekt von Interesse befand sich ganz oben an dem Pfahl, etwa dreieinhalb Meter über dem Boden. Als Heck, Shawna McCluskey und Gary Quinnell es zum ersten Mal von dem nahe gelegenen Feldweg aus gesehen hatten, hatte es zunächst ausgesehen wie eine Puppe, die von einem gestörten Kind brutal entstellt worden war. Doch als sie näher herangekommen waren, hatten sie gesehen, dass es sich um einen menschlichen Körper handelte. Oder zumindest war es mal einer gewesen. Das Opfer war weiblich, und der obere Teil des Maibaums musste sehr stark zugespitzt worden sein, da die Frau aufrecht aufgespießt worden war, möglicherweise durch die Vagina, wahrscheinlich jedoch eher durch den Anus, um sie in einer vertikalen Position zu halten. Arme und Beine waren an den Seiten mit etwas festgebunden, das aussah wie Dornenranken, irgendein dunkler Reif umringte ihre Stirn, ihr Gesicht war so verkohlt, dass es nicht mehr zu erkennen war. Ein grimmig dreinschauender Gerichtsmediziner, der bereits mithilfe einer Leiter oben gewesen war, teilte ihnen mit, dass der Reif aus Eisen war und glühend heiß gewesen sein musste, als er dem Opfer um den Kopf gelegt worden war. Inzwischen war er abgekühlt, doch als er dem Opfer aufgesetzt worden war, hatte er sich durch den Schädelknochen gebrannt, was wahrscheinlich die Todesursache gewesen war. »Eine Maikönigin braucht eine Krone«, stellte Heck fest. Das Opfer trug einen oberschenkellangen Lederstiefel, der andere war abgefallen und lag am Fuß des Pfahls. Derartige Kleidungsstücke wiesen darauf hin, dass es sich bei dem Opfer um ein leichtes Mädchen gehandelt hatte. Doch über die eigene Kleidung hatte man der Frau ein extravagantes hellblaues Kleid gezogen, das, obwohl es jetzt mit Blut und Exkrementen beschmiert war und in Fetzen von ihr herabhing, eindeutig als Krönungskleid zu erkennen war. Irgendwie verstärkte dies nur noch die Erniedrigung, die von dieser ohnehin schon grotesken Hinrichtung ausging – jedoch nicht so sehr wie das grüne Frühlingsgras, der dunkelblaue Himmel und die rosafarbenen flauschigen Kirschblüten an den Bäumen, die das Feld säumten. Bereits auf dem Weg zum Tatort war ihnen klar gewesen, dass sie dort etwas Schlimmes antreffen würden. Was hätten sie sonst erwarten sollen, als sie sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Polizeiwagen gebahnt hatten, deren Besatzungen die meisten der angrenzenden Straßen abgesperrt hatten? Etwa fünfzig Meter hinter der Absperrung hatten sie am Straßenrand zwei ältere Verkehrspolizisten mit flachen Hüten und aufgekrempelten Hemdsärmeln gesehen, die versuchten, einem jüngeren Kollegen Trost zu spenden, der über einem Brombeerbusch hing und sich die Seele aus dem Leib kotzte. Sie hatten selbst unter den gestandeneren Polizisten welche mit Tränen in den Augen gesehen. Diejenigen, die nicht weinten, hatten versteinerte Gesichter, die eine Mischung aus Wut und Unglauben ausstrahlten. Shawna befragte sie bereits in dem Versuch, eine Chronologie der Ereignisse nachzeichnen zu können, erhielt jedoch kaum Antworten außer wiederholtem dumpfem Kopfnicken. »Das muss Hexerei sein, oder?«, fragte ein junger Police Constable aufgebracht mit irrem Blick. Er war so jung, dass er noch in der Probezeit sein musste, aber das hielt ihn nicht davon ab, Heck und Quinnell zu bestürmen, als sie vor dem Absperrband standen. »Irgendeine Art schwarze Magie vielleicht?« Heck war sich dessen bewusst, dass sie nicht weit vom sagenumwobenen Alderley Edge entfernt waren, sagte jedoch nichts. »Das wissen wir nicht«, räumte Quinnell ein. »Was wissen Sie denn … Wissen Sie überhaupt irgendetwas?«, schrie der junge Polizist. »Denn irgendjemand muss diese verdammten Irren fassen! Und ihr Schlappschwänze seid dazu offenbar nicht in der Lage!« Zwei andere der örtlichen Polizeibeamten führten ihren jungen Kollegen schnell weg. Heck, der vergeblich versucht hatte, Gemma zu erreichen, steckte sein Handy weg und betrachtete erneut die bejammernswerte Gestalt oben an dem Pfahl. Die vom Blut rot eingefärbten Fetzen des Krönungskleides kräuselten sich in der Maibrise. Shawna kam zurück zum Absperrband. »Wie es aussieht, hat eine kleine ältere Dame, die ihre beiden Pudel ausgeführt hat, die Leiche zuerst entdeckts. Dem Gerichtsmediziner zufolge liegt der Todeszeitpunkt zwischen elf und ein Uhr gestern Nacht. Er kann noch nicht sagen, wie lange sie vor dem Eintritt des Todes schon da oben war. Die glühende Krone wurde ihr erst aufgesetzt, als sie dem Ende nahe war.« »Also lebte sie noch, als sie aufgespießt wurde?« »Sieht so aus. Der Mediziner meint, dass sie ihren rechten Stiefel vielleicht von sich geschleudert hat, als sie von Schmerzkrämpfen geschüttelt wurde.« »Oh mein Gott …« Bevor Heck seinem Abscheu Ausdruck verleihen konnte, den diese Informationen in ihm hervorriefen, meldete sich sein Handy. Es war Gemma, die seinen Anruf erwiderte. Er berichtete ihr alles, angefangen mit Mike Garricksons Verletzung bis hin zum letzten Mord, wobei er darauf hinwies, dass sie das Opfer noch nicht identifiziert hatten, es sich jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach um Gracie Allen handelte, die vermisste Prostituierte aus Bradford. Seine Stimme nahm einen ausdruckslosen, unbeteiligten Tonfall an, als er zusah, wie der Kran, den die Polizei von Cheshire auf das Feld hatte schaffen lassen, die entstellte Leiche langsam zum Boden hinunterließ, wo der zuständige Gerichtsmediziner und seine Assistenten warteten. Als Gemma schließlich antwortete, klang sie erschöpft und niedergeschlagen. »Ich würde dich nicht bitten, die Leitung der Einsatzzentrale während meiner Abwesenheit zu übernehmen, wenn ich nicht wüsste, dass du es kannst … Aber ich bin so schnell wie möglich wieder da. Ich muss noch mal mindestens einen Tag in den Zeugenstand.« Bevor Heck ihr versichern konnte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche, gab ihm eine Assistentin des Gerichtsmediziners durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie etwas für ihn hatte. »Ich muss Schluss machen. Melde mich später wieder.« Während er sein Handy wegsteckte, reichte die Assistentin ihm etwas über das Absperrband. Es steckte bereits in einem sterilen Plastikbeutel, doch man konnte sehen, dass es sich um einen blutbefleckten Papierschnipsel handelte. Wie es aussah, waren ein paar Buchstaben mit einem Bleistift daraufgekritzelt worden, aber sie waren kaum zu erkennen. »Der Schnipsel steckte in ihrem linken Stiefel«, sagte die junge Assistentin des Gerichtsmediziners. »In dem Stiefel, den sie noch anhatte.« Heck streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über und hielt das Fundstück ins Licht. Der Papierschnipsel war zerknittert und rissig, das Gekritzel zum Teil mit Blut verschmiert, doch er glaubte, ein oder zwei Ziffern erkennen zu können. Die Buchstaben und Ziffern waren untereinander in zwei halbwegs geraden Linien hingekritzelt worden. »Das ist ein Autokennzeichen«, stellte er fest. Quinnell sah ihn verdutzt an. »Warum steckte der Schnipsel in ihrem Stiefel?« »Einige Prostituierte machen das neuerdings so«, entgegnete Shawna. »Es ist eine Art Versicherung.« Sie trat zur Seite, als zwei Bestatter die Leiche, die sich mittlerweile in einem provisorischen Sarg befand, an ihnen vorbeirollten. »Allerdings keine besonders wirksame.« »In ihrem Fall vielleicht doch«, stellte Heck fest. »Wenn auch erst posthum.« »Das Gekritzel ist aber kaum zu entziffern«, sagte Quinnell. »Kann man da mit Röntgenstrahlen was machen?« »Bringt vermutlich nicht viel, weil es mit Bleistift geschrieben ist«, entgegnete Heck. »Aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig.« Er lieh sich von einem der bei ihnen stehenden uniformierten Beamten ein Funkgerät und ließ sich das Rufsignal für die nächste Funkzentrale geben. »Dezernat für Serienverbrechen, zurzeit auf der Fiddler’s Meadow, an Foxtrot Zulu, kommen.« Das Funkgerät knisterte. »Foxtrot Zulu, wir hören Sie, kommen.« »Hier spricht Detective Sergeant Heckenburg. Bitte um die Überprüfung eines Autokennzeichens, kommen.« »Ich höre.« »Sämtliche Kennzeichen, die die folgenden Ziffern und Buchstaben enthalten …« Er warf erneut einen Blick auf den Papierschnipsel. »Komplettes Kennzeichen unbekannt, exakte Reihenfolge der verfügbaren Ziffern und Buchstaben unbekannt, folgende Details bekannt: T wie Tango oder Y wie Yankee – nicht genau zu entziffern –, null, G wie Golf, C wie Charlie, kommen.« »Bleiben Sie dran.« »Es gibt wahrscheinlich Dutzende von Kombinationsmöglichkeiten«, sagte Quinnell. Heck entgegnete nichts. Ihm fiel auf, dass um sie herum offenbar nahezu alle Gespräche unterbrochen worden waren. Die Polizeibeamten aus Cheshire beobachteten sie interessiert. »Detective Sergeant Heckenburg von Foxtrot Zulu«, krächzte es aus dem Funkgerät. »Ich höre, kommen.« »Für Tango oder Yankee – null – Golf – Charlie gibt es achthundertdreiundvierzig Treffer, kommen.« Shawna stöhnte. Quinnell entblößte die Zähne. »Können wir die Suche eingrenzen?«, entgegnete Heck. »Engen Sie sie auf Jaguars ein.« Sie warteten geduldig und waren sich dessen bewusst, dass alle am Tatort Anwesenden mit ihnen warteten. »Detective Sergeant Heckenburg von Foxtrot Zulu.« »Ich höre, kommen.« »Es gibt achtunddreißig infrage kommende Jaguars, kommen.« Hecks Herz pochte. »Wie viele dieser Jaguars sind rauchgrau, kommen?« Die Antwort erfolgte prompt. »Ein Treffer für einen grauen Jaguar XF.« Heck ballte die rechte Faust. »Kennzeichen … Bravo-Yankee-sechs-null-Lima-Golf-Charlie. Besitzer … Leo Enwright, vierundfünfzig Jahre alt, nicht polizeilich gesucht. Letzte bekannte Adresse: St Bardolph’s Academy, Riphall, Staffordshire, kommen.« »Eine Schule?«, fragte Quinnell perplex. Shawna starrte Heck verdattert an. »Du hast ja vermutet, es könnte ein Gelehrter sein. Mein Gott, Heck … Wir haben ihn!« »Moment mal!« Heck hob die Hand. »Lasst uns nichts überstürzen.« »Aber es passt alles zusammen …« »Es sieht so aus, als ob alles zusammenpassen würde«, entgegnete er. »Bevor wir etwas unternehmen, lasst uns alles über Leo Enwright zusammentragen, was wir herausfinden können.« Gemma war auf der M6 und hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ihr Handy klingelte. Als sie sah, dass es sich bei dem Anrufer um Shawna McCluskey handelte, wusste sie nicht, ob sie hoffnungsfroh oder besorgt sein sollte. Der Erste-Mai-Mord hatte Schockwellen durch das ganze Land gesandt wie kein Verbrechen jemals zuvor. Dies war einer der Gründe dafür, weshalb sie sich nach dem Prozess am Zentralen Strafgerichtshof im Old Bailey so schnell wie möglich aufgemacht hatte und jetzt in Richtung Norden raste. Sie nahm den Anruf über die Freisprechanlange entgegen. »Shawna?« »Ma’am, wo sind Sie?« »Ich fahre soeben von der Autobahn runter. Warum?« »Sind Sie schon an der Raststätte von Stafford vorbei?« »Noch nicht. Warum?« »Können Sie dort abfahren und sich mit einigen von uns treffen?« »Was, um alles in der Welt, machen Sie denn auf der Raststätte von Stafford, Shawna?« »Das erkläre ich Ihnen, sobald Sie hier sind, Ma’am.« »Moment mal, Shawna. Gibt es … eine Art Durchbruch?« »Ich spreche es lieber nicht aus, immerhin kann sich das Ganze auch noch als Schlag ins Wasser erweisen. Aber … ja.« Wie gewünscht fuhr Gemma an der Raststätte von Stafford ab, wo Heck sie bereits am Eingang zum Tankstellenshop erwartete. Er trug Anzug und Krawatte, hatte sich frisch rasiert und sah ungewohnt adrett aus. Er besaß sogar die Dreistigkeit, seine Enttäuschung zu bekunden, als er sah, dass sie ihre übliche Fahrkleidung trug, die aus einem Trainingsanzug und Turnschuhen bestand. »Hast du was zum Umziehen mit?«, fragte er. »Warum? Was ist denn los?« »Etwas Schickes, Aufreizendes, worin du aussiehst wie die coole Profiermittlerin, die du bist.« »Da ich ja nie weiß, wann ich auf die oberste Etage einbestellt werde, um zu erklären, warum mein Team es vergeigt hat, habe ich immer einen Kleidersack im Kofferraum und somit auch was Flottes zum Anziehen dabei.« Heck nickte zufrieden und bedeutete ihr, mit ihm nach drinnen zu gehen. Es war später Vormittag, und in der Raststätte drängte sich die übliche Schar von Reisenden, die auf der Autobahn unterwegs war, doch er führte sie direkt in den Café-Bereich, wo etliche Mitglieder ihres Teams in der Ecke um einen Tisch saßen. Shawna reichte Gemma einen Kaffee, als sie sich niederließ. »Na gut«, sagte sie. »Würde mir dann vielleicht mal jemand erklären, warum Sie alle nicht auf Ihren Posten sind, nachdem wir es gerade erst mit einem weiteren Mord zu tun hatten?« »Es ist alles unter Kontrolle«, entgegnete Heck. »Wir haben jede Menge Verstärkung durch die Polizei von Cheshire bekommen. Erfahrene Detectives und uniformierte Beamte, die den lästigen Mist erledigen. Detective Chief Inspector Garrickson hat wieder die Leitung der Einsatzzentrale übernommen.« Gemma sah ihn verdutzt an. »Ich dachte, Garrickson läuft mit einem gebrochenen Arm herum.« »Tut er auch«, entgegnete Heck. »Aber er hat sich heute Morgen freiwillig zum Dienst zurückgemeldet. Er kann das Büro natürlich nicht verlassen, aber er leitet die Operation.« »Gelegenheit macht Männer«, stellte Gemma fest, die immer noch klang, als ob sie es nicht ganz glauben könnte. »Alle Spuren, die sich nach dem gestrigen Maibaummord ergeben haben, werden in diesem Moment mit Nachdruck verfolgt«, erklärte Heck. »Aber keine ist so gut wie diese.« Er schob ihr einen Ausdruck über den Tisch. Es war ein Farbfoto, das von einer Website heruntergeladen worden war. »Darf ich bekannt machen: Leo Enwright. Dr. Leo Enwright, um genau zu sein.« Der Mann auf dem Foto war Anfang fünfzig, hatte dicke Hängebacken und lockiges graues, stahlwolleartiges Haar, das an den Seiten in üppige Koteletten überging. Die Augen hinter der kleinen rundglasigen Brille waren durchdringend grün. Er trug eine Cordjacke, ein kariertes Hemd sowie eine Krawatte mit Blümchenmuster und lächelte katzenartig durchtrieben. »Wer ist das?«, fragte Gemma. »Lass mich erst mal erklären, wie wir auf ihn gekommen sind«, entgegnete Heck und berichtete ihr von dem Zettel mit dem bruchstückhaften Autokennzeichen, den sie in Gracie Allens Stiefel gefunden hatten, sowie von dem rauchgrauen Jaguar, zu dem es wahrscheinlich gehörte, der nahezu sicher der gleiche Jaguar war, mit dem das blonde Mädchen in den Pub in Longsight gekommen war – jenes Mädchen, das Cameron Boyd ein paar Haare ausgerissen hatte. »Enwright ist mittleren Alters und Witwer«, fuhr Heck fort. »Er unterrichtet an der St Bardolph’s Academy, einer Privatschule in der Nähe des Dorfes Riphall, gut fünfzehn Kilometer von hier. Seinen Doktortitel hat er in Anthropologie gemacht, aber als Lehrer gibt er die Fächer Geschichte, Philosophie, Englisch und Schauspielunterricht. Er hat diverse Aufsätze über – jetzt kommt’s – Brauchtum veröffentlicht.« Gemma betrachtete ihn aufmerksam. »So weit, so gut.« »Es wird noch besser. Enwright hat einiges hinter sich, denn er hatte eine schwere Kindheit. Er wurde von seinen Hippie-Eltern vernachlässigt und in einem Heim untergebracht. Das ist genau eines jener Traumata, von denen sich einige Menschen nie erholen. Nicht lange nach seiner Unterbringung im Heim machte er Bekanntschaft mit der Polizei. Er wurde mehrfach wegen geringfügiger Delikte wie Diebstahl oder Vandalismus festgenommen, die sich in der Schule oder in der örtlichen Kirche zutrugen.« »Gewaltdelikte?«, fragte Gemma. »Einige«, entgegnete Shawna. »Er wurde auch wegen Grausamkeit gegenüber Tieren festgenommen. Ich muss es Ihnen nicht sagen, Ma’am … das ist das klassische Muster für die Kindheit eines Serienmörders.« »Und da ist noch was«, fügte Heck hinzu. »Dieser Kerl ist Lehrer, also verfügt er über eine perfekte Truppe an willfährigen Gefolgsleuten, die ihm assistieren können.« Zum ersten Mal sah Gemma ihn schockiert an. »Du redest doch nicht etwa von Schülern?« »Es ist ein Internat. Na schön, da tummeln sich vor allem Kinder aus wohlhabenden Familien, aber es gibt immer Außenseiter – Kinder, die einsam sind oder sich ausgestoßen fühlen. Solche Kinder suchen immer nach Mentoren, und wer wäre dafür besser geeignet als der charismatischste Lehrer an der Schule? Denn genau das ist Enwright offenbar.« Heck sah ihr an, dass sie immer noch nicht überzeugt war. Er beugte sich vor und sprach eindringlich auf sie ein. »Ma’am, als Mike Garrickson sich ganz am Anfang über diese Theorie lustig gemacht hat, hat er Charles Manson erwähnt. Im Grunde ist das gar kein schlechter Vergleich. Manson brauchte nur zwei Jahre, um einen ganzen Haufen anständiger junger Menschen im Collegealter in Massenmörder zu verwandeln. Wenn Leo Enwright unser Mann ist, hatte er bereits sechs Jahre Zeit.« »Es gibt auch noch weitere Auffälligkeiten«, erklärte Shawna. »Einer der Internatsschüler ist der Sohn von Detective Chief Inspector Eddie Stapleton, der bei der Polizei von Greater Manchester arbeitet. Dies könnte erklären, woher sie Informationen über diese Kriminellen aus Longsight hatten. Ein anderer Schüler – sein Name ist Anthony Worthington – stammt gebürtig aus Bolton in Greater Manchester. Während der letzten beiden Sommer hat er stundenweise als Putzhilfe und Mädchen für alles … im Zoo von Horwich gearbeitet.« Gemma blieb ganz die Ruhe selbst, doch ihre Finger waren ineinander verkrallt. Heck wusste, was sie dachte – wenn alles zu gut aussah, um wahr sein zu können, lag es für gewöhnlich daran, dass es tatsächlich wahr war. »Aber warum?«, fragte sie. »Warum sollte Enwright ausgerechnet jetzt anfangen zu morden? Im mittleren Alter?« »Seine Frau ist vor sieben Jahren gestorben. Bei einem Verkehrsunfall. Das könnte seinen psychischen Zustand in irgendeiner Weise verändert haben.« »Heck, ist dir klar, dass das alles reine Mutmaßungen sind?« »Ja, das ist mir bewusst. Und aus diesem Grund werden meine Frau und ich der Schule heute Nachmittag einen Besuch abstatten und uns ein wenig umsehen.« »Deine Frau?« »Entweder du oder Shawna … je nachdem, wer Lust auf den Job hat. Wir gehen als künftige Eltern eines Internatsschülers. Ich habe schon einen Termin vereinbart. Es ist abgesegnet. Ich habe heute Morgen mit Joe Wullerton gesprochen. Wir haben freie Hand.« »Vergisst du nicht etwas? Vor eineinhalb Wochen hast du dich in ein Fernsehinterview eingemischt. Du könntest wiedererkannt werden.« Heck lächelte. »Darauf setze ich.« »Und wer sind wir?«, fragte Gemma, als sie ihr Make-up aufgefrischt hatte. »Mark und Gemma Heckenburg«, erwiderte Heck, der am Steuer saß und den BMW die acht Kilometer zur St Bardolph’s Academy fuhr. »Wir sind ein berufstätiges Ehepaar aus London. Ich bin ein äußerst erfolgreicher Investmentbanker und viel unterwegs, was bedeutet, dass ich wenig Zeit für die Familie habe. Du bist Inhaberin einer Personalvermittlungsagentur und hast dich auf das internationale Bankgeschäft spezialisiert.« »Ebenfalls erfolgreich, hoffe ich«, sagte sie. »Du eröffnest demnächst eine Niederlassung in Dubai, also musst du ziemlich gut im Geschäft sein. Unser Sohn Thomas ist ein begabter Junge, der gerade elf geworden ist«, fuhr Heck fort. »Wir sind da, um uns ein Bild davon zu machen, ob die St Bardolph’s Academy das richtige Internat für ihn ist.« »Ich glaube nach wie vor, dass wir uns besser einen Durchsuchungsbefehl besorgt hätten«, erwiderte sie, verstaute ihre Schminkutensilien wieder und rutschte auf ihrem Sitz hin und her, damit ihr schicker, enger Rock bequemer saß. Er zuckte mit den Schultern. »Das liegt ganz bei dir, aber willst du das wirklich? Eine Schule während des laufenden Schulbetriebs durchsuchen? Alles auf den Kopf stellen? Was ist, wenn wir uns geirrt haben? Dann hätten wir für eine maximale Störung des Schulalltags gesorgt. Und die Kinder maximal in Aufruhr versetzt. Und unsere Chefs würden wie Hyänen über uns herfallen. Auf meine Art können wir die Schule in aller Ruhe aus der Nähe unter die Lupe nehmen. Wenn sich rausstellt, dass da nichts ist … wurde niemandem Schaden zugefügt. Und wenn sich unser Verdacht erhärtet, können wir uns immer noch einen Durchsuchungsbefehl besorgen. Und dass ich dabei bin, hat ja gerade den Sinn, sie aufzuscheuchen. Wenn sie mich wiedererkennen und die Flucht ergreifen, ist das so gut wie ein Geständnis.« Gemma widersprach nicht. Sie hatten dieses Gespräch schon einmal geführt, und er hatte sie überzeugt. Sie begegneten keinem anderen Auto, als sie die lange Zufahrt entlangfuhren. Es war Anfang Mai, doch die Sonne strahlte von einem perlblauen Himmel auf die saftig grüne ländliche Idylle von Staffordshire hinab. Die ausgedehnten Flächen waren eine einzige Pracht aus Blüten und neuen Blättern. Als sie die Schule schließlich erreichten, erwies sich diese als eine Ansammlung alter Steingebäude, die mit dichtem Efeu überzogen und von ausgedehnten Rasenflächen umgeben waren. »Du willst mir sagen, dass an so einem Ort ein paar durchgeknallte Mörder leben?«, stellte Gemma fest, als sie auf dem Kiesparkplatz vor dem Hauptgebäude hielten. Heck war genauso fasziniert. Der Ort versprühte eine Aura von Alter und Ehrwürdigkeit. Eine schnelle Onlinerecherche hatte ergeben, dass das Anwesen seine Ursprünge im Elisabethanischen Zeitalter hatte und sich unter den zahlreichen originalen Besonderheiten, derer es sich rühmte, »Grüner Mann«-Skulpturen, Sonnenuhren und sogar Priesterlöcher befanden – wobei einige dieser geheimnisumwobenen Attraktionen durchaus zu der außergewöhnlichen Natur dieser Verbrechen zu passen schienen. Er erspähte eine lateinische Inschrift, die in den Türsturz über dem Haupteingang eingraviert war: Novit enim Dominus qui sunt eius. Heck glaubte, dass es etwas bedeutete wie: »Der Herr kennt die Seinen.« Es gab keinen speziellen Grund dafür, dass dieser Spruch ihn erschaudern ließ, doch genau das war der Fall. Als sie schließlich ausstiegen, kam eine Frau mit übertriebenem Gehabe auf sie zu und empfing sie am Eingang. Sie war mittleren Alters, klein und etwas pummelig und hatte dichtes, rötliches Haar, das gefärbt sein musste. Sie trug bequeme Schuhe, eine Tweedjacke, einen Rock und einen flatternden schwarzen Umhang. Ihre Brille hing an einer langen Kette vor ihrem üppigen Busen. »Wanda Clayley«, stellte sie sich strahlend vor und hielt ihnen eine gepflegte Hand hin. »Ich bin die stellvertretende Schulleiterin. Sie müssen Mr und Mrs Heckenburg sein, richtig?« Heck schüttelte Mrs Clayley die Hand. »Genau. Schön, Sie kennenzulernen.« »Dr. Harding, der Schulleiter, hätte Sie gerne persönlich willkommen geheißen, aber er ist auf einer wichtigen Sitzung im Schulamt.« »Kein Problem«, erwiderte Heck, insgeheim erfreut. »Nun dann.« Mrs Clayley lächelte unvermindert weiter. »Sie erwägen also, Ihren Sohn Thomas auf unser Internat zu bringen?« »Vorausgesetzt, alles ist zu unserer Zufriedenheit«, stellte Heck klar. »Natürlich.« Mrs Clayley sah sich um. »Er begleitet Sie nicht?« »Die Trimesterferien sind vorbei, er ist wieder in der Schule.« »Und wo mag das sein?« »St Lucien’s, Bromley.« »Ich muss schon sagen – da haben Sie sich aber eine ziemlich weit entfernte weiterführende Schule ausgesucht.« »Nicht bloß irgendeine weiterführende Schule, Mrs Clayley«, stellte Gemma klar. »Nein, natürlich nicht …« Mrs Clayley lachte und führte sie nach drinnen. »Was ich meine, ist: Was führt Sie ausgerechnet nach Staffordshire?« »Nun ja, die St Bardolph’s Academy ist im ganzen Land als eine der Schulen mit den besten Abschlussnoten bekannt«, erwiderte Heck und gab sich alle Mühe, nicht so zu klingen, als hätte er den Schulprospekt auswendig gelernt. »Die Liste bekannter ehemaliger Schüler Ihrer Schule ist lang, und wie es aussieht, landen jede Menge Ihrer Absolventen in Oxford und Cambridge.« »Ich kann nicht verhehlen, dass wir darauf stolz sind«, stimmte Mrs Clayley zu. Es war vielleicht nachvollziehbar, dass die stellvertretende Schulleiterin sie unauffällig ausfragte. Angesichts der fünfzehn Riesen, die die Schule pro Trimester kostete, hatte sie keine Lust darauf, dass irgendwelche Proleten über die Schwelle der St Bardolph’s Academy traten, die nur ihre Zeit verschwendeten. Die Eingangshalle erinnerte an die Kulisse einer dieser alten Ealing-Komödien, in denen soziales Klassenbewusstsein und Tradition so pointiert auf die Spitze getrieben werden. Die Halle war mit Parkett im Schachbrettmuster ausgelegt und offen und geräumig. Die Wände und die gewölbte Decke waren perfekt mit Holzpaneelen verkleidet. In die Deckenfriese waren weitere lateinische Inschriften eingemeißelt, die goldfarben angemalt waren. Sämtliche Säulen waren mit Fotos von der Schule dekoriert, in Trophäenvitrinen waren mit Gravuren versehene Pokale und Schilde ausgestellt. In der Luft lag der beißende Geruch von Politur. An einer Seite hingen an einer Schautafel hinter Glas Fotoporträts sämtlicher Mitglieder des Schulpersonals. Heck erkannte das Foto von Dr. Enwright wieder, das er sich von der Website der Schule heruntergeladen hatte. Mrs Clayley erklärte zu jedem Foto, um wen es sich handelte, und listete jeweils detailliert die Referenzen der Genannten auf. »Dr. Enwright?«, sagte Heck. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Das wundert mich nicht, wenn Sie sich über unsere Schule informiert haben«, entgegnete Mrs Clayley. »Leo Enwright ist unser ganzer Stolz. Er ist unser Bereichsleiter für das Fach Geschichte, aber er ist nicht nur ein exzellenter Lehrer, sondern auch außerhalb der Schulzeiten ungeheuer aktiv. Er opfert sich unermüdlich auf, auch in seiner Freizeit. Zunächst mal bekleidet er bei uns das Amt des Schulseelsorgers, aber er leitet auch den Geschichtsklub der Schule, was nach nicht viel klingen mag, aber es ist eine Einrichtung, auf die wir an der St Bardolph’s Academy sehr stolz sind. Die Vielzahl an Aktivitäten, die dieser Klub organisiert, ist atemberaubend. Es sind natürlich allesamt Aktivitäten außerhalb des Lehrplans, aber sie halten unsere Internatsschüler immer auf Trab. Dr. Enwright war von Anfang an der Mann, der all dies organisiert hat, und er hält den Klub immer noch am Laufen – nahezu ganz allein.« Erst als sie mit der »Großen Tour« begannen, wie Mrs Clayley es nannte, sahen sie zum ersten Mal die zuvor erwähnten Schüler. Ihre Uniformen waren konventionell, die Jungen trugen marineblaue Pullover und kastanienbraune Krawatten, die Mädchen blaue Trägerkleider. Alle waren höflich und wohlerzogen und bewegten sich in wohlgeordneter Manier zwischen den Klassenzimmern. Es hatte absolut nichts von der Wildwestatmosphäre, die in der Gesamtschule in Lancashire geherrscht hatte, auf die Heck gegangen war. »Die Schüler der zehnten, elften und zwölften Klasse sind auf ihren Zimmern und in den Gemeinschaftsräumen. Sie haben Studientage, um sich auf ihre Prüfungen vorzubereiten«, erklärte Mrs Clayley, während sie abgeschiedene Flure entlanggingen, deren Wände mit jeder Menge Fotos mit Motiven aus dem Schulalltag geschmückt waren: Ferientage, Exkursionen, Sportveranstaltungen, Theateraufführungen. Es fand gerade Unterricht statt, aber es gab ein oder zwei leere Klassenzimmer, in die sie einen Blick werfen konnten. Die Räume waren hoch und klein, darin Stühle mit integrierten Pulten, die in geraden Reihen standen, und sie strahlten eine nüchterne Atmosphäre aus. Mrs Clayley redete unermüdlich und pries jeden einzelnen Vorzug der St Bardolph’s Academy, doch Heck hörte ihr kaum zu. Er hielt angestrengt Ausschau nach Hinweisen oder Merkwürdigkeiten, nach irgendetwas, was auch immer, das eine Saite in ihm zum Klingen brachte. Zunächst gab es absolut nichts, doch dann führte Mrs Clayley sie in die Werkräume der Schulschreinerei, in denen gerade kein Unterricht stattfand und wo es jede Menge Holzwerkzeuge und Werkbänke gab und frisch gesägtes Holz gestapelt war. Heck dachte an das stabil gebaute Kreuz auf dem Schlackehügel an der M62. Nach der Besichtigung der Werkräume der Schreinerei betraten sie das Schultheater, wo Mrs Clayley sie hinter die Bühne in die Umkleideräume und in den Fundus mit den Kostümen führte. »Die wurden alle hier in der Schule handgenäht«, sagte sie, während sie die Reihen von Kleiderständern betrachteten, an denen aufwendig gearbeitete Kostüme passend zu verschiedenen Zeitepochen hingen. Heck musste an das Weihnachtsmannkostüm und an das Krönungskleid der Maikönigin denken, von denen keines zu einem bekannten Kostümbildner hatte zurückverfolgt werden können. Als Nächstes führte Mrs Clayley sie in die Sporthalle. Dort fand gerade Sportunterricht statt, weshalb sie durch die angrenzenden Flure gingen, an deren Wänden weitere Fotos hingen: erfolgreiche Mannschaften und Teams aller möglicher Disziplinen aus diversen Jahrzehnten, die stolz ihre Trophäen präsentierten. Wie man den Fotos entnehmen konnte, wurden in der St Bardolph’s Academy nicht nur die üblichen Sportarten Rugby, Fußball, Kricket, Basketball und Hockey angeboten, sondern auch Tennis, Schwimmen, Leichtathletik – und Bogenschießen. Hecks Herz setzte einen Schlag aus, als die stellvertretende Schulleiterin beiläufig erwähnte, die Schule verfüge draußen über einen eigenen Bogenschießplatz, der sich hinter den anderen Sportplätzen befinde, wobei sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Reihe Fotos lenkte. Heck ertappte sich dabei, eines der in einem robusten Rahmen befindlichen Fotos anzustarren, auf dem ein blonder Junge zu sehen war, der einen Hightechbogen in den Händen hielt und einen Köcher voller Pfeile auf dem Rücken hatte. Insbesondere der Bogen erweckte seine Aufmerksamkeit. Der Ballistikbericht über die Waffe, mit der das junge Paar in den West Pennine Moors ermordet worden war, hatte ergeben, dass es sich um einen Bogen gehandelt hatte, dessen Pfeile mit sehr viel stärkerer Durchschlagskraft abgeschossen wurden als bei einem normalen Sportbogen. Vermutlich handelte es sich um einen modernen Jagdbogen, der für den Einsatz bei sportlichen Wettbewerben umgerüstet worden war. Bei dem Bogen auf dem Foto handelte es sich, wie Heck glaubte, um einen sogenannten Compoundbogen: doppelt gebogen und mit einem – aus Sehnen und Rollen bestehenden – Hebelsystem versehen, das es ermöglicht, den Bogen kürzer zu bauen und beim Spannen erheblich weniger Kraft aufwenden zu müssen. Der Junge, der den Bogen hielt, lächelte in die Kamera, doch sein Lächeln reichte nicht bis zu den Augen. »Das ist Doug Latimer«, erklärte Mrs Clayley stolz. »Er ist in der zwölften Klasse und wird die Schule demnächst verlassen. In der Kategorie der unter Achtzehnjährigen hat er den Bogenschieß-Wettbewerb zwischen den Countys der North Midlands gewonnen.« Heck versuchte, Gemma nicht anzusehen, während sie weitere Flure entlanggeführt wurden, an deren Wänden sie verschiedene andere Fotozusammenstellungen betrachteten. Auf einem Foto lächelte eine Gruppe von acht älteren mit Jeans und Sweatshirts bekleideten Schülern in die Kamera, die vor einem alten, hölzernen Gebäude um ein Lagerfeuer saßen. Das Foto erweckte Hecks Aufmerksamkeit, da die Gruppe von Dr. Enwright begleitet wurde. Außerdem war auch der Bogenschießmeister Doug Latimer dabei. Und ein Mädchen mit langem, platinblondem Haar. Es war engelhaft hübsch, obwohl es irgendwie leicht distanziert wirkte – als ob sein kühles Lächeln wie im Fall von Latimer nur aufgesetzt wäre. »Der Geschichtsklub der Schule«, erklärte Mrs Clayley. »Den ich vorhin bereits erwähnt habe. Sie müssen Dr. Enwright während Ihres Besuchs unbedingt kennenlernen. Wenn er Sie nicht überzeugen kann, Ihren Sohn auf unsere Schule zu schicken, kann es niemand.« »Sie schätzen seinen Einsatz über die Maßen«, stellte Gemma fest. »Er ist unermesslich, wenn ich ehrlich bin. Der Geschichtsklub arbeitet absolut eigenständig und verwaltet sich selbst. Aber er steuert ungeheuer viel zum Schulleben bei. Der Klub organisiert Aktivitäten an besonderen Tagen, Feste, Schauspielaufführungen und vieles mehr.« »Das Ganze ist dann also nicht im engeren Sinn Teil des Lehrplans, oder?«, fragte Gemma. »Nein, aber es trägt zur Ausbildung bei. Die Mitglieder des Klubs stürzen sich mit Hingabe in detaillierte Recherchen.« »Wahrscheinlich ist ihnen dabei das Internet eine unerlässliche Hilfe, nicht wahr«, stellte Heck fest. »Selbstverständlich«, pflichtete Clayley ihm bei, »aber sie bedienen sich auch unserer Bibliotheken. Und machen regelmäßig Exkursionen. Alles unter der Anleitung von Dr. Enwright natürlich. Wenn sie dabei sind, ein Projekt zu realisieren, lassen sie nichts unversucht.« Heck bekam eine Gänsehaut, als er diese Worte hörte und dabei die unschuldigen Gesichter auf dem Foto vor sich sah. Ihm fiel das blonde Mädchen ins Auge, das mit einem großen mürrischen jungen Mann mit Kurzhaarfrisur Händchen hielt. Unter dem Foto waren die Namen der Gezeigten aufgeführt: Das blonde Mädchen hieß Jasmine Sinclair; der Junge, der ihre Hand hielt, hieß Gareth Holker. Auf eine gewisse, für ein Eliteinternat typische Weise sah er durchaus gut und adrett aus, aber er lächelte nicht und schaute für jemanden, der noch so jung war, ungewöhnlich ernst drein. Auf einem der anderen Fotos trug er ein matschverschmiertes Rugbytrikot und hielt inmitten eines platt getrampelten Spielfeldes einen silbernen Teller hoch. Auch auf diesem Foto lächelte er nicht. Heck wies Mrs Clayley auf diese Beobachtung hin. Sie nickte. »Gareth ist Kapitän unserer Schulmannschaften und außerdem Schülersprecher. Dieses Amt ist hier auf der St Bardolph’s Academy mit großer Verantwortung verbunden, und er nimmt es sehr ernst. Gareth ist ein Beispiel für unsere außerordentlichen Erfolge.« Sie senkte die Stimme. »Derartige Informationen sind natürlich vertraulich, aber ich habe nichts dagegen, wenn sie verbreitet werden, da sie belegen, welch vielseitige praktische Erfahrungen man bei uns auf der St Bardolph’s Academy machen kann. Gareth kam kurz nach dem Tod seiner Eltern zu uns, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Das arme Kind war am Boden zerstört, vollkommen in sich zurückgezogen. Abgesehen von einem reichen Onkel, den er fast nie gesehen hat, hatte er keinen einzigen Angehörigen mehr. Aber Dr. Enwright hat ihn unter seine Fittiche genommen. Sie haben nicht nur gemeinsam den Geschichtsklub gegründet, was Gareth einen neuen Lebenssinn gegeben zu haben schien, sondern Dr. Enwright war in seiner Funktion als Schulseelsorger auch eine Art Ersatzvater für ihn. Er hat den Jungen langsam dazu gebracht, seine Stärken wiederzuentdecken, in intellektueller Hinsicht, aber auch auf dem Sportplatz.« »Er hat sozusagen das Biest in ihm entfesselt«, stellte Heck fest. Mrs Clayley runzelte die Stirn. »Nicht gerade ein Ausdruck, den ich gewählt hätte, aber auch nicht unpassend.« »Was ist das für ein Gebäude?«, fragte Gemma und zeigte auf die hölzerne Konstruktion auf dem Lagerfeuerfoto. »Das ist der sogenannte alte Pavillon. Die Kricketplätze der Schule wurden vor etwa zehn Jahren verlegt, und es wurde ein neuer Pavillon gebaut, somit stand der alte leer. Dr. Enwright hat um Erlaubnis gebeten, ihn für die Treffen des Geschichtsklubs benutzen zu dürfen, und der Schulleiter hat ihm den Pavillon gerne überlassen. Sie müssen Dr. Enwright wirklich kennenlernen.« Sie bedeutete ihnen, ihr einen angrenzenden Flur entlang zu folgen. »Wenn er in seinem Büro ist, wird er bestimmt ein paar Minuten Zeit für Sie haben.« Hinter der nächsten Ecke begegneten ihnen ein Schüler und eine Schülerin, die Heck von dem Lagerfeuerfoto wiedererkannte. Der Junge war für sein Alter ziemlich klein, dünn und hatte lang herabfallende karottenrote Locken. Das Mädchen hingegen war kräftig und athletisch gebaut. Sein rabenschwarzes Haar war extrem kurz geschnitten. Beide blieben beim Anblick der Besucher wie angewurzelt stehen. Mrs Clayley nickte den beiden im Vorbeigehen mit einem Lächeln zu und führte ihre Gäste durch eine Tür nach draußen auf ein sonnenbeschienenes Rasenviereck. Heck sah sich beiläufig um. Der Schüler und die Schülerin sahen ihnen unverhohlen hinterher. Auf ihren Gesichtern war klar zu erkennen, dass sie Heck wiedererkannt hatten, und er verzeichnete das als gute Nachricht. Mrs Clayley pries die Vorzüge der ländlichen Umgebung und erklärte ihnen, dass es den Schülern der oberen Klassen während des fortgeschrittenen Sommertrimesters gestattet sei, nach draußen zu gehen und unter freiem Himmel zu lernen. Heck tat so, als würde er zuhören und dies gutheißen, sah sich jedoch noch einmal um, als sie die andere Seite des Rasenvierecks erreichten. Der Schüler und die Schülerin waren ebenfalls nach draußen gekommen. Inzwischen wurden sie von einem dritten Schüler begleitet. Heck erkannte das blonde Haar und die kräftige Statur des Bogenhelden, Doug Latimer, wieder. Bisher machte keiner von ihnen Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Während Mrs Clayley unentwegt weiterredete und sie in das nächste Gebäude führte, warf Heck Gemma einen verstohlenen Blick zu. Sie zeigte ihm die SMS, die sie gerade unbemerkt an Shawna geschickt hatte: In Bereitschaft halten. Aber zusätzliche Verstärkung der örtlichen Polizei anfordern. PS: bewaffnete Verstärkung. Dr. Leo Enwright residierte in einem prachtvollen, geräumigen, mit Ledermöbeln ausgestatteten Büro, dessen Wände allesamt mit Regalen voller Bücher zu seinen Lieblingsthemen vollgestellt waren. Die Bogenfenster hatten Bleiglasscheiben mit Rautenmuster und waren mit Efeu verhangen. Aus den Fenstern blickte man durch Kricketnetze auf ein sonnenbeschienenes Spielfeld, auf dem ein Mann in Gärtnerkleidung träge mit einer motorisierten Rasenwalze hin und her fuhr. Dr. Enwright selbst war kleiner, als sie gedacht hatten, und ziemlich übergewichtig, doch er trug die gleiche zerknitterte Cordjacke und die gleiche Krawatte mit Blümchenmuster wie auf dem Schulfoto. Er verfügte über eine gewisse Ausstrahlung, die sie sofort registrierten. Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als wären sie alte Freunde, schüttelte ihnen beflissen die Hand und hieß sie in den herzlichsten Tönen willkommen. Er erkundigte sich, welchen Tee sie bevorzugten – er hatte jede nur erdenkliche Sorte auf Erden –, und bereitete den gewählten in einer verzierten silbernen Teekanne zu. Mrs Clayley saß an seiner Seite und lächelte nachsichtig, während Dr. Enwright sich und die Schule und ihr ethisches Konzept lebhaft und wortgewaltig vorstellte, aber Heck konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob er es nicht ein wenig übertrieb. Zugegeben, es war sehr schwer, diesen heiteren, wortgewandten Mann mit dem verdorbenen Individuum in Verbindung zu bringen, das bei ihnen unter dem Namen Feiertagsschänder lief, aber er hatte schon oft in die leeren Augen von Mördern geblickt. Er hatte Meister der List und der Täuschung kennengelernt und gelangte schnell zu dem Verdacht, dass der Dr. Enwright, den sie hier sahen, das Produkt von Schauspielerei war. Doch in einem war Heck sich sicher: Auch wenn Enwrights Zöglinge sie als Polizisten erkannt hatten, er selber wusste nicht Bescheid – jedenfalls noch nicht. Und vielleicht war das auch gar nicht so überraschend. Irgendwie konnte er sich diesen Oberlehrer nicht bei etwas so Profanem wie Fernsehen vorstellen. »Wie wir gehört haben, bieten Sie auch außerhalb des Lehrplans jede Menge Aktivitäten an«, sagte Heck. »Oh ja.« Enwright lächelte breit. Seine kleinglasige Brille ließ seine Augen unnatürlich groß erscheinen, und dann war da auch noch dieses unbändige, graue, drahtwolleartige Haar. Heck musste an Garricksons spöttische Bemerkung über einen »verrückten Professor« denken. »Unser Sportangebot ist unübertroffen. Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, daran irgendeinen Anteil zu haben, so gerne ich das auch täte. Mein kleines Königreich ist der Geschichtsklub.« »Das klingt sehr interessant«, stellte Gemma fest. Sie setzte sich, während Heck stehen blieb. »Thomas – unser Sohn – interessiert sich sehr für Geschichte.« »Wie schön!« Enwright rieb sich die Hände. »Ich sollte Sie aber gleich darauf hinweisen, dass es unserem Klub nicht um Geschichte im engeren Sinne geht. Wir beschäftigen uns zumindest nicht mit den trockenen, verstaubten Themenbereichen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir kommen selbstverständlich zusammen, um historische Ereignisse zu diskutieren, normalerweise an Jahrestagen … zu einer Art von Gedenkveranstaltungen, könnte man sagen.« »Zu Gedenkveranstaltungen?«, hakte Heck nach. »Es geht dem Geschichtsklub vor allem um Gedenken.« Heck blickte zur Seite und sah eine kleine Gruppe Schüler – das Mädchen und den Jungen, die ihn als Erste erkannt hatten, und noch einige mehr (die er alle von dem Lagerfeuerfoto wiedererkannte) – am Rand des Kricketplatzes entlangschlendern. Sie gingen am Fenster des Geschichtslehrers vorbei und warfen beiläufig einen Blick in dessen Büro. »Die Mitglieder des Klubs sind betrübt darüber, dass die moderne Gesellschaft es zugelassen hat, dass das Wissen über diese besonderen Ereignisse und über die Menschen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind, derart in Vergessenheit geraten konnten.« Der letzte der Schüler, die am Fenster des Büros vorbeigingen, war Doug Latimer. »Würden Sie dem zustimmen, Mr. Heckenburg?« Heck nickte. »Voll und ganz.« »Wie wir gehört haben, führen Sie auch Schauspiele auf?«, fragte Gemma. Enwright nickte. »Das stimmt. Der Geschichtsklub ist auch für die Organisation der Schauspiele an der Schule verantwortlich. Kurz gesagt: Wir organisieren Schülerversammlungen, Karnevalsveranstaltungen, Feste, Umzüge, all solche Dinge. Und ja … zu speziellen Anlässen auch Aufführungen und Schauspiele. Einige dieser Stücke sind komisch oder satirisch, und alle zielen darauf ab, das Publikum nicht nur zu unterhalten, sondern auch über bestimmte festliche Anlässe im Jahr zu informieren.« »Im Endeffekt machen Sie diese besonderen Anlässen also zu freudigen Ereignissen«, stellte Heck fest. Weitere Schüler zogen am Fenster vorbei. Wenn Enwright ihr Verhalten merkwürdig fand, ließ er sich dies nicht anmerken. »Ja, das denke ich schon«, entgegnete er. »Freudig. Für alle Beteiligten.« »Na dann«, Gemma stand auf, »wie es aussieht, wird Thomas hier am richtigen Ort landen. Er wird zwölf sein, wenn er hier anfängt. Damit ist er doch nicht zu jung, um in Ihrem Klub mitmachen zu können, oder?« Enwright lächelte erneut. »Wir nehmen Schüler jeden Alters.« Das glaube ich dir gerne, dachte Heck. Und je jünger und formbarer, umso besser. Enwright wurde kurz von einem elektronischen Hahnenschrei abgelenkt. Er sah hinunter auf seinen Schreibtisch, und Heck begriff, dass Enwright soeben eine SMS erhalten hatte. Im gleichen Moment erregte noch etwas anderes Hecks Aufmerksamkeit. Am Ende einer Reihe ledergebundener Bände befand sich ein Stapel Broschüren im A5-Format. Die oberste, deren gedruckte Buchstaben unprofessionell wirkten und die nur behelfsmäßig zusammengeheftet war, trug einen vertrauten Titel: Blutfest. »Nun dann …« Gemma nahm ihre Handtasche. »Ich denke, wir haben alles gesehen, was wir sehen wollten und weshalb wir hergekommen sind.« Mrs Clayley erhob sich ebenfalls, zuversichtlich, dass der Star der Schule wieder einmal seinen Teil dazu beigetragen hatte, einen zahlungskräftigen Schüler anzulocken. Auf der anderen Seite seines Schreibtischs las Enwright stocksteif die SMS auf dem Display seines Handys. Er blickte zu Gemma auf und rang sich ein Lächeln ab. »Es freut mich sehr, dass ich Ihnen zu Diensten sein konnte.« »Sie hätten uns keine größere Hilfe sein können«, bemerkte Heck. Enwright wandte sich ihm zu. »Es ist bemerkenswert, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben, um uns einer Prüfung zu unterziehen.« »Es ist immer wichtig, sich absolut sicher zu sein, mit wem man es zu tun hat«, entgegnete Heck. »Und? Sind Sie sich absolut sicher?« »Wir haben mehr gesehen als nötig, Dr. Enwright«, sagte Gemma. »Vielen herzlichen Dank. Darling, wir müssen los.« Enwright nickte steif und begann, hektisch eine Antwort auf die SMS einzutippen, als sie sein Büro verließen. Mrs Clayley plapperte munter, während sie Gemma und Heck über die Flure zurück zum vorderen Bereich des Hauptgebäudes führte. Unterwegs merkte Heck, dass sie Begleitung hatten. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah zwei Schüler, die lässig hinter ihnen herschlenderten, ein Junge und ein Mädchen. Sie sahen jünger aus als alle, die sie zuvor gesehen hatten, und er erkannte sie auch nicht von dem Lagerfeuerfoto wieder, aber vielleicht zeigte das Foto auch nur die Spitze des Eisbergs. Einige Sekunden später bogen der Junge und das Mädchen auf einen angrenzenden Flur ab und verschwanden. Heck blickte im Gehen nach links und nach rechts. Durch die hohen Bogenfenster erhaschte er Blicke auf weitere sonnenbeschienene Rasenvierecke – doch da draußen war niemand. Die Schule schien erstaunlich ruhig, allerdings glaubte er, ein fernes wütendes Rufen zu hören. Das Rufen wurde nicht beantwortet, und Mrs Clayley gab mit keinerlei Regung zu erkennen, dass sie es auch gehört hatte. Als sie die Eingangshalle erreichten, standen dort etliche Schüler herum – ohne jeden ersichtlichen Grund. Einige von ihnen waren vielleicht Oberstufenschüler, die anderen waren jünger. Auch diesmal kam Heck keines der Gesichter bekannt vor, aber er hatte sich auch nicht alle Gesichter auf dem Lagerfeuerfoto einprägen können. »Wartet ihr auf jemanden?«, fragte Mrs Clayley und eilte zielstrebig mit wehendem Umhang auf sie zu. Es folgten leise, unzusammenhängende Antworten. »Ich kümmere mich darum, vielen Dank, Luke. Und alle anderen: Ab mit euch! Wenn ihr Studientage habt, heißt das, dass ihr studieren sollt. Also los, an die Arbeit!« Die Schüler zogen verdrossen davon. Vielleicht bildete Heck es sich nur ein, aber er glaubte, dass einer von ihnen ihm und Gemma einen kurzen bösen Blick zuwarf. Draußen, auf dem Weg zu ihrem Wagen, sah er sich noch einmal um. Die efeuverhangenen Flügelfenster ließen nichts erkennen, doch er spürte, dass zumindest hinter einigen dieser Fenster feindselige Augen auf sie gerichtet waren. »Wie schnell können wir den Durchsuchungsbefehl bekommen?«, fragte er und ließ den Motor an. »Ich bin schon dabei«, erwiderte Gemma und hantierte an ihrem Handy herum. Sie behielten ein gleichmäßiges Tempo bei, während sie über die Zufahrt davonfuhren, und fühlten sich merkwürdig erleichtert, als die Schulgebäude hinter ihnen zurückfielen. »Zumindest können wir die Kompetenz des Geschichtsklubs bestätigen«, stellte Heck fest. »Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wie gewissenhaft sie alles vorbereiten.« Er warf Gemma einen Blick zu, die immer noch vergeblich versuchte, eine Verbindung zu bekommen. »Kein Empfang?« »Kein verdammtes Durchkommen. Immer, wenn man dringend telefonieren muss, geht es aus irgendeinem verfluchten Grund nicht!« »Versuch es weiter.« »Das tue ich ja. Kümmere du dich einfach ums Fahren, okay?« Heck trat aufs Gaspedal, doch nach ein paar Minuten, als sie immer noch mindestens eineinhalb Kilometer von der Hauptstraße entfernt waren, trat er auf die Bremse, und sie kamen rutschend zum Stehen. Zu ihrer Rechten wies ein kleines Holzschild in eine Seitenstraße. Der Hinweis lautete: Alter Pavillon. Die Seitenstraße war wenig mehr als eine Schotterpiste. Sie war zu beiden Seiten von Bäumen und dichtem Gestrüpp gesäumt, zog sich jedoch ziemlich weit hin und verlief zunächst in einer mehr oder weniger geraden Linie, bis sie in einem belaubten, sonnengesprenkelten Dunstschleier verschwand. »Wir haben bereits mehr als genug in der Hand, um dieses Internat auf den Kopf zu stellen«, stellte Gemma klar. »Warum sollen wir es noch weiter herauszögern?« »Vielleicht trägt es dazu bei, den letzten Hauch eines Zweifels zu beseitigen«, entgegnete Heck. »Schön, und was ist, wenn wir vor ihrem Klubhaus stehen? Ohne Durchsuchungsbefehl dürfen wir es nicht betreten. Was bringt uns das also?« »Wahrscheinlich nichts, aber wollen wir es wirklich ignorieren? Einfach weiterfahren, ohne einen Blick hineinzuwerfen?« Gemma sah auf die Uhr. »Okay, maximal fünf Minuten, dann sind wir weg.« Er lenkte den Wagen nach rechts, und sie fuhren einige Minuten. Vor ihnen spulte sich die Schotterpiste ab, links und rechts huschten tiefgrüne Talsenken an ihnen vorbei. Schließlich begann sich die Piste zu schlängeln, wand sich in Kurven von einer Seite zur anderen und verlief gut eineinhalb Kilometer so weiter, bis sie schließlich in eine offene Lichtung mündete, die groß genug war, um einst Platz für mehrere Kricketspielfelder geboten zu haben, die jedoch inzwischen unter wogenden frischen Farnwedeln und blühendem Dornengestrüpp verborgen waren. Die Piste endete abrupt, Heck zog die Handbremse und stellte den Motor aus. Dann folgte Stille. Es war mitten am Nachmittag, die Maisonne badete alles um Heck und Gemma herum, doch irgendwie herrschte an diesem vergessenen Ort eine unheimliche Stille. Am westlichen Rand der Lichtung befanden sich in einer Reihe drei Gebäude. Zwei von ihnen, das rechte und das linke, waren nicht mehr als aus Brettern zusammengenagelte, inzwischen verfallene Hütten, doch das mittlere Gebäude erkannten sie von dem Lagerfeuerfoto wieder. Der alte Pavillon. Er war erkennbar einmal ein schönes Gebäude gewesen: aus geweißtem Holz gebaut, mit einem niedrigen, steil zugespitzten, strohgedeckten Dach mit einer Turmspitze in der Mitte, in der einmal eine Glocke gehangen hatte, und einer Uhr an dem dreieckigen Giebel über der vorderen Veranda. Inzwischen war die Farbe abgeblättert, in den Dachvorsprüngen nisteten Vögel, und aus dem Strohdach wuchs Unkraut. Die Uhr hatte keine Zeiger mehr, die Ziffern waren kaum noch zu erkennen. Um den Pavillon herum war alles mit Unkraut überwuchert, doch ein Fußpfad schlängelte sich durch den Bewuchs zum Fuß der Treppe, die zur Veranda hinaufführte. »Dann sehen wir uns mal ein bisschen um, was?«, sagte Heck. Gemma ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen, wo die Spielfelder gewesen waren. Die Lichtung war zu allen Seiten von einem dichten Band aus Bäumen und Sträuchern umgeben, zwischen denen andeutungsweise grüne Schatten zu erkennen waren. »Gemma?«, fragte er. Sie nickte, und sie stiegen aus. Das zweifache Rumsen der zuschlagenden Türen hallte durch den Wald. Sie hielten erneut inne und lauschten angestrengt, hörten aber immer noch nichts. Schließlich gingen sie vorsichtig den Fußpfad entlang. Er war breit genug für sie, um nebeneinander gehen zu können, das Gras war platt getreten und braun. Ihnen fielen Spuren von Rädern ins Auge, als ob Karren hin und her gezogen worden wären. Oder sie stammten von Fahrrädern. »Das erklärt, wie sie sich auf dem Anwesen fortbewegen«, stellte Gemma fest. »Dürfte vor Gericht keinen guten Eindruck machen. Dass diese abscheulichen Verbrecher mit ihren Fahrrädern auf dem Schulgelände herumgegurkt sind – mit Geklingel und Lunchpaketen in ihren Fahrradkörben …« Ein kurzes Rascheln von Blättern war zu hören. Heck, der inzwischen den Fuß der Verandatreppe erreicht hatte, wirbelte herum. Nichts rührte sich – weder auf der Lichtung im tiefen Gras noch in den Schatten der Bäume. Sie sahen zu ihrem Auto. Hinter dem Auto entzog sich die im Schatten liegende Piste ihrem Blickfeld. Sie stiegen die Treppen hoch, ihre Füße stapften über ausgehöhltes, verwittertes Holz. Die Eingangstür war verschlossen und mit einem glänzenden, im Gegensatz zu allem anderen hier neu wirkenden Vorhängeschloss zugesperrt. Nicht dass dies eine Rolle spielte, denn auch ohne dieses Schloss hätten sie sich auf legalem Weg keinen Zutritt zu dem Pavillon verschaffen dürfen. Es gab auf beiden Seiten Fenster. Die Scheiben waren verstaubt und vom Alter vergilbt. Als ob es nicht auch so schon schwer genug gewesen wäre, durch sie hindurch etwas zu sehen, waren sie von innen als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme offenbar auch noch mit schwarzem Krepppapier zugeklebt worden. Sie gingen um die linke Ecke der Veranda herum und folgten einem Pfad, der zwischen dem Pavillon und der danebenstehenden Baracke hindurchführte. Sie kamen an weiteren Fenstern vorbei, die ebenfalls komplett von innen zugeklebt worden waren, bis auf das letzte; bei diesem war das Krepppapier von einer Stuhllehne unten rechts in der Ecke ein wenig nach oben geschoben worden, wodurch ein kleiner Sichtschlitz entstanden war. Heck ging in die Hocke und spähte hindurch, Gemma reichte ihm eine Taschenlampe. Der Strahl drang etwa zwei bis zweieinhalb Meter in das düstere Innere. Das Erste, was Heck sah, war ein Stapel quadratisch zurechtgesägter Holzbretter. Das Holz sah frisch und neu aus. Dahinter stand ein Kleiderständer voller bunter Klamotten. »Theaterkostüme«, stellte er fest. »Wobei das Weihnachtsmannkostüm erkennbar fehlt. Entweder haben sie hier ihre eigenen Kostüme genäht, oder sie haben sie von der Schauspiel-AG mitgehen lassen. Moment mal … da ist noch was.« Er hielt den Strahl der Lampe nach unten und erspähte auf dem Boden in der Nähe des Fensters zwei Farbeimer. Beide waren offen und leer, doch an den Seiten war Farbe heruntergelaufen und getrocknet. Eine der Farben war weiß, die andere rosa. Schöne Farben für einen Maibaum, dachte er. Diese kleinen Scheißkerle! »Wir brauchen den Durchsuchungsbefehl schnell, wenn wir nicht riskieren wollen, dass das ganze Zeug verschwindet«, stellte er klar. Gemma antwortete nicht. Er drehte sich um und sah, dass sie den Pfad zur Rückseite des Pavillons weitergegangen war. Er folgte ihr. »Was hältst du davon?«, fragte sie. Direkt hinter dem Pavillon stand ein Sattelschlepper. Sowohl der Aufbau der Zugmaschine als auch der Anhänger waren schmutzig und verbeult. Während Gemma ihr Funkgerät zur Hand nahm und das Kennzeichen in der polizeilichen Datenerfassungszentrale überprüfen ließ, ging Heck um den Lastwagen herum, blieb alle paar Schritte stehen und machte Fotos mit seiner Handykamera. Er achtete insbesondere auf die Reifenprofile, die, obwohl er sich nicht ganz sicher war, in gewisser Weise an die Abdrücke erinnerten, die sie auf dem Schlackehügel in der Nähe des Kreuzigungstatorts gefunden hatten. Die Tür auf der Rückseite des Pavillons war verschlossen und ebenfalls mit einem Vorhängeschloss zugesperrt; auch dieses war neu. Der Lastzug war an einer Stelle geparkt, an der zwei weitere Schotterpisten zusammenliefen. Eine führte um die drei Gebäude herum zu den Kricketplätzen, war jedoch erkennbar seit Langem nicht mehr benutzt worden; die Fahrspuren waren von hohem Gras und Brennnesseln überwuchert. Die andere Piste führte in die entgegengesetzte Richtung. Sie war ebenfalls holprig und unbefestigt und zu beiden Seiten von dichtem Baumbewuchs gesäumt, doch das Fehlen jeglicher Vegetation auf ihrem Untergrund legte nahe, dass sie regelmäßig befahren wurde. Heck versuchte, sich grob die Anordnung des Anwesens in Erinnerung zu rufen, die sie auf der Landkarte studiert hatten, bevor sie hergekommen waren. Es gab überall auf dem Gelände Straßen und Wege, jedoch nur zwei Zufahrten beziehungsweise Ausfahrten. Die Hauptzufahrt befand sich auf der Südseite, aber es gab auch noch ein Tor an der westlichen Seite. Möglicherweise führte diese Nebenpiste zu diesem Tor, doch das ließ sich von da, wo sie waren, unmöglich sagen. Dann entdeckte er etwas anderes. Etwa zwanzig Meter weiter befand sich, fast vom Laubwerk verdeckt, ein Autounterstand. Er war nach vorn hin offen, doch die hintere Wand und die Seitenwände waren alte Backsteinmauern. Das Wellblechdach war moosüberzogen und mit Schmutz und dem vermoderten Herbstlaub mehrerer Jahrzehnte bedeckt. Unter dem Unterstand waren sechs Autos abgestellt: ein Ford Fiesta, ein Ford Focus, ein Toyota Avensis, ein VW Polo, ein Peugeot Clio und ein leuchtend oranger MG Cabrio, dessen Verdeck zurückgeklappt war. »Also, das mit dem Lkw ist der Hammer«, sagte Gemma, die sich ihm von hinten wieder näherte. »Er wurde vor gut einem Jahr gestohlen, sage und schreibe in … Humberside.« »Bestimmt während einer sehr lehrreichen Exkursion des Geschichtsklubs, um die Kais und die Kräne zu besichtigen«, entgegnete Heck. »Was es wohl mit denen da auf sich hat?« Sie betrachtete die Ansammlung halb verdeckter Autos. »Du lieber Himmel …« »Der Rest der Flotte«, stellte er fest. »Es wird Zeit, dass wir den Stein ins Rollen bringen.« »Würde ich auch sagen.« Sie gingen den Pfad zurück zu den ehemaligen Kricketplätzen. Heck nahm sein Funkgerät. »Detective Sergeant Heckenburg an alle Einheiten … niemand darf das Schulgelände verlassen, bevor ich anderslautende Anweisungen erteile. Falls es jemand versucht, halten Sie die betreffenden Personen an und nehmen Sie sie vorübergehend fest, bis Detective Superintendent Piper oder ich hinzukommen. Grund der Festnahme ist die Tatsache, dass Angehörige der Schule verdächtigt werden, schwere Verbrechen begangen zu haben. Dies gilt insbesondere für Dr. Leo Enwright. Er ist ab sofort unser Hauptverdächtiger für die Feiertagsschändungsmorde. Ich wiederhole: Er ist unser Hauptverdächtiger. Ende und aus.« Wie zuvor war die große Lichtung vor dem Pavillon verlassen. Die Schatten unter den Bäumen lagen reglos und still da. Sie gingen den Pfad zurück zum Auto. »Fahr du wieder«, sagte Gemma, als sie einstiegen. »Ich muss ein paar Anrufe tätigen.« Er drehte sich um, während er den Motor einschaltete und den BMW zurücksetzte, um zu wenden, doch der Wagen verhakte sich an irgendetwas und sackte nach unten. »Was ist denn jetzt los?«, stöhnte Gemma. Heck stieg aus, ging seitlich um den Wagen herum – und entdeckte einen Pfeil, der diagonal im hinteren Reifen auf der Beifahrerseite steckte. »Runter!«, schrie er und sprang wieder in den Wagen. »Runter, habe ich gesagt!« Er ließ den Motor aufheulen und erstarrte beim Anblick eines weiteren Pfeils, der über die Lichtung auf sie zuschoss. Er surrte mit einem Knirschen durch die zerberstende Windschutzscheibe. Gemma schrie vor Schmerzen auf. Heck sah nicht einmal nach, wie schlimm es Gemma erwischt hatte, er rammte einfach nur den Rückwärtsgang rein und raste rückwärts die Piste entlang. Vor ihm wurden Dreck und Kies aufgewirbelt. Ein dritter Pfeil traf das Auto, durchschlug die Motorhaube und hinterließ einen Riss in der Länge eines menschlichen Arms. »Oh … mein Gott«, stammelte Gemma. »Heck …« Bei der Geschwindigkeit war die Schotterpiste gefährlich, erst recht im Rückwärtsgang und mit einem platten Reifen. Als der BMW die Lichtung verlassen hatte, sah Heck abwechselnd in den Rückspiegel und zu seiner Beifahrerin. Sie saß starr da und zitterte heftig. Der Pfeil hatte sich in ihre rechte Schulter gebohrt; das Blut strömte pulsierend aus ihr heraus. »Hier ist Heck!«, brüllte er in sein Funkgerät. »Dringende Mitteilung! Wir werden angegriffen – beim alten Pavillon! Gemma wurde von einem Pfeil getroffen und verliert viel Blut! Alle Einheiten sofort hierher, auch das Sondereinsatzkommando … und schicken Sie einen Krankenwagen!« Jeder Ruck und jeder Stoß war für Gemma wie ein Hammerschlag. Sie versuchte, nicht zu schreien, aber das war beinahe unmöglich. »Halt durch!« Er trat das Gaspedal voll durch, umrundete eine Kurve nach der anderen, Zweige und Blätter schabten an der Karosserie des BMWs. Bis zur Hauptstraße waren es noch mindestens drei Kilometer, aber inzwischen mussten sie außerhalb der Reichweite des Bogenschützen sein, sodass er anhalten und wenden konnte – doch in dem Moment tauchte vor ihnen ein anderes Auto auf. Im ersten Augenblick sah er nur etwas Leuchtendoranges aufblitzen – sie rasten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um enge Kurven –, doch dann sah er es wieder: Es war der MG Cabrio aus dem Autounterstand. Erstaunlicherweise wurde der Wagen von dem Jungen mit dem karottenfarbenen Haar gefahren, den er in der Schule gesehen hatte. Hinter ihm stand der Bogenschießmeister Doug Latimer, die athletischen Beine weit gespreizt. An seiner Hüfte baumelte ein mit Pfeilen gefüllter Köcher, sein Hightechbogen war erneut bis zum Anschlag gespannt. Genau in dem Augenblick, in dem Heck ihn anstarrte, schoss er einen weiteren Pfeil ab. Er surrte rasend schnell und zielgenau auf sie zu und verpasste sie nur, weil Heck im gleichen Moment das Lenkrad herumgerissen hatte. Sie schossen um eine weitere Kurve, der Wagen schlingerte an den Rand der Piste und überschlug sich beinahe. Zwei Radkappen flogen ins Gestrüpp; dicke Äste scheuerten an der Seite des Wagens entlang. Gemma atmete stoßweise. Sie hatte es geschafft, ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche zu zerren und um die Stelle zu legen, an der der Pfeil eingedrungen war, doch der behelfsmäßige Verband war bereits ein einziger triefender, karmesinroter Fetzen. »Wir brauchen sofort Verstärkung!«, brüllte Heck in sein Funkgerät. »Ich wiederhole, wir stehen unter Beschuss!« Der MG schlingerte wieder in Sicht, direkt vor ihnen. Inzwischen hatte er aufgeholt, war keine sechzig Meter mehr von ihnen entfernt. Latimer schoss einen weiteren Pfeil ab. Der Wagen, in dem er stand, wurde ebenfalls hin und her gerüttelt, Doug schaukelte und schwankte, doch er behielt sein Ziel unerschütterlich im Visier. Der Pfeil durchbohrte mit voller Wucht die bereits geborstene Windschutzscheibe, verfehlte Hecks Wange nur um wenige Zentimeter, schoss durchs Innere des Wagens und bohrte sich in die Rückenlehne der Rückbank. Heck trat das Gaspedal durch, obwohl sie eine weitere mörderische Kurve nahmen. Die Aufhängung kreischte, eine dritte Radkappe flog davon. Wenn der MG das nächste Mal in Sicht käme, hätten sie wirklich ein Problem. Bisher waren sie nur dank der vielen Kurven davongekommen, doch die letzten gut eineinhalb Kilometer bestanden aus einer schnurgeraden Strecke. Dort würde der MG sie einholen, und für einen Präzisionsschützen wie Latimer wären sie leichte Beute. Heck riskierte einen weiteren Blick zu Gemma. Sie war kreideweiß und in Blut und Schweiß gebadet. Ihre Augenlider zuckten, doch er sah, dass sie alles tat, was in ihrer Macht stand, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Mit einer Hand presste sie immer noch ihren blutdurchtränkten behelfsmäßigen Verband auf die Wunde, mit der anderen stützte sie sich auf dem Armaturenbrett ab. Es war beeindruckend, wie tapfer sie war, doch das würde alles nichts bringen, wenn Heck nicht bald etwas unternahm. Er traf eine verzweifelte Entscheidung. Sie schlingerten mit quietschenden Reifen um die letzte Kurve. Der MG verschwand kurz aus ihrer Sicht – und Heck trat voll auf die Bremse. Der BMW kam ruckelnd, quer über die Piste gestellt, zum Stehen. »Runter mit dir!«, rief er Gemma zu. »Du musst runter.« »Ich bin … an dem verdammten Sitz festgespießt!«, stammelte sie. Sie hatte recht. Nur die Hälfte des mit Federn besetzten Pfeils war zu sehen. Die andere Hälfte war durch sie hindurchgedrungen und hatte sich in das Polster hinter ihr gebohrt. »Es wird wehtun«, warnte er sie, packte sie am Kragen und riss sie nach vorn. Gemmas Schmerzensschrei ging in einen Schrei blanken Entsetzens über und vermischte sich mit Wut, doch die in dem Sitz steckende Pfeilspitze wurde losgerissen, und mit ihr lösten sich Stücke von Stoff und Schaumgummi. »Bleib in dieser Position!«, wies er sie an, drückte ihren Oberkörper nach unten auf ihren Schoß, rammte den ersten Gang rein, gab Gas und schaltete schnell hoch in den zweiten, dritten und vierten. Das Letzte, was die beiden Schüler vermutlich erwarteten, als sie die letzte Kurve umrundeten, war, dass das Ziel ihrer Verfolgung auf sie zugerast kam. Der Zusammenstoß war verheerend. Der enorme Aufprall schleuderte Heck und Gemma mit unglaublicher Gewalt nach vorn, doch ihre Sicherheitsgurte hielten sie, und die Airbags dämpften die Wucht des Stoßes. Die Knautschzonen des BMWs verformten sich; von einem Augenblick zum anderen war der Wagen kaum mehr wiederzuerkennen. Doch der kleinere MG bekam den schlimmeren Teil des Zusammenstoßes ab. Er wurde von dem deutlich größeren Kollisionsgegner im wahrsten Sinne des Wortes zermalmt und in einen einzigen Schrotthaufen verwandelt. Die beiden Insassen überlebten nur, weil das Verdeck zurückgeklappt war und sie beide herausgeschleudert wurden. Heck öffnete mit einem Klingeln in den Ohren und mit brummendem Schädel seinen Gurt, drehte sich, legte sich auf den Rücken und trat mit beiden Füßen gegen die Fahrertür. Sie war so verzogen, dass sie seinem Tritt zunächst standhielt, doch beim zweiten Versuch klappte sie auf. Heck sprang aus dem Wagen und bahnte sich einen Weg durch den austretenden Dampf. Der Karottenschopf wälzte sich noch im Laub am Rand der Piste. Angesichts dessen, was gerade passiert war, sah er völlig entgeistert aus, doch als er Heck vor sich auftauchen sah, der bedrohlich auf ihn zukam, fand er seine Füße wieder, taumelte um das Heck des MG herum und suchte in Richtung Hauptstraße das Weite. Heck folgte ihm, stieß jedoch auf Latimer, der ihm, platt auf der Piste ausgestreckt, im Weg lag. Den Bogenschießmeister hatte es schlimmer erwischt als den Karottenschopf: Seine Nase war eine blutige Knolle, doch er war ebenfalls bei Bewusstsein. Er langte nach seinem Bogen, der keinen Meter von ihm entfernt lag. Doch Heck war mit zwei großen Schritten bei ihm, verpasste ihm einen Tritt ins Gesicht und setzte ihn außer Gefecht. Dann schnappte er sich den Bogen und verbog ihn so, dass er nicht mehr zu gebrauchen war. Der Karottenschopf hatte es keine zwanzig Meter weit geschafft. Er mochte jung sein, aber er humpelte. Er sah sich um, während er an dem zerbeulten BMW vorbeitaumelte – und bekam nicht mit, dass Gemma die Beifahrertür auftrat, sodass sie ihm direkt im Weg war. Er prallte von der Tür ab und fiel zur Seite ins Laub. Im nächsten Augenblick war Heck auf ihm. Der Junge wand sich mit aller Gewalt und wehrte sich mit Händen und Füßen. Er ließ Heck keine andere Wahl, als ihn am Gürtel auf die Beine zu ziehen, ihn mit dem Rücken gegen einen Baum zu rammen und seine Hände mit Handschellen hinter dem Stamm zu fesseln. »Schluss jetzt!«, ertönte eine aggressive Stimme. »Alle runter auf den Boden! Und die Hände so, dass ich sie sehen kann! He, Sie Idiot, ja, Sie da in dem Anzug … Ich habe gesagt, auf den Boden, verdammt noch mal!« Heck drehte sich halb um. Er spürte, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war. Eine Einheit des Sondereinsatzkommandos war mit einem schwer gepanzerten Polizeitransporter von der Hauptstraße gekommen und hatte vor den beiden Autowracks angehalten. Speziell an Waffen ausgebildete Beamte, bei den meisten Polizisten einfach nur als »Waffenträger« bekannt, kletterten aus dem Wagen. Über ihren feuersicheren schwarzen Overalls trugen sie kugelsichere Westen; nur die schwarz-weißen Blitze auf ihren Helmen mit heruntergeklappten Visieren verrieten, wer sie waren. Einige hatten ihre Pistole gezogen oder eine MP5 im Anschlag und rückten vorsichtig vor. Hinter ihrem Transporter war auch ein Krankenwagen eingetroffen, dessen Besatzung jedoch ratlos wartete, da die Weiterfahrt blockiert war. Der bewaffnete SEK-Beamte, der gesprochen hatte, war derjenige, der Heck am nächsten stand, und er rückte langsam weiter vor. Er war ein älterer, zugleich durchtrainiert aussehender Mann mit breiten Schultern und trug das Abzeichen eines Police Inspectors. Kimme und Korn seiner Kurtz-Maschinenpistole waren direkt auf Heck gerichtet. »Besser spät als nie«, stellte Heck an ihn gewandt fest. »Auf den Boden, habe ich gesagt! Sind Sie taub, oder was!« »Achtung, Chef!«, rief ein Sergeant des SEK-Trupps. »Kein freies Schussfeld!« »Ich bin Detective Sergeant Heckenburg, Sie verdammter Idiot!«, erwiderte Heck mit ausgebreiteten Händen. »Da, sehen Sie … Ich habe soeben eine Verhaftung vorgenommen.« Der bewaffnete Beamte bedachte den gefesselten Schuljungen nur mit einem äußerst flüchtigen Blick. »Ich kenne weder Sie noch ihn!« »Wenn Sie mich in meine Jacke langen lassen, zeige ich Ihnen meinen Dienstausweis.« »Mit einer Hand. Und langsam … verdammt langsam.« Heck griff behutsam in die Innentasche seines Jacketts und holte seinen Dienstausweis hervor. Als der Inspector der bewaffneten Polizei sah, dass es sich nicht um eine Waffe handelte, senkte er seine Kurtz, ging zu Heck und klappte sein Visier hoch. Seinem harten, ausdruckslosen Gesicht nach zu urteilen, war er immer noch nicht überzeugt, dass er es mit einem von den Guten zu tun hatte. Er riss Heck den Ausweis regelrecht aus der Hand, entschlossen, ihn genaustens auf irgendwelche Anzeichen zu überprüfen, ob er möglicherweise gefälscht war. Als er den Dienstausweis zurückgab, schlug Heck ihm eine rein. Es war ein schneller rechter Haken auf den Kiefer, und der Beamte ging zu Boden wie ein Sack Kartoffeln. »Das nächste Mal, wenn ich sage, ihr sollt euch, verdammt noch mal, beeilen, beeilt euch gefälligst!« »Sie Drecksack!«, brüllte der Sergeant. Heck zeigte auf den Polizeitransporter. »Fahrt diese Lutscherkarre weg, damit der Krankenwagen durchkann, ihr primitiven Wichser!« Der bewaffnete Sergeant war im Begriff, etwas Entsprechendes zu erwidern, doch in dem Moment erblickte er Gemma, die auf allen vieren am Rand der Piste entlangkroch. Ihr Haar war schweißdurchtränkt. Sie war vorn und hinten mit Blut besudelt. Aus ihrer rechten Schulter ragte schief der fünfzehn Zentimeter lange Schaft eines Aluminiumpfeils heraus. Selbst dem hartgesottenen SEK-Beamten fiel die Kinnlade herunter. »Oh Scheiße …« »Kommen Sie hier rüber!«, rief Heck den Sanitätern in dem Rettungswagen am Polizeitransporter vorbei zu. »Dieser Bereich ist sicher …« Er wurde vom nahen Brummen eines schweren Motors unterbrochen. Er wirbelte herum. »Scheiße, der Sattelschlepper! Sie versuchen zu entkommen!« Er rannte instinktiv los, die Piste zurück. Hinter ihm ertönte ein Ruf. »Seht zu, dass die Ärzte ihren Job erledigen!«, rief er über seine Schulter. »Alle anderen mir nach! Die Scheißkerle versuchen zu türmen!« Mit lederbesohlten Schuhen zu rennen war nie leicht. Heck stolperte und rutschte aus, schaffte es aber irgendwie, weiterzutaumeln. Zunächst folgte ihm keiner der SEK-Männer. Heck sah sich um, während er rannte. Zwei der Bewaffneten halfen den Ärzten, die sich um Gemma kümmerten, doch die anderen versuchten lächerlicherweise, die beiden Autowracks von der Piste zu schieben, vermutlich, um in ihrem eigenen Wagen weiterfahren zu können. Heck fluchte, rannte aber weiter. Was auch immer man sonst von ihnen halten mochte, die bewaffneten SEK-Beamten waren bestens durchtrainiert. Sie gaben den Versuch, die Autos aus dem Weg zu räumen, schnell auf, folgten ihm zu Fuß und hatten ihn beinahe eingeholt, als er den alten Pavillon erreichte. Er rannte keuchend und schweißgebadet um das Gebäude herum zur Rückseite, doch der Sattelschlepper war nicht mehr da. »Hier spricht Heck!«, rief er in sein Funkgerät. »Ist jemand am Westtor positioniert?« »Das dürfte ich sein, Sergeant«, erwiderte eine Stimme. Es war Gary Quinnell. »Dann halt dich bereit, Gary … Möglicherweise ist ein Sattelschlepper auf dem Weg zu dir. Beschaff dir über die Datenerfassungszentrale das Kennzeichen. Gemma hat es vor zwanzig Minuten durchgegeben. Aber du kannst das verdammte Teil nicht übersehen. Sie werden nicht anhalten, also bitte keine Heldentaten, okay? Folge ihm einfach, bis ihm der Sprit ausgeht. Und schreib den Sattelschlepper in der Zwischenzeit zur Fahndung aus. Und wenn die Central Counties Air Operations Unit einen Hubschrauber erübrigen könnte, wäre das auch hilfreich.« »Verstanden«, kam Quinnells Antwort. Heck war im Begriff, noch etwas zu sagen, als er auf einmal Rauch roch. Die SEK-Männer hatten es auch gemerkt. Sie hatten ihre kugelsicheren Helme abgenommen und sahen sich verwirrt um. Dann folgte ein Ruf, und Finger zeigten auf den Pavillon. Flammen züngelten hinter den schmutzigen Fenstern an der Rückseite des Gebäudes. »Scheiße!«, rief Heck und stürmte um das Gebäude herum zur Vorderseite. Die SEK-Männer folgten ihm, und die vordere, zugesperrte Tür ging unter einem Hagel von Fußtritten und Schulterstößen zu Bruch. Intensive Hitze zischte nach draußen, beißender Rauch schlug ihnen entgegen. Heck bahnte sich wedelnd und hustend einen Weg und schirmte seine Augen ab. Die komplette Rückseite des Pavillons war bereits eine einzige Flammenwand. Teile der Einrichtung, Kistenstapel und Kleiderständer, standen ebenfalls in Flammen. Fensterscheiben zersprangen knallend wie Schüsse. Ein Regal brach zusammen, aller möglicher Krimskrams flog durch den Raum und fing Feuer, und sie mussten den brennenden Geschossen ausweichen. »Wir sehen besser zu, dass wir hier rauskommen!«, rief der Sergeant der bewaffneten Polizei. »Die Bude wird gleich brennen wie Zunder.« »Dann verlieren wir eine wahre Fundgrube«, entgegnete Heck und ging weiter. »Da drüben! Sehen Sie mal!« Auf der linken Seite stand ein Tisch an der Wand, an dessen rechter und linker Seite Aktenschränke standen. Auf dem Tisch stand ein Computer mit Monitor, daneben lagen Unterlagen, Bücher, andere Büroutensilien und sogar etwas, das aussah wie eine Nachtsichtbrille. Ein großes Schaubild – eine Art selbst gezeichnete, an einigen Stellen mit Textmarker gekennzeichnete Karte – war über dem Tisch an die Wand gepinnt. Angesichts des Flammeninfernos war alles dabei, zu verkohlen. »Wir müssen davon so viel wie möglich retten!«, stellte Heck klar. »Vor allem den Computer.« Er setzte sich in Bewegung und kämpfte gegen ölige Rauchwolken und sprühende Funken an, doch auf halbem Weg zu dem Tisch stürzte plötzlich ein Teil des schwelenden Holzbodens ein. Es war eine instabile Falltür, und auf einmal starrte er hinab in eine zylinderförmige, etwa dreieinhalb Meter tiefe Grube mit nackten Backsteinwänden. Es konnte einmal ein Art Brunnen gewesen sein, doch dem aus der Grube steigenden Gestank nach zu urteilen, hatte sie in letzter Zeit als Kerker gedient. Zumindest waren da unten im Moment keine Gefangenen eingesperrt. Heck selbst riss die Karte von der Wand, faltete sie zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Einer der SEK-Beamten schnappte sich den Computer, zwei andere schafften es, einen der Aktenschränke zur Eingangstür zu schleppen, bevor die ihnen entgegenschlagende immer intensiver werdende Hitze nicht mehr auszuhalten war. Als sie draußen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als aus einer gewissen Entfernung gebannt zuzusehen, wie die fauchenden Flammen das alte, von der Sonne ausgetrocknete Gebäude verschlangen. Hecks Handy piepte. »Ich bin’s«, meldete sich Shawna. »Was gibt’s?« »Wir sind in der Schule und haben alles abgeriegelt.« »Gut gemacht.« »Bedank dich nicht zu früh. Die Vögel sind ausgeflogen.« »Was?« »Wie es aussieht, haben einige Schüler – wir wissen noch nicht genau, wie viele – vor einer halben Stunde ohne Erlaubnis den Unterricht verlassen. Als eine Lehrerin versucht hat, sie davon abzuhalten, hat sie für ihr Einschreiten einen Schlag auf die Nase kassiert.« »Was ist mit Enwright?« »Er ist noch da. Hat sich in einer Kammer eingeschlossen, die hinten von seinem Büro abgeht.« »Brecht die verdammte Tür auf!« »Haben wir schon versucht, aber er muss sie von innen verbarrikadiert haben.« »Okay, bleibt, wo ihr seid … ich bin schon auf dem Weg.« Heck sah sich um. Einige der SEK-Männer starrten immer noch gebannt auf den brennenden Pavillon. Andere wischten sich den Schweiß ab und redeten miteinander. Er setzte sich in Bewegung und joggte die Schotterpiste zurück. Der gepanzerte Polizeitransporter stand noch da, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Doch inzwischen waren mehre Uniformierte und Kriminalbeamte der örtlichen Polizei eingetroffen und unterhielten sich mit dem Leiter des SEK-Trupps, der um den Mund herum etwas lädiert aussah. Charlie Finnegan war auch da, er hatte die Bewachung von Karottenschopf übernommen, telefonierte aber gerade mit jemandem. Niemand schenkte Heck Beachtung, als er zu dem Polizeitransporter ging, dessen kräftig gebauter, bärtiger Fahrer auf der Piste stand und eine Zigarette rauchte. »Ich muss so schnell wie möglich in die Schule«, sagte Heck. »Dann bestellen Sie sich ein verdammtes Taxi.« »Falsche Antwort.« Heck ging um ihn herum und stieg schnell in die Fahrerkabine. »He!« Der Schlüssel steckte noch im Zündschloss. Heck drehte ihn, und der Motor sprang an. Er riss den schweren Wagen herum und wendete rasant in drei Zügen. Aufgescheuchte Uniformierte und Beamte in Zivilkleidung umkreisten das Fahrzeug. Der Fahrer rannte schreiend neben ihm her und drohte ihm alle nur erdenklichen Konsequenzen an, bis Heck Gas gab. Der gepanzerte Transporter schoss über die Piste davon und ließ den Fahrer hinter sich zurück. Sowohl Schüler als auch Lehrer drängten sich vor sämtlichen Fenstern. In der ganzen Schule herrschte geschäftiges Treiben der Polizei, es ging zu wie in einem Bienenstock. Überall waren uniformierte Beamte der örtlichen Polizei sowie Kriminalbeamte, ganz zu schweigen von weiteren SEK-Männern, die sich wie üblich in kraftstrotzender Manier aufspielten, als wäre das Ganze ihre Show. Die einzige Zivilistin außerhalb der Gebäude war die stellvertretende Schulleiterin Wanda Clayley, die in ihrem flatternden Umhang hin und her huschte wie ein irrer schwarzgewandeter Schmetterling. Sie taumelte von einem Beamten zum nächsten und bestürmte sie mit Fragen, doch keiner von ihnen schien in der Lage oder willens, ihr zu helfen. Als Heck aus dem gepanzerten Polizeitransporter stieg, hängte sie sich sofort wie eine Klette an ihn und schien kaum wahrzunehmen, dass er völlig verschwitzt war und schwarz vom Rauch. »Mr Heckenburg! Mr Heckenburg … Offenbar sind Sie irgendeine Art Polizist!« »Ja, Mrs Clyley, so eine Art«, entgegnete Heck. »Wenn auch kein besonders guter.« »Das wollte ich auch gerade sagen.« »So, wie Sie keine besonders gute Lehrerin sind.« »Wie bitte?« Ihre Wangen erröteten. »Ich habe Ihnen heute Nachmittag eine ganze Stunde meiner Zeit geopfert, um Ihnen unser Anwesen zu zeigen. Ich hatte keine Ahnung, dass ich auf diese zutiefst hinterhältige Weise hereingelegt wurde.« »Ich hoffe aufrichtig, dass Sie auch keine Ahnung hatten, dass Sie in Ihrer Schule eine Bande extrem gestörter und gefährlicher Individuen beherbergt haben, auf deren Konto möglicherweise eine ganze Anzahl sadistischer Morde geht.« »Das ist doch totaler Schwachsinn! Es ist absolut unvorstellbar, dass Dr. Enwright …« Heck stürmte an ihr vorbei. »Heben Sie sich das für die Untersuchung auf, Mrs Clayley … denn die wird es auf jeden Fall geben. Diese Einrichtung und die mutmaßlichen Verantwortlichen werden gründlich unter die Lupe genommen.« Sie wollte weiter protestieren, doch er gab zwei Uniformierten ein Zeichen, und sie wurde weggeführt. Er ging ins Gebäude, wo weitere Uniformierte vor den Türen der Büros und der Klassenzimmer Position bezogen hatten. Im Hauptfoyer kam ein Inspector der örtlichen Polizei zu ihm. »Heckenburg, Sir. Dezernat für Serienverbrechen.« Heck zückte seinen Dienstausweis. »Niemand verlässt dieses Gebäude. Die Schüler dürfen nicht einmal die Klassenzimmer verlassen. Erstens, weil einige von ihnen noch Verdächtige sein könnten, zweitens zu ihrer eigenen Sicherheit.« Er ging zu Shawna in Dr. Enwrights Büro. Sie stand dort mit einem Stapel gelbbrauner Mappen unter dem Arm, während Eric Fisher vor einem Computer saß. Neben ihm stapelten sich Unterlagen auf dem Boden. Außerdem stand ein Uniformierter unschlüssig in dem Raum herum und wirkte irgendwie überflüssig. »Wie ich soeben erfahren habe, wurde Gemma sofort notoperiert«, sagte Shawna, als sie Heck sah. »Der Pfeil hat ihre Unterschlüsselbeinarterie durchtrennt. Es steht auf des Messers Schneide, ob sie den Arm je wieder wird benutzen können.« Heck nickte stoisch. »Wo ist Enwright?« Sie zeigte auf eine verschlossene Tür in der hinteren Ecke des Zimmers. »Was befindet sich hinter dieser Tür?« »Offenbar nur ein Lagerraum.« »Fenster?« »Zu klein, als dass jemand hindurchkönnte.« Heck verpasste der Tür einen Tritt. Sein Fuß prallte von etwas ab, das sich wie massive Eiche anfühlte. Der Tritt hinterließ nicht einmal eine Delle. »Dr. Enwright!«, rief er. »Hier spricht Detective Sergeant Heckenburg. Hören Sie … Sie schieben das Unvermeidliche nur hinaus.« Er legte sein Ohr an die Tür, hörte jedoch nichts von der anderen Seite. Er richtete sich wieder auf und betrachtete zerstreut die Mappen unter Shawnas Arm. »Was ist das?« Sie blätterte den Stapel flüchtig durch. »Akten der Schüler, die abgehauen sind. Sie heißen Doug Latimer, Anthony Worthington, Heather Greer, Arnold Wisby, Luke Stapleton – beunruhigenderweise der Sohn eines Polizisten –, Susan Cavanagh, Gareth Holker … und dann ist da noch das Blondchen, bei dem es sich, glaube ich, um Holkers Freundin handelt, oder?« Heck erinnerte sich an sie und nickte. »Sie heißt Jasmine Sinclair.« Er sah die Akten durch und betrachtete die beigefügten Fotos. »Wegen Latimer und Worthington müssen wir uns keine Sorgen mehr machen – die sind bereits beide geschnappt.« Er wandte sich wieder der Tür zu. »Du sagst, ihr habt versucht, sie aufzubrechen?« »Bisher ohne Erfolg.« Sie zeigte auf den uniformierten Polizisten, einen großen, knochigen jungen Mann, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter rieb. »Wie man uns informiert hat, gibt es da drinnen Stahlregale, Sergeant«, erklärte der Polizist. »Er könnte sie verwendet haben, um mit ihnen die Tür zu verrammeln.« »Für so was haben wir keine Zeit«, zischte Heck durch zusammengebissene Zähne. »Eine hydraulische Ramme?«, schlug Shawna vor. »Und wie lange dauert es, bis die hier wäre?« Sie zuckte mit den Schultern. »Er wird nirgendwo hingehen.« »Aber seine Zöglinge.« »Was willst du damit sagen?« »Du denkst doch wohl nicht, dass sie abgehauen sind, um ihre Mamas und Papas zu besuchen, oder?« Shawna sah ihn entgeistert an. »Du glaubst, sie begehen noch eine Tat?« »Ein großes Finale.« Er wies mit dem Daumen auf die verschlossene Tür. »Das werden wir natürlich erst erfahren, wenn wir mit diesem verhaltensgestörten Irren da drinnen geredet haben.« Er drehte sich um, verließ das Büro und rief im Gehen über seine Schulter: »Stellt den Schreibtisch woandershin, okay?« Shawna sah den verblüfften Uniformierten an. »Wir tun besser, was er sagt.« Enwrights Schreibtisch war groß und massiv. Er war offenbar aus Mahagoniholz und nicht gerade leicht zu verrücken, doch schließlich schafften sie es – mit viel Ächzen und Fluchen –, ihn an eine seitliche Wand des Zimmers zu schieben. Und zwar gerade noch rechtzeitig, denn aus dem Flur, von dem das Büro abging, war erst das Klirren von zerberstendem Glas zu hören, das eindeutig so klang, als würde eine der Außentüren zu Bruch gehen, und dann das ohrenbetäubende Knattern eines Motors, der schon bessere Zeiten erlebt hatte. Als Heck wieder auf der Türschwelle erschien, saß er auf einer motorisierten Rasenwalze, die Abgaswolken ausstieß, während er sie mit Höchstgeschwindigkeit durch das Büro steuerte. Ihre schwere Stahlwalze krachte mit voller Wucht gegen die verschlossene Tür, deren Rahmen nachgab und splitterte. Die anderen im Raum versammelten Polizisten sahen ungläubig zu, wie Heck einen anderen Gang einlegte, rückwärts fuhr, erneut den Gang wechselte und wieder auf die Tür zuraste. Der zweite Aufprall zeigte Wirkung. Heck wurde beinahe über die Lenkstange geschleudert, doch diesmal flogen Splitter, die Tür brach in der Mitte, der Türrahmen zerbarst, und die Scharniere wurden in alle Richtungen katapultiert. Heck sprang von der Walze herunter und drückte mit der Schulter gegen die nachgebende Tür, die nach und nach den Blick auf eine aufwendig errichtete Barrikade aus zerlegten Stahlregalen freigab. »Ein bisschen Hilfe wäre willkommen, Leute«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Shawna und der Uniformierte halfen ihm, an dem verbogenen Metall herumzureißen. In kürzester Zeit hatten sie sich einen Weg durch die stählerne Barrikade gearbeitet, doch schon lange vorher wurde ihnen klar, dass der Raum auf der anderen Seite der Tür – ein etwa drei mal zwei Meter großer Lagerraum – leer war. Es war ebenso offensichtlich, wie es dazu hatte kommen können. Das hohe, briefkastenschmale Fenster war nach wie vor geschlossen. Doch unter dem Fenster, am Fuß der hinteren Wand des Raums, hatte Enwright ein paar Teppichfliesen weggerissen, wodurch eine quadratische Öffnung im Steinboden zum Vorschein gekommen war. Normalerweise war diese mit Holzbohlen zugedeckt, doch diese waren ebenfalls entfernt worden. Unter ihnen führte ein enger Schacht hinab in die Dunkelheit. »Ich fasse es nicht«, stöhnte Heck. »Was, zum Teufel, ist das?«, fragte Shawna. »Ein Priesterloch.« Sie sah ihn entgeistert an. »Und wo führt es hin?« »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.« Heck holte Gemmas Taschenlampe aus seiner Jacketttasche, kniete sich hin und leuchtete, so tief er konnte, in den Schacht hinab. Etwa drei Meter weiter unten war ein Boden aus platt getretener Erde zu sehen. Auf der rechten Seite des Schachts waren kleine Nischen für die Füße und die Hände in die steinerne Mauer gehauen worden. »Heck!«, ertönte Eric Fishers Stimme aus dem Büro. »Auf diesem Computer befindet sich jede Menge interessantes Zeug.« »Wir haben jetzt keine Zeit für Enwrights Forschungen.« »Das hier ist wichtig.« »Dann nimm die Festplatte mit.« Heck setzte sich auf den Rand des Einstieglochs und wandte sich zu dem Uniformierten um. »Informieren Sie Ihre Vorgesetzten, was los ist. Lassen Sie sie wissen, dass der Flüchtige versucht, durch einen unterirdischen Tunnel zu entkommen. So lang kann er nicht sein, das Gelände muss also von vorne bis hinten durchkämmt werden.« Der Uniformierte nickte und eilte davon. Heck knöpfte sein Anzugjackett zu, sah Shawna an und ließ sich hinab. Die Mauern umschlossen ihn von allen Seiten, die Luft war feucht und muffig, doch zumindest konnte er sich problemlos bewegen. Als er den Boden erreichte, richtete er den Strahl der Taschenlampe vor sich. Statt eines Tunnels tat sich vor ihm ein schmaler Gang aus tropfendem, zerbröckelndem Mauerwerk auf. Er war keine ein Meter fünfzig hoch und so eng, dass ein Mann sich nur seitlich hindurchzwängen konnte. »Ein verdammtes Schlupfloch«, stellte Heck an Shawna gewandt fest, die unmittelbar über ihm innehielt. »Wie, um alles in der Welt, ist Enwright da durchgekommen?« »Er hat wahrscheinlich fleißig geübt.« »Pass auf, was du tust«, warnte Shawna ihn, als er seitlich in der Hocke weiterging, die linke Schulter nach vorn geschoben. Die Luft wurde immer dünner, das Atmen immer schwerer, Wasser tropfte ihm auf den Kopf. Der Gang schien sich immer weiter zu verengen, je weiter sie vorrückten. Im ersten Moment hielt er diesen Eindruck für eine optische Täuschung, doch bald blieb seine Kleidung immer wieder an spitzen Kanten von Backsteinen hängen. Sein Kopf schabte an der Decke entlang, was es ihm zusehends schwerer machte, die Tonnen von Fels und Erde zu ignorieren, die sich über ihm auftürmten. Wenn dieses gangartige Gemäuer sich ewig hinzog – Hunderte oder vielleicht sogar Tausende Meter –, wusste Heck, dass er ein Problem haben würde. Shawna, die wesentlich kleiner war als er, ächzte und keuchte bereits dicht hinter ihm. »Was meinst du, wie weit sind wir schon gekommen?«, fragte sie angespannt in jammerndem Tonfall. »Nicht weit genug. Wir können noch nicht mal jenseits des Schulgebäudes sein.« »Oh, Scheiße.« Sie zwängten sich einige Minuten weiter vor, eingeengt und trotz der Kälte schwitzend. Doch der Gedanke, dass Enwright das Gleiche vor ihnen gemacht hatte, trieb sie während des ganzen Weges an, denn es bedeutete, dass der Gang nicht einfach in einer Sackgasse enden konnte. Trotzdem wurde Heck von einer Woge der Erleichterung erfasst, als er etwa fünfzig Meter vor sich einen Schimmer natürlichen Lichts erspähte. Sie beeilten sich und achteten nicht mehr darauf, nicht an den Wänden entlangzuschaben oder ihre Kleidung nicht zu zerfetzen. Als sie das Ende des Gangs erreichten, sahen sie in dem staubigen Licht, dass eine moderne Stahlleiter den Ausstiegsschacht hinaufführte, dessen oberer Abschnitt zudem vor Kurzem mit frischem Mauerwerk verstärkt worden war. Heck kletterte auf eine ebenfalls quadratische Öffnung zu, durch die er das Tuckern eines Motors hörte. »Diese Mistkröten sind hier, um ihn aufzulesen«, stellte er in dringlichem Tonfall fest. »Sie haben das Schulgelände noch nicht verlassen.« Er tauchte durch eine speziell angefertigte Falltür aus dem Schacht auf und fand sich in einem Raum wieder, der aussah wie die Küche eines alten Cottages, aus der sämtliche Einrichtungsgegenstände entfernt worden waren und die stattdessen mit Lumpen und Unrat zugemüllt worden war. Das kaputte hintere Fenster war von außen mit Brettern vernagelt, doch durch die Ritzen zwischen den Brettern fielen ein paar Sonnenstrahlen in den Raum. Zu seiner Rechten führte ein bogenförmiger Durchgang in einen anderen Bereich, vermutlich in ein Wohnzimmer. Er wagte sich vor und spähte hinein. Das Wohnzimmer war genauso verwahrlost, in ihm gab es nichts als Staub, zerknüllte Zeitungen und ein paar schrottreife, verschimmelnde Möbel. Die Fenster des Wohnzimmers, die zur Vorderseite des Gebäudes hinausgingen, waren ebenfalls mit Brettern vernagelt, doch die Eingangstür, die sich nur gut fünf Meter zu seiner Linken befand, stand einen Spaltbreit offen. Dem Geräusch des Motors nach zu urteilen, stand der Lastwagen direkt davor. Heck hörte Stimmen und glaubte, dass eine von ihnen Enwright gehörte, doch er zögerte, einfach nach draußen zu stürmen. Der Satz »Das ist zu leicht« ließ bei erfahrenen Polizisten aus gutem Grund die Alarmglocken klingeln. Er ging zum Fenster, doch in dem Moment erschien Shawna hinter ihm und steuerte zielstrebig die Eingangstür an. »Shawna, warte!«, zischte er ihr zu. WUMM. Die ohrenbetäubende Explosion ließ die untere Hälfte der Tür nach innen fliegen, die Beine der jungen Polizistin wurden unter ihr weggerissen. Heck drückte sich platt an die Wand neben dem Fenster. Durch die Ritzen zwischen den Brettern erhaschte er einen Blick auf den wegfahrenden Lkw, der über eine enge, zu beiden Seiten von Wald gesäumte Piste entschwand, doch eine einzelne Gestalt war zurückgeblieben. Es war Gareth Holker, der große Jugendliche mit der Kurzhaarfrisur, den er auf den Fotos in der Schule gesehen hatte. Er hatte seine Schuluniform gegen ein Kapuzenshirt getauscht und trug darüber einen Regenmantel in Tarnfarben. Außerdem war er bewaffnet, und zwar mit einer Schrotflinte, deren Lauf zur Hälfte abgesägt worden war. »Ihr Bullen wollt dieses seelenlose Land retten?«, rief er und lachte. »Dann müsst ihr euch ein bisschen wärmer anziehen!« Selbst mit seiner eingeschränkten Sicht erkannte Heck, dass das Gesicht des Jungen milchweiß war und seine Augen wie schwarze Juwelen glänzten. »Heck …«, keuchte Shawna. Er sah zu ihr. Sie lag inmitten qualmender, zersplitterter Trümmer. Ihre Hosenbeine waren völlig zerfetzt, durch die Stofffetzen sickerte Blut. »Beweg dich nicht«, wies er sie leise an. »Stell dich tot, okay?« »Ihr wagt es, uns Feiertagsschänder zu nennen!«, ertönte die wirre Stimme von draußen. »Ihr könntet nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen! Wir halten das Andenken an diese besonderen Tage hoch … und machen sie wieder heilig!« WUMM. Die halbe Bretterverkleidung vor dem Fenster wurde weggesprengt. Doch dies war die Ladung aus dem zweiten Lauf, weshalb Heck es riskierte, an dem Fenster vorbeizuhuschen und einen schnellen Blick nach draußen zu werfen, wo der Junge gerade die Läufe der Schrotflinte heruntergekippt hatte und zwei neue Patronen in die Kammern schob. Im nächsten Moment war Heck neben Shawna auf dem Boden, ihr Gesicht hatte eine ungesunde grüne Farbe angenommen. »Erst haben sie mir mein hübsches Gesicht ruiniert«, flüsterte sie. »Und jetzt habe ich auch noch meine schönen Beine verloren.« »Du hast gar nichts verloren.« Heck fühlte ihren rasenden Puls. »Verdammte, begriffsstutzige Bullen! Ihr wagt es, darüber zu klagen, dass diese festlichen Anlässe geschändet werden, aber wie sieht es denn in Wirklichkeit aus?« WUMM. Der Schuss ging mit voller Wucht in die Außenmauer und ließ das ganze Cottage erbeben. »Den ganzen Dezember über einen Materialismus, der nur zum Kotzen ist! Am St Patrick’s Day überall sternhagelvolle Saufköpfe, die aus den Pubs torkeln! Supermärkte, die passend zu Halloween Korsetts und Netzstrümpfe verkaufen!« Heck sah zur Tür. Was von ihr übrig war, hing an einem einzelnen Scharnier – und nur dieses Reststück schirmte Shawna vor Holkers Blick ab. Er hatte keine andere Wahl, als zu versuchen, sie weiter nach drinnen zu ziehen. Heck zögerte keine Sekunde, packte sie unter den Achselhöhlen und zog sie, obwohl sie vor Schmerzen erstickte Schreie ausstieß, nach hinten. Ihre verletzten Beine hinterließen eine Blutspur hinter ihr. WUMM. Die Reste der Planken flogen durch den Fensterrahmen nach innen. Heck duckte sich, während er seine verletzte Kollegin um die Ecke in die Küche zog, und fischte sein Funkgerät aus der Tasche. »Hier Detective Sergeant Heckenburg … Wir stehen erneut unter Beschuss!« »Wir haben eine unmissverständliche Botschaft ausgesandt, Bulle!«, rief Holker. »Wir haben diesen Feiertagen den Stempel aufgedrückt, der ihnen gebührt … indem wir sie entmüllt haben!« WUMM. »Hier Detective Sergeant Heckenburg. Hört mich irgendjemand?« Doch als Antwort erhielt er nur statisches Rauschen. Im Äther überschlugen sich wahrscheinlich die Funksprüche. »Einen unauslöschlichen Stempel …« WUMM. »Damit kein hohlköpfiger Geschäftemacher in seinem Laden je wieder Weihnachtsmann-Karikaturen über die Regale mit dem Bier im Sonderangebot hängt, ohne dass irgendjemand seinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft und ihn daran erinnert, dass genau wegen Idioten wie ihm ein Mann in einem Schornstein sterben musste!« Heck holte sein Handy hervor und tippte schnell eine Nummer ein. »Heck?«, meldete sich Eric Fishers Stimme. WUMM. »Damit kein schmieriger Nachtklubbesitzer je wieder an Silvester eine wilde Party schmeißt, ohne dass jemand erwähnt, das dank seiner verlotterten Einstellung einst ein Student gewaltsam in einer Badewanne voller schottischem Whiskey ertränkt wurde … oh ja, Sergeant Heckenburg, Sie können sich noch auf jede Menge gefasst machen!« »Eric!«, bestürmte Heck seinen Kollegen. »Wir werden hier zu Kleinholz geschossen. Shawna ist verletzt … schwere Schussverletzungen an beiden Beinen!« »Wo, zur Hölle, seid ihr?« »Kann ich nicht sagen … in einer Art Jägerhütte. Aber wir können nicht weit vom Hauptgebäude entfernt sein. Sag allen, sie sollen ihre verdammten Mäuler halten und horchen, woher die Schüsse kommen. Und schick noch einen Krankenwagen!« WUMM. Er warf einen Blick ins Wohnzimmer. Weitere Splitter, noch mehr Rauch. Von der Eingangstür waren nur noch Bruchstücke vorhanden. Draußen war ein Klick-Klack zu hören, als der Schütze nachlud. »Es ist bedauernswert, dass Menschen ihr Leben verlieren müssen!«, rief Holker. »Aber so ist es doch immer, oder? Wenn man etwas erreichen will, muss Blut fließen.« Heck huschte zum Küchenfenster und linste durch die Ritzen zwischen den Brettern nach draußen. Vor dem Fenster lag ein alter, von einer hohen Ziegelsteinmauer umgebener Hof, der mit ausgedienten Reifen, rankendem Unkraut und verrosteten Fahrradrahmen übersät war. WUMM. Weiteres splitterndes Holz, noch mehr berstendes Glas. Heck trat und schlug gegen die Bretter, mit denen das Küchenfenster verrammelt war, bis eins nach dem anderen herunterfiel. »He«, stöhnte Shawna, »du willst mich doch wohl nicht hier liegen lassen!« Heck blickte sich nicht einmal um; es brachte nichts, den Kopf einzuziehen und auf die Kavallerie zu warten. Wenn dieser durchgeknallte Holker beschloss reinzukommen, wären sie leichte Beute. Das letzte Brett fiel herunter, und er stieg nach draußen. Das Haus war ein frei stehendes Gebäude – es gab absolut nichts in seiner Nähe, nur Wald auf allen Seiten –, und es war unmöglich, sich um das Haus herum nach vorn zu schleichen, ohne gesehen zu werden. Er blickte nach oben und sah, dass die Dachvorsprünge ziemlich weit herunterreichten; sie befanden sich keine zweieinhalb Meter über ihm. »Wir könnten auch draufgehen!«, ertönte Holkers Stimme von der anderen Seite des Gebäudes. »Das ist uns egal. Wir sind bereit, uns zu opfern. Ihr hingegen ganz sicher nicht!« Heck stieg auf die Mauer und von dort über eine verrottete Regenrinne auf den unteren Teil der Dachschräge, deren Ziegel lose und mit Moos überzogen waren. Mit seinen lederbesohlten Schnürschuhen konnte er sich auf ihnen nur sehr schlecht bewegen. Einzelne Dachziegel brachen ab und rutschten weg, als er sich nach oben vorarbeitete. »Aber wir werden die Seele dieses sterilen, von Proleten beherrschten Landes erlösen und die Menschen daran erinnern, was es einst groß gemacht hat!«, brüllte Holker. »Und was es zu einem der besten und lebenswertesten Flecken auf der ganzen Welt gemacht hat.« WUMM. Heck hatte keine Ahnung, warum Holker noch nicht in das Cottage gekommen war, um ihn und Shawna zu erledigen, aber vielleicht lautete sein Auftrag nicht, die Polizisten zu töten, sondern nur, sie in Schach zu halten. Er hatte jetzt den First des Daches erreicht und spähte auf der anderen Seite hinunter. Der Jugendliche war noch an der gleichen Stelle wie zuvor, bewegte sich jedoch erst ein paar Schritte nach links und dann nach rechts. Er jagte eine weitere Ladung Schrot in das Gebäude, drinnen zersplitterte noch mehr Glas und Holz. Irgendwo unter Hecks Füßen schluchzte Shawna. »Wir werden dieses Land beschämen, damit es kapiert, dass das Leben nicht aus einer einzigen verdammten Party besteht!«, rief Holker. »Damit es kapiert, dass gebetet werden muss und Opfer gebracht werden müssen. Wir werden die Leute daran erinnern, worauf es ankommt … indem wir ihnen den Preis zeigen, der für das Vergessen zu zahlen ist.« Er gab eine weitere Salve ab, klappte die Flinte auf und suchte in seinen Taschen nach neuen Patronen. Heck warf sich über den First und rutschte auf den Fersen und auf dem Hintern herunter. Holker blickte erst nach oben, als Heck sich bereits im freien Fall befand. Dem Jungen blieb keine Zeit, die Waffe hochzureißen, bevor der Polizist auf ihm landete und ihn zu Boden riss. Von dem Aufprall sah Heck einen Moment lang Sterne, doch das galt wohl erst recht für den Schüler. Heck sprang als Erster auf. Die Schrotflinte lag zu seinen Füßen. Heck packte sie, schleuderte sie weg und wirbelte herum. Holker kam wackliger auf die Beine als er. Er sah angeschlagen aus. Tatsächlich war seine Nase blutverschmiert, doch seine weißen Wangen und sein glasiger Blick waren nicht nur dem Schmerz und dem Schock geschuldet. Dieser Junge, so wurde Heck bewusst, war schwer gestört und am Ende seiner Kräfte angelangt. Holker kam mit wild erhobener Faust auf ihn zu, um ihm einen rechten Haken zu verpassen, doch Heck duckte sich und platzierte einen kräftigen Schlag in Holkers Magengrube. Der Junge klappte vornüber und würgte. Als Nächstes verpasste Heck ihm einen Schlag gegen die linke Niere, gefolgt von einem Karatehieb ins Genick. Holker plumpste halb bewusstlos auf den Boden. Heck kniete sich auf den Rücken des Jungen. »Du hast das Recht, die Aussage zu verweigern«, belehrte er ihn und fixierte ihn im Polizeigriff, damit er nicht auf dumme Gedanken kam. »Doch es kann deine Verteidigung beeinträchtigen, solltest du trotz Befragung eine Aussage unterlassen, auf die du später vor Gericht angewiesen sein könntest. Doch alles, was du sagst …«, ein Streifenwagen der örtlichen Polizei kam mit quietschenden Reifen neben ihm zum Stehen, dicht gefolgt vom zuckenden Blaulicht eines Krankenwagens, »…kann vor Gericht gegen dich verwendet werden.« Aus dem Streifenwagen sprangen mehrere uniformierte Beamte. Heck stand auf, zog Holker mit sich auf die Beine und stieß ihn den Polizisten in die Hände. »Der Bursche ist wegen versuchten Mordes an zwei Polizeibeamten festgenommen. Die Schrotflinte muss sichergestellt werden. Am besten kümmern sich die Männer vom SEK darum.« Er wandte sich den Sanitätern zu, die mit ihren Medizintaschen aus dem Heck des Krankenwagens sprangen und herbeieilten. »Die Verletzte ist in der Hütte. Bitte beeilen Sie sich …« Er schnappte sich sein Handy, hackte Gary Quinnells Nummer ein und presste es sich ans Ohr. »Bist du noch am Westtor?«, rief er. »Ja. Was ist mit Shawna passiert?« »Sie wird bereits verarztet. Hast du den Sattelschlepper schon gesehen?« »Bisher noch nicht.« Doch im Hintergrund hörte Heck ein sich schnell näherndes Dröhnen. Ihm wurde eiskalt, als er sich vorstellte, wie der schwere Lastwagen mit seinen sechs oder sieben Tonnen auf den einsam in der offenen Zufahrt geparkten Wagen der Kriminalpolizei zubretterte. »Ha, da ist er!«, rief Quinnell. »Oh mein Gott …« Die Verbindung wurde unterbrochen. »Gary!«, brüllte Heck hilflos. »Gary!« Ein krächzendes Kichern lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Streifenwagen, wo Holker gegen die Beifahrerseite gelehnt stand, während die Uniformierten ihn durchsuchten. Er grinste Heck mit blutverschmiertem Mund an. »Wieder einer weniger, Sergeant Heckenburg? Es läuft heute nicht besonders gut für Sie.« Heck ging zu ihm. »Zumindest haben wir euch Scheißkerle hochgenommen.« »Glauben Sie?« »Deine Freunde kommen nicht weit.« »Müssen sie auch nicht.« »Wir kriegen sie alle.« »Das bezweifele ich nicht, aber werden Sie sie auch rechtzeitig kriegen?« Heck wurde einen Moment lang von seinem Gespräch mit Holker abgelenkt – vor allem durch den Anblick von Shawna, die auf einer Bahre aus dem Cottage getragen wurde –, doch dann wurde ihm bewusst, was der Gefangene da gerade gesagt hatte, und seine schweißgebadeten Härchen richteten sich auf. Auf Holkers zerschundenem Gesicht zeichnete sich eine Art teuflische Freude ab; seine dunklen Augen, die kalt waren wie Knöpfe, verstärkten diesen Ausdruck noch. »Könntest du ein bisschen genauer werden?«, fragte Heck. »Mal sehen, äh …« Das höhnische Grinsen des Gefangenen wurde noch breiter, »… nein. Außer dass ich Ihnen viel Glück wünsche. Denn, glauben Sie mir, das werden Sie brauchen.« »Schafft ihn weg.« Die Uniformierten drehten Holker um, und die hintere Tür des Streifenwagens schwang auf. »Ach, eins noch«, sagte Holker. »Die nächste Nummer wird wirklich gut. Das war von Anfang an klar … für den zehnten Akt. Ein wahres Fest.« Heck stapfte davon. »Das Prahlen wird dir vergehen, wenn du die Welt durch ein Dreißig-mal-sechzig-Zentimeter-Fenster betrachtest.« »Diesmal machen wir was ganz Besonderes … mit einem ganz besonderen Opfer.« Heck ignorierte ihn und steuerte den Krankenwagen an. »Um ehrlich zu sein, überrascht es mich, dass Sie sie noch gar nicht vermisst haben.« Heck blieb mitten im Schritt stehen. »Sie war ja oft genug im Fernsehen. Sie werden sie doch nicht schon vergessen haben?« Heck drehte sich langsam um und starrte den Gefangenen ungläubig an. Bevor er sich zurückhalten konnte, war er auch schon die zwei oder drei Meter, die sie voneinander trennten, auf ihn zugestürzt, packte Holker am Kragen und rammte ihn gegen den Streifenwagen. »Ich wünsche mir für dich, dass du mich anlügst!« »Klar … ich lass mich einfach so für nichts vermöbeln!« »Wo ist sie? Raus damit! Sofort!« »Ich fürchte, wo sie ist, kann ich Ihnen nicht sagen.« Der verrückte Junge kicherte. »Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: Bei der nächsten Nummer geht es um Verrat. Wie Ihr Mädel einen begangen hat, Sergeant Heckenburg. Denn sie hat die ganze Nation verraten, indem sie diese Lügen über uns verbreitet hat. Und den Leuten die Wahrheit vorenthalten hat.« Heck verstärkte seinen Griff um Holkers Kehle. »Was wollt ihr ihr antun, du kleiner Scheißer?« »Ich weiß es, und Sie können es herausfinden … wenn Sie gut genug sind.« Sie sahen Claire merkwürdig fasziniert an. Keiner von ihnen sagte etwas, obwohl sie sie alle anstarrten. Offenbar waren sie zu viert. Sie hatte gedacht, dass es mehr wären, doch einer fuhr vermutlich den Wagen, dessen stählerner Boden unter ihr ruckelte, während sie endlose kurvenreiche Straßen entlangfuhren. Die Wände des Lastwagens, die sie umgaben wie die Seiten eines düsteren Sargs, vibrierten. Sie sagten immer noch nichts. Sie hatten ihr die Augenbinde und den Knebel abgenommen, doch sie kniete aufrecht in einer schmerzenden Position, Hände und Fußknöchel waren hinter ihr gefesselt. Ihre Entführer knieten ebenfalls und umringten sie in einem perfekten Kreis. Im Halbdunkel erschienen ihre Gesichtszüge geisterhaft und undeutlich, genauso, wie sie sie beim letzten Mal gesehen hatte – in dieser verlassenen Tankstelle, wo sie wie Gespenster im Mondlicht aus der Dunkelheit auf sie zugekommen waren. Es erschien ihr immer noch unglaublich, dass es Teenager waren – beinahe noch Kinder. Da war das hübsche blonde Mädchen, das sie im Lagerraum der Tankstelle in den Würgegriff genommen hatte. Dann war da die Kleine, der Claire für sich den Spitznamen »Wildfang« verpasst hatte. Sie war stämmig, hatte kurzes, rabenschwarzes Haar und ein permanentes spöttisches, kampfeslustiges Grinsen aufgesetzt, doch sie war ebenfalls durchtrainiert und kräftig. Claire hatte das zu spüren gekriegt, denn der Wildfang hatte sie am meisten herumgezerrt. In der Hierarchie unter den Mädchen waren zwei Jungen. Einer war klein und pummelig mit eigentümlichen rattenartigen Gesichtszügen. Sie konnte sich vorstellen, dass er oft Zielscheibe des Spotts gewesen war. Der andere war größer und schlanker. Er hatte einen dichten braunen Lockenschopf und die engelhaften Züge eines Chorknaben, doch er hatte etwas Bedrohliches – vielleicht sein starres, verzogenes Lächeln, das, wie ihr mit einiger Verspätung bewusst wurde, gar kein Lächeln war, sondern ein Gesichtsfehler. »Was starren Sie an?«, fragte er ruhig. »Nichts«, erwiderte Claire, halb hypnotisiert. Sein Blick war so eindringlich, dass sie glaubte, ihn auf ihrer Haut zu spüren. Das traf für die Blicke von allen zu. Sie schienen keinen Groll gegen sie zu hegen, allerdings waren sie von einer unverhüllten Dringlichkeit getrieben gewesen, als sie sie aus dieser Grube hinaufgezerrt hatten. In dem Moment hatte sie irgendwo in der Nähe männliche Stimmen rufen gehört. Sie hatte sich gefragt, ob es Heck und die anderen waren, die näher rückten … doch letzten Endes hatte es keine Rolle gespielt. Ihre Entführer hatten sie in den Anhänger des Sattelschleppers geworfen, waren zu ihr gestiegen und hatten die Türen geschlossen und verriegelt. Dann war der Lastzug rumpelnd losgefahren, hatte einen Schlenker gemacht, einmal kurz angehalten, war erneut losgefahren und in mindestens einen Unfall verwickelt gewesen, ohne dass dadurch jedoch sein Tempo gedrosselt worden wäre. Seitdem hatte er nicht mehr angehalten und fuhr immer noch. »Miss Moody?«, ertönte eine Stimme irgendwo aus dem Inneren des Lastwagens. Es war die Stimme eines Erwachsenen, und Claire wusste sofort, wem sie gehörte. Sie blickte nach links, wo eine fünfte Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte. Es war der ältere bebrillte Mann mit dem krausen grauen Haar, dessen Wagen auf dem Außenbereich der Tankstelle vorgefahren war. Er lächelte sie an, während er seine massige Gestalt in eine übergroße Tarnjacke zwängte. »Ich bitte um Entschuldigung für die grobe Behandlung, die Sie bisher erleiden mussten«, sagte er. »Ich fürchte, das ist ein notwendiges Übel … doch wir können zumindest höflich zu Ihnen sein. Ich bin Dr. Enwright, aber Sie können mich Leo nennen.« Er zeigte auf das blonde Mädchen. »Das ist Jasmine.« Jasmine lächelte nicht und reagierte auch nicht mit einem Nicken. »Und das ist Heather.« Wildfang lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Und diese beiden Halunken«, Leo zeigte auf den rattengesichtigen Jungen und den größeren mit dem Dauergrinsen, »sind Luke und Arnie.« »Was haben Sie …«, stammelte sie. »Was haben Sie mit mir vor?« »Sie sind hier, um Ihre Schulden zu bezahlen«, entgegnete Enwright nur. »Warum denn?«, flehte sie. »Was, um Himmels willen, habe ich Ihnen denn getan?« »Nicht uns. Der Nation. Sie haben den Leuten erzählt, dass wir Verbrecher sind, Kriminelle.« »Aber das sind Sie doch!« Sie konnte sich diese Feststellung nicht verkneifen, auch wenn ihre Stimme inzwischen zu wenig mehr als zu einem Jammern verblasst war. »Sie entführen Menschen … und ermorden sie.« »Sie haben uns Feiertagsschänder genannt«, warf der Junge, der Arnie hieß, ihr vor. »Das war eine Beleidigung.« »Aber den Namen habe ich mir doch nicht ausgedacht.« »Aber Sie haben ihn auch nicht verworfen«, stellte Heather klar. »Bitte, hören Sie … hören Sie auf mit diesem Wahnsinn.« »Sie haben der Nation die Botschaft übermittelt, dass wir ihre Feinde sind«, fuhr Enwright fort. »Dass wir nur darauf aus sind, Schaden anzurichten, zu verletzen …« »Ich denke, zu dem Schluss können die Menschen auch von ganz alleine kommen«, fiel sie ihm mit von Angst und Schmerz verhärtetem Tonfall ins Wort. Dieser durchgeknallte Alte … und diese bescheuerten Teenager, diese absolut hirnlosen Wahnsinnigen! Der vibrierende Stahlboden unter ihren Knien war eine einzige Qual. Ihre Handgelenke und ihre Knöchel schmerzten in den Fesseln. »Und mit dem, was Sie treiben, dürften Sie die Leute auch kaum dazu bringen, anders über Sie zu denken, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel!« »Ganz im Gegenteil.« Enwright nahm zwei Gegenstände aus einem kleinen Rucksack. Einer der beiden rasselte – es klang wie eine Schachtel Streichhölzer, die geschüttelt wurde. »Weil ich glaube, dass das Opfer, dass Sie darstellen, von allen, die wir bisher gebracht haben, am besten ankommen wird.« Er sah sie an, erkennbar an ihrer Meinung interessiert. »Würden Sie nicht auch sagen, dass die Briten ein anständiges Volk sind?« »Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen …« »Aber sie sind zugleich auch ein ziemlich widersprüchlicher Haufen. Mit dem gleichen Zynismus, der es ihnen gestattet hat, sich trotz ihrer Missbilligung zurückzulehnen und tatenlos zuzusehen, wie das spirituelle Leben dieses Landes den Bach runtergegangen ist, werden sie sich an der Ironie erfreuen, dass diejenige, die ihre Rache mehr verdient hat als jeder andere, nämlich die Verräterin, die sie belogen und in die Irre geführt hat, eine Chance erhalten wird, die die anderen nie hatten.« Ein Streichholz wurde angerissen und flammte auf. Enwright hielt es an den Docht einer Petroleumlampe, hob sie über seinen Kopf und hüllte sie alle in einen schwachen, flackernden Schein. Sie trugen allesamt Outdoorkleidung. Claire sah grünschwarze Regenmäntel, Leggings, hochgeschnürte Wanderschuhe, Handschuhe und andere Tarnjacken. Jasmine war mit einer Flinte ausgestattet, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatte. Der geschnitzte Griff war über ihrer rechten Schulter zu sehen. »Gehen wir auf die Jagd?«, fragte Claire und versuchte spöttisch zu klingen. Enwright lächelte. »Einige von uns.« Ein Haufen ordentlich zusammengelegter Kleidungsstücke wurde auf den Boden geworfen: ein weißes Hemdkleid mit Rüschenmanschetten und Kragen; eine gelbbraune, vorn mit Häkchen zu verschließende Tunika mit einem breiten, über die Schulter getragenen Stoffgürtel; eine weite kastanienbraune Kniehose und Handschuhe. Zusätzlich wurde noch ein Paar oberschenkellanger Lederstiefel mit hohen Absätzen auf den Kleiderhaufen gelegt. »Es ist unwahrscheinlich, dass alles perfekt passt«, stellte Enwright fest. »Aber man muss nehmen, was da ist. Solange Sie es mit Stolz tragen, wird es seine Zwecke bestens erfüllen.« Claire betrachtete das Outfit verständnislos. Sie sagte nichts, als der Junge, der Luke hieß, hinter ihr herumhantierte. Er zog mit dem Geräusch von an Metall reibendem Stahl sein Messer und trennte ihre Fesseln durch. Als ihre Hände und Füße frei waren, ließ Claire sich auf die Hüfte sinken und rieb sich die Schwielen an ihren Handgelenken und Knöcheln. »Ziehen Sie sich aus!«, wies Heather sie an. Claire sah zu ihnen auf. »Das könnt ihr vergessen.« Sie zeigte auf die Anziehsachen. »Das Zeug ziehe ich nicht an, falls ihr darauf hinauswollt. Der Irrsinn ist schon weit genug gegangen.« »Ziehen Sie sich aus!«, widerholte Enwright mit ausdruckslosem Gesicht. »Nein. Sie werden mir sowieso wehtun, warum sollte ich also?« Bewusst langsam nahm Jasmine die Waffe von ihrem Rücken. Claire starrte sie entgeistert an, als etwas auf ihr Gesicht gerichtet wurde, das aussah wie eine abgesägte doppelläufige Schrotflinte. »Warum?«, fragte Jasmine ohne jegliche Gefühlsregung. »Ich sage es Ihnen … weil Sie die winzige Chance, die Sie haben – und sie ist absolut winzig –, komplett verspielen werden, wenn Sie nicht kooperieren.« »Das wagst du nicht«, entgegnete Claire mutiger, als sie sich fühlte, denn in Wahrheit zweifelte sie nicht daran, dass das Mädchen, ohne mit der Wimper zu zucken, abdrücken würde. »Das Einzige, was ich bedauern würde, ist die Verschwendung von gutem Material.« Jasmine blinzelte über den Lauf der Flinte und zielte – als ob das aus einer Entfernung von weniger als einem Meter erforderlich wäre. »Aber wir finden jederzeit Nachschub. Das ist uns bisher immer gelungen.« Die anderen sahen mit glänzenden Augen und mit vor Aufregung feuchten Mündern zu. Jasmine lächelte auch – zum ersten Mal. Es war ein teuflisches Grinsen, ihre Lippen waren schief nach oben gekrümmt, ihre glasigen Augen starrten geradewegs durch Claire hindurch. Es hätte jeder sein können, den sie hier im Begriff war zu exekutieren, und es hätte sie eiskalt gelassen. Claire streifte sich schnell ihren Blazer und ihre Bluse ab, öffnete ihre Hose, wandte sich ein wenig ab und schob sie vorsichtig an ihren lädierten Beine herab. Dann saß sie beschämt, nur noch mit Slip und BH bekleidet, da und verschränkte die Arme vor ihrer Taille, in dem Versuch, sich zu bedecken. Sie betrachteten sie ungerührt. »Alles«, stellte Jasmine klar. »Warum denn alles?«, fragte Claire mit Tränen in den Augen. »Weil Demütigung Teil des Rituals ist, meine Liebe«, erklärte Enwright. »Alles«, wiederholte Jasmine und stieß mit der Flinte gegen Claires Schulter. »Pervers seid ihr also auch noch?« Claire löste schluchzend den Verschluss ihres BHs und hob den Hintern, um sich ihren Slip auszuziehen. »Hätte ich mir ja denken können.« »Ihr Versuch, Ihre Würde zu verteidigen, lässt uns kalt«, stellte Enwright klar. »Jasmine musste weit mehr aufgeben als Sie.« »Hübsche Muschi«, stellte Arnie fest, doch ein böser Blick von Enwright hielt ihn davon ab, weitere Geschmacklosigkeiten von sich zu geben. »Worauf warten Sie?«, fragte Jasmine und deutete auf den Kleidungsstapel. Nahezu unfähig, zu glauben, was mit ihr geschah, stieg Claire in das groteske Kostüm. Wie Enwright vermutet hatte, passte es nicht richtig – es war ihr alles ein wenig zu groß, doch wenn sie den Gürtel bis zum letzten Loch zuzog, wurde alles mit Mühe zusammengehalten. Sie blickte sich um und sah ihre Entführer an. Sie betrachteten sie erneut schweigend, doch diesmal war es ein wohlwollendes Schweigen. Luke holte etwas aus der Dunkelheit hinter sich hervor: einen Pappkarton, der mit Grünzeug überquoll. Er wandte sich Enwright zu, der einmal nickte, woraufhin alle johlend und geifernd über sie herfielen. Claire wurde schreiend auf den Boden des Lastwagens gerissen. Das Grünzeug in dem Karton erwies sich als Brennnesseln und Disteln. Unter hysterischem Gelächter nahmen sie sich büschelweise davon und stopften es ihr unter das Kostüm. Als Heck das Westtor des Anwesens erreichte, waren zwei Range Rover der örtlichen Verkehrspolizei als Verstärkung eingetroffen. Die Beamten hatten die Hauptstraße bereits mit Leitkegeln und Blinkleuchten abgesperrt. Gary Quinnells Hyundai lag am Straßenrand auf dem Kopf. Die Vorderfront des Wagens war komplett eingedrückt. Eine glitzernde Spur aus Glassplittern und Metallteilen zog sich über die Fahrbahn. Quinnell selbst saß auf der Bordsteinkante, ein Verkehrspolizist mit weißer Regenkappe und fluoreszierendem Regenmantel hockte neben ihm und machte sich Notizen. Quinnells Gesicht, sein Hemd und seine Krawatte waren mit Blut befleckt, das aus einer übel aussehenden Schnittwunde auf seiner Stirn hinuntertropfte. Als er Heck kommen sah, schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid … der kam aus dem Nichts. War mit mehr als achtzig Sachen unterwegs. Wie ein verdammte Panzer. Ist volle Pulle in mich reingekracht.« »Das werden sie mit jedem so machen, der sich ihnen in den Weg stellt«, entgegnete Heck. »Alles in Ordnung?« »Fühle mich ein bisschen durchgeschüttelt. Hab eben versucht aufzustehen, da hat sich alles gedreht.« »Ein Krankenwagen ist unterwegs«, sagte der Verkehrspolizist. »Gut«, entgegnete Heck. »Lassen Sie ihn in die Notaufnahme bringen. Und sehen Sie zu, dass er schnell versorgt wird, okay? In der Zwischenzeit müssen wir den Wagen fahrtauglich machen.« »Die Hubschrauberstaffel ist alarmiert«, sagte der Verkehrspolizist. »Aber der flüchtige Lkw ist nach Westen gefahren, in Richtung M6 … und auf der Autobahn sind jede Menge schwere Brummis unterwegs.« »Detective Sergeant Fisher an Detective Sergeant Heckenburg«, tönte es aus Hecks Funkgerät. »Ich höre, Eric.« »Du musst zurückkommen, Heck.« »Korrektur. Ich muss diesen verschwundenen Lastwagen finden, bevor Claire Moody etwas Furchtbares zustößt.« »Genau deshalb solltest du ja zurückkommen. Enwright hat jede Menge Zeug zurückgelassen … das ist die beste Spur, die wir haben.« Heck dachte einen quälenden Moment nach, bevor er eine Entscheidung traf. »Ich bin auf dem Weg.« »Also, was wissen wir?«, fragte Heck, als er Enwrights Büro betrat und sich sein Jackett vom Leib riss. Die motorisierte Rasenwalze stand immer noch in der zertrümmerten Tür zu dem Lagerraum. Enwrights riesiger Schreibtisch war nach wie vor in der Ecke, in die sie ihn gerückt hatten, doch inzwischen lag die angesengte Karte, die Heck vor dem Feuer im Pavillon gerettet hatte, ausgebreitet auf der Arbeitsfläche. Eric Fishers Aufmerksamkeit wanderte ständig zwischen der Karte und dem Computer hin und her, mit dem er über einen eingestöpselten Kopfhörer verbunden war. Ein Faxgerät, das in der Ecke stand, spuckte eine Seite nach der anderen aus. »Ich habe gefragt, was wir haben«, wiederholte Heck laut, als Fisher nicht reagierte. »Oh … Entschuldigung, Heck.« Fisher nahm einen der Ohrstöpsel aus dem Ohr. »Dies und das. Wirf erst einmal einen kurzen Blick auf die Karte.« Heck folgte der Aufforderung, konnte aber lediglich die Umrisse von Wäldern, Feldern und schmalen Wegen erkennen, bei denen es sich vermutlich um wenig mehr als Feldwege handelte. Die mit einem Textmarker gemachten Kritzeleien waren unlesbar. »Zuerst konnte ich mir nicht erklären, wo das sein soll«, sagte Fisher. »Aber ich glaube, jetzt weiß ich es. Sale Green und Huddington sind die Anhaltspunkte.« Er zeigte auf die beiden unbekannten Weiler, einer in der unteren linken Ecke, der andere in der unteren rechten Ecke der Karte. »Es ist das unbebaute Gebiet zwischen Worcester und Redditch. Aber das verrät uns natürlich nicht, was sie vorhaben.« Heck schüttelte den Kopf. »Was auch immer es ist, wir müssen so schnell wie möglich hin. Worcester ist nur fünfundsechzig Kilometer von Riphall entfernt. Sie könnten schon da sein.« »Es dürfte schwierig sein, sich blind auf die Suche zu machen. Diese Karte deckt ein Riesengebiet ab.« »Gut, dann brauchen wir also Fußtruppen. Wollen wir hoffen, dass die Kollegen von West Mercia ein paar Leute entbehren können.« »Sonst gab es nichts in dem Pavillon?«, fragte Fisher. »Das meiste ist verbrannt. Ich hatte keine Zeit, den anderen Kram auf etwas Brauchbares zu durchsuchen.« Heck zeigte auf das Faxgerät. »Was ist das?« »Enwrights Führungszeugnis.« »Gut.« Heck schnappte sich den Ausdruck, rollte ihn zusammen und stopfte ihn in die Innentasche seines Jacketts. Dann wandte er sich dem Computer zu. »Warum die Kopfhörer? Was hörst du?« »Ich gehe seine Audiodateien durch.« »Sind sie nicht verschlüsselt?« »Nein.« »Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass wir ihm auf den Pelz rücken, was?« »Du solltest mal in einige von ihnen reinhören.« »Dazu habe ich keine Zeit …« »Es ist wichtig, Heck. Zuerst dachte ich, diese Dateien wären irrelevant. Es handelt sich überwiegend um wissenschaftliche … anthropologische Experimente, Beobachtungen von Sozialverhalten und so was. Aber dann ist mir klar geworden, dass es in einigen dieser Aufnahmen genau um die Jugendlichen geht, die sich vom Acker gemacht haben.« Er zeigte auf die Schulakten, die im Regal neben dem Schreibtisch lagen. »Und es ist nicht gerade schmeichelhaft, wie er über sie redet.« Heck wartete widerstrebend, während Fisher den Kopfhörer ausstöpselte. Er hörte Enwrights Stimme – sanft und salbungsvoll, doch er redete monoton zu sich selbst, als ob er beiläufig den Gedanken Ausdruck verliehe, die ihm gerade in den Sinn kamen. Es schien um Gareth Holker zu gehen, den Schülersprecher von St Bardolph’s und Kapitän der Rugbymannschaft, zwei Errungenschaften, die sich Enwright, obwohl ein Hauch von Geringschätzung in seiner Stimme mitschwang, indirekt als seine eigenen Verdienste anrechnete. »Es heißt, man könne einen Scheißhaufen nicht polieren und aus einem Ackergaul kein Rennpferd machen … was für Klischees, typisch für die Arroganz linksliberaler Gutmenschen. Wie werden aus Männern, denen von zu Hause nichts mit auf den Weg gegeben wurde, leistungsstarke Elitekommando-Soldaten? Wie schaffen es Laufburschen, die Karriereleiter so weit hinaufzusteigen, bis sie multinationale Konzerne leiten? In uns allen schlummern verborgene Fähigkeiten, von deren Existenz wir nicht einmal etwas wissen. Das Einzige, was man tun muss, ist, ihnen zu gestatten, sich zu entfalten. Dieser Junge könnte mit einem Zentner Backsteine auf dem Rücken eine steile Klippe hinaufklettern, wenn man ihn dafür entsprechend trainierte. Der Kopf ist das Entscheidende, nicht der Körper … erst recht der Kopf junger Menschen. So einfach zu formen …« Heck sah Fisher an. »Gibt es davon noch mehr?« Fisher bewegte den Cursor ein wenig. »Jede Menge.« »Die Hitlerjugend war das perfekte Beispiel. Drück ihnen eine Fahne in die Hand, und sie gehören dir. Selbst wenn sie nicht hundertprozentig überzeugt sind, man kriegt sie in ein Stadium, in dem es ihnen wichtiger ist, akzeptiert zu werden, als das Richtige zu tun …« »Er ist gestört«, stellte Heck fest. »Aber das wussten wir ja längst.« Fisher drückte den Ausknopf. »Das erklärt es vielleicht ein bisschen besser.« »Aber es macht es nicht fassbarer. Über Worcester findet sich auf den Aufnahmen nichts, oder? Oder sonst irgendetwas Besonderes?« »Nein, nichts Besonderes. Es geht nur um die Jugendlichen … die Aufnahmen über sie reichen allerdings Monate, sogar Jahre zurück.« »Kannst du mir einen Zusammenschnitt der wichtigsten Passagen in einer einzigen MP3-Datei erstellen?« Fisher zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Ich bin Rechercheur und Analytiker, kein Hacker.« »Aber du bist ständig online.« »Wie schnell brauchst du es?« »So schnell wie möglich.« Heck rieb sich die Stirn. »In der Zwischenzeit habe ich keine andere Wahl … Ich muss die Gefangenen unter Druck setzen.« »Aus Latimer wirst du nicht viel herausbekommen«, sagte Fisher. »Er wurde mit einem gebrochenen Kiefer ins Krankenhaus eingeliefert.« »Mir kommen die Tränen.« »Es könnte Ärger geben. Seine Eltern sind hohe Tiere in der Filmindustrie.« »Arbeiten sie hier?« »In L.A., soweit ich weiß.« »Während ihr Sohn im verregneten England im Internat vor sich hindarbt? Das erklärt einiges.« »Ob Holker auspackt?« Heck schüttelte den Kopf. »Der ist ein schwerer Brocken. Ihn hatte Enwright am längsten unter seinen Fittichen. Was ist mit Worthington? Ist er noch auf dem Gelände?« Fisher deutete mit einem Nicken auf die Bürotür, durch die Charlie Finnegan gerade hereinkam. »Habt ihr Worthington?«, fragte Heck. »Ja.« Finnegan prüfte seine Aufzeichnungen. »Er stammt aus Bolton … und ist nahezu sicher unser Zooinsider. Keine Vorstrafen. Offenbar ein Musterschüler …« »Ist er noch hier?« »Sitzt draußen in einem Streifenwagen.« »Hol ihn wieder raus.« Heck zog sich sein Jackett an. »Er macht eine kleine Spazierfahrt mit uns.« »Wie bitte? Wohin?« »Wir fahren nach Worcester. Wir knöpfen ihn uns unterwegs vor.« »Was?« Finnegan wirkte bestürzt. »Moment mal, Heck, wir … Das dürfen wir nicht.« »Er ist doch immer noch dein Gefangener, oder?« »Offiziell ja.« »Gut. Falls jemand fragt – du bringst ihn in den nächstgelegenen Knast. Dein Vorgesetzter hat dich ausdrücklich so angewiesen und dir keine Wahl gelassen.« »Aber der Junge ist minderjährig.« »Dann treib einen dazugehörigen Erwachsenen auf.« »Wie wär’s mit einem gesetzlichen Vertreter?« »Wie wär’s damit, ihm auch noch ein Haustier zu besorgen?«, fragte Heck. »Und eine Xbox, damit er sich nicht langweilt? Kapier doch endlich, Charlie – wenn wir unsere Ärsche jetzt nicht in Bewegung setzen, wird jemand sterben! Jetzt mach schon, verdammt!« »Erstaunlich, dass niemand den Lastwagen gesehen hat, als er hier langgefahren ist«, stellte Charlie Finnegan fest, als er sah, dass auch auf der Autobahnbrücke, unter der sie gerade hindurchrasten, eine Verkehrsstreife parkte. »Sie sind clever«, murmelte Heck, der mit dem knittrigen Faxausdruck von Leo Enwrights polizeilichem Führungszeugnis beschäftigt war, das er inzwischen mehrmals durchgelesen hatte. »Würde mich nicht wundern, wenn sie angehalten und die Nummernschilder ausgetauscht hätten. Damit hätten sie genügend Zeit gewonnen, die fünfundsechzig Kilometer zurückzulegen.« Ein Schild, an dem sie gerade vorbeifuhren, wies darauf hin, dass sie selbst nur noch vierundzwanzig Kilometer von Worcester entfernt waren. Die M5 war normalerweise stark befahren, doch es ging bereits auf den Abend zu, sodass der Berufsverkehr nachließ. Dieser Vorteil wurde allerdings durch den Nachteil der nahenden Dämmerung aufgewogen – als ob sie angesichts des riesigen Gebiets, das auf der Karte verzeichnet war, nicht auch so schon genug Probleme hätten. Doch darüber machte Heck sich im Moment weniger Sorgen. Er warf erneut einen Blick auf das polizeiliche Führungszeugnis auf seinen Knien. Es war in jeder Hinsicht verstörend, um nicht zu sagen, ein wenig verwunderlich. Wenn solche Dinge heutzutage passierten, würde selbstverständlich der staatliche psychiatrische Dienst eingeschaltet werden, doch die späten 1960er- und die frühen 1970er-Jahre waren in dieser Hinsicht eher eine raue Ära gewesen. »Fürsorge« hatte damals eine nachgeordnete Rolle gespielt, und eine Ohrfeige war in der Regel als ausreichende Reaktion auf inakzeptables Benehmen erachtet worden. Finnegan saß hinter dem Lenkrad von Hecks VW Golf. Drei weitere Insassen drängten sich auf der Rückbank aneinander. Da war zum einen der große junge Polizeibeamte, der vergeblich versucht hatte, mit der Schulter die Tür zu Enwrights Abstellraum aufzubrechen, Police Constable Mapling. In der Mitte und mit Handschellen an den Police Constable gefesselt saß Anthony Worthington. Er trug immer noch seine Schuluniform und hatte einen bockigen, finsteren Blick aufgesetzt – eine Kombination, die ihn eher aussehen ließ wie einen frechen Bengel aus einer Kinderserie im Fernsehen und nicht wie einen Kriminellen. An die Tür auf der Beifahrerseite gequetscht saß Wanda Clayley, die gepflegte stellvertretende Schulleiterin. Sie wirkte nervös und bestürzt. Ihre fortwährenden Versuche, Worthingtons Hand zu nehmen, die dieser immer wieder zurückwies, schienen eher dazu gedacht, ihr selber Trost zu spenden. »Bietet Ihre Schule den Schülern Kurse in Tontaubenschießen an, Mrs Clayley?«, fragte Heck und wandte sich zu ihr um. Im ersten Moment schien sie ihn nicht zu hören. »Oh, äh … ja. Schon immer. Es ist ja nicht so, dass jedes Kind ein geborenes Rugby- oder Footballass wäre …« »Und was ist mit Bogenschießen?«, fragte Heck weiter. Ihre Wangen wurden noch röter. »St Bardolph’s ist ein Internat, Sergeant Heckenburg. Uns bleibt gar nichts anderes übrig, als ein möglichst großes Angebot an außerschulischen Aktivitäten anzubieten. Und da sich unser Internat im Herzen einer ländlichen Region befindet …« »Alles klar, ich verstehe.« Er rieb sich den Nacken, der ihn von dem zuvor erlittenen Aufprall schmerzte. »Tun Sie uns nur einen Gefallen und vergewissern Sie sich bei Ihrer Rückkehr, dass in Ihrer Waffenkammer nur eine Schrotflinte fehlt, okay? Ich bin sicher, dass die Dinger irgendjemanden eine hübsche Stange Geld gekostet haben.« Er nahm Worthington ins Visier. »Und wie geht es dir, Anthony?« Worthington gähnte, als langweile er sich. Heck zeigte ihm ein kleines Diktiergerät, das auf »Aufnahme« gestellt war. Er legte es auf das Armaturenbrett. »Dir ist klar, dass du nach wie vor unter Verdacht stehst und jede Aussage gegen dich verwendet werden kann?« Worthington sah aus dem Fenster. »Glaubst du etwa, dass deine Freunde dichtgehalten haben?«, fragte Heck ihn. »Wir wissen alles. Du bist Mittäter bei neun Foltermorden. Ich erkläre dir mal, was das bedeutet: Du wirst für eine sehr, sehr lange Zeit nicht mehr frei herumspazieren.« Worthington täuschte ein weiteres Gähnen vor. »Du spielst hier den coolen Macker, Junge, aber ich weiß genau, dass ihr alle Bammel hattet, geschnappt zu werden. Warum seid ihr sonst vor mir abgehauen?« Worthington blickte zur Seite und ließ sich schließlich dazu herab, Mrs Clayleys Anwesenheit wahrzunehmen. »Dürfen die das überhaupt?«, fragte er sie. Mrs Clayley schien das Ganze völlig aus der Fassung gebracht zu haben, doch sie neigte den Kopf und gab damit zu verstehen, dass sie glaubte (oder vielleicht hoffte), dass die Polizei im Recht war. »Was wir hier machen, nennt sich eine ›dringende Vernehmung‹, Anthony«, erklärte Heck. »Das Ganze ist durch das britische Polizei- und Beweismittelgesetz gedeckt, das erlaubt, jedwede verhaftete Person zu vernehmen, bevor sie auf ein Polizeirevier gebracht wird, wenn Gefahr in Verzug ist und durch die Vernehmung eine Gefahr für Leib und Leben einer anderen Person abgewendet werden kann. Und dank deines geschwätzigen Kumpels Gareth hege ich mehr als nur einen leisen Verdacht, dass Claire Moodys Leben verwirkt wäre, wenn wir jetzt unnötig Zeit damit verschwenden würden, dich in den örtlichen Knast zu bringen und dann auch noch zu warten, bis dein Anwalt sich herbequemt. Liege ich da falsch?« Wieder tat Worthington so, als interessiere ihn das alles nicht. »Anthony«, zischte Mrs Clayley ihm zu. »Rede mit dem Polizeibeamten! Sag ihm, was er wissen möchte. Mach ihm klar, dass das alles ein großes Missverständnis ist, und dann können wir alle nach Hause.« Worthington schüttelte den Kopf, als könne er nicht fassen, von was für Hohlköpfen er umgeben war. »Na schön, Anthony«, sagte Heck, »wenn du nicht über Claire Moody reden willst, erzähl uns doch, warum wir nach Worcester fahren.« Der Junge reagierte auch auf diese Aufforderung nicht, doch Heck entging nicht, dass seine Schultern sich leicht anspannten. »Komm schon, Anthony! Du bist Mitglied im Geschichtsklub der Schule, und Worcester ist eine berühmte alte Stadt. Du hast doch bestimmt schon mal davon gehört, oder?« »Natürlich hat er das«, schaltete Mrs Clayley sich ein und sah den Schüler perplex an. »Dr. Enwright hat vor einigen Monaten mit ihnen eine Exkursion dorthin gemacht – zum Schlachtfeld. Ich habe die Exkursion höchstpersönlich genehmigt.« »Zum Schlachtfeld, so so«, sagte Heck, der nichts von einem Schlachtfeld in der Nähe von Worcester wusste, wobei in seiner Erinnerung jetzt Holkers Worte über »Verrat« nachhallten. »Die Schlacht von Worcester fand 1651 statt«, fuhr Mrs Clayley fort. »Es war die letzte Schlacht im Englischen Bürgerkrieg. Ich bin davon ausgegangen, dass die Schüler dieses Thema zur Grundlage einer der Aufführungen des Geschichtsklubs machen wollten.« »Oh ja, sie haben in der Tat etwas zu dem Thema geplant«, bestätigte Heck. »Aber nichts, was Sie je zu sehen bekommen hätten, Mrs Clayley.« Er durchbohrte den Gefangenen mit seinem Blick. »Du solltest besser mit mir reden, Anthony. Wir wären nicht auf dem Weg nach Worcester, wenn wir das nicht alles sowieso längst wüssten. Durch deine Festnahme haben deine Kumpels nicht mehr Zeit gewonnen. Aber du kannst froh sein, wenn sie es nicht schaffen, das auch noch durchzuziehen, denn andernfalls ist das der zehnte Mord, in den du verwickelt bist.« Worthington kräuselte die Lippe, als wäre er amüsiert, doch seine vorgespielte Gleichgültigkeit wirkte nicht mehr so überzeugend wie zuvor. »Jetzt pass mal auf, mein Junge, du bist doch nicht dumm. Du weißt, was du für eine Flasche bist. Selbst im Jugendgefängnis wirst du Freiwild sein. Und in ein paar Jahren sitzt du mit den großen Jungs ein, und da herrschen verdammt raue Sitten, denen du ausgesetzt sein wirst …« »Sergeant Heckenburg!«, schaltete sich Mrs Clayley ein. »Ich weiß wirklich nicht …« »Es ist wichtig, dass er Bescheid weiß«, fiel Heck ihr ins Wort. »Ich verspreche dir nämlich eins, Anthony – niemand wird dir helfen, dir diese äußerst unerquickliche Zukunft zu ersparen, die dir bevorsteht. Außer vielleicht … du selber.« Er ließ die Worte einen Moment wirken. »Ich muss genau wissen, wo deine Freunde sind und was sie vorhaben. Ich habe sogar eine Karte mitgebracht, damit du es mir zeigen kannst. Wenn du das tust, zeigt das in erheblichem Maße, dass es dir nicht nur leidtut, was du getan hast, sondern dass du von Anfang an nicht voll und ganz dahintergestanden hast.« Worthingtons Wangen waren sichtbar rot angelaufen. Schließlich fand er die Sprache wieder, doch er sprach in einem mürrischen, kindlichen Ton und mit niedergeschlagenen Augen. »Dr. Enwright hat uns gewarnt, dass Sie das versuchen würden. Dass Sie versuchen würden, uns irgendwelche Deals anzubieten. Er hat gesagt, dass Sie uns absolut nichts zu bieten haben. Dass es nichts als hohles Gerede ist.« »Anthony!«, rief Mrs Clayley. »Was, um Himmels willen, sagst du denn da!« »Kannst du es dir leisten, das Risiko einzugehen?«, entgegnete Heck. »Du musst mit mir reden. Dir bleibt gar nichts anderes übrig.« »Doch«, widersprach Worthington, immer noch mürrisch. »Er hat uns gesagt, dass man versuchen würde, uns zu therapieren, dass man uns nicht bestrafen würde. Kinder, die töten, bleiben nie lange eingesperrt.« »Du musst nicht lange hinter Gittern sein, um dir die Kehle durchschneiden zu lassen, mein Junge.« »Sergeant, ich bitte Sie!«, fuhr Mrs Clayley dazwischen. »Mit siebzehn giltst du womöglich nicht einmal mehr als Kind. Aber ich verrate dir mal, was ich glaube … nämlich, dass du bei diesen Taten mitgemacht hast, weil Dr. Enwright dich dazu gebracht hat. Ist es nicht so?« »Er hat uns zu gar nichts gebracht. Wir haben alle freiwillig mitgemacht.« »Klar, er hat Plakate auf den Fluren der Schule aufgehängt, was? Nach dem Motto: ›Wer Lust hat, es der Welt mal so richtig zu zeigen und brutale Morde zu begehen – bitte bei mir melden‹. Hat er Vorstellungsgespräche geführt, Anthony? Wie viele Bewerber hat er abgelehnt?« Heck schnaubte verächtlich. »Ich verrate es dir, mein Junge. Niemanden. Jeder, auf den er zugegangen ist, wurde genommen. Willst du wissen, warum? Weil er euch alle bewusst auserwählt hat. Er hat sich gezielt einsame, isolierte Kinder herausgepickt, solche, die vernachlässigt, gemobbt oder misshandelt wurden … und er hat alldem ein Ende bereitet, ist es nicht so?« Worthington bedachte Heck mit einem stumpfen, wütenden, hasserfüllten Blick, doch es war eher eine Wut der Beschämung, Wut darüber, entlarvt worden zu sein. »Auf diese Weise hat er euer Vertrauen gewonnen, stimmt’s?«, fuhr Heck fort. »Und über die Jahre hinweg hat er euer Vertrauen ausgenutzt. Er hat euch verändert und dafür gesorgt, dass ihr eure Feinde hasst, anstatt Angst vor ihnen zu haben, er hat jegliche moralischen Widerstände gebrochen, über die ihr vielleicht noch verfügt habt.« »Sergeant Heckenburg …« Mrs Clayley schüttelte den Kopf. »Sie schätzen Dr. Enwright völlig falsch ein. Das muss alles ein furchtbares Missverständnis sein.« »Ich werde Ihnen etwas über Dr. Enwright erzählen, Mrs Clayley.« Heck bedachte sie mit seinem Ich-meine-es-jetzt-wirklich-ernst-Blick. »Im Alter von zwölf Jahren wurde er festgenommen, weil er ›Oblaten‹ gestohlen hat.« »Er hatte einen schlechten Start ins Leben, das ist mir bekannt.« »Oblaten, Mrs Clayley? Oblaten, die fürs Abendmahl bestimmt waren? Den Leib Christi? Oblaten, die er dann zerbröselt und auf dem Vorhof der Kirche an die Tauben verfüttert hat?« »Er war noch ein Kind. Wenn man uns allen vorhalten würde, was wir als Kinder ausgefressen haben …« »Einverstanden, aber es ist schon ein bisschen sonderbar, das sehen Sie doch sicher auch so, oder? Erst recht, wenn man bedenkt, dass etliche der Tauben verreckt sind, weil er die Oblaten mit Rattengift beträufelt hatte. Ich meine … unschuldige Tiere mit Oblaten zu vergiften, die fürs Abendmahl bestimmt waren, und dann … mal sehen, was er dann gemacht hat.« Er konsultierte mit großer Geste seine Unterlagen. »Ah, ja … anschließend hat er die toten Tiere ins Taufbecken geworfen.« Er blickte wieder auf. »Das ist schon ein extrem religionsfeindliches Verhalten. Geht weit über einen Akt gewöhnlicher Blasphemie hinaus, meinen Sie nicht auch, Mrs Clayley?« Ihrem glasigen Blick nach zu urteilen, tat sie das. Heck wandte sich wieder Worthington zu. »Dein Mentor, Anthony. Ein toller Typ, was?« Worthington wirkte angesichts dessen, was er soeben gehört hatte, durchaus beeindruckt. Doch dann schüttelte er den Kopf, als wolle er sich selber überzeugen, dass das alles nur Lügen waren. »Dr. Enwright hat uns gewarnt, dass Sie Anschuldigungen vorbringen würden. Aber wir wissen, wie er wirklich ist. Er ist ein Kreuzritter. Wir wussten von Anfang an, dass Menschen verletzt werden würden. Er hat es uns erklärt, es geht nicht anders. Wir müssen das ganze Land erschüttern, damit die Leute kapieren, dass Feiertage von Bedeutung sind.« »Indem Sie sie entweihen?«, fragte Heck. »Nein!«, schrie Worthington, jetzt mit wutentbranntem Gesicht. »Indem wir diejenigen verhöhnen, die sie bereits entweiht haben!« »Und die toten Vögel im Taufbecken der Kirche? Wen hat Dr. Enwright an dem Tag verhöhnt?« »Das hat er getan, um stark zu werden.« »Was meinst du damit?« »Er hat uns auch so etwas tun lassen … mit Ratten und Mäusen.« Für einen Moment herrschte erstauntes Schweigen. »Anthony«, flüsterte Mrs Clayley, »was sagst du denn da?« Worthington atmete schwer und schnell, sein Gesicht war immer noch rot angelaufen, doch seine speichelverschmierten Lippen hatten sich zu einem albernen, herausfordernden Grinsen verzogen. »Und nicht mit Gift, sondern mit bloßen Händen.« Er reckte sein Kinn vor, als wäre er stolz auf seine Taten, doch Heck entgingen nicht die Tränen, die in seinen Augenwinkeln glitzerten. »Damit wir bereit sind für den bevorstehenden Kampf … gegen das wahre Geschmeiß. Die Drogenabhängigen und Säufer, die geilen Schlampen und die Prolls, all das Pack, das Großbritannien ruiniert und in eine seelenlose Jauchegrube verwandelt, in der es nur noch darum geht, im Tausch gegen eine billige Kette seine Titten zu zeigen oder so viele Kurze wie möglich in sich hineinzukippen, weil es an der Theke gerade Billigdrinks gibt …« »Und das junge Paar in den West Pennine Moors?«, fragte Heck. »Inwiefern fallen die beiden in die Kategorie ›Jauchegrubenpack‹?« »Ohne die beiden liegen ein paar benutzte Kondome weniger auf öffentlichen Picknickplätzen herum.« Charlie Finnegan schnaubte in sich hinein. »Das ist eine echte Hardcoreversion von Religion, das muss ich sagen.« »Es geht nicht um Religion«, blaffte Worthington. »Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie Sie Religion verstehen. Es geht um Spiritualität, nicht um Dogmen. Es spielt keine Rolle, welche Götter oder Geister man verehrt …« »Du hast all den Schwachsinn geschluckt, den er dir eingetrichtert hat, was?«, fragte Heck. »Wir müssen die Leute eben daran erinnern, dass es auch noch etwas anderes gibt …« »Und ihr erinnert sie daran, indem ihr sie ermordet?«, fragte Mrs Clayley ungläubig. »Es ist eine harte Lektion, ich weiß«, entgegnete Worthington, dem jetzt Tränen über die Wangen rollten. »Aber es ist nur zu ihrem Besten. Dr. Enwright hat es ›strenge Liebe‹ genannt.« »Strenge Liebe?« Heck konnte sich das nicht mehr anhören. »Was ist das für ein kompletter Schwachsinn?« »Sergeant!«, protestierte Mrs Clayley schwach. »Mord ist Mord, Anthony!« »Sie verstehen das nicht …« »Ich verstehe sehr wohl.« Heck lehnte sich zu ihm nach hinten. »Ich habe nämlich schon mehr Mörder hinter Gitter gebracht, als du Fish and Chips verputzt hast. Und Leo Enwright ist genauso ein Killer wie all die anderen. Er ist ein gestörter Narzisst, der eine Riesenshow abzieht, um die Welt zu schockieren, und das einzig und allein deshalb, weil es ihm ein perverses Vergnügen bereitet. Aber weißt du was – er hat sich diesen Wahnsinn nicht mal selber ausgedacht. Hier …« Er zog etwas aus der Innentasche seines Jacketts und hielt es hoch. Es war ein Büchlein mit Eselsohren, das in einer Plastiktüte zur Sicherung von Beweisstücken steckte. »Ich zeige dem Verdächtigen Beweisstück MH33. Was steht auf dem Umschlag, Anthony? Na los, lies!« »Blutfest!«, las Worthington vor. »Richtig … Blutfest.« Heck nahm das Büchlein aus der Tüte und hielt es ihm hin. »Hier, du darfst es anfassen. Wir haben davon noch jede Menge weitere Exemplare.« Worthington nahm das Büchlein argwöhnisch entgegen. »Diese Horrorgeschichte wurde 2005 von einem Autor namens Dan Tubbs geschrieben«, erklärte Heck. »Zufällig ein weiterer Bekloppter, allerdings spielt er in einer anderen Liga als dein Kumpel Enwright. In dem Roman zelebrieren ein paar Loser – also Typen wie du und deine Freunde – spezielle Feiertage, indem sie Menschenopfer bringen.« Worthingtons verständnisloser Blick wanderte von dem Buch zu Heck und wieder zurück zu dem Buch. »Der einzige Unterschied zwischen den Irren in diesem Buch und euch ist, dass die aus dem Buch die alten Götter verehrt und versucht haben, sie wiederzuerwecken. Das habt ihr nicht bezweckt, oder, Anthony? Ich weiß gar nicht, warum ich dich das überhaupt frage, ich bezweifle nämlich ehrlich gesagt, dass du auch nur den Hauch eines Schimmers hast, was das Ganze sollte. Na los … streng die grauen Zellen deines gigantischen Kleinhirns an. Lies das verdammte Buch. Leo Enwright hat es jedenfalls gelesen. Er hat vor sechs Jahren auf einer Horrormesse ein Gratisexemplar mitgenommen.« Worthington sah immer noch aus, als würde er nicht glauben, was Heck ihm da erzählte. Beinahe widerstrebend begann er, in dem Buch zu blättern. »Ich wette, die Lektüre dieser Schundliteratur war nicht Bestandteil deiner Umerziehung, stimmt’s?«, fuhr Heck fort. »Du kannst es jetzt natürlich nicht durchlesen, deshalb fasse ich dir ein paar Stellen zusammen. Am Valentinstag werden die Herzen zweier Liebender von einem Pfeil durchbohrt. Am Karfreitag wird ein Priester gekreuzigt. Kein perverser pädophiler Priester, mit dem eines seiner Opfer abrechnen will. Nein, dieser Priester ist ein guter Samariter. Er kümmert sich um seine Schäfchen und sorgt für die Armen – das macht ihn eher zu einer Art Jesus, weißt du. Genau wie diese arme junge Frau, Kate Rickman.« Worthington antwortete nicht. Er las ein paar ausgewählte Passagen, sein Gesichtsausdruck wurde sichtlich immer gequälter. »Soll ich dir was sagen, Anthony«, fuhr Heck fort, »ich würde mich, was dich angeht, wirklich besser fühlen, wenn ich nicht den Verdacht hätte, dass dir nicht die grauenvollen Morde an die Nieren gehen, an denen du beteiligt warst, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass das Ganze gar nicht auf dem Mist deines Gurus gewachsen ist. Dabei hast du ihn angehimmelt, als hätte er einen direkten Draht zu Gott … du kleiner Trottel! Du hast dein ganzes Leben für die entarteten Phantasien eines Irren verpfuscht!« »Sergeant, jetzt reicht es aber!«, versuchte Mrs Clayley einzuschreiten. Heck sah sie gereizt an, obwohl sie vermutlich recht hatte. »Für den ›Trottel‹ entschuldige ich mich, Anthony, aber ich denke, du hast kapiert, worauf all das hinausläuft.« Worthington sah ihn an. Er wirkte verloren, verwirrt. »Dieser Kerl hat dich gewaltig hinters Licht geführt«, fuhr Heck fort. »Nicht nur dich, all die anderen auch. Er hat dafür gesorgt, dass ihr eine sehr, sehr lange Zeit hinter Gittern verbringen werdet – und warum? Weil ihn nicht genügend Leute gebauchpinselt und ihm erzählt haben, was für ein toller, brillanter Hecht er ist.« Worthington starrte wieder auf das Buch, blätterte mit steifen, gekrümmten Fingern weitere Seiten um. Seinem glasigen Blick nach zu urteilen, sah er nicht einmal, was dort geschrieben stand. »Sergeant Heckenburg«, sagte Mrs Clayley, »ich verstehe ja, dass Sie keine andere Wahl hatten, als sich Anthony auf diese Weise zur Brust zu nehmen. Aber ich glaube wirklich, angesichts seiner emotionalen Verfassung und der furchtbaren Dinge, die heute passiert sind …« »Royal … Royal Oak Day«, stammelte Worthington. Alle Insassen des Wagens wandten sich ihm zu. Sogar Charlie Finnegan war kurz vom Lenkrad abgelenkt. »Wie sollen wir das verstehen, Anthony?«, fragte Heck. »Royal Oak Day … das ist der nächste Feiertag, dessen Andenken wir hochhalten wollen.« »Royal Oak Day?«, wiederholte Heck. »Kannst du uns ein bisschen mehr darüber erzählen?« »Neunundzwanzigster Mai.« Worthington schluckte. »Der Feiertag zum Gedenken an die Flucht Karls des Zweiten vor Oliver Cromwell … nach der Schlacht von Worcester. Und der Restauration der englischen Monarchie im Jahr 1660.« »Der neunundzwanzigste Mai«, sagte Finnegan. »Dann haben wir ja wenigstens noch ein bisschen Zeit.« »Nein.« Worthington schüttelte den Kopf. »Diesmal ist es anders.« »Inwiefern anders?«, hakte Heck nach. Der Junge presste die Lippen zusammen, als ob es für ihn, trotz allem, was er inzwischen wusste, immer noch einen massiven Verrat darstellte, tatsächlich mit der Sprache herauszurücken. Tränen rollten ihm die Wangen hinunter. »Es gab … es gab von Anfang an eine Abmachung … Falls einer von uns gefasst werden sollte, sollten die anderen das Zelebrieren des nächsten Feiertags vorziehen. Und das Opfer vorzeitig bringen, bevor noch jemand anderes geschnappt wird.« »Aha. Und … wann?« »So schnell wie möglich. Wahrscheinlich heute Abend.« »Heute Abend?« »Wenn sie rechtzeitig hinkommen.« »Wenn sie rechtzeitig wohin kommen? Ich nehme an, irgendwo auf das Schlachtfeld.« »Dr. Enwright hat die perfekte Stelle entdeckt«, sagte Worthington. »Unter einer alten Eiche.« Mrs Clayley sah Heck an. »Karl der Zweite hat sich nach der Schlacht auf einer Eiche versteckt, als die Rundköpfe nach ihm gesucht haben.« »Steht die Eiche noch?«, fragte Heck. »Ist es eine bekannte Sehenswürdigkeit?« »Nein, die Originaleiche wurde vor Jahren gefällt.« Heck wandte seinen Blick wieder Worthington zu. »Was habt ihr für den Royal Oak Day geplant?« Worthington senkte den Kopf, doch er atmete jetzt ruhiger, als ob ihm das Atmen auf einmal leichter fiele, nachdem er angefangen hatte auszupacken. »Der Bürgerkrieg war genauso sehr ein religiöser wie ein politischer Krieg.« »Und?« »Das ist heutzutage größtenteils in Vergessenheit geraten, doch damals galt die Rückkehr der Stuarts als ein Schlag ins Gesicht der fundamentalistischen Protestanten. Und das wurde ausgelassen gefeiert. Mit Umzügen, Picknicks, Kostümgalas und so weiter … Außerdem wurden diese Feiern als Gelegenheit genutzt, die Antiroyalisten zu verspotten, die allesamt als Verräter angeprangert wurden.« Wieder das Wort Verrat, dachte Heck. »Manchmal geriet die Situation außer Kontrolle«, fuhr Worthington fort. »Jeder musste zum Zeichen seiner Königstreue einen Eichenzweig bei sich tragen. Jedenfalls jeder, der nicht riskieren wollte, mit Eiern beworfen und mit Peitschen aus Brennnesseln geschlagen zu werden.« »Wie angenehm.« »Freiwillige verkleideten sich als Verräter und ließen sich auf den Straßen vorführen und mit Sachen bewerfen. Manchmal wurde eine Pseudoverfolgungsjagd inszeniert … in Gedenken an die historische Jagd auf Karl den Zweiten.« »Und wenn die Verräter gefangen waren, war das Ganze vorbei, und alle haben sich volllaufen lassen, stimmt’s?«, fragte Heck. Worthington nickte. »Nur dass es diesmal nicht so enden wird, Anthony, habe ich recht?« »Nein.« »Sprich weiter.« »Oliver …« Worthington schauderte, als ob ihm auf einmal bewusst würde, an was für Gräueltaten er sich beteiligt hatte. »Durch die Hinrichtung Karls des Ersten und die Verfolgung Karls des Zweiten haben Oliver Cromwell und seine Königsmörder Verrat begangen. Die Verräter, die gefasst wurden …«, er blickte mit gequältem Gesichtsausdruck auf, »… wurden gehängt, gestreckt und gevierteilt.« Als sie ihr die Maske anlegten, geriet Claire in Panik. Sie hielten sie mit Gewalt fest, was angesichts der Brennnesseln, die sie ihr unter die Kleidung gestopft hatten, schon für sich genommen eine Qual war, doch als sie die scheußliche Gummifratze sah, entwich ihr ein Schrei. Die Gesichtszüge waren grotesk überzeichnet: extrem schräge Augenbrauen aus borstigem schwarzem Haar, eine überlange Kaspernase und ein vorstehendes Kinn, ein zu einem böswilligen Grinsen verzogener Mund, über dem ein struppiger schwarzer Schnauzbart wucherte, aber das Abstoßendste von allem waren die über das ganze Gesicht verstreuten riesigen warzigen Geschwülste. »Das ist das Gesicht des Verräters, dessen Tod am Royal Oak Day gefeiert wird«, verkündete Dr. Enwright feierlich. Ein noch lauterer Schrei entwich ihrer Kehle, als sie sah, dass Luke die Innenseite der Maske mit Sekundenkleber bestrich. Sie schüttelte wie wild den Kopf und trat um sich, doch ihre Peiniger hielten sie brutal in Schach. Das Mädchen namens Heather verpasste ihr eine schmerzende Ohrfeige und hielt ihren Kopf mit aller Gewalt fest. Als sie ihr die Maske aufs Gesicht drückten, konnte Claire kaum noch etwas sehen, denn die Augenschlitze waren zu eng und saßen zu weit über den Augen. Der Klebstoff war schleimig und kalt, doch sie spürte bereits, wie ihre Haut sich straffte, während der Kleber schnell trocknete. »Wenn die Maske festgeklebt ist, was in wenigen Sekunden der Fall sein wird«, sagte Dr. Enwright, »wären Sie schlecht beraten, wenn Sie versuchen sollten, sie wieder abzunehmen. Denn in dem Fall würden Sie sich große Hautfetzen mit abreißen.« »Oh mein Gott, oh mein Gott …!«, stammelte Claire. »So sprach dieser puritanische Verräter, als er die Unschuldigen in Wexford und Drogheda massakrierte«, entgegnete Enwright. »Des einen Gott ist des anderen Teufel, wie es scheint. Aber das spielt keine Rolle. Bei unseren Ritualen wird sowohl der Gottesfürchtigen als auch der Gottlosen gedacht – wir ergreifen in diesem ewig währenden Kampf nicht Partei.« Claire lag zitternd da und hörte sein irres Gefasel kaum. Frischer Schweiß sickerte durch die bereits durchweichte Blätterschicht unter ihrem Kostüm. Dann rumste auf einmal die Gangschaltung, und die Bremse quietschte. Das Wageninnere wurde erschüttert, und sie spürte, wie sie schlitternd auf unebenem Untergrund zum Stehen kamen. Ein metallisches Klirren verriet, dass Riegel aufgeschoben wurden. Schwaches Tageslicht fiel durch ihre engen Sehschlitze, und eine kühle Brise wehte über sie hinweg, als sie ohne viel Federlesens auf die Beine gezerrt, durch das Innere des Lastwagens geführt und von der Ladefläche auf etwas heruntergelassen wurde, das sich anfühlte wie ein Grünstreifen. Sie stolperte und fiel auf die Knie. Niemand machte Anstalten, sie am Fallen zu hindern oder ihr wieder auf die Beine zu helfen. Fußgetrappel verriet ihr, dass ihre Entführer wieder in den Lastwagen stiegen. Sie lauschte ungläubig dem Quietschen der Scharniere, als die schweren Laderaumtüren geschlossen wurden. Dann folgte das mehrfache widerhallende Rumsen der einrastenden Riegel. Mit ohrenbetäubend aufheulendem Motor fuhr der Lastwagen davon, eine Ladung Kies aufwirbelnd und eine warme giftige Abgaswolke ausstoßend. Claire verharrte schwer atmend auf den Knien, ihr ganzer Körper war schweißgebadet, und sie konnte es nicht fassen, dass sie sie einfach allein zurückgelassen hatten. Nach wenigen Sekunden war der Lastwagen nur noch schwach und dann gar nicht mehr zu hören. Stattdessen war sie von Vogelgezwitscher und dem schwachen Rauschen des Windes umgeben. Verzweifelt versuchte sie, die Gummimaske abzuziehen, die ihr Gesicht verhüllte, doch je mehr sie daran zog, desto schlimmer zerrte sie auch an ihrer Haut. Ihr Wimmern ging in lautes Heulen über, als sie sich ganze Hautfetzen abriss. Doch sie zog und zerrte weiter, und winzige Risse in der Maske vergrößerten sich zu ganzen Löchern. Weitere Hautfetzen rissen ab, doch schließlich hatte sie große Stücke des Gummis abgeschält. Als sie den Bereich über ihrer Nase und ihren Augen von der Maske befreit hatte – wobei sie ihre Augenbrauen komplett hatte mit abreißen müssen –, sah sie, dass sie neben einem Trampelpfad kniete, der sich durch eine menschenleere Heidelandschaft zog, die von der untergehenden Sonne in blutrotes Licht getaucht war. Im ersten Moment konnte sie es kaum glauben. Der Pfad schlängelte sich zu ihrer Linken durch die Heide und verschwand nach etwa hundert Metern in einem Birkenwäldchen. Hier und da wuchs Stechginster, der jetzt im Frühling in voller gelber Blüte stand. Sie hatten es tatsächlich getan. Sie hatten sie einfach hier sich selbst überlassen. Sie hatten sie verhöhnt und ließen sie nun wieder frei – das war die einzige Erklärung. Plötzlich hörte sie hinter sich ein leises Lachen. Obwohl sie noch immer auf den Knien hockte, wirbelte sie herum. Der Anblick von Arnies anzüglichem Dauergrinsen war für Claire wie ein Schlag in die Magengrube. Noch schockierender war, dass er mit einem altmodischen Musketierschwert bewaffnet war – einem sogenannten Rapier, wie sie glaubte. »Du dachtest wohl, dass du einfach so davonkommst, was?«, sagte er und ließ die Klinge hin und her zischen. »Verräterin.« »Meinst du nicht …« Claire bemühte sich, nicht so sehr wie eine verängstigte Gefangene zu klingen, sondern eher wie eine missbilligende Erwachsene. »Meinst du nicht, dass du schon tief genug in der Scheiße sitzt, als dass du mit dieser Farce auch noch weitermachen solltest?« »Ich sehe es anders. Ich sitze schon so tief in der Scheiße, dass es völlig egal ist, was ich noch alles tue.« »Wo sind deine Freunde?« »Oh, hier in der Gegend … aber nicht in der Nähe.« »Ist das hier das, was Dr. Enwright meinte, als er sagte, dass ich eine Chance hätte?« »Ja.« Arnies höhnisches Grinsen wurde noch breiter, sofern das überhaupt möglich war. »Und du solltest sie ergreifen, denn eine zweite bekommst du nicht.« Claire rappelte sich hoch, drehte sich um und versuchte, sich davonzuschleppen, doch ein schmerzhafter Schlag auf die Rückseite ihrer Beine ließ sie wieder auf die Knie sinken. Das Schwert, dachte sie perplex. Er hat mich mit einem Schwert attackiert! »Aber erst mal«, sagte Arnie, schlenderte um sie herum und schnallte seinen Gürtel auf, »will ich noch ein bisschen Spaß haben.« Sie blickte mit hohlen Augen zu ihm auf. Er war noch so jung. Wenn er nicht diesen entsetzlich verzerrten Mund hätte, wäre er sogar ein richtig gut aussehender Junge. »Ich bin mit neun Jahren bei einem Autounfall verunglückt«, sagte er. »Danach haben sie mein Gesicht wiederhergestellt, aber nichts ist je perfekt, oder?« »Hör auf«, forderte sie ihn auf. »Bitte … hör einfach auf.« »Das hier ist nicht vorgesehen, verstehst du? Es ist nicht Teil unseres Plans, aber wie ich schon sagte … inzwischen ist es völlig egal, was ich tue.« Sie versuchte, auf allen vieren wegzukrabbeln, doch er schleuderte sein Schwert zur Seite, warf sich auf sie, zwang sie auf den Rücken, rammte ihr den Unterarm auf den Hals und drückte gegen ihren Kehlkopf. Claires Augen quollen hervor, bis sie glaubte, dass sie herausflutschen würden. Als er wieder locker ließ, hustete und würgte sie. »Wenn ich du wäre, würde ich versuchen, das Ganze zu genießen. Wahrscheinlich ist es dein letztes Erlebnis auf Erden.« Sie spuckte ihm ins Gesicht, woraufhin er ihr einen Schlag mit der Faust verpasste. Ihre beiden vorderen Schneidezähne brachen ab, ihr Mund füllte sich mit kupfrigem Blut. »Dafür besorg ich’s dir von vorne und von hinten.« Er kniete rittlings auf ihr und nestelte weiter an seinem Hosenstall herum – da rammte Claire ihm mit voller Wucht ihr linkes Knie in die Weichteile. Er rang nach Luft und fiel zur Seite, die Hände zwischen seine Beine gepresst. Claire robbte schwer atmend von ihm weg und rappelte sich hoch auf die Beine. In Erwartung, den Rest der Bande plötzlich auftauchen zu sehen, sah sie sich schnell nach allen Seiten um. Aber niemand war zu sehen. Dann hielt sie nach dem Schwert Ausschau, konnte es jedoch nicht sofort entdecken, aber sie hatte keine Zeit, es zu suchen. Arnie lag immer noch zusammengekrümmt auf der Seite, aber er reckte bereits den Hals und starrte sie an. Ausgelaugt und Blut spuckend taumelte sie über den Pfad davon. Irgendwo in der Ferne war ein Hubschrauber zu hören, als Heck die vom Feuer beschädigte Karte auf der Kühlerhaube seines Golf ausbreitete. Er sah hoch und suchte den Himmel ab, konnte ihn jedoch noch nicht sehen. Die Polizei von West Mercia hatte sich bereit erklärt, sie auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen, doch seine Anfrage war aus heiterem Himmel gekommen, und obwohl sämtliche zur Verfügung stehende Beamten der Operation Reaktion zugeteilt worden waren, dauerte es eine Weile, bis sie alle mobilisiert waren, und dass Heck nicht imstande gewesen war, ihnen zu sagen, wo sie zum Einsatz kommen sollten, erschwerte das Ganze zusätzlich. Er war an einer Landstraße an den Rand gefahren. Unterhalb von ihnen floss ein Nebenfluss des Severn. Weit im Westen hellte noch ein letzter verblassender Schein der untergegangenen Sonne den Horizont auf und tauchte die aus Niederwald und Wiesen zusammengewürfelte Landschaft in ein lilablaues Zwielicht. Selbst unter Zuhilfenahme seiner Taschenlampe fiel es Heck zunehmend schwer, auf der Karte noch irgendwelche Details zu erkennen. Einige Stellen waren durch Pfeile mit einem Textmarker gekennzeichnet, doch keiner dieser Punkte war als eindeutige Planquadratangabe zu identifizieren. Optisch sah das Schlachtfeld anders aus, als Heck erwartet hatte. Sie waren an etlichen Wegweisern und Hinweisschildern vorbeigekommen, doch das Museum und das Besucherzentrum befanden sich offenkundig im Zentrum von Worcester in einem historischen Gebäude namens »The Commandery«, also etliche Kilometer südöstlich ihres derzeitigen Standortes, während das Gelände, auf dem die eigentliche Schlacht stattgefunden hatte, nicht einfach nur eine offene Ebene war; die Kämpfe hatten zeitgleich auf verschiedenen Seiten der Stadt stattgefunden, und das Schlachtfeld erstreckte sich über ein ausgedehntes Gebiet aus Wäldern, Bächen, schmalen Landstraßen und Gewölbebrücken. »Streng deinen Kopf an, Anthony!«, forderte Heck den Jungen ungeduldig auf. Der Schüler war immer noch mit Handschellen an Police Constable Mapling gefesselt, doch er studierte blinzelnd die Karte. »Das versuche ich ja.« »Was habt ihr da draußen gemacht, Anthony?«, fragte Mrs Clayley. Sie redete immer noch in einem missbilligenden Tonfall mit dem Jungen, als spräche sie mit einem Schüler, der die Schule geschwänzt hatte und dessen Motive sie zu ergründen versuchte, und nicht mit einem Beteiligten an einer Serie sadistischer Morde. »Bestimmte Dinge«, erwiderte er achselzuckend. »Was für Dinge?« »Ich denke, das wollen Sie lieber nicht wissen, Mrs Clayley«, antwortete Heck an Anthonys Stelle. »Da«, sagte Worthington plötzlich und zeigte auf eine gerade Linie, die den oberen rechten Quadranten der Karte zweiteilte. »Vielleicht da.« »Wie kommst du darauf?«, fragte Charlie Finnegan. »Ich erinnere mich, dass wir mit dem Kleinbus der Schule diese schnurgerade Straße entlanggefahren sind, zu deren beiden Seiten Felder und Hügel liegen.« Worthington fuhr mit dem schmutzigen, abgekauten Fingernagel seines Zeigefingers die besagte Linie entlang, an der es ansonsten keinerlei herausgehobene Besonderheiten zu geben schien. Finnegan sah Heck an. »Das ist doch völlig absurd. Wir müssen auf die Unterstützung der Kollegen von West Mercia warten.« Heck faltete die Karte zusammen. »Wenn wir noch länger warten, ist es hier draußen stockfinster. Hier gibt es nicht mal Straßenlaternen.« »Heck, wir haben zwei Zivilisten bei uns.« Heck hielt inne und dachte über dieses sehr reale Problem nach, mit dem sie konfrontiert waren, doch dann sah er vor seinem inneren Auge Claires tränenüberströmtes Gesicht und verwarf den Einwand. Er schüttelte den Kopf. »Sie bleiben einfach im Auto.« »Lass uns wenigstens auf den Hubschrauber warten.« »Ich warte auf niemanden.« Heck bedeutete ihnen, wieder in seinen VW Golf einzusteigen. »Wir können die Hubschrauberstaffel unterwegs informieren, wo wir sind. Los, Beeilung bitte!« Claire folgte dem Pfad etwa einen halben Kilometer durch den Wald, bis ihr schließlich klar wurde, dass er nicht als Gehweg für Menschen gedacht war. Er führte über eine Steinbrücke über einen kleinen Fluss und endete auf der anderen Seite vor einem Gatter, hinter dem sich eine Wiese erstreckte, auf der Rinder grasten. Ihr war bereits speiübel, und da sie nichts zu essen bekommen hatte, war sie geschwächt. Aber sie wusste, dass Arnie ihr dicht auf den Fersen war. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Der sich schlängelnde Pfad verschwand in der zunehmenden Dämmerung – und dann fiel ihr noch etwas ins Auge. Am Rand des Trampelpfads war ein Holzpfahl in die Erde gerammt worden. Oben an dem Pfahl war ein Schild angebracht, auf dem in goldenen aufgemalten Buchstaben stand: Der Weg des Königs. Das Schild zeigte auf einen Seitenpfad, der oberhalb des Flussufers verlief. Ob sie wollten, dass sie diesen Weg nahm … den Weg des Königs? Nun, den Gefallen würde sie ihnen nicht tun. Sie bog stattdessen nach rechts ab. Bis auf den Wegweiser sah der Pfad genauso aus wie der andere und verschwand im zusehends dunkler werdenden Dickicht. Sie taumelte in diese Richtung weiter und blieb ständig mit ihrem Kostüm an Dornen und anderem Gestrüpp hängen. Ein paar Nähte hatten sich bereits allein deshalb gelöst, weil sie in der Kleidung gerannt war. Es war Schund, kaum besser als ein Karnevalskostüm. Sie hatte es geschafft, einen Großteil der Brennnesseln herauszuziehen, die sie ihr unter das Kostüm gestopft hatten, doch ihre Haut war gereizt und scheuerte bei jeder Berührung schmerzhaft an dem billigen, schweißgetränkten Stoff. Der Pfad führte vom Fluss weg und schlängelte sich durch das Gestrüpp, das zusehends in Baumbewuchs überging. Das bedeutete größere Lücken zwischen den Bäumen und weniger Unterholz. Sie verlangsamte ihren Schritt, versuchte, wieder zu Atem zu kommen – und als sie nach links blickte, sah sie den düsteren Umriss eines ihrer Entführer, der sie aus einer Entfernung von etwa hundert Metern beobachtete. Sie konnte nicht erkennen, wer von ihnen es war – er (oder sie) trug eine dunkle Kapuzenjacke. Wer auch immer es war, machte keine Anstalten, ihr zu folgen, als sie verzweifelt weiterrannte. Vor ihr lichtete sich der Wald und ging in offenes, ansteigendes grasbewachsenes Gelände über. Sie lief weiter, doch sie war so erschöpft, dass sie den Hügel nur im Seitwärtsschritt hinauftaumeln konnte. Als sie den Kamm erreichte, entdeckte sie ein weiteres behelfsmäßig zusammengezimmertes Schild. Hier wurde der tapfere Sir Edward Massie verwundet. Sie stolperte an dem Schild vorbei und befand sich nun auf einer ebenen, jedoch zerfurchten Weide, auf der hier und da Stechginster wuchs. Etwa dreißig Meter vor ihr tauchte eine Gestalt auf, die ebenfalls eine Kapuze aufhatte. Claire wandte sich schluchzend nach links um, doch dort fiel das Gelände wieder ab. Sie blieb am Rand des Abhangs stehen und registrierte, dass sich vor ihr eine offene Landschaft erstreckte. Dort, wo der westliche Horizont sein musste, war noch ein schmaler Streifen verblassenden Tageslichts zu erkennen, doch zwischen dem Horizont und ihrem eigenen Standort wurde alles schwarz. Sie blickte zurück über die Weide. Im Moment war niemand zu sehen, doch die Nacht hatte sich wie ein Mantel über die Landschaft gelegt. Ihre Entführer konnten sich an sie heranschleichen, ohne dass sie sie bemerken würde. Sie tapste hilflos den Hügel hinunter und geriet auf dem nassen grasigen Untergrund ständig ins Stolpern. Heißer Speichel rann aus ihrem Mund, lose Fetzen der Gummimaske klatschten an ihre Wangen. Sie lief so lange bergab, bis sie wieder ebenes Gelände erreichte, doch dann strauchelte sie erneut und verstauchte sich den Knöchel. Sie schrie vor Schmerz. In dem Moment entflammte ungefähr zwanzig Meter vor ihr eine Feuersäule. Sie blieb taumelnd stehen. Eine riesige, aus Holzscheiten errichtete Pyramide hatte sich einfach so entzündet, Flammen fauchten in die Nacht, heiße Funken stoben in alle Richtungen, in die der Wind sie trieb – als ob die Holzpyramide mit Benzin übergossen worden wäre (was auch tatsächlich der Fall war, wie Claire in diesem Moment bewusst wurde). Andere, kleinere Lagerfeuer entflammten zu allen Seiten von ihr, tauchten die schroffe Weidelandschaft in zuckendes orangefarbenes Licht und offenbarten noch ein paar andere Dinge: Nur etwa zwanzig Meter rechts von ihr erhob sich eine uralte Eiche mit breit verzweigten riesigen Ästen und einem Stamm, der so dick war wie drei oder vier Männer. Vielleicht vierzig Meter dahinter standen weitere Bäume – ein dichtes, dunkles Band –, doch in der Mitte der Baumreihe befand sich ein Bauernhofgatter, und direkt dahinter etwas, das aussah wie eine Straße, eine richtige asphaltierte Straße. Beim Anblick der Straße machte Claires Herz einen Satz, und sie taumelte mit rasendem Puls darauf zu, kam jedoch erneut auf wackligen Beinen zum Stehen, als sie rechts neben dem Gatter etwas erspähte. Im ersten Moment hatte sie es für eine weitere Baumgruppe gehalten, doch jetzt sah sie, dass es ein Lastwagen war, der unter einer grünen Plane parkte und über den ein Tarnnetz geworfen worden war. Noch während sie all das anstarrte, kamen drei Gestalten in Jägerkleidung hinter dem Lastwagen hervor. Es waren Heather, Jasmine und Dr. Enwright, dessen Brillengläser das Feuer reflektierten und funkelten wie zwei karmesinrote Farbkleckse. »Nein«, stöhnte Claire und wich zurück, doch sie rutschte mit ihren Stiefeln auf dem Gras aus. »Neeiiin!« Als sie versuchte, wieder in die Richtung zu fliehen, aus der sie gekommen war, kamen weitere Gestalten den Hügel hinunter auf sie zu: der Junge namens Luke und ein großes, kräftiges Mädchen mit länglichem Gesicht, das sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Die Fahrerin, wurde ihr klar. Diejenige, die den Lastwagen hergefahren hatte – an diesen verhängnisvollen Ort. »Die Verräterin hat den Weg des Königs verschmäht«, verkündete Dr. Enwright. »Ein eindeutiger Schuldbeweis.« Heather half den anderen beiden, die Claire jetzt packten. »Verdammte hirnlose Idioten!«, schluchzte sie, doch ihre Peiniger ignorierten ihre Worte, zerrten ihr die Hände hinter den Rücken und banden sie mit Stricken zusammen. Dann schleppten sie sie auf die andere Seite der Eiche, wo sie mehrere derart entsetzliche Utensilien sah, dass ihr im ersten Moment gar nicht klar wurde, was es damit auf sich hatte: eine Schlinge, die aussah, als wäre sie aus orangefarbener Seide gebunden, und die von einem der niedrigeren Äste herabhing; direkt darunter ein dreibeiniger Hocker; an einer Seite des Hockers ein aufgebockter Tisch, auf dem diverse glänzende Instrumente bereitlagen – Messer, große Scheren und Hackbeile, ein großer Vorschlaghammer, und, was noch Furcht einflößender war, eine aufrecht an den Tisch gelehnte Zwei-Mann-Säge mit Haltegriffen an beiden Seiten und einem eineinhalb Meter langen, stählernen gezackten Sägeblatt. Bevor Claire dem Entsetzen, das sie bei diesem Anblick erfasste, Ausdruck verleihen konnte, rief jemand »Dr. Enwright!«, und eine weitere Gestalt kam um den Baum geschossen. Es war Arnie, der völlig außer Atem war. »Was ist passiert?«, fragte Enwright. »Wir haben schon vor einer Viertelstunde mit ihr gerechnet.« Arnie bedachte Claire mit einem finsteren Blick. »Sie ist mir abgehauen.« »Dann ist es also pures Glück, dass sie überhaupt hier ist?« »Er hat versucht, mich zu vergewaltigen«, sagte Claire. »Er interessiert sich nicht für Ihr bescheuertes Spiel.« »Wenn das wahr wäre, wäre ich ja wohl nicht hier«, entgegnete Arnie. Dann wandte er sich wieder seinem Mentor zu: »Wir haben ein Problem. Ein paar Hundert Meter von hier hat ein Auto auf dem Seitenstreifen angehalten. Ich habe es eben gerade auf meinem Weg hierher gesehen.« Es folgte Schweigen, während sie die Neuigkeit sacken ließen. Enwright wirkte keinesfalls alarmiert oder beunruhigt, sondern eher ernüchtert. »In welcher Richtung?«, fragte er. Arnie zeigte es ihm. Enwright schnaubte verächtlich. »Wahrscheinlich ein Liebespaar.« »Hier draußen im Nirwana?«, entgegnete Arnie. »Ist ja auch egal. Zwischen hier und der Stelle, an der du den Wagen gesehen hast, ist dichter Wald. Sie können uns nicht sehen.« »Und wenn es die Polizei ist? »Schalte dein Hirn ein, Arnold! Wie sollte es wohl die Polizei sein?« »Was ist, wenn einer von den anderen gequatscht hat?« »Das ist ausgeschlossen.« »Sind Sie sich da sicher?«, platzte Claire heraus. »Immerhin sind es Kinder, die Sie dazu gebracht haben, die Drecksarbeit für Sie zu erledigen … Vertrauen Sie ihnen wirklich uneingeschränkt?« Enwright lächelte. »Heather, verpass dieser verräterischen Schlampe einen Maulkorb!« Claire schrie und wehrte sich, als das Mädchen ihr ein Heftpflaster über den Mund klebte, ein Tuch darüber legte, es stramm zog und hinter ihrem Kopf verknotete. Doch noch während sie dabei war, drang ein fernes stakkatoartiges Rattern zu ihnen. Sie sahen hoch zum Himmel. »Ein Hubschrauber!«, rief Arnie und rannte auf das Gatter zu. »Unter die Bäume!« »Bleib, wo du bist!«, wies Enwright ihn so scharf zurecht, dass Arnie wie angewurzelt stehen blieb. »Ihr verdammten kleinen Idioten! Habt ihr denn gar nichts begriffen?« »Sie haben recht, wir sind in der Tat Idioten«, jammerte Arnie. »Mit diesen verdammten Riesenfeuern haben wir die Bullen direkt zu uns geführt.« »Sie haben Wärmekameras. Sie finden euch sowieso.« »Dann sehen wir am besten zu, dass wir abhauen!« »Kommt gar nicht infrage! Wir haben es doch wohl nicht so weit geschafft, um dann davonzurennen wie die Hasen.« Enwright drehte sich zu dem Rest seiner Truppe um. »Wir machen weiter wie geplant.« Claire setzte sich wieder zur Wehr, doch mit ihren gefesselten Händen konnte sie nicht viel ausrichten, als ihre Entführer erneut über sie herfielen und ihr mit einem Gürtel auch noch die Beine zusammenbanden. Nur Arnie machte nicht mit. Er wich langsam zurück. »Dr. Enwright … Wir haben keine Zeit mehr, das hier durchzuziehen! Sehen Sie denn nicht … Ich habe von Anfang an gesagt, dass dieses Vorhaben zu aufwendig ist … und wir froh sein können, wenn wir anschließend überhaupt davonkommen.« »Davonkommen?« Enwright schnaubte verächtlich. »Hast du es denn immer noch nicht kapiert, Arnold? Das Ganze war von Anfang an eine Einbahnstraße.« Das Schild war nur kniehoch, sodass Heck sich bücken musste, um es mit seiner Taschenlampe zu inspizieren. Hier fiel William Hamilton, 2. Duke von Hamilton. Er richtete sich wieder auf und war dabei auch nicht schlauer als vorher. Ein paar Meter entfernt und in der Dunkelheit nahezu unsichtbar, stand Charlie Finnegan und telefonierte mit der Leitzentrale der Polizeiwache Castle Street. »Tut mir leid, Sir, die exakten Koordinaten kann ich Ihnen nicht nennen. Also … wir haben keine richtige Karte. Ja, ich kann India 99 hören. Habe ihn aber noch nicht gesehen …« Heck ging über die Wiese zurück zu dem flachen Graben und trat über ihn hinweg auf den Seitenstreifen, auf dem sein VW Golf stand. Worthington saß immer noch in Handschellen an Police Constable Mapling gefesselt auf der Rückbank. Heck beugte sich durchs Fenster in den Wagen und fragte: »Bist du sicher, dass ihr hier geparkt habt?« Worthington zuckte mit den Schultern. »Wir haben an vielen Stellen angehalten, aber ich glaube, unter anderem auch hier. Wir sind kilometerweit marschiert, das weiß ich noch. Wir haben Schilder aufgestellt und anderes Zeug. Keine richtigen Schilder, nur Requisiten. Dr. Enwright hat gesagt, sie seien Teil der Inszenierung.« Inszenierung, dachte Heck verdrossen. Es tröstete ihn nicht, dass ihm nun bewusst wurde, wie nah dran er mit seiner allerersten Einschätzung dieser Morde gewesen war. »Die Kollegen aus Worcester glauben, in etwa zu wissen, wo wir sind«, sagte Finnegan und trat ebenfalls über den Graben. »Sie haben Verstärkung für uns und Hunde. Am besten warten wir also einfach. Sobald der Hubschrauber uns gesichtet hat, wird hier Hochbetrieb herrschen.« Heck war verzweifelt und hilflos. Soweit er es beurteilen konnte, verblasste das Rattern der Rotorblätter des Hubschraubers. »Für mich klingt es so, als ob er in die falsche Richtung fliegen würde.« »Er kreist. Sie suchen offenbar nach einem bestimmten System.« »Dann gelten wir also offiziell als verschollen. Ist ja großartig!« Claire war mit ihren Kräften am Ende, doch sie wehrte sich mit jedem Fünkchen Lebenswillen, das noch in ihr steckte, als sie sie zu dem selbst gebauten Galgen schleppten. Da ihre Hände und Beine gefesselt waren, konnte sie sich nur noch winden, doch zweimal gelang es ihr, sich zu befreien, wobei sie beide Male auf dem Boden landete. Sie zerrten sie, zunehmend wütend, brutal wieder hoch. Heather, Luke und Susan erledigten den größten Teil der Arbeit, während Jasmine ihnen mit ihrer Schrotflinte Deckung gab. Arnie hielt sich nach wie vor im Hintergrund und blickte nervös zu den Wiesen jenseits der Eiche. »Sperr deine Ohren auf, Arnold!«, sagte Enwright. »Dann hörst du, dass der Hubschrauber verschwunden ist.« »Wir sollten auch verschwinden … solange wir noch können. Sie werden Straßensperren errichten.« »Na und?«, fuhr Jasmine ihn an. »Gareth hat für uns den Kopf hingehalten. Wollen wir sein Opfer einfach so vertun?« Enwright lächelte Arnie im Schein des Feuers an, seine behandschuhten Hände hatte er gefaltet. Sein Gesichtsausdruck war beinahe liebevoll, und erneut spiegelten sich die lodernden Flammen leuchtend auf seinen Brillengläsern. »Selbst Jesus hatte einen zweifelnden Thomas im Kreis seiner Jünger. Doch am Ende wurde auch dieser kleinmütige Heilige bekehrt. Er starb durch die Lanze eines gottlosen Potentaten.« »Wir sind keine Heiligen«, entgegnete Arnie und wich weiter zurück. »Und ich werde mich von niemandem töten lassen.« In dem Moment brummte ein Auto auf der nahe gelegenen Straße vorbei. Alle unterbrachen abrupt, was sie gerade taten, als sie den Wagen durch die Bäume vorbeifahren sahen und einen flüchtigen Blick auf die weiße Karosserie, die dicken schwarzen Gitter vor den Fenstern und den schwarzen Schriftzug »POLIZEI« erhaschten. Der Wagen fuhr die schmale Straße weiter, das Dröhnen des Motors verblasste, doch für Arnie war es zu viel. »Scheiße!«, rief er. »Scheiße, Scheiße, Scheiße! Wir müssen hier weg!« Doch anstatt das Weite zu suchen, machte er nur ein paar große Schritte. »Wo willst du hin?«, fragte Jasmine. »Sie haben mich dazu gebracht, das hier zu tun!« Arnie zeigte mit dem Finger auf Enwright. »Sie haben mich reingelegt! Mir reicht’s!« Mit diesen Worten drehte er sich um und wollte davonstürmen, doch er stolperte – und das hielt ihn auf. Mit fataler Folge. Auf Enwrights Nicken drückte Jasmine ab. Heck und Finnegan, die immer noch neben dem Wagen standen, wirbelten herum. Finnegan ließ sein Telefon sinken. Er war gerade im Begriff gewesen, erneut die Leitzentrale in Worcester anzurufen und darüber zu informieren, dass soeben eine schnell fahrende Polizeistreife in der Dunkelheit an ihnen vorbeigefahren war, ohne anzuhalten, und jetzt in die völlig falsche Richtung weiterfuhr, als Heck und er den Schuss gehört hatten – aus relativ kurzer Entfernung. »Dieses Geräusch gefällt mir gar nicht«, murmelte Finnegan. »Mir auch nicht«, sagte Heck. Er riss die Fahrertür auf, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und warf ihn nach hinten, wo Police Constable Mapling ihn fing. »Sie sind für die beiden verantwortlich«, wies er den Polizisten an. »Wenn das Ganze hässlich wird, schaffen Sie sie so schnell wie möglich von hier weg.« Mapling nickte, doch sein Ausdruck ließ erkennen, dass diese Aussicht ihn nicht gerade begeisterte. »In der Zwischenzeit …«, Heck hielt ihm seine leere Hand hin, »muss ich mir Ihren Schlagstock und Ihr Tränengas ausleihen.« »Was hast du vor?«, fragte Finnegan, als Heck das Tränengasspray einsteckte und den Teleskopschlagstock auf seine volle Länge von knapp einem halben Meter ausfuhr. »Du meinst, was haben wir vor.« Er stieg wieder zurück über den Graben. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«, entgegnete Finnegan und folgte ihm widerwillig. Heck machte sich auf den Weg über die Wiese. »Wir sehen nach, was da los ist.« »Aber sie sind eindeutig bewaffnet.« »Mal nachzusehen wird niemandem schaden. Aber wenn du ein Problem damit hast – hier …« Finnegan nahm den Schlagstock entgegen, den Heck ihm reichte, und rief schnell die Leitzentrale in Worcester an. »Sagen Sie Ihren verdammten Dorftrotteln, dass sie sofort umdrehen und zurückkommen sollen!«, wies er seinen Gesprächspartner barsch an. »Sie fahren in die falsche Richtung! Nein, es ist mir scheißegal, mit wem ich spreche … Wir brauchen bewaffnete Unterstützung, und zwar sofort!« »Hör auf mit dem Scheiß, Charlie!«, zischte Heck. »Du verrätst den Arschlöchern nur, dass wir hier sind.« »Das wissen sie vermutlich längst«, murmelte Finnegan. »Was ist das für ein Licht?« Sie waren in ein Wäldchen mit spärlichem Baumbestand vorgedrungen und standen bis zu den Knien in junger Frühlingsvegetation. Der rötliche Schein, der von einem Feuer herzurühren schien, war jetzt etwa hundert Meter vor ihnen über das Weißdorndickicht hinweg zu sehen. Heck antwortete nicht, sondern fischte sein eigenes Handy aus seiner Tasche und hackte schnell eine Nummer in die Tastatur. »Ja … Eric«, murmelte er. »Ich kann nicht lauter sprechen. Es ist mir egal, ob der Deputy Chief Constable schon da ist oder noch nicht. Sag mir, wie weit du bist … schnell!« Sie machten sich nicht die Mühe nachzusehen, ob Arnie tot war. Selbst wenn er noch lebte, spielte es keine Rolle: Er würde nirgendwohin verschwinden. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, von seinem Rücken war nur noch eine einzige Masse aus zerfetztem, schwelendem Fleisch übrig. Sie hatten alle Hände voll damit zu tun, die sich wehrende Claire auf den dreibeinigen Hocker zu hieven, doch schließlich gelang es ihnen, ihre Füße daraufzustellen. Sie wand sich immer noch und kämpfte, wenn auch schwach und erschöpft, gegen die Hände an, die sie festhielten. Es war erstaunlich, wie plötzlich alles andere in ihrem Leben bedeutungslos war. All die normalen kleinen Sorgen: fällige Rechnungen, Hypothekenraten, die Autoversicherung – nichts von alledem spielte noch irgendeine Rolle. Irgendwo ganz in der Nähe schrillte ein Handy. Enwright und sein jugendliches Gefolge erstarrten und spähten in das Wäldchen etwa hundert Meter zu ihrer Linken. Die kurze Ablenkung war genau das, was Claire brauchte: Sie sprang von dem Hocker herunter und warf sich der Länge nach auf den Boden. »Mr Stapleton!«, blaffte Enwright. »Miss Cavanagh! Seht nach, was da los ist! Und kümmert euch darum!« Während Luke und Susan davoneilten und aus dem Blickfeld der anderen entschwanden, kämpften die beiden verbliebenen Mädchen – Jasmine und Heather – mit Claire, die zwar flach am Boden lag, aber versuchte wegzurollen. Heather fluchte und schlug brutal auf sie ein. Über ihnen schwang die orangefarbene Seidenschlinge wie wild hin und her. Wenn Heck und Finnegan nicht gut zwanzig Meter voneinander entfernt gewesen wären, als Finnegans Handy erneut klingelte – auf voller Lautstärke –, hätte Heck ihm wahrscheinlich eine reingehauen. »Die Leitzentrale Worcester«, sagte Finnegan in normaler Lautstärke. »Stell das verdammte Ding aus!«, zischte Heck ihm zu. Finnegan folgte der Aufforderung und ließ das Handy in seiner Tasche verschwinden. Der Farn, durch den sie stapften, war mit Dornengestrüpp durchsetzt, was ihr Vorankommen massiv behinderte. Zwischen den Weißdornsträuchern herrschte absolute Finsternis, doch durch die auseinanderstehenden Zweige vor ihnen sahen sie deutlich den Schein von Flammen. Heck hörte etwas, das wie unterdrückte Stimmen klang. Er wollte losstürmen und zum Angriff übergehen, doch ein weiteres Mal riet ihm sein Bauchgefühl, auf der Hut zu sein. Er blickte erst nach links und dann nach rechts, wo er weiteres Gestrüpp und weitere dichte Weißdornsträucher sah – und in dem Moment erspähte er eine Gestalt mit Kapuze, die sich direkt hinter Finnegan leise aus dem Farn erhob. Bevor er ihn warnen konnte, war etwas, das wie ein großer Vorschlaghammer aussah, in die hinteren Rippen des Detective Constables gekracht; dessen Knie gaben nach, und er stürzte nach Luft japsend vornüber. Der zweite Schlag, diesmal mit vollem Schwung von unten ausgeführt, traf ihn am Hinterkopf. Heck wäre ihm zu Hilfe geeilt, doch inzwischen war eine zweite Gestalt aufgetaucht – direkt vor ihm. Heck erhaschte einen flüchtigen Blick auf einen Tarnanzug und ein über die untere Gesichtshälfte gezogenes Tuch. Der Angreifer war zierlich gebaut, doch das machte ihn auch geschmeidig. Bedeutsamer war jedoch das glänzende stählerne Hackbeil, mit dem der Angreifer zu einem vernichtenden Schlag ausholte. Mit vereinten Kräften hatten Jasmine und Heather es schließlich geschafft, ihr Opfer hochzuhieven und Claire aufrecht auf dem Hocker unter dem Galgen zu positionieren. Unter Aufgebot all ihrer Kräfte gelang es ihnen, Claire festzuhalten, während Enwright ihr die seidene Schlinge um den Hals legte. Er reagierte nicht auf die Kampfgeräusche, die aus dem nahe gelegenen Wäldchen herüberdrangen. »Orange ist Ihre Farbe«, stellte er sachlich fest und zog die Schlinge um ihren Hals zu. Claire konnte noch atmen, aber nur äußerst flach. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr wehren. Sie musste absolut still stehen und ihr Gleichgewicht halten, was nicht einfach war, denn selbst als Heather und Jasmine zurücktraten, spürte sie, wie der Hocker sich unter ihrem Gewicht bewegte, als dessen Beine auf der einen Seite in den weichen Untergrund der Wiese einsanken. »Sie haben hart gekämpft«, sagte Enwright anerkennend. »Sie haben sich Ihre orangefarbene Schärpe der Parlamentarier redlich verdient.« Heck war dem ersten und dem zweiten Schlag mit dem Hackbeil ausgewichen, doch jetzt verhedderten sich seine Beine in den Ranken des Dornengestrüpps, und er kippte nach hinten und landete der Länge nach im Farn. Die mit einer Kapuze vermummte Gestalt stürzte sich auf ihn, entschlossen, den Vorteil zu nutzen, und drückte ihm mit beiden Händen die Klinge des Hackbeils gegen die Kehle. Nur Hecks linker Ellbogen hinderte den Angreifer daran, ihm die Klinge mit der Wucht einer Guillotine in den Hals zu stoßen. Der Angreifer war drahtig und kräftig, aber jung und unerfahren: Obwohl die beiden mehrere Sekunden lang keuchend Nase an Nase verharrten und sich gegenseitig mit Schweiß und Speichel eindeckten, schaffte Heck es irgendwie, mit der rechten Hand das Tränengasspray aus seiner Tasche zu ziehen und den gesamten Inhalt der Dose in die fanatischen, wütend funkelnden Augen zu sprühen. Der Jugendliche schnellte keuchend und würgend nach hinten, dann löste er sich von Heck, rollte weg und tastete mit seinen behandschuhten Fingern sein Gesicht ab. Heck rollte hinter ihm her, rappelte sich hoch und verpasste ihm zwei rasch aufeinanderfolgende Schläge: einen mit links in die Magengrube und einen mit rechts auf die Seite des Kiefers. Dann wirbelte er herum – gerade rechtzeitig. Der andere Angreifer kam zehn Meter vor ihm stolpernd zum Stehen, in der einen Hand den Hammer, in der anderen den Schlagstock. Sie starrten einander schwer atmend über die dunkle Lichtung hinweg an. Selbst in der Düsternis erkannte Heck, dass sein Gegenüber weiblich war. Die Jugendliche steckte ebenfalls in einem unförmigen wasserdichten Overall, doch ihre Kapuze war hinten heruntergerutscht, darunter trug sie eine Wollmütze, unter der zottelige lange braune Haarsträhnen hervorhingen. Sie hatte sich ein Tuch um den Mund gebunden, doch ihre Augen funkelten wild und gefährlich, auf ihrer Stirn stand Angstschweiß. »Und wer bist du?«, fragte Heck. »Heather oder Susan? Ich heiße Mark. Und nein, ich erzähle dir das nicht, damit ich dir gegenüber menschlicher erscheine … um dich davon abzuhalten, mich anzugreifen. Ich will nur, dass du weißt, wer dich gleich bewusstlos schlägt, wenn du diese verdammten Waffen nicht auf der Stelle fallen lässt.« Sie riss die Augen noch weiter auf – als ob sie es nicht fassen könnte, dass jemand so mit ihr sprach. Dann traf sie eine Entscheidung, schleuderte ihm den Teleskopschlagstock entgegen und rannte weg. Der Schlagstock wirbelte durch die Luft. Heck wehrte ihn mit dem Unterarm ab, doch er traf ihn mit schmerzender Wucht. Anstatt sofort die Verfolgung aufzunehmen, taumelte er erst einmal hinüber zu dem platt auf dem Bauch am Boden liegenden Finnegan, hockte sich neben ihn und fühlte nach Vitalzeichen. Der Idiot war bewusstlos, aber er atmete. Der Junge, dem Heck das Tränengas ins Gesicht gesprüht hatte, rollte sich stöhnend auf die Seite – und japste sofort wieder nach Luft. »Scheiße!«, stöhnte er mit belegter Stimme. »Meine Augen!« »Das ist gar nichts im Vergleich dazu, wie sich dein Arschloch nach einem Jahr Knast im Trakt der Lebenslänglichen anfühlen wird«, stellte Heck fest und ging zu ihm hinüber. »Ich kann nichts sehen …« »Lass die Augen zu, und hör auf zu reiben.« Er drehte den außer Gefecht gesetzten Jungen um, drückte ihn mit einem Knie auf den Boden, zog ihm den linken Arm und das rechte Bein hinter den Rücken und fesselte Handgelenk und Fußknöchel mit Handschellen aneinander. »Das Brennen lässt in einer Stunde oder so nach.« »In eine Stunde … oh mein Gott!« »Damit fangen deine Probleme erst an, Junge.« Heck richtete sich wieder auf, holte das Handy aus seiner Tasche und hackte eine Nummer in die Tastatur. »Eric, bist du so weit?« »Ich habe mein Bestes versucht«, entgegnete Fisher, der schreien musste, um sich über ein Stimmengewirr hinweg verständlich zu machen. »Wollen wir hoffen, dass es gut genug ist.« Heck kämpfte sich durch das Dickicht in Richtung des Feuerscheins vor. »Und stell den Lärm ab! Ist mir scheißegal, wer da rumkrakeelt, und wenn es der Innenminister persönlich ist! Dieser Krach versaut uns noch alles!« Als er voll in den Schein des Feuers trat, nahm er das Handy von seinem Ohr. Er war auf etwas Schockierendes gefasst, doch selbst nach allem, was bisher schon passiert war, vielleicht doch nicht auf eine derart erschütternde Szenerie wie die, die sich ihm jetzt bot. Ein paar Meter vor ihm zu seiner Rechten lag die Leiche eines jungen Mannes mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, Fleisch- und Muskelteile quollen aus seinem Rücken hervor, ein einziges Mischmasch aus gebrochenen Knochen und zerfetzten Organen. Noch schlimmer aber war: Vielleicht dreißig Meter entfernt balancierte Claire mit einer orangefarbenen Schlinge um den Hals, die über ihr am Ast einer Eiche festgebunden war, auf einem schräg stehenden Hocker. Ihr zerfetztes rituelles Kostüm verstärkte die grauenvolle Szene noch. Neben ihr standen vier Gestalten, die offenbar auf ihn gewartet hatten. Drei von ihnen waren Mädchen, darunter auch jenes, das ihn soeben attackiert hatte und immer noch den Vorschlaghammer schwang, und die Blondine, Jasmine Sinclair, die eine weitere dieser abgesägten Schrotflinten in den Händen hielt. Die vierte Gestalt war natürlich Dr. Enwright. »Ich habe doch gesagt, dass er allein ist«, stellte das große Mädchen klar. Sie hatte das Tuch vor ihrem Mund weggerissen und offenbarte ein ungewöhnlich längliches Gesicht. »Bewaffnet ist er auch nicht.« »Es ist aus, Enwright«, stellte Heck klar. »Das ist Ihnen sicher klar, oder?« Er bemühte sich, nicht zu Claire hinüberzusehen, obwohl unverkennbar war, dass sie nur aus blankem Entsetzen in ihrer steifen Haltung ausharrte. Selbst aus dieser Entfernung sah er, dass sie kaum den Schweiß wegzublinzeln wagte, der ihr unaufhörlich in die Augen rann. »Schön, Sie wiederzusehen, Sergeant«, sagte Enwright und bedachte Heck ein weiteres Mal mit seinem katzenartigen Lächeln. »Im Moment bin ich vielleicht allein«, teilte Heck ihm mit, »aber während wir hier reden, ist die Verstärkung schon auf dem Weg.« Enwright zuckte mit den Schultern. »Gefasst und verhaftet zu werden war immer Teil dieser ganzen Nummer.« »Tun Sie doch nicht so! Wenn Sie keine Angst haben, zeigt das doch nur, wie gestört Sie sind. Aber es steht Ihnen ins Gesicht geschrieben … Sie wissen, dass das Spiel aus ist, und machen sich vor Schiss in die Hose.« In Wahrheit konnte Heck so etwas nicht im Geringsten erkennen. Enwright lächelte immer noch – auf seiner Stirn zeichnete sich nicht einmal ein Kräuseln ab. Aber er war zweifellos unergründlich. Hinter seiner Fassade konnte alles Mögliche vorgehen. »Vielleicht war es Teil der Nummer, dass diese Jugendlichen geschnappt werden würden, aber ich gehe jede Wette ein, dass Sie sich selber ein Schlupfloch vorbereitet haben. Nur interessehalber: Welche Hirnwäschetechniken haben Sie bei den Jugendlichen angewendet?« »Auf drastische Methoden wie Hirnwäsche kann man verzichten, wenn das Ziel, auf das man aus ist, ein würdiges ist«, entgegnete Enwright. »Aufrechte Menschen, insbesondere aufrechte junge Menschen, deren Sinn für Moral noch nicht von Zynismus und Eigeninteresse zersetzt ist, geben großartige Aktivisten ab. Das verstehen Sie nicht, Sergeant.« »Oh doch, ich verstehe das alles bestens. Sie haben Mörder aus ihnen gemacht. Mit voller Absicht.« »Als Mittel zum Zweck …« »Zum Selbstzweck!« Heck wandte seine Aufmerksamkeit den Mädchen zu. »Ihr wurdet verschaukelt … Das ist euch klar, oder?« Ihre Gesichter verharrten ausdruckslos, doch Jasmine legte die Schrotflinte an und zielte direkt auf Heck. Heck fuhr unbeirrt fort. »Dieser Mordmaskenball, den er aufgezogen hat, ist nicht mehr als eine Hasskampagne gegen eine Welt, die ihm nicht ausreichend Honig um den Bart geschmiert hat.« Enwright lachte, er klang wirklich amüsiert. »Lassen Sie mich raten, Sergeant. Die Polizei hat dafür gesorgt, dass Sie einen Abschluss in Psychologie machen, stimmt’s? Glückwunsch, aber Sie müssen Ihre Kenntnisse hier wirklich nicht zur Schau stellen.« »Die Stumpfsinnigkeit der britischen Kultur, von der er so viel redet, interessiert ihn einen Dreck. In Wahrheit freut sie ihn sogar … denn es bedeutet, dass die Menschen tief in ihrem Inneren nicht glücklich sind. Und dieser kleine Krieg, den ihr vom Zaun gebrochen habt, ist dazu bestimmt, dafür zu sorgen, dass sie es auch nie wieder werden. Aber nicht einmal das ist sein eigentliches Ziel …« »Genug jetzt! Sie wollen doch nur Zeit gewinnen«, unterbrach ihn Enwright und ging auf den Hocker zu, auf dem Claire stand. »Wir wollen den Royal Oak Day mit Glanz und Gloria feiern, auch wenn wir sechsundzwanzig Tage zu früh dran sind. Sie haben die Ehre, unserer Feier beiwohnen zu dürfen, Sergeant. Sollten Sie jedoch versuchen, uns zu stören, pustet Jasmine Ihnen den Schädel weg.« »Wenn ihr meinen Worten nicht glaubt, Mädels«, rief Heck, hielt sein Handy hoch und drückte auf die Lautsprechertaste, »hört euch an, was dieser Mann selbst zu sagen hat.« Jasmine behielt ihn unbeirrt im Auge, während die anderen beiden Mädchen sich abgewandt hatten, um sich ihrer Gefangenen zu widmen. Und dann hörten sie die Stimme. Die Stimme war blechern und verzerrt, aber es war unverkennbar die von Dr. Enwright, und sie hallte aus Hecks Handy über die Wiese. »Arnold Wisby … seine Gesichtsverletzungen haben ihn zu einem lächerlichen Clown gemacht.« Die Köpfe von Susan und Heather schossen herum. Enwright selbst wirkte kurz perplex, als ob er Zeuge von etwas würde, was einfach nicht geschehen konnte. Nur Jasmine blieb ungerührt und behielt Heck über den oberen Lauf der Flinte hinweg im Visier. »Kein Wunder, dass er kein Selbstwertgefühl hat. Wo auch immer er sich hat sehen lassen, wurde er verspottet. Es wird nicht schwer sein, ein hohes Maß an Kontrolle über ihn auszuüben. Ein durch Isolation traumatisiertes Kind ist immer darauf bedacht, anderen zu gefallen …« Plötzlich ertönte aus dem Handy lautes statisches Rauschen, eine elektronische Störung – wie ein krächzendes Klagelied. Eric Fisher hatte gesagt, dass er, was den Zusammenschnitt von Audiodateien anging, nicht gerade ein Experte sei. Enwright schien die Fassung wiedergewonnen zu haben. Er trat vor, blieb stehen und bedachte Heck mit so einem hasserfüllten Blick, dass er für einen Augenblick von animalischen Trieben gesteuert zu sein schien. »Knall ihn einfach ab, Jasmine. Dieser aufdringliche Idiot hat seine Chance gehabt.« »Jasmine ist von Natur aus ein schönes Kind«, fuhr Enwrights elektronischer Zwilling fort. Der eiskalte Blick der hübschen Schülerin war immer noch auf Heck geheftet, doch auf einmal sah sie ihn nicht mehr. »Man hätte nie erwartet, dass sie eine Außenseiterin ist …« »Das sind meine Privatdateien«, stellte Enwright hastig klar, »mit Informationen, die ich in meiner Funktion als Schulseelsorger zusammengetragen habe.« »Aber ihre Emotionen sind ein einziges Trümmerfeld. Sie wurde mehrfach von ihrem Stiefvater vergewaltigt und hat ihr neues Leben im Internat als eine Erlösung begriffen … doch es fiel ihr schwer, Anschluss zu finden. Ihr gutes Aussehen und ihre femininen Züge waren ihr wie ein Klotz am Bein. Misshandelte Frauen streben oft danach, ihre Attraktivität zu mindern, sie schneiden sich die Haare ab, verschmähen Pflegeprodukte …« »Wenn du es nicht tust, tu ich es«, stellte Enwright klar und langte nach dem Gewehr, doch Jasmine rückte von ihm ab. Sie hatte Heck zwar immer noch im Visier, doch sie hörte aufmerksam zu. »Jasmine kapselt sich ab. Sie verweigert die Teilnahme an jeglicher Form sozialen Zusammenlebens. Doch sie ist ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen … Es wird einfacher sein, sie sich durch Gareth gefügig zu machen, dem am besten aussehenden Jungen der Schule. Natürlich wird er sie nicht anrühren, bevor sie so weit ist … Er hat vor allem eine fürsorgliche Rolle zu übernehmen, keine sexuelle. Wobei der Sex kommen wird, und auch dieser wird einen Zweck erfüllen …« Es folgte ein erneutes statisches Rauschen. Heck starrte angespannt in die Mündung der Schrotflinte. Es war unmöglich, Jasmines Miene zu deuten, doch auf Enwrights Gesicht glänzten Schweißperlen. »Diejenigen, die darauf brennen, gebraucht zu werden, die unbedingt dazugehören wollen … muss man integrieren, ihnen das Gefühl geben, etwas wert zu sein. Erst dann kann man ihre Persönlichkeit brechen …« »Hört ihr das?«, rief Heck. »Kinder gegenüber jeglicher Art von Leid unempfindlich zu machen ist nie einfach, doch bei diesen besonderen Exemplaren …« »Habt ihr das gehört?« »… wird es leichter gelingen als normalerweise bei anderen, weil sie alle ihr Leben lang nichts als Leid kennengelernt haben. Heather Greer ist eindeutig lesbisch, wobei ihr das noch nicht klar ist, und wenn doch, will sie es nicht wahrhaben – eine Form der Selbstverachtung, die ihr durch ihre unnahbare erzkonservative Familie auferlegt wurde.« »Das stimmt nicht!«, platzte Heather heraus, ohne genau zu wissen, wem ihre Worte überhaupt galten. »Sie versteht nicht, warum sie sich nicht zu Jungen hingezogen fühlt, und verhält sich in dem ewigen Spiel gegenseitiger Neckereien und Sticheleien zwischen Jungen und Mädchen infolgedessen abweisend. Das Gleiche gilt für Susan Cavanagh … ein hässliches plumpes Mädchen, das von seinen Klassenkameraden ›dumme Nuss‹ genannt wird. Sie verachtet die Kultur der Anbetung weiblicher Sexikonen, Glamourmodels und Möchtegernberühmtheiten mit ihren vorgeblichen Vorzügen – und dazu die seelenlose Gesellschaft, die diese Ikonen vergöttert …« Susan stand stocksteif da, ihr Gesicht war erstarrt. »Ich habe diese Aufzeichnungen in meiner Funktion als Betreuer gemacht«, insistierte Enwright. »Ein toller Betreuer«, erwiderte Heck scharf. Doch jetzt legte sich Jasmines Finger wieder enger um den Abzug, wobei ihr Gesicht wutverzerrt war. »Das ist doch«, brachte sie stammelnd hervor, »das ist doch irgendein Trick …« »Genau«, stimmte Enwright ihr zu. »Es ist ein Trick.« »Ach ja?«, entgegnete Heck. »Die Aufzeichnungen reichen zurück bis zu Ihren Anfängen in der St Bardolph’s Academy.« »Wie einfach es ist, diese Kreaturen zu überzeugen, dass Großbritannien, ein Land, mit dem sie nichts am Hut haben, eine spirituelle Wüste ist, in der die Sünde belohnt wird und Werte nichts zählen. Die Religion wird ein Problem darstellen. ›Du sollst nicht töten‹, heißt es in der Bibel …« Heck ging auf das blonde Mädchen zu. »Gib mir die Flinte, na los.« »Zurück!«, fuhr sie ihn an. »Doch über religiöse Bedenken wurde auch früher schon hinweggesehen. Christen haben Mordanschläge auf Nichtchristen verübt. Das Gleiche gilt für Juden und Muslime. Es geschah, weil die Angreifer ihre Opfer als böse betrachtet haben. Oder als Unschuldige, die im Dienste eine guten Sache sterben müssen …« »Erschieß ihn!«, drängte Enwright sie. »Dieser Mann ist hierhergekommen, um uns zu zerstören.« »Es geht immer alles um die Sache. Egal, welche.« »Egal, welche, Jasmine?«, sagte Heck. »Was heißt das genau?« Es folgte ein weiteres statisches Rauschen, und dann nahm Enwrights Stimme die Tonlage und die selbstgewisse Bestimmtheit eines Befehlshabers an: »Wir müssen die Welt daran erinnern, dass die Dinge in der Vergangenheit besser waren, dass es ein Goldenes Zeitalter des Glaubens gab … in dem die Gemeinschaft zählte, die Menschen ein einfaches und gesundes Leben geführt und sich an harmlosen Vergnügungen erfreut haben. Das gute alte England! Die größte Bedrohung einer Wiederherstellung dieser guten alten Zeit sind unsere modernen Ketzer, die Gedankenlosen, die Gottlosen, die an nichts anderes glauben als an ihr eigenes Vergnügen …« Die Stimme ging in ein verschlagenes, flötendes Kichern über. »Was für ein Geschwätz! Gutes altes England … was für ein Quatsch!« Heck beobachtete, wie die Mädchen reagierten. Sie lauschten mit ungläubigen Gesichtern, Jasmine eingeschlossen. »Ein Glaube wie jeder x-beliebige andere. Der die Partygänger zu den Feinden erklärt … So absurd, dass man sich das Ganze kaum ausdenken könnte. Aber es hat eine ernste Seite … Es wird das größte Experiment der Menschheitsgeschichte. Dagegen wird das Standford-Prison-Experiment nichts gewesen sein. Dieser enthusiastische Glaube kann auf der Basis des zusammenhangslosen Geschreibsels eines stümperhaften Horrorgeschichtenschreibers gegründet werden …« Weiteres statisches Rauschen, erneutes verschlagenes Kichern. »Aber sie sind reif dafür. Sie nicken, wenn ich ihnen sage, dass wir Exempel statuieren müssen. Niemand will töten, versichere ich ihnen, doch ich weiß jetzt schon, dass einigen von ihnen das Töten leichter fallen wird als anderen … Die Welt verachtet sie. Warum also nicht zurückschlagen?« »Wir waren ein Experiment?«, fragte Jasmine und drehte sich langsam zu ihrem Mentor um. »Im Ergebnis läuft es aufs Gleiche hinaus, Miss Sinclair«, erwiderte er. »Wir haben einer moralisch zugrunde gerichteten Welt gemeinsam ein paar kräftige Schläge verpasst.« »Wir waren ein Experiment?!« »Nicht mal ein echtes«, wagte Heck sich erneut vor. »Das alles ist nur seinem kranken Kontrollwahn entsprungen. Ihr seht doch wohl, dass er total verrückt ist!« »Halten Sie die Klappe!«, schrie sie. Ihre Gefühle entluden sich, sie wirbelte wieder zu ihm herum, zielte mit der Schrotflinte auf seinen Bauch – und merkte nicht, dass Enwright sich ebenfalls schnell drehte und ihr einen kräftigen Haken verpasste. Jasmine sackte zu Boden, und noch während sie fiel, riss Enwright ihr die Schrotflinte aus der Hand und wirbelte zu Heck herum, der nur zwanzig Meter entfernt von ihm stand und somit in bester Schussweite. »Grünschnäbel«, seufzte Enwright. »Sie versprechen so viel und halten so wenig.« Er zielte beiläufig, doch wie zuvor Jasmine sah er nichts von dem Schlag, der ihn von hinten erwischte. Er wurde mit einem Vorschlaghammer ausgeführt und traf ihn genau zwischen den Schulterblättern. Die Wucht des Aufpralls ging durch Mark und Bein, Enwright wurde grau im Gesicht, sackte auf die Knie und ließ die Flinte fallen. Heck stürzte sich darauf. Susan stand mit tränenüberströmtem Gesicht über ihrem am Boden liegenden Mentor, den Vorschlaghammer immer noch in erhobenen Händen haltend. »Sie verdammtes, verlogenes Arschloch!«, schrie sie zu ihm hinab, woraufhin Heather sie am Kragen packte und sie mit ähnlichen Obszönitäten beschimpfte. Heck schnappte sich die Flinte, rollte herum und sah, dass die beiden Mädchen miteinander kämpften. »Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?«, schrie Susan, doch Heather stieß sie zurück. Dabei stolperte sie und stieß gegen Claire. Ein splitterndes Knacken war zu hören. Ein Bein des Hockers knickte ab, und plötzlich baumelte Claire mit verzerrtem Gesicht zwischen Himmel und Erde. »Der Bulle ist der, der hier lügt!«, schrie Heather wie von Sinnen, zog ein Messer aus der Innentasche ihres Mantels, hob den Arm und war im Begriff, damit auf Heck loszugehen. »Er ist der wahre Lügner!« Heck, der immer noch am Boden lag, zielte. Er hatte nur einen Schuss, würde die Angreiferin jedoch problemlos treffen – doch dann hob er den Lauf ein wenig an und schoss über Heathers Kopf hinweg. Die orangefarbene Schlinge wurde sauber durchtrennt. Claire fiel auf den Boden. Heather schien dies zu spüren. Sie stürzte, wie eine Irre schreiend, die letzten Meter auf Heck zu, entschlossen, ihren Feind mit dem Messer aufzuschlitzen und zu zerhacken. In der Flinte waren keine Patronen mehr, aber sie war schwer, und als Heather keine drei Meter mehr von ihm entfernt war, schleuderte Heck sie ihr horizontal in den Bauch. Sie traf sie mit voller Wucht, und Heather krümmte sich. Dann fiel sie auf den Boden und würgte. Heck stapfte auf ihre Hand, sie ließ das Messer los, und er trat es weg. »Sie … Sie Mistkerl«, wimmerte sie. In ihrer Stimme mischten sich Schmerz und Wut. Heck blickte auf und sah, dass Susan auf halbem Weg zu dem Gatter war, als sie plötzlich von den Scheinwerferlichtern eines Autos erfasst wurde. Sie hielt taumelnd inne, und im gleichen Moment kam der Polizeitransporter, der vorher schon einmal vorbeigefahren war, auf der anderen Straßenseite schlingernd zum Stehen. Währenddessen lag Claire reglos auf dem Boden, die orangefarbene Seidenschlinge war fest um ihren Hals gezurrt. Heck taumelte zu ihr, nahm sie in die Arme und löste schnell die Schlinge. Darunter zeichnete sich ein grauenvoller rotblauer Striemen ab. Claire war weiß wie Alabaster und regte sich nicht. Er rief sie bei ihrem Namen, schlug ihr leicht auf die Wangen, und dann spürte er etwas Warmes auf seinem Gesicht und ließ den Kopf erleichtert sinken: Sie atmete. Gemma wachte einige Tage nach ihrer Operation in einem Einzelzimmer der chirurgischen Abteilung auf und ließ die Umgebung einen Moment auf sich einwirken. Die Sonne schien durch die halb geöffneten Jalousien, am Fußende ihres Bettes standen Blumensträuße, und neben ihr saß Heck und stopfte kernlose Weintrauben in sich hinein. Sie betrachtete ihn eine Weile. Etwas anderes als den Kopf konnte sie auch kaum bewegen, denn sie hatte überall Pflaster und Verbände, ihr rechter Arm und ihre rechte Schulter waren mit Orthesen fixiert. Außerdem hing sie noch am Tropf, über den ihr vermutlich das Anästhetikum und Nährstoffe zugeführt wurden, doch vielleicht war die Dosierung zu niedrig eingestellt, denn ihr tat vom Kopf bis zu den Zehenspitzen alles weh. »Das sind meine Weintrauben, das ist dir klar, oder?«, sagte Gemma schließlich und zuckte zusammen. »Ich weiß.« Er schob sich eine weitere in den Mund. »Und schmecken tun sie auch.« Er sah wie immer aus, als käme er gerade von einer langen Schicht: lose hängende Krawatte, offener Kragen, zerknittertes Jackett. »Wie’s aussieht, bist du diesmal der Einzige, der nichts abgekriegt hat«, stellte Gemma fest. »Nun mach mal halblang. Was ist denn bitte schön mit dem Hundebiss?« »Sei nicht so ein Weichei.« »Jedenfalls sind sie kämpfend untergegangen, so viel steht fest.« Sie dachte über die Worte nach. »Wir haben sie alle gekriegt, oder?« »Ja.« »Was ist mit Enwright?« Heck zuckte mit den Schultern. »Zwei gebrochene Wirbel, aber er kommt wieder auf die Beine. Abgesehen davon habe ich allerdings meine Zweifel, ob er je für vernehmungsfähig erachtet wird. Er ist noch nicht psychologisch untersucht worden, aber ich weiß nicht … Der Kerl ist doch total verrückt.« »Hauptsache, er wird weggesperrt.« »Ich denke, das steht außer Frage. Dem steht doch ›Broadmoor Hospital‹, Psychiatrie mit Hochsicherheitstrakt, auf die Stirn geschrieben.« »Und wie sieht die Schadensbilanz aus? Ich meine bei uns?« »Oh, ganz schön übel.« »Wen hat es am schlimmsten erwischt?« »Dich wahrscheinlich.« »Nicht Shawna?« »Es ist nicht so schlimm, wie wir zuerst befürchtet haben. Sie hat vor allem Splitter abbekommen. Sie wird ein paar Wochen lang nicht laufen können.« »Und was ist mit Gary?« »Der hat Kopfschmerzen.« »Und Andy Gregson?« »Hat schlimme Kopfschmerzen, ist aber auf dem Weg der Besserung.« »Und Garrickson und Finnegan?« »Spielt das eine Rolle?« »Also wirklich, Heck. Wie geht es Claire?« »Tja …« Er hielt inne, schürzte die Lippen und bemühte sich, angesichts der Beinahetragödie, die ihrer ehemaligen Pressesprecherin widerfahren war, nicht zu betrübt dreinzuschauen. »Sie ist verletzt und mitgenommen … sehr mitgenommen. Aber sie hat keinen bleibenden physischen Schaden davongetragen. Sie ist robuster, als sie aussieht.« »Eine Geschichte, die sie ihren Enkeln erzählen kann, was?«, sagte Gemma. »Ja … klar. Aber wir werden sie bei uns nicht wiedersehen. Ich nehme an, das weißt du, oder?« Gemma nickte und verzog vor Schmerz das Gesicht. »Ich … Ich hätte sie nie da hineinziehen dürfen.« »Wahrscheinlich wäre sie unter anderen Umständen mit nahezu allem klargekommen.« »Vielleicht.« Sie musterte ihn erneut. »Ich weiß ja, dass du gesagt hast, dass ihr nur gute Kollegen wart, aber irgendwie dachte ich, … na ja, dass aus euch noch was hätte werden können, wenn sie länger bei uns geblieben wäre.« »Hast du das gedacht oder gehofft?« »Ich habe es mich gefragt.« »Vielleicht.« Er setzte sein anzüglichstes Lächeln auf. »Du weißt doch, dass es für mich nur eine Frau gibt.« »Du versuchst wohl auszunutzen, dass ich so geschwächt bin, was?« Er betrachtete sie nachdenklich. Es war besorgniserregend, Gemma in so einem Zustand zu sehen. Sie war weiß wie ein Gespenst, die Ringe unter ihren Augen waren so dunkel, dass sie aussahen wie Blutergüsse. Für jemanden, der normalerweise Stärke und Leidenschaft ausstrahlte, wirkte sie beängstigend zerbrechlich, wie sie da so schwach lag, dass sie sich kaum bewegen konnte. Aber es war wichtig, sich an die Worte des Oberarztes zu erinnern, der ihr den Pfeil entfernt und gleichzeitig ihren rechten Arm gerettet hatte: »Ohne sie hätte ich es nicht geschafft. Die meisten Menschen hätten nicht mal den Schock überlebt. Sie ist eine echte Kämpferin.« »Du bist nie geschwächt«, sagte er. »Sieh dir zum Beispiel das hier an.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und entfaltete es. »Das ist eine Kopie des Memos, das Joe Wullerton, Direktor der National Crime Group, gestern ans Innenministerium geschickt hat.« Er las vor: »Angesichts des erfolgreichen Abschlusses dieser Ermittlung, aber auch im Hinblick auf die ausgesprochen hohe Zahl an Verletzten unter den Beamten des Dezernats für Serienverbrechen, dürfte außer Frage stehen, dass das Dezernat für Serienverbrechen weit davon entfernt ist, Steuergelder zu verschwenden. De facto leistet es für die Sicherheit des Landes unerlässliche Dienste, und dabei liegt ganz offensichtlich auf der Hand, dass das Dezernat unterbesetzt ist. Zudem verfügt es über unzureichende Mittel, und es mangelt ihm an logistischer Unterstützung. Deshalb empfehle ich dringend, alle Hebel in Bewegung zu setzen und das Dezernat personell und logistisch zu stärken, anstatt es zu schließen oder mit anderen Abteilungen zusammenzulegen, damit es auch in Zukunft seine wichtige Funktion erfüllen kann …« »Schön«, entgegnete Gemma und nickte, als hätte sie mit so etwas gerechnet. »Joe hat heute Morgen angerufen und gesagt, es sei noch zu früh, auf eine Reaktion zu drängen, aber die Zeichen stünden gut.« Sie nickte erneut zufrieden. »Ich dachte, du würdest vor Begeisterung durchs Zimmer springen und einen Freudentanz aufführen«, sagte Heck. »Tut mir leid, dafür bin ich ein bisschen zu unpässlich.« »Wer ist denn hier nun das Weichei?« »Heck, ich habe nachgedacht … Nachdem Des Palliser und Bob Hunter nicht mehr da sind, brauche ich dringend einen neuen Detective Inspector.« »Dürfte kein Problem sein, die Leute werden bei dir Schlange stehen.« Sie behielt ihren geduldigen Ton bei. »Du weißt genau, was ich sagen will.« »Natürlich.« Er lächelte wieder. »Und die Antwort lautet Nein. Ich bleibe lieber dein Minister ohne Geschäftsbereich.« »Aber du weißt, Sergeant Heckenburg … Du wirst niemals mehr an mich herankommen, wenn du nicht endlich anfängst, die Karriereleiter hochzuklettern.« »Wollen wir wetten, dass doch?« Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Stirn. »Ich muss los. Die Pflicht ruft.« »Dann bis später«, sagte sie, als er zur Tür ging. Auf dem Flur traf er Gemmas Mutter. Sie hängte gerade ihren Mantel in einer Garderobennische auf. Er hatte mal gehört, wenn man wissen wolle, wie eine Frau, auf die man ein Auge geworfen hatte, später einmal sein werde, müsse man sich nur deren Mutter ansehen. Wenn daran etwas Wahres war, standen die Zeichen für denjenigen, der mal bei Gemma Piper landen würde, gut. Melanie Piper war so groß wie ihre Tochter, genauso schlank, genauso hübsch und genauso blond, nur dass ihr blondes Haar ein wenig ins Silberne überging. Wie immer war sie mit ihrem Blumenkleid und ihren hockhackigen Sandaletten attraktiv gekleidet. »Hallo, Mrs Piper«, begrüßte Heck sie. »Wie oft habe ich dir das schon gesagt, Mark?«, entgegnete sie mahnend. »Ich heiße Mel. Aber egal, wie geht es unserem Mädchen denn heute?« »Nach so einer Verletzung würden die meisten Menschen gut sechs Wochen brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Gemma ist wahrscheinlich in gut sechs Tagen wieder fit.« »Ich werde dafür sorgen, dass sie keine Dummheiten macht – und zum Beispiel zu früh wieder anfängt zu arbeiten.« »Ich denke, die Versicherung würde ihr sicher Ärger machen, wenn sie nicht wartet, bis sie gesundgeschrieben ist.« »Und wie geht es dir, Mark?« »Ganz okay … gut.« Sie musterte ihn argwöhnisch. »Was für ein haarsträubender Fall.« »Das bringt unser Job so mit sich.« »Weißt du was? Du und Gemma – ihr solltet zusammen sein. Es würde euch stärker machen.« Er zuckte mit den Schultern und lächelte. »Wir sind doch beide schon ganz schön stark.« »Ich sagte ›stärker‹.« »Vielleicht.« »Da gibt es kein ›Vielleicht‹. Bis bald … hoffentlich.« Sie huschte an ihm vorbei und ging in das Einzelzimmer, in dem ihre Tochter lag. Heck trat hinaus in die Mittagssonne. Er war sich nicht sicher, ob der Wonnemonat Mai für ihn je wieder so sein würde wie vorher, aber genau das hatten die Feiertagsschändungsmörder mit ihren Taten ja unter anderem beabsichtigt, deshalb beschloss er, sich derartig deprimierende Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Als er in sein Auto stieg, klingelte sein Handy. »Heckenburg«, meldete er sich und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Hallo«, sagte eine unsichere Stimme. »Hier spricht Detective Inspector Strickand aus Nottinghamshire. Wenn ich richtig informiert bin, schmeißen Sie gerade das Dezernat für Serienverbrechen?« Heck musste beinahe lachen. »Ja, sieht im Augenblick so aus.« »Ich habe da etwas, das Sie sich mal ansehen sollten. Aber ich warne Sie schon im Voraus – es ist ein ziemlich merkwürdiger Fall.« »Schon in Ordnung«, entgegnete Heck und zückte seinen Kugelschreiber. »Auf merkwürdige Fälle sind wir spezialisiert.« DANKSAGUNG Wie bei Mädchenjäger, dem ersten Roman dieser Reihe, schulde ich unglaublich vielen Menschen Dank für die Hilfe bei der Entstehung dieses Buches. Da es sich jedoch überwiegend um die gleichen Leute handelt, würde es ein wenig wie eine Wiederholung erscheinen, sie alle noch einmal namentlich aufzuführen. Deshalb gestatten Sie mir vielleicht, diese Gelegenheit für eine kurze, jedoch sehr persönliche Danksagung zu nutzen. Mein verstorbener Vater, Brian Finch, der seines Zeichens ein ausgezeichneter Autor war und mir während meines ganzen Lebens als Inspiration gedient hat, hat diese Welt im Jahr 2007 im tragisch jungen Alter von siebzig Jahren verlassen. Er wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen in unserer Heimatstadt Wigan – damals noch eine verrußte Kohlebergwerksstadt – auf und begann eine Berufskarriere beim Fernsehen, die beinahe vier Jahrzehnte lang währte. Er schrieb etliche Drehbücher für nahezu alle beliebten Fernsehsendungen der 1970er-, 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahre, darunter klassische Krimiserien wie Z Cars, Public Eye, Hunter’s Walk, Shoestring, Juliet Bravo, The Gentle Touch, Bergerac und Saturday Night Thriller, doch sein krönendes Werk war seine liebevolle Adaption von Michelle Magorians Goodnight Mister Tom für Carlton Television im Jahr 1998, die verdientermaßen einen British Academy Film Award gewonnen hat. Während dieser Zeit war mein Vater mir eine unschätzbare Quelle guter Ratschläge und aufmunternder Unterstützung sowie ein sehr enger Freund. Ich denke, er hat immer Hoffnungen gehegt, dass ich ihm in die Fußstapfen des Schreibens folgen würde, doch als ich der Greater Manchester Police beigetreten bin, hat er mich unterstützt wie eh und je. Als viele Jahre später erkennbar wurde, dass in mir ebenfalls der Wunsch schlummerte, zur Feder zu greifen, stand er mir wieder zur Seite und inspirierte mich wie gewohnt. Es war mein Vater, der mir vorschlug, darüber zu schreiben, was ich am besten kannte, nämlich über die Arbeit der Polizei. Natürlich herrschte im Fernsehen kein Mangel an Polizeigeschichten, und es gab jede Menge Autoren, die sich auf diesem Feld betätigen wollten, doch mein Vater wusste, dass es mir zum Vorteil gereichen würde, dass ich tatsächlich da draußen gewesen war und den Polizistenjob im richtigen Leben ausgeübt hatte. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Ich habe keinen Zweifel, dass meine authentische Erfahrung als Polizist mir meinen ersten Einsatz als Drehbuchschreiber für die erfolgreiche Serie The Bill gesichert hat, und im Zuge dessen konnte ich dann auch in einer der routiniertesten Drehbuchabteilungen des modernen Fernsehens mein Handwerk lernen und perfektionieren. Und dennoch war mein Vater bis ans Ende seiner Tage stets meine erste Anlaufstelle, wenn ich Schreibideen hatte, die es auszufeilen galt, oder wenn ich beim Schreiben nicht weiterkam oder einfach nur ein nettes Schwätzchen über das eigenartige Metier führen wollte, in dem wir beide gelandet waren. Tja, so ist das, Dad. Du warst der Funke, der das Feuer entzündet hat, und der warme Atem, der die Glut in kargen Zeiten am Glimmen gehalten hat. Diese Bücher, die du leider nie gesehen hast, sind das Resultat all dessen. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben festzustellen, dass Mark Heckenburg, die Hauptfigur dieser Bücher, viele Züge von dir hat – eine unkomplizierte Art, schlau und mit allen Wassern gewaschen und mit einem unbeugsamen Geist ausgestattet, der im industriellen Norden des Landes geschmiedet wurde. Was kann ich anderes sagen als: vielen Dank. Ohne dich hätte ich all dies nie geschafft. Leseprobe aus Paul Finchs Thriller Mädchenjäger Erschienen bei Piper Übersetzung aus dem Englischen von Johannes Sabinski © Paul Finch 2013 Titel der englischen Originalausgabe: »Stalkers«, Harper Collins, London 2013 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2014 Piper Verlag GmbH, München Prolog Am Vorabend trafen sie sich ein letztes Mal, um den Plan durchzugehen. Sie waren Fachleute. Jeder kannte seine Rolle bis ins Letzte. Nichts war dem Zufall überlassen worden: Sie hatten das Ziel bis ins kleinste Detail ausgekundschaftet, jeder erdenklichen Panne war Rechnung getragen worden. Das Timing würde den Ausschlag geben, doch da sie ausgiebig geprobt hatten, machte sich niemand wirklich Sorgen. Natürlich würde das Ziel keine feststehenden Zeiten einhalten, was Schwierigkeiten bereiten könnte. Doch sie würden durchweg telefonisch miteinander in Verbindung stehen, und ihrer aller Erfahrung hatte sie unter anderem gelehrt, rasch umzudenken und bei Bedarf zu improvisieren. Ebenso, Geduld zu haben. Sollte der Ablauf dermaßen entgleisen, dass sie mit echten Unbekannten zu rechnen hätten, würden sie sich zurückziehen, neu aufstellen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorstoßen. Am besten war es noch immer, auf Nummer sicher zu gehen und alles einfach zu halten. Gute Planung war jedoch das A und O: Erkenntnisse sammeln, verarbeiten und dann im richtigen Augenblick rasch und mit eingeübter Zielgenauigkeit zuschlagen. In mancherlei Hinsicht war das schon Lohn genug. Was jedoch berufliche Befriedigung betraf, kam dem nichts wirklich gleich. Nachdem sie das Ganze zweimal durchgespielt hatten, gönnten sie sich einen Drink, eine Flasche dreißig Jahre alten Glen Albyn, gekauft vom Erlös des letzten Einsatzes. Während sie tranken, vernichteten sie alle Unterlagen, die sie in der Vorbereitungsphase zusammengetragen hatten: schriftliche Aufzeichnungen, Kartenskizzen, Fotos, Fahrpläne, besprochene Tonbänder, Speichersticks mit von Handys oder Digitalkameras aufgenommenem Filmmaterial. All das legten sie auf einen Kohlenrost über Holzscheite und Anmachholz, tränkten es mit Feuerzeugbenzin und setzten es in Flammen. Im unwahrscheinlichen Fall, dass tatsächlich etwas schiefging und sie noch mal ganz von vorn anfangen mussten – die Fährte aufnehmen, beschatten, Erkenntnisse sammeln –, würden sie das, ohne zu fragen oder zu murren, tun. Es zählte allein der Fleiß – an Abkürzungen glaubten sie nicht. Ohnehin war ihr Denken so zielgerichtet, dass sie viele wesentliche Einzelheiten im Gedächtnis behalten würden. Nur einmal bisher hatten sie eine Sache verschieben müssen, und bei der Gelegenheit hatte sich der zweite Anlauf als viel leichter erwiesen als der erste. Während sie dabei zusahen, wie alles verbrannte und glutheiße Funken in den Nachthimmel wirbelten, klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter, prosteten sich zu und wünschten sich Glück, das sie gar nicht brauchen würden – und einen guten Fang, an dem sie ebensolche Freude haben würden wie an der Jagd. Sie hatten den Glen Albyn fast geleert, aber selbst wenn sie am Morgen mit benebeltem Kopf aufwachen sollten, es käme nicht darauf an: Der Einsatzbeginn war erst für den Nachmittag angesetzt. Sie würden fit sein. Sie waren in Form, hatten das Spiel im Griff, liefen wie eine gut geölte Maschine. Und natürlich kam ihnen zu Hilfe, dass ihr Ziel völlig arglos war. Es würde mit dem Klingeln des Weckers aufstehen und mit nichts als einem völlig normalen Arbeitstag rechnen. So schienen die meisten Frauen zu leben. Wie oft war es ihr Verderben. Freitagabende in London hatten etwas natürlich Entspanntes an sich. Am angenehmsten waren sie Ende August. Ab siebzehn Uhr konnte man mit jeder Runde des Minutenzeigers fühlen, wie sich die Stadt unter dem staubigen Sommerhimmel entkrampfte. Das Durcheinander auf den Straßen war wild und lärmend wie immer – die Verkehrsströme wälzten sich hupend voran, auf den Gehsteigen drängten sich geschäftig die Fußgänger –, doch das »Grantige« fehlte, die mürrische Rücksichtslosigkeit, die die Straßen von London sonst oft prägte. Die Leute hatten es immer noch eilig, das schon, aber jetzt, weil sie wirklich gern irgendwo sein wollten, und nicht, weil sie unter Zeitdruck standen. Im Bürotrakt von Goldstein & Hoff im sechsten Stock von Branscombe Court im Herzen der glitzernden »Square Mile«, dem Kern der Hauptstadt, war Louise Jennings genauso zumute. Noch zehn Minuten Papierkram, dann brach offiziell das Wochenende an – und wie sie darauf wartete. Samstagmorgen wollte sie raus zum Reiten und am Nachmittag eine neue Garderobe shoppen gehen, da sie am selben Abend im Rotary Club ein Essen hatten. Der Sonntag würde einfach ein schöner Faulenzertag werden, den sie, sollte irgendein Verlass auf den Wetterbericht sein, im Garten oder mit einem Ausflug in die Chilterns verbringen könnten. Louise war ausgebildete Sekretärin, wobei die Berufsbezeichnung etwas in die Irre führen mochte. Eigentlich war sie »Generalsekretärin«, hatte mehrere Mitarbeiterinnen unter sich, ihr eigenes Büro und unterstand unmittelbar Mr Malcolm Forrester, dem Leiter der Abteilung für Rechtsabgleich bei Goldstein & Hoff. Sie verdiente ansehnliche vierzigtausend Pfund jährlich, also nicht schlecht für eine ehemalige Realschülerin aus Burnt Oak, und genoss hohes Ansehen bei den meisten Angestellten des Unternehmens, besonders bei den Männern – wenngleich das neben ihrem Verstand auch der wohlgestalteten Figur, den rotblonden Haaren und den hübschen Augen der Dreißigjährigen geschuldet sein mochte. Nicht dass sich Louise daran störte. Sie war schon vergeben. Sie war nun seit sechs Jahren mit Alan verheiratet und vorher drei Jahre lang mit ihm zusammen gewesen. Doch es gefiel ihr, anziehend zu wirken. Ihren Ehemann machte es stolz, und solange sich andere Männer aufs Hingucken beschränkten, genoss sie die Aufmerksamkeit. Wenn sie ehrlich war, gehörte ihr Aussehen zu den Waffen in ihrem Arsenal. Im Finanzwesen waren nur wenige, ganz gleich, welchen Geschlechts, das, was man »umgemodelt« nennen würde. Es war eine patriarchalische Gesellschaft, und obwohl stets die Möglichkeit bestand, dass Frauen große Macht ausübten, mussten sie immer noch wie Frauen aussehen und sich verhalten. Vor ihrem ersten Vorstellungsgespräch bei Goldstein & Hoff hatte ihr Alan strikte Anweisung gegeben, das Beste aus sich zu machen – einen schicken engen Rock zu tragen, hochhackige Schuhe, eine anschmiegsame, tief ausgeschnittene Bluse. Es hatte ihr den Job eingebracht und war seither ihre Bürokleidung geblieben. Gut, ein wenig erniedrigend mochte die Auffassung zwar sein, man sei im Leben nur deshalb vorangekommen, weil man hinreißend aussah, aber das war nie die ganze Wahrheit. Louise war hoch qualifiziert, bloß waren das zahlreiche andere Frauen auch, und folglich galt es alles zu begrüßen, was einem sonst noch zum Vorteil diente. Es war kurz nach achtzehn Uhr, als sie loskam und über die Straße zum Mad Jack’s eilte. Dort wurde sie von Simone, Nicola und Carly, ihren drei Mitarbeiterinnen, die alle großzügig »Freitagnachmittagsfeierabend« um halb fünf hatten machen dürfen, bereits erwartet. Mad Jack’s, einst ein Tempel für Gintrinker aus Dickens’ Zeiten, war auf heutige Verhältnisse gebürstet worden, dünstete aber immer noch Atmosphäre aus. Hinter seinem altehrwürdigen Eingang aus Holz und Glas lag ein matt beleuchtetes Inneres mit eingezogenem Zwischengeschoss, das mit Eichenbalken, Hartholztäfelung und freigelegtem Backsteinmauerwerk protzte, wohin man auch sah. Wie an jedem Freitagnachmittag war der Pub bis zu den Außentüren randvoll mit lautstarken Anzugträgern in Feierlaune. Der Lärmpegel war erstaunlich. Lautes Gelächter schallte von einer Wand zur anderen, Gläser klirrten, Tische und Stühle wurden auf den massiven Eichendielen hin und her gerückt. Es hätte natürlich schlimmer sein können: Louise hatte bei Goldstein & Hoff angefangen, ehe das Rauchverbot verhängt worden war, und seinerzeit war das Lokal von Zigarrenqualm eingenebelt gewesen. Die vier jungen Frauen schufen sich hinten in einer Ecke ihre kleine Insel und setzten sich. Jede bestellte sich einen Salat, allerdings zu einer gemeinschaftlichen Portion Pommes frittes mit Ketchup und Mayo. Louise achtete darauf, dazu nur zwei Gläser Chardonnay zu trinken. Nicht bloß, weil sie die Chefin war und sich daher verpflichtet fühlte, Vernunft und Anstand zu wahren, sondern auch, weil sie auf einem Stück ihres Heimwegs Auto fahren musste. Trotzdem war es der Teil der Woche, auf den sie sich alle freuten: endlich Zeit für jene boshaften Sticheleien, die sich während der Dienststunden streng verbaten – zumindest in Louises Hörweite. Zuweilen zogen andere Kollegen Barhocker heran und gesellten sich zu ihnen, Männer, um angetrunken zu flirten, oder Frauen, um soeben aufgeschnappte Gerüchte weiterzuverbreiten. Ab einem gewissen Zeitpunkt nahm der Abend Ausmaße eines allgemeinen Gegackers an. Gegen halb acht flößte sich Carly ihren sechsten Southern Comfort mit Cola ein, und Nicola führte eine tiefschürfende Unterhaltung mit einem gut aussehenden jungen Burschen aus der Wertpapierabteilung. Die verschnörkelt verglasten Türen flogen krachend auf, als weitere Jungs aus der City dazudrängten. Es kam zu immer schrilleren Begrüßungen und noch gellenderem Gelächter. Allmählich trat eine Schweißnote zum Alkoholgeruch in den Raum, und mit einem Blick auf ihre Armbanduhr beschloss Louise, sich bald auf den Weg zu machen. Ehe sie aufbrach, ging sie die Treppe hinunter in den Keller, wo die Toiletten waren. Die Tür zum Damenklo lag am Ende eines kurzen Durchgangs, Seite an Seite mit anderen Türen – zwei mit »Nur für Personal« beschriftet und eine mit »Herren«. Als sie eintrat, war sie allein. Sie ging in eine der Kabinen, raffte ihren Rock hoch, schob die Strumpfhose hinunter und hockte sich hin. Und hörte jemanden nach ihr den Raum betreten. Louise rechnete mit dem üblichen Klack-Klack-Klack hoher Absätze unterwegs zu einer anderen Kabine oder zum Spiegel über dem Waschbecken. Doch für einen kurzen Augenblick gab es überhaupt kein Geräusch. Dann vernahm sie das langsame Stapfen flacher Schuhe, in denen schwere Füße steckten. Sie gingen ein paar Meter und blieben dann stehen. Louise lauschte angestrengt. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, wer immer es sei, stehe unmittelbar vor ihrer Tür? Sie schaute nach unten. Aus ihrem Blickwinkel ließ sich unmöglich unter der Tür hindurchsehen, doch sie war überzeugt, jemand stand genau davor und lauschte. Sie warf einen Blick auf den Riegel. Er war bis zum Anschlag vorgeschoben. Die Stille hielt einige Sekunden lang an, ehe sich die Schritte entfernten. Louise musste sich zwingen, nicht erleichtert auszuatmen. Ihr wurde klar, dass sie sich unsinnig aufführte. Es gab keinerlei Grund zur Sorge. Keine drei Meter über ihr tobte das freitagabendliche Durcheinander im Mad Jack’s. Wieder stoppten die Schritte. Louise spitzte erneut die Ohren. Hatte die Person eine der anderen Kabinen betreten? Höchst wahrscheinlich, bloß gab es weder das Geräusch einer sich schließenden Tür noch das eines Riegels. Und nun, da sie besonders angestrengt lauschte, meinte sie, ein Atmen zu hören – gleichmäßig, ruhig, aber auch tief und heiser. Wie der Atem eines Mannes. Vielleicht gehörte er zum Personal, ein Klowärter oder Handwerker? Sie war im Begriff, sich zu räuspern, um ihn wissen zu lassen, dass hier eine Frau war, als ihr plötzlich aufging, wie unklug das sein könnte. Angenommen, er gehörte nicht zum Personal? Das Atmen hielt an, und die Füße bewegten sich abermals durch den Raum – weitere dumpfe Tritte hallten auf den Fliesen und kamen näher. Wer immer es war, machte entlang der Reihe Kabinen kehrt. Unwillkürlich hob Louise einen Fingerknöchel an die Lippen. Würde er wieder vor ihrer Tür stehen bleiben? Aber er tat es nicht. Er stapfte schwerfällig vorbei und wandte sich im Weitergehen ab. Einen Augenblick später hörte sie die Zugangstür zu den Toiletten aufgehen und zufallen. Und dann war es still. Louise wartete. Alles blieb ruhig. Schließlich stand sie auf, zog ihre Strumpfhose wieder hoch, schob den Rock nach unten, entriegelte vorsichtig die Kabine und spähte hinaus. Sie konnte nicht alles einsehen, schien aber allein zu sein. Louise holte tief Luft und eilte zur Tür, öffnete sie und trat hinaus in den Korridor – und blieb augenblicklich stehen. Auf halber Höhe rechts stand eine andere Tür einen Spaltbreit offen. Es war eine mit der Aufschrift »Nur für Personal«. Durch den Spalt war ein schmaler Streifen Schwärze sichtbar. Louise fasste ihn fest ins Auge. War dort nicht eine schwache Bewegung zu sehen? Verbarg sich dort jemand und beobachtete sie? Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Doch der Mann, der durchtrat, war jung und trug die schwarze Bügelfaltenhose und das olivgrüne T-Shirt der Tresenkräfte. Er hatte ein Plastiktablett voll nass glänzendem Geschirr in den Händen. Als er sie sah und merkte, dass er sie erschreckt hatte, grinste er entschuldigend. »Sorry, Süße.« Im Schlenderschritt entfernte er sich die Treppe hoch Richtung Tresenbereich. Eine Hand auf dem Herzen, trat Louise vor und lugte durch die langsam zufallende Tür. Dahinter führte ein verdunkelter Gang an einer Reihe erhellter Räume vorbei und an seinem Ende zu einer Tür, durch die eine der Zuliefergassen hinter dem Gebäude zu sehen war. Mehrere andere Leute vom Personal waren dort unten zugange. Sie kam sich töricht vor, eilte nach oben und stieß wieder zu den anderen. Kurz vor zwanzig Uhr verließ Louise schließlich das Lokal, ihre Aktenmappe in der Hand. Es war ein fünfminütiger Fußweg runter zur U-Bahn-Station Bank, wo sie die Central Line nach Oxford Circus nahm. Dort stieg sie um in die Bakerloo-Linie. Sie fuhr die Rolltreppe hinab zu den Zügen in Richtung Norden und stellte fest, dass sie allein war. Zu irgendeiner anderen Tageszeit hätte das seltsam sein können, aber jetzt war Freitagabend, und die meisten Fahrgäste würden in die Stadt unterwegs sein statt nach auswärts. Die Gewölbegänge lagen gleichermaßen verlassen da, und doch hatte Louise nur ein paar Meter zurückgelegt, als sie irgendwo hinter sich Schritte zu vernehmen glaubte. Sie blieb stehen und lauschte, hörte nun aber nichts mehr. Sie schlenderte weiter bis auf den Bahnsteig. Wieder war niemand sonst zugegen. Ein warmer Windstoß blies ein paar Fetzen Papierabfall die glänzenden Schienen entlang. Da hörte sie die Schritte erneut – anscheinend kamen sie näher. Unruhig warf sie einen Blick zurück in den Durchgang, sah nichts, rechnete aber damit, dass jemand auftauchen würde. Doch niemand kam. Und jetzt verstummten die Schritte. Beinahe so, als habe ihr Verfolger gespürt, dass sie auf ihn wartete. Hinter ihr fuhr ein Zug dröhnend in den Bahnhof ein. Erleichtert stieg sie zu. In Marylebone, wo sie wieder unter Pendlern war, kaufte sie sich eine Abendzeitung und trank einen Kaffee, ehe sie einen Überlandzug nach High Wycombe bestieg. Inzwischen war es fast halb neun abends. Es gab an sich keinen Grund zur Eile. Alan, der eine Versicherungsgesellschaft sein Eigen nannte, verbrachte die Freitagnachmittage auf dem Golfplatz und würde bis weit nach dreiundzwanzig Uhr im Klubhaus an der Theke sitzen, aber es tat immer gut, sich beinahe schon zu Hause zu fühlen. Sie blickte zum Fenster hinaus, während die Bahn dahinschnellte. Im dunstigen Zwielicht verschmolzen die eintönigen Vororte von West London allmählich mit den Wäldern und Feldern der Home Counties. Die Nacht brach rasch herein. Als sie fünfundzwanzig Minuten später in Gerrards Cross den Zug verließ, war es völlig dunkel. Wieder war sie allein, und es war sehr still. Doch sie war unbesorgt – das war ganz normal so. Gerrards Cross glich vielen anderen Kleinstädten im ländlichen South Bucks und war eigentlich nicht größer als ein Dorf. Als nobelster Bezirk außerhalb Londons war er viel zu hochpreisig für ein munteres Nachtleben, das hier nicht mal freitags stattfand. Seine Durchgangsstraße glänzte mit ein paar Gaststätten und Restaurants, doch das waren Edellokale – Kneipenschwärmer und Zechbrüder übertraten ihre Schwellen nicht. Louise verließ den Bahnhof, der zu dieser Stunde unbeaufsichtigt war, und folgte einem heckengesäumten Seitenweg zum Parkplatz. Der Bahnhof von Gerrards Cross war in einen tiefen Geländeeinschnitt hineingebaut und lag unterhalb des Ortes selbst, sodass sein Parkplatz sogar am helllichten Tag eine dunkle, abgeschiedene Stelle blieb. Da sie nun den steil abfallenden Weg vom Bahnhof hinunterging, fiel ihr auf, dass mehrere seiner Flutlichter ausgefallen waren. Und als der Parkplatz in Sicht kam, schien auch noch ihr Auto zu fehlen. Sie hielt verdutzt inne, bis sie es entdeckte. Es war das einzige verbliebene Fahrzeug und stand am hintersten Ende unter den tief hängenden, dicht belaubten Ästen einer uralten Kastanie. Dank der kaputten Lampen lag gerade diese Ecke komplett im Dunkeln. Sie setzte ihren Weg fort. Und hörte abermals Schritte. Sie blieb stehen und warf einen Blick über die Schulter. Hinter ihr bog sich der Weg nach zwanzig Metern aus dem Sichtfeld. Niemand war zu sehen, und die Schritte machten schlagartig halt. Louise blickte sich weiter um. Die Dachschräge des Bahnhofs zeigte sich über der Hecke. Dahinter und weiter oben liefen Lichter am Brückengeländer entlang – möglich, dass sie einen Fußgänger die Brücke überqueren gehört hatte. Aber auch dort gab es kein Anzeichen für irgendwen. Sie ging weiter über den Parkplatz, der vielleicht zweihundert Meter lang, fünfzig Meter breit und an der rechten Seite von dichtem Unterholz begrenzt war. Nun bildete sich Louise ein, Bewegung in diesem Unterholz wahrzunehmen: ein beständiges Knistern im Laubwerk, als schöbe sich etwas Schweres hindurch. Ein Tier, sagte sie sich. Dieser Teil der Grafschaft wimmelte von Dachsen und Füchsen, besonders nachts. Dann sah sie die Gestalt am Stamm der Kastanie angelehnt sitzen. Sie blieb schlagartig stehen, ein Frösteln lief ihr über den Rücken. War es ein Obdachloser, irgendeine Art Landstreicher? So jemanden bekam man selten, wenn überhaupt jemals in diesem vornehmen Bezirk zu Gesicht. Er war zusammengesunken, zerlumpt und trug, was wie ein schmutziger alter Mantel aussah, an dem sich vereinzelte Fetzen im Wind wiegten. Doch dann erkannte sie, was sie tatsächlich sah. Das zerlumpte, am Baumstamm »sitzende« Bündel war nichts weiter als ein mit Abfall und Altpapier vollgestopfter Müllsack. Erneut kam sich Louise lächerlich vor und eilte weiter. Noch immer war das Auto halb in Dunkelheit verborgen. Die Seite mit der Fahrertür stand dem Unterholz zugewandt, und der schmale verbliebene Spalt dazwischen lag in tiefem Schatten. Doch nun wollte Louise einfach nur nach Hause. Sie machte sich ja ganz kirre mit dieser dämlichen, unsinnigen Angst. Somit trat sie entschlossen und mutig an die Fahrerseite und war sich des dichten Gestrüpps in ihrem Rücken nur zu bewusst, während sie an ihrem Schlüsselbund herumfummelte. Aber sie hörte keine Bewegung mehr im Unterholz, und selbst wenn doch, na und? Es war Sommer. Vögel würden darin schlafen. Wenige hundert Meter entfernt erstreckte sich das Packhorse Common, wo schon Rotwild gesichtet worden war. Jedenfalls war nun keinerlei Geräusch mehr zu hören. Sie schloss das Auto auf, warf ihre Aktentasche auf die Rückbank und setzte sich hinters Lenkrad. Einen Augenblick später hatte sie den Motor aufheulen lassen und war auf dem Weg zur Ausfahrt. Sie verließ Gerrards Cross über die B416 und steuerte nach Süden Richtung Slough. In Stoke Poges bog sie rechts ab und fuhr nun auf schmalen, namenlosen Landstraßen in westliche Richtung. Da es ein windiger, aber warmer Abend war, hatte sie die Fenster teilweise herabgelassen. Motten und andere Insekten flatterten in ihrem Scheinwerferlicht. Ein Augenpaar funkelte auf, als eine Katze vor ihr über die Straße huschte. Beim Farnham Common schwenkte sie nach Süden auf Burnham zu. Baumgürtel zu beiden Seiten der Straße mit Zweigen, die sich über ihrem Kopf wie Finger verschränkten, rahmten sie tunnelartig ein. Louise hatte sich wieder entspannt. Nur noch drei Meilen trennten sie von ihrem behaglichen Zuhause. Plötzlich, mit einem donnernden Knall, verlor sie die Gewalt über das Fahrzeug. Es sackte schlagartig ab und schlitterte quer über die Straße, während das Lenkrad in ihren Händen herumwirbelte. Sie trat die Bremse durch und kam schleudernd und unter fürchterlichem Kreischen zum Stehen. Als sie endlich stillstand, saß sie wie benommen da. Das einzige Geräusch war das Ticken des sich abkühlenden Motors. Sie sprang nach draußen. Sie konnte kaum glauben, was sie sah: Ihre Vorderreifen hingen in Fetzen um die Felgen. Dasselbe mit den Hinterreifen. Sie waren buchstäblich in Stücke gerissen worden, Zinken des geborstenen Stahlgürtels stachen aus ihnen hervor. Sie ging im Kreis um den Wagen herum und war kaum imstande, ihr Pech zu begreifen. Ein platter Reifen allein wäre schon schlimm genug gewesen. Sie hatte noch nie ein Rad gewechselt, vermutete zwar, es zu können, aber hier, mitten im Wald und zu dieser Uhrzeit? Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, da sie keine vier Ersatzreifen dabeihatte. Sie nestelte in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy. Sie würde Alan anrufen müssen. Schön, er saß im Golfklub und hatte wahrscheinlich zu viele Drinks intus zum Fahren, aber vielleicht war einer da, der sie aufgabeln könnte. Falls nicht, würde er wissen, was zu tun war. Da fiel Louise noch etwas auf. Sie hielt das Telefon in der Hand, doch ihre Finger erstarrten auf dem Tastenblock. Etwa vierzig Meter hinter dem Auto schimmerte etwas im Mondschein, das quer über der Straße lag. Sie ging langsam darauf zu, aber blieb schon auf halber Strecke wieder stehen. Es war ein Nagelbrett – sie glaubte jedenfalls, dass die Dinger so genannt wurden. Eine dieser ausziehbaren Sperren, mit denen die Polizei Fluchtwagen von Bankräubern außer Gefecht setzte. Irgendwer hatte es mutwillig auf die Straße gelegt. Louise wurde sich bewusst, dass sie zitterte. Sie wandte sich zum Auto um. War es das Werk von Rowdys, irgendeiner Bande Halbstarker, denen nichts Besseres einfiel, um die Zeit totzuschlagen? Oder war es etwas Bösartigeres? Ohne sich weitere Gedanken über die zweite Möglichkeit zu gestatten und ganz bewusst ohne Seitenblicke in die lichtlosen Tiefen der Bewaldung ringsum hastete sie zurück zum Auto und riss die Fahrertür auf. Sie hielt inne, um kurz zu überlegen: Auf den Radkappen fahren konnte sie natürlich nicht. Aber einschließen konnte sie sich. Ja, sie würde sich einschließen und telefonisch Hilfe rufen. Sie kletterte hinters Steuer, zog die Tür zu und wollte gerade die Schlösser verriegeln, als sie eine Bewegung direkt neben sich spürte. Langsam drehte sie sich um. Er saß auf dem Beifahrersitz. Offensichtlich war er eingestiegen, während sie vom Nagelbrett abgelenkt gewesen war. Er war stämmig und trug dunkle Kleidung: eine unförmige Lederjacke und darunter einen Kapuzenpulli, die Kapuze zurückgeschlagen. Er hatte schütteres Haar und Ohren so groß wie Bierkrughenkel. Aber er hatte keine Nase – nur eine verknorpelte Höhle – und keine Lider, während sein übriges Gesicht ein Flickwerk aus gedunsenem, gerötetem Narbengewebe war. Louise wollte aufschreien, doch eine große lederbehandschuhte Hand klatschte sich auf ihren Mund. Eine zweite legte sich um ihre Gurgel. Und drückte zu.