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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Room« bei Little, Brown and Company, New York.



Das Motto vor dem ersten Kapitel entstammt der Übersetzung O. Werners, München 1969.

Raum ist für Finn und Una,

meine gelungensten Werke.

Deutsch von Armin Gontermann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2011

ISBN 978-3-492-95448-8

© Emma Donoghue Ltd., 2010

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, 2011

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, USA. All rights reserved.

Umschlaggestaltung: Kornelia Rumberg nach einer Idee von Keith Hayes / Hachette Book Group, Inc.





Kind,

in was für Not bin ich doch und Leid. Aber du schläfst.

Mit des Säuglings Herzen schlummernd

ruhst du in freudloser Arche,

in dies nächtlich-schimmernd-blauschwarze Dunkel

hingestreckt.



Simonides (ca. 556–468 v. Chr.), »Danae«





GESCHENKE

Heute bin ich fünf. Als ich gestern Abend in Schrank eingeschlafen bin, war ich noch vier. Aber dann wache ich im Dunkel in Bett auf und bin plötzlich fünf, Abrakadabra. Davor war ich drei, dann zwei, dann eins und dann null. »War ich auch schon mal minus was?«

»Hmm.« Meine Ma reckt sich und streckt sich.

»Oben im Himmel, meine ich. War ich da minus eins, minus zwei, minus drei und so?«

»Aber nein, das mit dem Zählen hat erst angefangen, als du auf die Erde runtergerauscht bist.«

»Durch Oberlicht. Und du bist ganz traurig gewesen, bis ich in deinem Bäuchlein passiert bin.«

»Stimmt genau.« Ma lehnt sich aus Bett und schaltet Lampe an, der macht alles ganz hell, schwuppdiwupp.

Ich kneife gerade noch rechtzeitig die Augen zu, dann mache ich eins wieder ein klitzekleines bisschen auf, dann alle beide.

»Ich habe so viele Tränen geweint, bis gar keine mehr übrig waren«, erzählt sie mir. »Hab einfach nur dagelegen und die Sekunden gezählt.«

»Wie viele Sekunden?«, frage ich sie.

»Millionen und Abermillionen.«

»Nein, wie viele genau?«

»Irgendwann bin ich aus der Reihe gekommen«, sagt Ma.

»Und dann hast du immer und immer wieder dein Ei beschwört, bis du kugelrund geworden bist.«

Sie grinst. »Ich konnte spüren, wie du getreten hast.«

»Was habe ich getreten?«

»Mich natürlich.«

An der Stelle muss ich immer lachen.

»Von innen drin, bumm bumm.« Ma hebt ihr Schlaf-T-Shirt hoch und lässt ihr Bäuchlein springen. »Da dachte ich mir, Jack ist wohl unterwegs. Und ganz früh am Morgen kamst du dann rausgeflutscht und lagst auf dem Teppich, deine Augen waren ganz weit auf.«

Ich gucke auf Teppich, sie hat lauter rote, braune und schwarze Zickzackstreifen. Und da ist der Fleck, den ich aus Versehen verschüttet habe, als ich geboren wurde. »Dann hast du die Schur abgeschneidet und ich war los«, erkläre ich Ma. »Und dann bin ich ein Junge geworden.«

»Ein Junge warst du eigentlich schon vorher.« Sie steigt aus Bett geht zu Thermostat, um die Luft heiß zu machen.

Ich glaube nicht, dass er gestern nach neun noch gekommen ist. Wenn er da war, ist die Luft immer anders. Ich frage aber nicht, weil sie nicht gern über ihn reden tut.

»Also, Freund Fünf, hättest du dein Geschenk lieber vor oder nach dem Frühstück?«

»Was kriege ich, was kriege ich?«

»Ich weiß ja, dass du gespannt bist«, sagt sie, »aber du darfst trotzdem nicht an deinem Finger kauen, sonst krabbeln Bazillen durch das Loch.«

»Und die machen mich dann krank so wie damals, als ich drei war und brechen musste und Durchfall hatte?«

»Sogar noch schlimmer«, sagt Ma. »An Bazillen kann man sterben.«

»Und dann kommt man ganz bald wieder in den Himmel?«

»Du kaust ja immer noch.« Sie zieht meine Hand weg.

»Tut mir leid.« Ich setze mich auf die böse Hand. »Sag noch mal Freund Fünf zu mir.«

»Was ist nun, Freund Fünf«, fragt sie, »jetzt oder später?«

Ich springe auf Stuhlschaukel, damit ich Uhr sehen kann, da steht 07:14. Ich kann auf Stuhlschaukel schon inlineskaten, ohne festhalten, und dann mache ich Engelchen, flieg bis zum Zudeck, aber diesmal als Snowboarder. »Wann muss man Geschenke denn aufmachen?«

»Egal, beides ist gleich gut. Soll ich für dich entscheiden?«, fragt Ma.

»Nein, ich bin fünf, ich muss selbst entscheiden.« Mein Finger ist schon wieder in meinem Mund, ich tue ihn unter die Achsel und klemme ihn fest. »Ich entscheide … jetzt.«

Sie zieht etwas unter ihrem Kissen hervor, ich glaube, da hat es sich die ganze Nacht unsichtbar versteckt. Es ist ein Rohr aus Schreibpapier und drum herum das lila Bändchen von den Tausend Schokolädchen, die wir gekriegt haben, als Weihnachten passiert ist. »Mach auf«, sagt sie. »Schön vorsichtig.«

Ich schaffe es, den Knoten aufzufummeln, und streiche das Papier platt, es ist eine Zeichnung nur mit Bleistift, keine Farben. Ich weiß nicht, was das sein soll, und drehe es um. »Ich!« Wie in Spiegel, nur mehr von mir, mein Kopf und mein Arm und meine Schulter in meinem Schlaf-T-Shirt. »Warum sind die Augen von mir zu?«

»Weil du geschlafen hast«, erklärt Ma.

»Wie hast du denn im Schlafen ein Bild gemalt?«

»Nein, ich war wach. Gestern und vorgestern und vorvorgestern früh, da habe ich die Lampe angeschaltet und dich gezeichnet.« Sie hört auf zu lächeln. »Was ist los, Jack? Gefällt es dir etwa nicht?«

»Nein … nicht, wenn du zur selben Zeit angeschaltet bist und ich aus.«

»Na hör mal, ich konnte dich doch nicht zeichnen, während du wach warst, sonst wäre es ja keine Überraschung gewesen, oder?« Ma wartet. »Ich dachte, du würdest dich über eine Überraschung freuen.«

»Ich will die Überraschung und trotzdem wissen, was los ist.«

Sie lacht ein bisschen.

Ich springe auf Stuhlschaukel, damit ich aus Kästchen auf Regal eine Stecknadel holen kann. Minus eine heißt, dass jetzt von den fünf nur noch null übrig sind. Früher waren es mal sechs, aber eine ist verschwunden. An einer über Stuhlschaukel hängt: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 3: Jungfrau und Kind mit hl. Anna und hl. Johannes. An einer anderen neben Wanne: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 8: Impression – Sonnenaufgang, an noch einer hängt der blaue Tintenfisch und an noch einer das Bild mit dem verrückten Pferd, es heißt: Große Meisterwerke westlicher Kunst Nr. 11: Guernica. Die Meisterwerke waren bei den Haferflocken dabei, aber der Tintenfisch ist von mir, mein bestes Bild im März, aber er wird schon ein bisschen kringelig wegen dem Dampf über Wanne. Ich pinne Mas Überraschungsbild genau auf die mittlere Korkfliese über Bett.

Sie schüttelt den Kopf. »Nicht da.«

Sie will nicht, dass Old Nick es sieht. »Vielleicht an der Rückwand von Schrank?«, frage ich.

»Gute Idee.«

Schrank ist aus Holz, deshalb muss ich die Nadel extra fest reindrücken. Dann mache ich die doofen Türen von ihr zu, die immer quietschen, trotzdem wir schon Maisöl auf die Scharniere getan haben. Ich linse durch die Ritze, aber es ist zu dunkel. Also mache ich ein bisschen auf und gucke rein. Die Geheimzeichnung ist weiß mit nur ein paar grauen Linien. Mas blaues Kleid hängt über einem Teil von meinem schlafenden Auge, ich meine das Auge auf dem Bild, das Kleid in Schrank ist nämlich in echt.

Ich kann Ma neben mir riechen, weil ich die beste Nase in der ganzen Familie habe.

»Oh, ich habe ganz vergesst, welche zu trinken, als ich aufgewacht bin.«

»Das macht nichts. Vielleicht sollten wir sowieso öfter mal aussetzen, wo du jetzt schon fünf bist.«

»Kommt nicht in die Tüte.«

Also legt sie sich auf das Weiße von Zudeck und ich auch, und dann kriege ich richtig viel.





Ich zähle einhundert Cornflakes und mache, ohne was zu verschütten, einen Wasserfall Milch drüber, die ist fast so weiß wie die Schüsseln. Wir bedanken uns beim Jesuskind, und ich suche mir Weichlöffel aus, der hat lauter weiße Blasen am Griff, seit er mal aus Versehen beim Nudelmachen an der Pfanne gelehnt hat. Ma mag Weichlöffel nicht, aber ich habe ihn am liebsten, weil er etwas Besonderes ist.

Ich streichle die Kratzer auf Tisch, damit sie wieder heil werden, Tisch ist ganz weiß, nur die Kratzer sind grau, das kommt vom Essen schnippeln. Beim Essen spielen wir Summen, weil man dafür keinen Mund braucht. Ich rate Macarena und She’ll be Coming ’round the Mountain und Swing Low, Sweet Chariot, aber das ist dann in Wahrheit Stormy Weather. Zwei Punkte, also kriege ich zwei Küsse.

Ich summe Row, Row, Row Your Boat und das rät Ma sofort. Dann summe ich Tubthumping, sie verzieht das Gesicht und sagt: »Hach, das kenne ich doch, da geht es drum, dass man wieder aufsteht, wenn einen was umgehauen hat, wie heißt das noch mal?« Am Ende kommt sie drauf. Als Drittes mache ich Can’t Get You Out of My Head. Ma hat keinen blassen Schimmer. »Da hast du dir aber was Schwieriges ausgesucht … hast du das im Fernsehen gehört?«

»Nein, bei dir.« Ich platze mit dem Refrain heraus, und Ma sagt, sie ist ein Dummie.

»Schafskopf.« Ich gebe ihr zwei Küsse.

Zum Spülen schiebe ich meinen Stuhl zu Becken. Mit den Schüsseln muss ich vorsichtig sein, aber mit den Löffeln kann ich bing bang bong machen. Ich strecke Spiegel die Zunge heraus. Ma steht hinter mir, ich kann mein Gesicht über ihrem liegen sehen wie die Maske, die wir mal gebastelt haben, als Halloween passiert ist. »Ich wünschte, die Zeichnung wäre besser«, sagt sie, »aber wenigstens kann man darauf erkennen, wie du aussiehst.«

»Wie sehe ich denn aus?«

Sie tippt gegen Spiegel, da, wo meine Stirn ist, von ihrem Finger bleibt ein Kreis da. »Als wärst du mir aus dem Gesicht geschnitten.«

»Wieso bin ich aus deinem Gesicht geschneidet?« Der Kreis geht langsam weg.

»Das soll heißen, du siehst genauso aus wie ich. Wahrscheinlich, weil du aus mir gemacht bist, beinahe so, als hätte man mir was rausgeschnitten. Die gleichen braunen Augen, der gleiche große Mund, das gleiche spitze Kinn …«

Ich starre uns beide gleichzeitig an, und die uns in Spiegel glotzen zurück. »Aber die Nase ist nicht dieselbe.«

»Im Moment hast du ja auch noch eine Kindernase.«

Ich fasse sie an. »Fällt sie irgendwann ab, und mir wächst eine Erwachsenennase?«

»Nein, nein, sie wird einfach nur größer. Das gleiche braune Haar …«

»Aber meins geht runter in auf die Mitte von mir und deins nur bis an die Schulter.«

»Stimmt«, sagt Ma und greift nach Zahnpasta. »Das ist, weil deine Zellen alle doppelt so lebendig sind wie meine.«

Das wusste ich gar nicht, dass Dinge nur halb lebendig sein können. Ich gucke noch mal in Spiegel. Unsere Schlaf-T-Shirts sehen auch anders aus und unsere Unterhosen, ihre hat keine Bären drauf.

Als sie zum zweiten Mal ausspuckt, heißt das, ich bin mit Zahnbürste dran, und ich schrubbe überall um meine Zähne rum. Mas Spucke in Spülbecken sieht jedenfalls kein bisschen wie meine aus. Ich spüle sie weg und mache ein grinsendes Vampirgesicht.

»Arghhh.« Ma hält sich die Augen zu. »Deine Zähne sind so sauber, die blenden mich ja richtig.«

Ihre eigenen sind ziemlich verfault, weil sie früher vergesst hat, sie zu putzen. Jetzt tut es ihr leid, und sie vergisst es auch nicht mehr, aber sie sind trotzdem verfault.

Ich mache die Stühle platt und lehne sie neben Türe gegen Trockenständer. Der grummelt immer, dass kein Platz da wäre, aber wenn er sich nur ordentlich gerade hinstellt, ist genug da. Mich selbst kann ich auch platt machen, aber so platt nicht, wegen meinen Muskeln, ich bin nämlich am Leben. Türe ist aus einem glänzendem Zaubermetall. Nach neun, wenn ich in Schrank muss und ausschalten soll, macht er piep piep piep.

Das gelbe Gesicht von Gott kommt heute nicht rein. Ma sagt, er schafft es nicht, sich durch den Schnee zu schieben.

»Was ist Schnee?«

»Sieh mal«, sagt sie und zeigt nach oben.

Auf dem Deckel von Oberlicht ist es ein kleines bisschen hell, aber der Rest ist ganz dunkel. Im Fernsehen ist der Schnee weiß, in echt aber nicht, komisch. »Warum fällt er nicht auf uns drauf?«

»Weil er draußen ist.«

»Im Weltall? Ich wünschte, er wäre hier drinnen, damit ich mit ihm spielen kann.«

»Aber dann würde er doch schmelzen, weil es hier drinnen so schön warm ist.« Ma fängt an zu summen, und ich rate sofort, das ist Let It Snow. Ich singe die zweite Strophe. Dann singe ich Winter Wonderland, und Ma singt in Oberstimme mit.

Jeden Morgen haben wir tausend Sachen zu erledigen, zum Beispiel Pflanze Wasser zu geben, und zwar in Becken, damit nichts verschüttet. Dann stellen wir ihn wieder in seiner Untertasse auf Kommode. Früher hat Pflanze auf Tisch gewohnt, aber dann hat das Gesicht von Gott ihm ein Blatt abgebrannt. Neun hat er noch übrig, sie sind so breit wie meine Hand und haben oben drauf so einen Pelz. Wie Hunde, sagt Ma. Aber Hunde sind nur Fernseher. Neun mag ich nicht. Ich sehe, dass da noch ein kleines Blättchen kommt, das zählt als zehn.

Spinne ist in echt. Ich habe sie schon zwei Mal gesehen. Jetzt suche ich sie, aber da ist nur ein Netz zwischen dem Bein von Tisch und ihrer Wohnung. Tisch kann gut im Gleichgewicht stehen, das ist gar nicht so einfach. Wenn ich auf einem Bein stehe, kann ich zwar superlange so stehen bleiben, aber irgendwann falle ich doch immer um. Ma erzähle ich nichts von Spinne. Sie macht nämlich immer die Netze weg, weil sie findet, die sind schmutzig, aber für mich sehen sie aus wie extra dünnes Silber. Ma mag nur die Tiere, die auf dem Naturplaneten rumlaufen und sich gegenseitig auffressen, die in echt aber nicht. Als ich vier war, habe ich mal Ameisen gesehen, die krabbelten Herd hoch. Da ist sie hingelaufen und hat alle erspritzt, damit sie nicht unser Essen essen. Gerade eben sind sie noch am Leben und im nächsten Moment nur noch Dreck. Ich habe so viel geweint, dass mir fast die Augen geschmolzen sind. Und ein anderes Mal war da in der Nacht so ein Ding, das hat bssssst bsssst bssssst gemacht und mich gebissen, und Ma hat es unter Regal gegen Türewand geklatscht, es war nämlich eine Mücke. Der Fleck auf dem Kork ist immer noch da, trotzdem sie geschrubbt hat, das war mein Blut, und die Mücke hat es gestohlen wie ein winziger Vampir. Es war das einzige Mal überhaupt, dass Blut aus mir rausgekommen ist.

Ma nimmt aus einer Silberpackung mit 28 kleinen Raumschiffen eine Pille, dann nehme ich ein Vitamin aus der Flasche, auf der ein Junge Handstand macht, und sie eins aus der großen Flasche mit dem Bild von einer Frau, die Tennis macht. Vitamine sind Medizin, damit man nicht krank wird und zu früh in den Himmel kommt. Ich will da überhaupt nie hin, ich will nicht sterben, trotzdem Ma sagt, es ist gar nicht so schlimm, wenn wir erst mal hundert sind und keine Lust mehr auf Spielen haben. Außerdem nimmt sie eine Scherztablette. Manchmal nimmt sie auch zwei, aber nie mehr als zwei, weil manche Sachen zwar gut für einen sind, aber bei zu viel sind sie plötzlich schlecht.

»Ist es Schlimmerzahn?«, frage ich. Der wohnt ganz hinten in ihrem Mund, oben, und der ist der Schlimmste.

Ma nickt.

»Warum nimmst du nicht an jedem Teil von jedem Tag zwei Scherztabletten?«

Sie verzieht das Gesicht. »Dann würde ich abhängig.«

»Was ist …«

»Abhängig wäre, als wenn ich an einem Haken festhinge, weil ich sie dann immer bräuchte. Wahrscheinlich brauche ich sowieso bald immer mehr.«

»Was ist denn daran so schlimm, wenn man was braucht?«

»Das ist schwer zu erklären.«

Ma weiß alles, außer den Sachen, an die sie sich nicht mehr erinnert. Und manchmal sagt sie auch, dass sie mir etwas noch nicht erklären kann, weil ich zu jung bin.

»Sobald ich nicht mehr an meine Zähne denke, tun sie auch nicht mehr so weh«, erklärt sie mir.

»Wie geht das denn?«

»So was nennt man Willenssache. Wenn ich es nicht will, ist die Sache auch nicht mehr so wichtig.«

Wenn von mir ein Teil wehtut, ist die Sache immer wichtig. Ma streichelt mir die Schulter, trotzdem meine Schulter gar nicht wehtut, aber es gefällt mir trotzdem.

Ich verrate ihr immer noch nichts von dem Netz. Es ist komisch, wenn ich etwas ganz für mich allein habe, ohne Ma. Alles andere gehört uns beiden zusammen. Ich nehme mal an, dass mein Körper mir allein gehört und die Ideen, die in meinem Kopf passieren. Aber meine Zellen sind aus ihren Zellen gemacht, also gehöre ich irgendwie auch ihr. Und wenn ich ihr sage, was ich denke, und sie mir sagt, was sie denkt, dann springen die Ideen von jedem von uns in den anderen Kopf, so wie wenn man mit blauem Buntstift über gelben malt, dann wird grün draus.

Um 08:30 drücke ich den Anschalter von Fernsehen und probiere alle drei aus. Ich finde Dora, hurra! Ganz langsam schiebt Ma Häschen hin und her, damit es mit seinem Kopf und seinen Ohren das Bild besser macht. Einmal, als ich vier war, ist Fernsehen gestorben, und ich habe geweint, aber am Abend hat Old Nick dann einen Zauberkonvertor mitgebringt und damit Fernsehen wieder lebendig gemacht. Hinter drei sind alle anderen Kanäle total fusselig, und wir gucken die nie, weil es schlimm für die Augen ist. Nur wenn Musik kommt, legen wir Mummeldecke drüber und hören einfach durch ihr graues Fell und wackeln mit dem Popo.

Heute lege ich Dora zur Begrüßung meine Finger auf den Kopf und erzähle ihr von meinen neuen Superkräften, weil ich jetzt fünf bin. Sie lächelt. Sie hat riesig viel Haar, einen richtigen braunen Helm mit spitzen Zacken und so groß wie der Rest von ihr. Ich setze mich in Bett auf Mas Schoß und gucke zu. Ich rutsche ein bisschen hin und her, damit ich nicht auf ihren spitzen Knochen sitze. Ma hat nicht viele weiche Stellen, aber die sind dafür superweich.

Dora sagt manchmal Sachen, die gar keine richtige Sprache sind, sondern Spanisch, zum Beispiel lo hicimos. Sie hat immer Rucksack dabei, der ist innen größer als außen und hat alles drin, was Dora so braucht, zum Beispiel Leitern oder Raumanzüge oder Sachen zum Tanzen oder für Fußball oder Flöte spielen und für die Abenteuer mit ihrem allerbesten Affenfreund Boots. Dora sagt immer, dass sie meine Hilfe braucht, ob ich zum Beispiel irgendein Zauberding finden kann, und dann wartet sie, bis ich Ja sage. Ich rufe: »Hinter der Palme«, und schon klickt der blaue Pfeil direkt hinter die Palme, und sie sagt: »Danke.« Die anderen Personen im Fernsehen hören einem überhaupt nicht zu. Die Karte zeigt jedes Mal drei Orte, am Anfang müssen wir an den ersten, damit wir von da an den zweiten kommen und von da dann an den dritten. Ich gehe mit Dora und Boots los, die zwei halten Händchen. Ich singe alle Lieder mit, besonders die mit Purzelbaum oder Abklatschen oder dem verrückten Hühnertanz. Wir müssen immer auf den listigen Fuchs Swiper achtgeben. »Swiper, nicht stehlen«, rufen wir dreimal, dann wird er ganz sauer und sagt: »Ach, Mensch!« und läuft weg. Einmal hat Swiper sich einen Roboterschmetterling mit Fernbedienung gebastelt, aber alles ging schief, und er hat aus Versehen seine eigene Maske und seine Handschuhe gestohlen, total lustig. Manchmal fangen wir auch die Sterne und tun sie in eine Tasche von Rucksack. Ich würde mir immer den Bimmelstern aussuchen, der alles aufweckt, oder den Zauberstern, der sich in alles Mögliche verwandeln kann.

Auf den anderen Planeten sind meistens nur Personen, von denen passen Hunderte auf den Bildschirm, außer manchmal, wenn eine davon ganz groß und nah ist. Statt Haut haben sie Kleider, die Gesichter sind ganz rosa oder gelb oder braun oder fleckig und voller Haare, mit ganz roten Mündern und riesigen Augen mit schwarzen Rändern. Sie lachen und schreien viel. Am liebsten würde ich die ganze Zeit Fernsehen zugucken, aber davon kriegt man eine weiche Birne. Bevor ich aus dem Himmel gekommen bin, hat Ma ihn den ganzen Tag angelassen und sich in einen Zombie verwandelt, das ist so was wie ein Geist, aber einer, der der so tock, tock rumläuft. Jetzt schaltet sie ihn immer nach einer Sendung aus, dann vermehren sich die Zellen den Tag über wieder, und nach dem Abendessen können wir noch eine Sendung angucken, und im Schlaf wächst wieder neues Gehirn.

»Nur noch eine, es ist doch mein Geburtstag. Bitte, bitte.«

Ma macht den Mund auf und wieder zu. Dann sagt sie: »Ach, na gut.« Die Werbung macht sie immer auf stumm, weil die unser Gehirn noch schneller zu Brei macht, bis es einem aus den Ohren tropft.

Ich sehe mir die Spielsachen an, es gibt einen tollen Laster und ein Trampolin und Bionicle-Figuren. Zwei Jungen kämpfen mit Transformern in der Hand gegeneinander, aber sie sind lieb, keine Bösen.

Dann kommt das Programm, es ist SpongeBob Schwammkopf. Ich laufe hin und berühre ihn und Seestern Patrick, aber nicht Thaddäus Tentakel, der ist eklig. Es kommt eine gruselige Geschichte über einen Riesenbleistift. Ich gucke durch Mas Finger, die sind alle doppelt so lang wie meine.

Nichts kann Ma Angst machen. Außer vielleicht Old Nick. Meistens nennt sie ihn einfach nur der, ich wusste noch nicht mal einen Namen für ihn, bis ich irgendwann einen Zeichentrickfilm über einen gesehen habe, der in der Nacht kommt und Old Nick heißt. So nenne ich den Wirklichen jetzt, weil er auch in der Nacht kommt, aber er sieht nicht aus wie der Fernseher-Mann, weil, der hat einen Bart und Hörner und so Sachen. Einmal habe ich Ma gefragt, ob er alt ist. Sie hat gesagt, fast doppelt so alt wie sie, und das ist ziemlich alt.

Sobald der Abspann läuft, steht sie auf und schaltet Fernseher aus.

Mein Pipi ist gelb, das kommt von den Vitaminen. Ich setze mich hin, mache Kacka und sage wie immer: »Tschüs und ab ins Meer.« Danach ziehe ich runter und gucke zu, wie die Schüssel wieder vollläuft und dabei blubber glucker plätscher macht. Dann schrubbe ich mir die Hände, bis es sich anfühlt, als würde die Haut abgehen, so weiß ich, dass ich sie genug gewaschen habe.

»Unter Tisch ist ein Netz«, sage ich, dabei wollte ich das überhaupt nicht. »Es ist von Spinne, sie ist in echt. Ich habe sie zweimal gesehen.«

Ma lächelt, aber nicht richtig.

»Bitte mach es nicht weg, ja? Sie ist noch nicht mal da, aber vielleicht kommt sie ja wieder.«

Ma ist schon auf den Knien und guckt unter Tisch. Ich kann ihr Gesicht erst sehen, als sie sich die Haare hinters Ohr schiebt. »Weißt du was? Ich lasse es da, bis wir wieder putzen, okay?«

Das ist am Dienstag, also in drei Tagen. »Okay.«

»Und weißt du, was noch? Jetzt, wo du fünf bist, müssen wir einen Strich machen, wie groß du bist.«

Ich springe ganz hoch in die Luft.

Normalerweise darf ich nirgendwo in Raum oder auf irgendwelchen Möbeln malen. Als ich zwei war, habe ich mal auf ein Bein von Bett gekritzelt, und jetzt tippt Ma jedes Mal, wenn wir putzen, auf das Gekritzel und sagt: »Schau dir das an, damit müssen wir jetzt bis in alle Ewigkeit leben.« Aber mein Geburtstagsgroß ist was anderes, nämlich klitzekleine Zahlen neben Türe, eine schwarze 4 und da drunter eine schwarze 3 und da drunter eine rote 2, die Farbe hatte nämlich der alte Schreiber, bis er alle war. Ganz unten ist eine rote 1.

»Stell dich gerade hin«, sagt Ma. Der Schreiber kitzelt mich oben am Kopf.

Als ich weggehe, steht da eine schwarze 5 ein bisschen über der 4. Fünf ist meine Lieblingszahl von allen, jede Hand von mir hat fünf Finger, genauso ist es bei den Zehen und bei Ma, wir sind ja auch aus uns geschneidet. Neun ist meine schlimmste Lieblingszahl. »Was ist mein Groß?«

»Deine Größe. Also, genau weiß ich es gar nicht«, sagt sie. »Vielleicht könnten wir ja irgendwann mal als Sonntagsgutti um ein Maßband bitten.«

Ich dachte immer, Maßband ist nur Fernseher. »Nö, lieber was Süßes.« Ich lege meinen Finger auf die 4 und stelle mich mit dem Gesicht dagegen, mein Finger ist auf meinem Haar. »Diesmal bin ich nicht viel mehr groß geworden.«

»Das ist normal.«

»Was heißt normal?«

»Das heißt …« Ma beißt sich auf die Lippen. »Das heißt, alles in Ordnung. No hay problema.«

»Aber guck mal, wie groß meine Muskeln sind.« Ich springe auf Bett. Ich bin der Riesentöter Muck mit den Siebenmeilenstiefeln.

»Wahnsinn«, sagt Ma.

»Gigantisch.«

»Kolossal.«

»Irre.«

»Enorm«, sagt Ma.

»Gigantossal.« Das ist ein Wörtersandwich, weil wir zwei zusammenpappen.

»Nicht übel.«

»Weißt du, was?«, sage ich. »Wenn ich zehn bin, dann bin ich ganz großgezogen.«

»Tatsächlich?«

»Ich werde immer größer und immer größer, und dann bin ich menschlich.«

»Menschlich bist du eigentlich jetzt schon«, sagt Ma. »Wir sind beide menschlich.«

Ich dachte immer, das richtige Wort für uns wäre »in echt«. Die Personen in Fernseher sind nämlich nur aus Farben.

»Meintest du vielleicht männlich, mit ä?«

»Ja«, sage ich. »Männlich und mit einem Jungen in einem Ei in meinem Bäuchlein, und der ist dann auch in echt. Oder sonst werde ich ein Riese, aber ein lieber und sooo groß.« Ich springe hoch und titsche ganz oben gegen Bettwand, wo schon schräg Dach hochgeht.

»Tolle Idee«, sagt Ma.«

Ihr Gesicht ist ganz alle geworden, das heißt, ich habe was Falsches gesagt, aber ich weiß nicht, was.

»Dann ich springe durch den Oberlicht ins Weltall und danach, boing boing, zwischen den Planeten hin und her«, erkläre ich ihr. »Ich besuche Dora und Spongebob und meine ganzen Freunde. Und ich habe einen Hund, der heißt Lucky.«

Ma tut so, als ob sie lächelt. Sie räumt den Schreiber wieder auf Regal.

»Wie alt bist du auf deinem nächsten Geburtstag?«, frage ich sie.

»Siebenundzwanzig.«

»Boah.«

Ich glaube nicht, dass sie jetzt wieder froh ist.

Während Wanne einläuft, holt Ma Labyrinth und Fort von Schrank. An Labyrinth basteln wir schon, seit ich zwei war, sie ist aus lauter Klorollen, die haben wir zu Tunneln zusammengeklebt, die nach überallhin umbiegen. Flummi macht es unheimlich Spaß, sich in Labyrinth zu verirren und zu verstecken, dann muss ich ihn rufen und rütteln und schütteln und kippen und umdrehen, bis er endlich rauskommt, uff!

Danach schicke ich andere Sachen in Labyrinth, zum Beispiel eine Erdnuss oder ein Stückchen blauen Stift oder eine kurze Spaghetti, nicht gekocht. Die jagen sich in den Tunneln und schleichen sich ran und rufen buh. Sehen kann ich sie nicht, aber ich höre am Karton, und so kann ich rauskriegen, wo sie sind. Zahnbürste will auch mal, aber ich sage ihm, tut mir leid, du bist zu lang. Dafür springt er in Fort und bewacht einen Turm. Der Fort ist aus lauter Blechdosen und Vitaminfläschchen gemacht. Jedes Mal, wenn wir eine leere haben, bauen wir ihn größer. Fort kann in alle Richtungen gucken und spritzt heißes Öl auf die Feinde, und die haben keine Ahnung, dass er auch geheime Ritzen für Messer hat, haha. Ich würde ihn gern mal in Wanne mitnehmen, dann wäre er eine Insel, aber Ma sagt, dann wird er unklebrig.

Wir machen unsere Pferdeschwänze auf und lassen unsere Haare schwimmen. Ich liege auf Ma und mache keinen Mucks. Ich höre, wie ihr Herz wummert. Wenn sie atmet, gehen wir immer ein bisschen rauf und runter. Mein Peterchen schwebt hoch.

Weil mein Geburtstag ist, darf ich aussuchen, was jeder von uns anzieht. Mas Sachen wohnen in der oberen Schublade von Kommode und meine in der unteren. Ich suche mir ihre Lieblings-Bluejeans aus, die mit den roten Nähten, die sie nur bei besonderen Anlässen trägt, weil sie an den Knien schon ausfransen. Für mich suche ich den gelben Kapuzenpulli aus. Bei der Schublade passe ich auf, aber trotzdem kommt die rechte Ecke raus, und Ma muss sie wieder reinhauen. Zusammen ziehen wir meinen Kapuzenpulli runter, und erst will er mein Gesicht fressen, aber dann, plopp, ist er an.

»Soll ich nicht doch mal einen kleinen Schlitz in den V-Ausschnitt machen?«, fragt Ma.

»Kommt nicht in die Tüte.«

Beim Sport lassen wir die Socken aus, weil nackte Füße besser pappen. Heute will ich als Erstes Schnelllauf machen, also heben wir Tisch auf Bett und Stuhlschaukel und Teppich oben drüber. Schnelllauf heißt, es geht von Schrank bis zu Lampe um Bett rum, auf Boden ist ein schwarzes C gemalt. »He, guck mal, ich kann hin und zurück mit nur sechzehn Schritten.«

»Toll. Als du vier warst, waren es doch noch achtzehn Schritte, oder?«, sagt Ma. »Was glaubst du, wie oft du heute hin und her laufen kannst?«

»Fünfmal.«

»Wie wäre es mit fünf mal fünf? Das wäre deine Lieblingszahl im Quadrat.«

Wir zählen das mit unseren Fingern. Ich kriege 26 raus, aber Ma sagt 25, also mache ich es noch mal und kriege auch 25 raus. Sie stoppt mich auf Uhr. »Zwölf«, ruft sie aus. »Siebzehn. Prima machst du das.«

Ich atme, huh huh huh.

»Schneller.«

Ich laufe extra schnell, so schnell, wie Supermann fliegt.

Als Ma mit Schnelllauf dran ist, muss ich auf dem Schreibpapier die Zahl am Start aufschreiben und dann die, wenn sie fertig ist. Dann teilen wir die auseinander und gucken, wie schnell sie war. Heute ist ihre Zahl neun Sekunden größer als meine, das heißt, ich habe gewinnt, deshalb springe ich immer wieder hoch, strecke die Zunge heraus und furze mit dem Mund. »Komm, wir machen mal ein Rennen gleichzeitig.«

»Das wäre bestimmt lustig«, sagt sie. »Aber du weißt ja, das haben wir schon mal probiert, und dabei habe ich mir an der Kommode die Schulter gestoßen.«

Manchmal vergesse ich Sachen, dann sagt Ma sie mir, und danach weiß ich sie wieder.

Wir nehmen alle Möbel von Bett runter und legen Teppich wieder so hin, dass sie Laufbahn versteckt, damit Old Nick das schmutzige C nicht sieht.

Jetzt sucht Ma sich Trampolinspringen aus, aber ich bin der Einzige, der auf Bett hüpft, weil Ma ihn vielleicht kaputt machen würde. Sie spricht den Kommentar: »Eine gewagte Drehung mitten in der Luft vom jungen U.S.-Champion …«

Als Nächstes suche ich mir Simon Says aus und danach sagt Ma, wir sollen die Socken wieder anziehen und Toter Mann spielen. Da liegt man ganz labberig da wie der Seestern Patrick, mit labberigen Fußnägeln, labberigem Bauchnabel, labberiger Zunge und sogar labberigem Gehirn. Ma fängt es an zu jucken, und sie bewegt sich. Ich gewinne schon wieder.

Es ist 12:13, also kann jetzt das Mittagessen passieren. Mein Lieblingsteil vom Beten ist das täglich Brot. Beim Spielen habe ich zu sagen, aber beim Essen Ma, sie erlaubt zum Beispiel nicht, dass wir zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen immer Cornflakes essen, davon würden wir vielleicht krank, und außerdem wären sie dann zu schnell alle. Als ich null und eins war, hat Ma mein Essen immer für mich klein geschnipselt, aber dann sind mir meine ganzen zwanzig Zähne gewachsen, und jetzt kann ich alles zerbeißen. Heute gibt es zum Mittagessen Thunfisch und Cracker und den Deckel von der Dose aufzurollen ist meine Aufgabe, weil Mas Handgelenk das nicht kann.

Ich bin ein bisschen wibbelig, deshalb sagt Ma, wir wollen noch Orchester spielen, dabei laufen wir rum und gucken, was für Krach wir mit allen möglichen Sachen machen können. Ich trommle auf Tisch, und Ma macht klopf klopf gegen die Beine von Bett und dann flupp flupp auf den Kissen. Ich mache mit Messer und Gabel ding ding gegen Türe, und unsere Zehen machen bimm gegen Herd, aber mein Lieblingskrach ist es, wenn ich auf das Pedal von Müll trete, weil dann mit einem Dong der Deckel hochgeht. Mein bestes Instrument ist Zeng, so heißt die Cornflakes-Schachtel, die ich mit lauter bunten Beinen und Schuhen und Mänteln und Köpfen aus dem alten Katalog vollgeklebt habe und dann drei Gummibänder drumrum gespannt. Jetzt bringt uns Old Nick uns keine Kataloge mehr mit, in denen wir unsere eigenen Anziehsachen aussuchen können. Ma sagt, er wird immer gemeiner.

Ich klettere auf Stuhlschaukel und hole von Regal die Bücher, damit baue ich auf Teppich einen Wolkenkratzer, zehn Stockwerke.

Früher hatten wir neun Bücher, aber nur vier mit Bildern drin:



Mein großes Buch der Kinderlieder

Der Bagger Dylan

Das Häschen, das weglief

Mein Aufklappbuch Flughafen



Und dann gibt es noch fünf, die nur vorne drauf ein Bild haben:



Die Hütte

Bis(s) zum Morgengrauen

Tagebuch eines Engels

Bittersüße Liebe

Sakrileg



Die Bücher ohne Bilder liest Ma so gut wie nie, außer sie ist verzweifelt. Als ich vier war, habe ich gefragt, ob ich als Sonntagsgutti noch ein Buch mit Bildern haben dürfte, so kam dann Alice im Wunderland, und die gefällt mir, bloß hat sie zu viele Wörter und viele davon sind alte.

Heute suche ich mir Der Bagger Dylan aus, er ist ziemlich weit unten, und deshalb macht er den ganzen Wolkenkratzer kaputt, krawumm.

»Schon wieder Dylan?« Ma verzieht das Gesicht, und dann spricht sie mit ihrer lautesten Stimme:



Hierrr kommt Dylan, der starke Bagger

Er schaufelt und schaufelt und wird nicht schlapper

Der lange Arm löffelt kräftig und schnell

Sein Lieblingsschmaus sind Lehm und Geröll

Er dreht sich im Kreis und rollt hin und her

Bis alles platt ist, das fällt ihm nicht schwer



Auf dem zweiten Bild ist eine Katze und auf dem dritten ein Geröllhaufen. Geröll, das sind Steine, so schwer wie die Keramiksachen, aus denen Wanne und Becken und Klo gemacht sind, nur nicht so glatt. Katzen und Steine sind aber nur Fernseher. Im fünften Bild fällt die Katze runter, aber Katzen haben neun Leben und nicht nur eins wie ich und Ma.

Ma sucht fast immer Das Häschen, das weglief aus. Auch weil da am Ende die Mutter das kleine Häschen wieder einfängt und sagt: »Iss eine Möhre.« Häschen sind nur Fernseher, aber Möhren gibt es in echt, mir gefällt das Knacken, das sie machen. Mein Lieblingsbild ist das, wo das Häschen sich in einen Fels auf dem Berg verwandelt, und die Häschenmutter muss hochklettern und es suchen. Berge sind zu groß, um in echt zu sein, aber einmal habe ich einen im Fernseher gesehen, an dem hing eine Frau an Seilen. Frauen sind auch nicht in echt so wie Ma, Mädchen und Jungen auch nicht. Männer sind auch nicht in echt, außer Old Nick, und bei dem bin ich mir nicht mal sicher, ob der echt in echt ist. Vielleicht halb und halb? Er bringt unser Essen und das Sonntagsgutti und verschwindet die Sachen in Müll, aber menschlich wie wir ist er nicht. Er passiert nur in der Nacht, so wie Fledermäuse. Vielleicht macht Türe ihn mit seinem piep piep piep wach, und dann wird die Luft anders. Ich glaube, Ma redet deshalb nicht gern was über ihn, damit er nicht noch mehr in echt wird.

Jetzt rutsche ich auf ihrem Schoß herum, damit ich mir mein Lieblingsbild angucken kann, wo das Jesuskind mit Johannes dem Täufer spielt, der ist gleichzeitig sein Freund und sein großer Vetter. Maria ist auch da, sie hat sich in den Schoß von ihrer Ma gekuschelt, das ist die Großmutter vom Jesuskind, so wie Doras abuela. Es ist ein komisches Bild ohne Farben, und außerdem sind ein paar Hände und Füße ab. Ma sagt, es ist noch nicht fertig. Dass das Jesuskind in Marias Bäuchlein zu wachsen anfing, das hat ein Engel gemacht, der kam runtergezoomt wie ein Geist, aber ein richtig cooler mit Federn. Maria war total überrascht und hat gesagt: »Wie soll das zugehen?«, und danach: »Okay, mir geschehe nach seinem Wort.«

Als das Jesuskind dann an Weihnachten aus ihrer Vagina geflutscht ist, hat sie es in eine Krippe gelegt, aber nicht, damit die Kühe an ihm knabbern, sie sollten es nur warm anblasen, weil es ein Zauberkind war.

Ma schaltet Lampe aus, und wir legen uns hin, als Erstes sagen wir das Hirtengebet mit den grünen Auen. Ich glaube, die sind so was wie Zudeck, aber wie grüner Schaum anstatt weiß und platt. (Wenn der mal überläuft, gibt das bestimmt eine Riesensauerei.) Ich kriege was, und zwar aus der Rechten, weil in der Linken nicht viel drin ist. Als ich drei war, habe ich noch immer ganz viel gekriegt, aber dann wurde ich vier, und seitdem habe ich so viel mit allen möglichen anderen Sachen zu tun, dass ich nur noch ein paarmal am Tag oder in der Nacht ein bisschen was kriege. Ich wünschte, ich könnte gleichzeitig trinken und reden, aber ich habe nur einen Mund.

Beinahe schalte ich aus, aber nicht richtig. Ich glaube, Ma schon, weil sie so atmet.





Nach dem Mittagsschläfchen sagt Ma, sie hat rausgekriegt, dass wir gar nicht um ein Maßband bitten müssen. Wir können uns selbst ein Lineal basteln.

Dafür recyceln wir die Cornflakes-Schachtel von Alte Ägyptische Pyramide. Ma zeigt mir, wie ich einen Streifen abschneiden muss, der so groß ist wie ihr Fuß, deshalb heißt das ja auch in manchen Ländern Fuß, sagt Dora. Ma malt darauf dreimal zehn dünne Linien. Ich messe ihre Nase, die ist fünf Zentimeter lang. Meine Nase ist drei Zentimeter lang, das schreibe ich auf. Ma macht mit Lineal in Zeitlupe Purzelbäume an Türewand hoch, wo meine Groß-Zahlen stehen. Sie sagt, ich bin hundert Zentimeter.

»Komm«, sage ich. »Wir messen Raum.«

»Was denn, den ganzen?«

»Müssen wir denn sonst was machen?«

Sie guckt mich komisch an. »Wohl kaum.«

Ich schreibe alle Zahlen auf, zum Beispiel ist das Groß von Türewand bis da, wo Dach anfängt, 200 Zentimeter. »Weißt du was?« sage ich Ma. »Jede Korkfliese ist beinahe ein Fitzelchen größer als Lineal.«

»Mensch«, ruft sie und schlägt sich auf die Stirn. »Die sind garantiert 30 Zentimeter im Quadrat. Bestimmt habe ich das Lineal ein bisschen zu kurz gemacht. Lass uns einfach nur die Fliesen zählen, das geht einfacher.«

Ich fange an, das Groß an Bettwand zu zählen, aber Ma sagt, alle Wände sind dieselben. Eine andere Regel ist, dass das Breit von den Wänden genauso ist wie das Breit von Boden, ich kriege in beide Richtungen 330 Zentimeter raus, das heißt, Boden ist ein Quadrat. Tisch ist ein Kreis, das bringt mich durcheinander, aber Ma misst sie in der Mitte, wo sie am meisten breit ist, und das sind hundert Zentimeter. Mein Stuhl ist 95 Zentimeter hoch und der von Ma ganz genauso, das sind fünf Zentimeter weniger als ich. Dann hat Ma keine richtige Lust mehr weiterzumessen, deshalb hören wir auf.

Ich male die Zahlen mit unseren Buntstiften ganz verschieden an. Davon haben wir fünf, sie sind blau, orange, grün, rot und braun. Als ich fertig bin, sieht das Blatt aus wie Teppich, nur verrückter. Ma sagt, ich kann es ja zum Abendessen als Set benutzen.

Heute Abend suche ich mir Spaghetti aus, außerdem gibt es frischen Brokkoli, aber den suche ich mir nicht aus, er ist einfach nur gut für uns. Mit Zickzackmesser hacke ich den Brokkoli in Schnipsel. Wenn Ma nicht hinguckt, schlucke ich manchmal einen runter, und dann sagt sie: »Oh nein, wo ist denn das große Stück hin?«, sie ist aber nicht in echt sauer, weil Rohkost uns besonders lebendig macht.

Auf den zwei Platten von Herd macht Ma alles heiß, die werden dann ganz rot. Ich darf die Knöpfe nicht anfassen, weil Ma nämlich darauf aufpassen muss, dass es nie ein Feuer gibt so wie im Fernseher. Wenn die Platten nur einmal an so was wie ein Trockentuch oder sogar noch unsere Anziehsachen kämen, dann würde es überall Flammen mit orangenen Zungen geben. Die würden Raum zu Asche verbrennen, und wir würden husten und ersticken, und es täte ganz schlimm weh.

Ich mag den Geruch nicht, wenn Brokkoli kocht, aber er ist immer noch besser als der von grünen Bohnen. Gemüse ist alles in echt, aber Eiscreme ist Fernseher, ich wünschte, die wäre auch in echt. »Ist Pflanze Rohkost?«

»Na ja, irgendwie schon, aber nicht zum Essen.«

»Warum hat er keine Blumen mehr?«

Ma zuckt die Achseln und rührt die Spaghetti. »Er ist müde geworden.«

»Dann sollte er mal schlafen.«

»Wenn er aufwacht, ist er trotzdem noch müde. Vielleicht hat die Erde in seinem Topf nicht mehr genügend Nahrung.«

»Er könnte meine Brokkoli haben.«

Ma lacht. »Nicht solche Nahrung. Pflanzennahrung.«

»Wir könnten doch danach fragen, als Sonntagsgutti.«

»Ich habe schon eine lange Liste von Sachen, nach denen wir fragen müssen.«

»Wo?«

»Bloß im Kopf«, sagt sie. Sie fischt einen Spaghettiwurm raus und zerbeißt ihn. »Ich glaube, sie mögen Fisch.«

»Wer?«

»Pflanzen. Sie mögen verdorbenen Fisch. Oder waren es Fischgräten?«

»Bäh.«

»Vielleicht können wir das nächste Mal, wenn wir Fischstäbchen essen, ein bisschen unter der Pflanze vergraben.«

»Aber nicht von meinen.«

»Na gut, dann ein bisschen von meinen.«

Spaghetti sind mein Leibgericht ist das Lieblingslied der Hackebällchen, und das singe ich jetzt, während Ma unsere Teller vollmacht.

Nach dem Abendessen kommt etwas Irres, wir machen nämlich einen Geburtstagskuchen. Ich wette, der wird delicioso, mit so vielen Kerzen, wie ich alt bin, und am Brennen, so was habe ich noch nie in echt gesehen.

Ich bin der beste Eierbläser überhaupt, der Glibber kommt bei mir alles auf einmal rausgeflutscht. Für den Kuchen muss ich drei ausblasen, dafür nehme ich die Nadel von Impression – Sonnenaufgang. Ich glaube, das verrückte Pferd würde sauer werden, wenn ich Guernica abnähme, trotzdem ich die Nadel immer sofort wieder zurückstecke. Ma findet, dass Guernica das beste Meisterwerk ist, weil es am meisten in echt ist, aber in Wahrheit ist es total komisch. Das Pferd schreit mit ganz vielen Zähnen, weil ein Speer in es hineingestecht wird, plus ein Stier und eine Frau, die ein labberiges Kind mit dem Kopf nach unten hält, und eine Lampe mit einem Auge. Und am schlimmsten ist der dicke fette Fuß in der Ecke, jedes Mal denke ich, der tritt auf mich drauf.

Ich darf den Löffel ablecken, dann schiebt Ma den Kuchen in den heißen Bauch von Herd. Ich versuche, gleichzeitig mit allen Eierschalen zu jonglieren. Ma fängt eine auf. »Sollen wir daraus kleine Jacks mit Eierköpfen basteln?«

»Och nö«, sage ich.

»Wir könnten ihnen ein Nest aus Mehlteig machen. Wenn wir morgen die rote Beete auftauen, können wir ihn mit dem Saft rot färben …«

Ich schüttele den Kopf. »Lieber an Eierschlange dranmachen.«

Eierschlange ist länger als einmal ganz rund um Raum, wir basteln sie schon, seit ich drei war. Sie wohnt aufgerollt unter Bett und passt auf uns auf. Die meisten von ihren Eiern sind braun, aber manchmal gibt es auch ein weißes, auf manchen sind auch mit Bleistift oder Buntstift oder Kuli Muster gemalt oder mit Mehlklebe Stückchen aufgeklebt, eine Krone aus Folie oder ein Gürtel aus gelbem Band und für die Haare Bindfäden oder Fitzelchen von Klopapier. Ihre Zunge ist eine Nadel, von der aus geht der rote Faden ganz durch ihn durch. In letzter Zeit holen wir Eierschlange nicht mehr oft raus, weil sie sich manchmal verheddert, und die Eier brechen an den Löchern aus oder fallen sogar ab, und aus den Stückchen können wir dann nur noch ein Mosaik basteln. Heute stecke ich die Nadel in ein Loch von den neuen Eiern, dann muss ich sie hin und her baumeln lassen, bis sie ganz spitz aus dem andern Loch wieder rauskommt. Gar nicht einfach. Jetzt ist sie drei Eier länger. Ganz vorsichtig wickle ich sie wieder auf, damit sie unter Bett passt.

Auf meinen Geburtstagskuchen warten dauert stundenlang. Wir atmen die schöne Luft ein. Danach, während er abkühlt, machen wir etwas, was Glasur heißt, aber es ist überhaupt nicht aus Glas, nur aus Zucker, der mit Wasser geschmolzen ist. Ma verteilt ihn über den ganzen Kuchen. »Jetzt kannst du die Schokolädchen draufmachen, ich spüle derweil ab.«

»Aber es gibt gar keine.«

»Tataa«, sagt sie, hält eine kleine Tüte hoch und wackelt damit, raschel raschel. »Ich habe ein paar von denen aufgehoben, die wir vor drei Wochen als Sonntagsgutti gekriegt haben.«

»Du listige Ma. Wo?«

Sie macht ihren Mund zu wie einen Reißverschluss. »Und was ist, wenn ich noch mal ein Versteck brauche?«

»Sag es mir!«

Ma lächelt nicht mehr. »Schreien tut meinen Ohren weh.«

»Sag mir das Versteck.«

»Jack …«

»Ich will nicht, dass es Verstecke gibt.«

»Was ist denn daran so schlimm?«

»Zombies.«

»Ach so.«

»Oder Ungeheuer und Vampire.«

Sie macht Schränkchen auf und holt die Reisschachtel heraus. Dann zeigt sie in das dunkle Loch. »Ich habe sie einfach nur im Reis versteckt. Okay?«

»Okay.«

»Irgendwas Gruseliges würde da gar nicht hineinpassen. Du kannst jederzeit nachsehen.«

In der Tüte sind fünf Schokolädchen, rosa, blau, grün und zwei rote. Ein bisschen von der Farbe klebt auf meinen Fingern, als ich sie drauftue, und auch Glasur. Ich lecke jedes Fitzelchen ab.

Jetzt müssen die Kerzen kommen, aber es gibt keine. »Du schreist ja schon wieder«, sagt Ma und hält sich die Ohren zu.

»Aber du hast gesagt, Geburtstagskuchen, und es ist kein Geburtstagskuchen, wenn nicht fünf Kerzen am Brennen sind.«

Sie pustet die Luft aus den Backen. »Das hätte ich dir vielleicht besser erklären müssen. Dafür sind doch die fünf Schokolädchen da. Die zeigen, dass du fünf bist.«

»So einen Kuchen will ich nicht.« Ich kann es nicht leiden, wenn Ma einfach nur ganz still abwartet. »Blöder Kuchen.«

»Jetzt beruhig dich mal wieder, Jack.«

»Du hättest als Sonntagsgutti nach Kerzen fragen müssen.«

»Aber letzte Woche haben wir nun mal Schmerztabletten gebraucht.«

»Ich nicht, nur du«, brülle ich.

Ma guckt mich an, als hätte ich ein neues Gesicht, das sie noch nie gesehen hat. Dann sagt sie: »Und außerdem weißt du doch, dass wir uns Sachen wünschen müssen, die er leicht besorgen kann.«

»Aber er kann alles besorgen.«

»Mag sein«, sagt sie. »Wenn er sich die Mühe machen würde …«

»Warum hat er Mühe gemacht?«

»Ich meine damit nur, dann müsste er vielleicht in zwei oder drei Geschäfte gehen, und das würde ihn sauer machen. Und was wäre, wenn er etwas einfach nicht findet? Dann würden wir vielleicht gar kein Sonntagsgutti kriegen.«

»Aber Ma«, lache ich. »Der geht doch nicht in Geschäfte. Geschäfte sind doch bloß Fernseher.«

Sie beißt sich auf die Lippen. Dann guckt sie den Kuchen an. »Na ja, jedenfalls tut es mir leid. Ich dachte, die Schokolädchen wären ein guter Ersatz.«

»Dumme Ma.«

»Ich Dummie.« Sie schlägt sich auf die Stirn.

»Schafskopf«, sage ich, aber nicht gemein. »Wenn ich nächste Woche sechs werde, besorgst du mal besser Kerzen.«

»Nächstes Jahr«, sagt Ma. »Du meintest nächstes Jahr.« Ihre Augen sind zu. Das machen sie manchmal immer, und dann sagt sie eine Zeit lang nichts. Als ich klein war, dachte ich noch, ihre Batterie ist alle, so wie es einmal bei Uhr passiert ist, für den mussten wir da als Sonntagsgutti auch nach einer neuen Batterie fragen.

»Versprochen?«

»Versprochen«, sagt sie und macht die Augen wieder auf.

Sie schneidet mir ein gigantisches Stück ab, und ich klaue alle fünf auf meins, als sie nicht hinguckt, die zwei roten, das in rosa, das grüne und das blaue. Und sie sagt: »Oh nein, schon wieder ist eins gestohlen, wie konnte das denn passieren?«

»Jetzt findest du sie nicht mehr, hahaha«, sage ich so wie Swiper, wenn er etwas von Dora stiehlt. Ich nehme eins von den roten und schwebe es in Mas Mund. Sie schiebt es an die vorderen Zähne, die weniger verfault sind, und knabbert lächelnd darauf herum.

»Guck mal.« Ich zeige es ihr. »Da ist ein Loch im Kuchen, wo bis gerade eben die Schokolädchen lagen.«

»Wie Krater«, sagt sie.

»Was sind Krater?«

»Löcher, wenn irgendwo etwas passiert ist. Ein Vulkan oder eine Explosion oder so etwas.«

Ich lege das grüne Schokolädchen zurück in seinen Krater und mache zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, bumm. Es fliegt hoch ins Weltall und von da zurück in meinen Mund. Mein Geburtstagskuchen ist das Beste, was ich jemals gegessen habe.

Ma hat im Moment keinen besonderen Appetit darauf. Der Oberlicht zieht das ganze Helle raus, er ist fast schwarz. »Heute ist die Tagundnachtgleiche«, sagt Ma. »Ich kann mich noch erinnern. An dem Morgen, als du geboren wurdest, haben sie das auch im Fernsehen angekündigt.«

»Was ist Tagundnachtgleiche?«

»Das heißt, dass es gleich viel Licht und Dunkel gibt.«

Für Fernseher ist es schon zu spät, wegen dem Kuchen. Auf Uhr steht 08:35. Mein gelber Kapuzenpulli reißt mir fast den Kopf ab, als Ma ihn hochzieht. Ich ziehe mein Schlaf-T-Shirt an und putze mir die Zähne. Ma bindet inzwischen den Beutel aus Müll zu und stellt ihn neben Türe, zusammen mit unserer Liste, die ich geschrieben habe und auf der steht: Bitte Nudeln, Linsen, Thunfisch, Käse (wenn nicht zu $), O-Saft, danke.

»Können wir nach Trauben fragen? Die sind doch gut für uns.«

Ma schreibt unter alles andere: Trauben wenn mögl. (oder irgendwelches Obst, frisch oder in der Dose).

»Erzählst du mir eine Geschichte?«

»Aber nur eine kurze. Wie wäre es mit … Jack, dem dicken fetten Pfannkuchen?«

Sie erzählt ganz schnell und lustig. Der dicke fette Pfannkuchen Jack springt aus dem Ofen und läuft und rollt und rollt und läuft, und niemand kann ihn fangen. Nicht die Miezekatze und nicht die Gans und nicht die Kuh-Muhkuh und nicht die Kinder. Aber am Ende ist er dumm und lässt sich vom Schwein über den Fluss tragen, und das frisst ihn auf.

Wenn ich ein Kuchen wäre, dann würde ich mich selbst aufessen, bevor ein anderer es könnte. Wir machen ein kurzes Gebet, das heißt, Hände zusammentun und Augen zu. Ich bete dafür, dass Johannes der Täufer und das Jesuskind mal mit Dora und Boots zum Spielen vorbeikommen. Ma betet für Sonnenschein, damit der den Schnee von Oberlicht schmilzt.

»Kann ich noch was kriegen?«

»Gleich morgen früh«, sagt Ma und zieht ihr T-Shirt wieder runter.

»Nein, heute Abend.«

Sie zeigt auf Uhr und da steht 08:57, nur noch drei Minuten bis neun. Deshalb husche ich in Schrank und lege mich auf mein Kissen und kuschel mich in Mummeldecke, die ist grau und ganz weich und hat einen roten Rand. Ich bin genau unter dem Bild von mir, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Ma steckt ihren Kopf rein.

»Drei Küsse?«

»Nein, fünf für Freund Fünf.«

Sie gibt mir fünf, dann quietscht sie die Tür zu.

Durch die Ritzen kommt immer noch Licht, deshalb kann ich ein bisschen von mir auf dem Bild sehen. Ich streichle das Papier, es ist ganz glatt. Ich mache mich so lang, dass mein Kopf gegen Schrank drückt und meine Füße auch. Ma zieht ihr Schlaf-T-Shirt an und nimmt die Scherztabletten. Abends immer zwei, weil Aua wie Wasser ist, sagt sie, sobald sie sich hinlegt, läuft es auseinander. Sie spuckt Zahnpasta. »Unser Freund Jack mag gern Gebäck«, sagt sie.

Ich überlege mir auch eins. »Unser Freund Zah redet Blabla.«

»Unser Freund Jeremia ruft laut Mamma mia.«

»Unser Freund Otto isst gerne Spaghetto.«

»Reim dich oder ich fress dich«, sagt Ma.

»Ach, Mensch«, maule ich wie Swiper immer. »Unser Freund, das Jesuskind, … spielt am liebsten Labyrinth.«

»Unser Freund Oberlicht schaut dem Mond in sein Gesicht.«

Der Mond ist das silberne Gesicht von Gott und kommt nur bei besonderen Anlässen raus.

Ich setze mich auf und tue mein Gesicht an die Ritzen. Ich kann ein paar Scheiben von Fernseher sehen, er ist aus, dann von Klo, von meinem kringeligen blauen Tintenfisch und wie Ma unsere Sachen wieder in Kommode tut. »Ma?«

»Mmm?«

»Warum werde ich versteckt so wie die Schokolädchen?«

Ich glaube, sie sitzt jetzt auf Bett. Sie spricht leise, deshalb kann ich kaum was hören. »Ich will einfach nur nicht, dass er dich sieht. Schon als du noch ein Baby warst, habe ich dich immer in die Mummeldecke gewickelt, bevor er hereinkam.«

»Würde es Aua machen?«

»Würde was Aua machen?«

»Wenn er mich sehen täte?«

»Aber nein. Jetzt schlaf ein«, sagt Ma.

»Sag noch mal das mit den Läusen.«

»Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«

Die Läuse sind unsichtbar, aber ich spreche mit ihnen, und manchmal zähle ich sie, beim letzten Mal bin ich bis 347 gekommen. Ich höre, wie der Schalter schaltet, und in derselben Sekunde geht Lampe aus. Dann das Geräusch, wie Ma unter Zudeck kriecht.

Ein paarmal habe ich Old Nick nachts durch die Ritzen gesehen, aber nie ganz und von richtig nah. Bei seinen Haaren ist ein bisschen Weiß dabei, und sie sind kürzer als seine Ohren. Vielleicht würden seine Ohren mich ja in Stein verwandeln. Zombies beißen kleine Kinder und machen sie untot, Vampire saugen sie aus, bis sie ganz labberig sind, und Ungeheuer lassen sie an den Beinen baumeln und fressen sie auf. Riesen können auch ganz schön böse sein, ich rieche Menschenfleisch, aber Jack ist mit der goldenen Henne weggelaufen, und dann ist er den Bohnenstängel runtergerutscht, schnell, schnell. Der Riese ist hinter ihm runtergeklettert, und Jack hat seiner Ma zugerufen, sie soll die Axt holen, das ist so was wie unsere Messer, nur größer. Aber seine Ma hatte zu viel Angst, den Bohnenstängel allein abzuhauen, deshalb haben sie es zusammen gemacht, und da ist der Riese auf der Erde zermanscht, und seine ganzen Innereien sind rausgequatscht, haha. Und danach war Jack der Riesentöter Jack.

Ich frage mich, ob Ma schon ausgeschaltet ist.

In Schrank versuche ich immer, meine Augen ganz fest zuzumachen und schnell auszuschalten, damit ich nicht höre, wenn Old Nick kommt. Dann wache ich am Morgen auf und liege mit Ma im Bett und kriege was, und alles ist okay. Aber heute Abend bin ich noch an, der Kuchen sprudelt in meinem Bäuchlein. Mit der Zunge zähle ich meine oberen Zähne von rechts nach links bis zehn und dann meine unteren Zähne von links nach rechts und dann noch mal in die andere Richtung. Jedes Mal muss ich bis zehn kommen, und zweimal zehn ist zwanzig, so viele habe ich.

Es kommt kein piep piep piep, dabei muss es schon lange nach neun sein. Ich zähle meine Zähne noch mal und kriege neunzehn raus, irgendwas muss ich falsch gemacht haben oder einer ist verschwunden. Ich kaue an meinem Finger, nur ein kleines bisschen und dann noch ein bisschen. Ich warte stundenlang. »Ma?«, flüstere ich. »Kommt er nicht, oder doch?«

»Sieht nicht so aus. Komm rein.«

Ich springe hoch und schiebe Schrank auf. In zwei Sekunden bin ich in Bett. Unter Zudeck ist es unheimlich heiß, ich muss meine Füße raushalten, damit sie nicht verbrennen. Ich kriege eine Menge, erst links und dann rechts. Ich will nicht am Schlafen sein, weil dann ist nicht mehr mein Geburtstag.





Licht blitzt mich an, es sticht in meinen Augen. Ich gucke aus Zudeck raus, aber nur blinzelig. Ma steht neben Lampe und alles ist hell, dann zack wieder dunkel. Dann wieder Licht, sie lässt es drei Sekunden an, dann wieder dunkel. Dann nur eine Sekunde hell. Ma starrt hinauf zu Oberlicht. Jetzt wieder dunkel.

Ich warte, bis der Lampe richtig aus ist, dann flüstere ich: »Fertig?«

»Tut mir leid, dass ich dich aufgeweckt habe«, sagt sie.

»Macht nichts.«

Sie kommt wieder in Bett, sie ist kälterer als ich. Ich lege meine Arme um ihre Mitte.





Jetzt bin ich fünf und einen Tag.

Das dumme Peterchen steht am Morgen hoch. Ich drücke es runter.

Als wir nach dem Pipi die Hände schrubben, singe ich He’s Got the Whole World in His Hands, sonst fällt mir keins mehr mit Händen ein, aber das vom Vögelchen geht mit Fingern.



»Fly away Peter,

Fly away Paul.«



Meine zwei Finger zoomen überall durch Raum, und beinahe gibt es mitten in der Luft einen Zusammenstoß.



»Come back Peter,

Come back Paul.«



»Ich glaube, eigentlich sind damit Engel gemeint«, sagt Ma.

»Häh?«

»Nein, falsch. Heilige meinte ich.«

»Was sind Heilige?«

»Ganz besonders fromme Leute. Wie Engel ohne Flügel.«

Ich bin durcheinander. »Wie kommt es dann, dass sie von der Wand wegfliegen?«

»Nein, das sind die Vögelchen, die können ganz prima fliegen. Ich meine nur, sie sind nach dem heiligen Peter und dem heiligen Paul benannt, zwei Freunden vom Jesuskind.«

Ich wusste gar nicht, dass er noch mehr Freunde hat als Johannes den Täufer.

»Peter war sogar einmal im Gefängnis …«

Ich lache. »Babys kommen doch nicht ins Gefängnis.«

»Das ist erst passiert, als sie alle schon groß waren.«

Ich wusste gar nicht, dass das Jesuskind mal groß wird. »Ist der heilige Peter ein böser Bube?«

»Nein, nein, der war nur aus Versehen im Gefängnis. Besser gesagt, die ihn da reingesteckt haben, waren böse Polizisten. Egal, jedenfalls hat er gebetet und gebetet, dass er da wieder rauskommt, und weißt du, was dann? Dann kam ein Engel geflogen und hat die Tür aufgebrochen.«

»Cool«, sage ich. Aber trotzdem sind sie mir lieber, als sie noch Babys sind und zusammen ganz nackig rumlaufen.

Plötzlich ist da ein komisches Bumsen und dann knirsch knirsch. Von Oberlicht kommt was Helles rein, der dunkle Schnee ist fast weg. Ma guckt auch hoch, sie lächelt ein bisschen. Ich glaube, ihr Gebet hat gezaubert.

»Ist immer noch das mit der Gleiche?«

»Ach so, die Tagesundnachtgleiche?«, sagt sie. »Nein, langsam gewinnt das Licht die Oberhand.«

Zum Frühstück darf ich Kuchen haben, das hatte ich noch nie. Er ist krustig geworden, aber immer noch gut.

Der Fernseher hat Wonder Pets, ziemlich fusselig. Ma schiebt andauernd das Häschen hin und her, aber das macht die Sachen auch nicht besonders viel schärfer. Mit dem roten Band mache ich ihm eine Schleife um sein Drahtohr. Ich wünschte, die Hinterhofzwerge kämen, die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Das Sonntagsgutti ist noch nicht da, weil Old Nick letzte Nacht nicht gekommen ist. Das war eigentlich das Beste an meinem Geburtstag. Was wir uns als Sonntagsgutti gewünscht haben, war sowieso nicht besonders interessant, nur eine Hose, weil meine schwarze Löcher statt Knien hat. Mir sind die Löcher egal, aber Ma sagt, damit sehe ich aus wie ein Obdachloser. Was das ist, kann sie auch nicht erklären.

Nach dem Baden spiele ich mit den Anziehsachen. Mas rosa Bluse ist heute Morgen eine Schlange, die zankt sich mit meiner weißen Socke. »Ich bin Jacks bester Freund.«

»Nein, ich bin Jacks bester Freund.«

»Ich hab dich weggeputzt.«

»Ich hab dich weggezappt.«

»Ich erschieß dich gleich mit meiner fliegenden Pumpgun.«

»Ach ja? Ich habe einen Jumbo-Megatron-Tranformer-Blaster.«

»He«, sagt Ma, »sollen wir nicht Fangen spielen?«

»Aber wir haben Beachball gar nicht mehr«, erkläre ich ihr. Der ist nämlich aus Versehen geplatzt, als ich ihn einmal superschnell gegen Schränkchen geschossen habe. Anstatt der doofen Hose würde ich lieber nach einem neuen fragen.

Aber Ma sagt, wir können uns einen basteln. Wir knüllen die ganzen Blätter zusammen, auf denen ich Schreiben geübt habe, machen damit eine Einkaufstüte voll und drücken sie so lange, bis sie irgendwie aussieht wie ein Ball. Dann malen wir ein gruseliges Gesicht mit drei Augen drauf. Wörterball fliegt nicht so hoch wie Beachball, aber dafür macht er jedes Mal, wenn wir ihn fangen, knister knister. Ma ist die Beste beim Fangen, nur tut dabei manchmal ihr schlimmes Handgelenk weh. Beim Werfen bin ich der Beste.

Wegen dem Kuchen zum Frühstück gibt es außer der Reihe zum Mittagessen Sonntagspfannkuchen. In der Packung ist nicht mehr viel übrig, deshalb sind sie ganz dünn und zerlaufen, das mag ich. Ich darf sie zusammenfalten, ein paar reißen. Gelee ist nicht mehr viel übrig, deshalb verdünnen wir den auch mit Wasser.

Eine Ecke von meinem tropft, und Ma schrubbt Boden mit dem Schwamm. »Der Kork ist schon ganz schön abgewetzt«, sagt sie mit zusammenen Zähnen. »Wie soll man da alles sauber halten?«

»Wo?«

»Hier, wo unsere Füße drauf herumschurgeln.«

»Ich klettere unter Tisch, da ist ein Loch in Boden und darunter so braunes Zeug, an meinem Fingernagel ist es härter.

»Mach es nicht noch schlimmer, Jack.«

»Tu ich ja gar nicht. Ich gucke nur mit meinem Finger.« Es ist wie ein kleiner Krater. Wir schieben Tisch rüber zu Wanne, damit wir auf Teppich sonnenbaden können, da ist es extra warm. Ich singe Ain’t No Sunshine, Ma singt Here Comes the Sun, ich komme mit You Are My Sunshine. Dann will ich was trinken, die Rechte ist heute Nachmittag besonders sahnig.

Das gelbe Gesicht von Gott macht durch meine Lider alles rot. Wenn ich sie aufmache, ist es zu hell zum Gucken. Meine Finger machen Schatten auf Teppich, ganz klein und zusemmengequetscht.

Ma döst.

Ich höre ein Geräusch, deshalb stehe ich auf, ohne sie zu wecken. Es ist drüben bei Herd, kritze kratze.

Ein lebendiges Ding, ein Tier, ganz in echt und nicht Fernseher. Es ist auf Boden und knabbert was, vielleicht ein Stückchen Pfannkuchen. Es hat einen Schwanz. Ich glaube, ich weiß, was das ist, ein Maus.

Ich gehe näher ran, und, schwupps, ist er unter Herd, deshalb habe ich ihn überhaupt nicht richtig gesehen. Ich wusste gar nicht, dass etwas so schnell sein kann. »Ach Freund Maus«, sage ich ganz leise, damit er keine Angst hat. So muss man mit einem Maus reden, das weiß ich aus Alice, nur erzählt die so aus Versehen davon ihrer Katze Dina, und da kriegt der Maus ganz viel Angst und schwimmt weg. Ich mache meine Hände zusammen so wie beim Beten. »Ach Freund Maus, komm doch wieder, bitte bitte bitte …«

Ich warte stundenlang, aber er kommt nicht.

Ma schläft ganz fest.

Ich mache Kühli auf, aber in dem ist nicht viel drin. Mäuse mögen Käse, aber wir haben keinen mehr da. Ich hole das Brot raus und zerkrümele ein bisschen auf einen Teller und stelle den dahin, wo Freund Maus war. Dann mache ich mich ganz klein und warte stundenlang.

Und dann passiert das Allertollste. Freund Maus streckt seinen Kopf raus, der ist ganz spitz. Beinahe springe ich hoch, aber dann mache ich es doch nicht, ich bin ganz mucksmäuschenstill. Er kommt zu den Krümeln und schnuppert. Ich bin nicht mal einen Meter weit weg. Jetzt wünschte ich, ich hätte den Lineal zum Messen, aber der ist in Schachtel unter Bett weggeräumt, und ich will mich nicht bewegen und Freund Maus erschrecken. Ich gucke seine Hände an, seinen Schnurrbart und seinen geringelten Schwanz. Freund Maus ist in echt, er ist am Leben und das größte Ding am Leben, das ich jemals gesehen habe, millionenmal größer als Ameisen oder Spinne.

Im nächsten Moment knallt was gegen Herd, ich schreie und stelle mich aus Versehen auf den Teller. Freund Maus ist weg, bloß wohin? Hat das Buch ihn kaputt gemacht? Es ist Mein Aufklappbuch Flughafen, ich gucke auf allen Seiten nach, aber er ist nicht da. Das Gepäckband ist ganz zerrissen und steht nicht mehr hoch.

Ma macht ein komisches Gesicht. »Du bist schuld, dass er weg ist«, schreie ich sie an.

Sie hat schon den Kehrblech in der Hand und fegt die Tellerscherben auf.

»Wie kommt der hier auf den Boden? Jetzt haben wir nur noch zwei große Teller und einen kleinen, das bist nur du …«

Der Koch bei Alice wirft Teller nach dem Baby und nach einem Kochtopf, der ihm beinahe die Nase abhaut.

»Aber Freund Maus hat die Krümel doch gemocht.«

»Jack!«

»Er war in echt! Ich habe ihn gesehen.«

Sie zieht Herd vor. Unten an Türewand ist ein kleiner Spalt. Sie holt die Alufolie und fängt an, ihn damit zu verstopfen.

»Nicht! Bitte!«

»Tut mir leid, aber wenn erst eine da ist, sind bald zehn da.«

Was rechnet die denn da?

Ma legt die Folie hin und packt mich fest bei den Schultern. »Wenn wir ihn dableiben lassen, werden wir bald überschwemmt von seinen Babys. Die stehlen dann unser Essen und schleppen mit ihren dreckigen Pfoten Bazillen rein …«

»Sie können mein Essen haben. Ich habe sowieso keinen Hunger.«

Ma hört gar nicht zu. Sie schiebt Herd zurück an Türewand.

Danach nehmen wir ein bisschen Klebeband und machen damit, dass die Hangar-Seite von Mein Aufklappbuch Flughafen wieder besser hochsteht, aber das Gepäckband ist zu kaputt, das kann man nicht mehr reparieren.

Wir sitzen zusammengekuschelt in Stuhlschaukel, und Ma liest mir dreimal Der Bagger Dylan vor, das heißt, es tut ihr leid. »Können wir nicht als Sonntagsgutti noch ein Buch wollen?«, frage ich.

Sie verzieht den Mund. »Das habe ich schon vor ein paar Wochen gemacht. Ich wollte, dass du eins zum Geburtstag kriegst. Aber er hat gesagt, ich soll aufhören, ihn zu nerven, wir hätten doch sowieso schon ein ganzes Regal voll.«

Ich gucke an ihr vorbei auf Regal, auf den würden noch Hunderte Bücher passen, wenn wir ein paar andere Sachen zu Eierschlange unter Bett räumen würden. Oder oben auf Schrank … aber eigentlich wohnen da ja schon Labyrinth und Fort. Es ist ganz schön schwierig, sich zu überlegen, wo alles wohnen soll. Manchmal sagt Ma, wir müssen Sachen wegschmeißen, aber meistens finde ich dann doch noch ein Plätzchen für sie.

»Er findet, wir sollten die ganze Zeit nur TV glotzen.«

Ist doch toll!

»Dann würde unser Hirn genauso verrotten wie seins«, sagt Ma. Sie beugt sich vor und hebt Mein großes Buch der Kinderlieder auf. Meine Lieblingslieder sind die, wo Jack vorkommt, Jack Sprat zum Beispiel oder Little Jack Homer.



Jack be nimble,

Jack be quick,

Jack jump over the candlestick.

Ich glaube, der wollte ausprobieren, ob er es schafft, sein Nachthemd nicht zu verbrennen. Im Fernseher haben sie Schlafanzüge, Nachthemden nur bei Mädchen. Mein Schlaf-T-Shirt ist mein größtes, es hat ein Loch an der Schulter, durch das stecke ich immer meinen Finger und kitzele mich, wenn ich ausschalte. Außerdem gibt es noch Jackie Wackie Pudding and Pie, aber als ich dann lesen gelernt habe, habe ich gesehen, dass es eigentlich Georgie Porgie heißt, Ma hat es verändert, damit es auf mich passt. Das ist nicht lügen, nur so tun, als ob. Genau wie bei



Jack, Jack, the piper’s son

Stole a pig and away he run.

Im Buch steht eigentlich Tom, aber Jack hört sich besser an. Stehlen ist, wenn ein Junge etwas klaut, was einem anderen Jungen gehört, so wie Swiper. In Büchern und im Fernseher haben nämlich alle Personen Sachen, die nur ihnen gehören, alles sehr kompliziert.

Es ist 05:39, also können wir zu Abend essen, heute schnelle Nudeln. Ma sucht schwierige Wörter auf dem Milchkarton raus, um mich zu testen, Sachen wie Nährwert, das heißt Essen, und pasteurisiert, das heißt, dass sie mit Laserkanonen die Bazillen weggeschossen haben. Ich will noch mal Kuchen, aber Ma sagt, erst die saftige, klein gehackte Rote Bete. Danach esse ich Kuchen, jetzt ist er schon ziemlich knusprig. Ma nimmt sich auch was, aber nur ein kleines bisschen.

Ich steige auf Stuhlschaukel und finde am Ende von Regal Spielesammlung, heute suche ich mir Dame aus, und ich bin rot. Die Steine sind wie kleine Schokolädchen, aber ich habe schon oft dran geleckt, und sie schmecken nach gar nichts. Sie kleben mit einem magnetischen Zauber am Brett fest. Ma spielt am liebsten Schach, aber davon tut mein Kopf weh.

Als es Zeit ist für Fernseher, schaltet sie den Naturplaneten ein, es gibt Schildkröten, die ihre Eier im Sand verbuddeln. Als Alice ganz lang wird, weil sie den Pilz gegessen hat, ist die Taube wütend, weil sie glaubt, dass Alice eine böse Giftschlange ist und versucht, ihre Taubeneier zu essen. Da kommen auch schon die Schildkrötenbabys aus den Schalen, aber die Schildkrötenmütter sind komischerweise schon weg. Ich frage mich, ob sie sich irgendwann mal im Meer wiedertreffen, die Mütter und die Babys, und ob sie sich dann noch kennen oder vielleicht einfach nur aneinander vorbeischwimmen.

Der Naturplanet ist zu schnell vorbei, deshalb schalte ich um auf zwei Männer, die nur kurze Hosen und Turnschuhe anhaben und total am Schwitzen sind. »He, schlagen darf man nicht«, rufe ich ihnen zu. »Sonst wird das Jesuskind sauer.«

Der Mann in der gelben Hose haut dem Haarigen aufs Auge.

Ma stöhnt auf, so als würde es wehtun. »Müssen wir das unbedingt anschauen?«

Ich erkläre ihr: »Ganz bald kommt die Polizei, tatü tata, tatü tata, und die sperrt die bösen Buben da ins Gefängnis.«

»Eigentlich ist Boxen … na ja, es ist zwar widerlich, aber es ist ein Spiel, und deshalb darf man das sozusagen, wenn man diese speziellen Handschuhe anhat. So, die Zeit ist rum.«

»Nur noch einmal Papagei spielen, das ist doch gut für den Wortschatz.«

»Na schön.« Ma geht rüber und schaltet auf den Planeten mit dem roten Sofa, wo die Frau mit den plusterigen Haaren, die da zu sagen hat, anderen Personen Fragen stellt und Hunderte von noch anderen Personen klatschen.

Ich höre extra genau hin, sie redet mit einem Mann mit nur einem Bein, ich glaube, das andere hat er in einem Krieg verloren.

»Papagei«, ruft Ma und schaltet Fernseher auf stumm.

»Ich denke, der gramvollste Aspekt, das Herzzerreißendste an dem, was Sie durchlitten haben, ist für unsere Zuschauer …« Mir gehen die Wörter aus.

»Gute Aussprache«, sagt Ma. »Gramvoll heißt traurig.«

»Noch mal.«

»Dieselbe Sendung?«

»Nein, eine andere.«

Sie findet eine mit Nachrichten, die ist noch schwieriger. »Papagei.« Sie macht wieder auf stumm.

»Nun ja, mit dieser Etikett-Kommission so kurz nach der Gesundheitsreform und eingedenk der Tatsache, dass wir vor den Zwischenwahlen stehen …«

»Kommt noch was?« Ma wartet. »Das war auch wieder gut. Aber es hieß Enquete-Kommission und nicht Etikett-Kommission.«

»Was ist der Unterschied?«

»Ein Etikett ist ein Aufkleber, zum Beispiel auf Tomaten. Und Enquete …«

Ich gähne ganz lange.

»Ist ja auch egal.« Ma grinst und schaltet Fernseher aus.

Ich mag es nicht, wenn die Bilder verschwinden und der Bildschirm wieder bloß grau ist. Dann will ich jedes Mal weinen, aber nur im ersten Moment.

Ich klettere in Stuhlschaukel auf Mas Schoß, unsere Beine sind ganz ineinander. Sie ist ein Zauberer, der sich in einen Riesentintenfisch verwandelt hat, und ich bin Prinz JackerJack, und am Ende fliehe ich. Wir machen Kitzeln und Hoppe Hoppe Reiter und lauter spitze Schatten auf Bettwand.

Dann will ich den Hasen JackerJack hören, der spielt Gevatter Fuchs immer listige Streiche. Er legt sich auf die Straße und tut so, als ob er tot ist, und Gevatter Fuchs schnuppert an ihm und sagt: »Den nehm ich mal besser nicht mit nach Hause, der ist zu stinkig …« Ma schnuppert überall an mir rum und macht Fratzen. Ich versuche, nicht zu lachen, damit Gevatter Fuchs nicht merkt, dass ich am Leben bin, aber ich lache trotzdem immer.

Als Lied will ich was Lustiges haben, und sie fängt an:

»The worms crawl in, the worms crawl out …«

»They eat your guts like sauerkraut«, singe ich weiter.

»They eat your eyes, they eat your nose …«

»They eat the dirt between your toes …«

Dann kriege ich auf Bett richtig viel, aber mein Mund ist müde. Ma trägt mich in Schrank und steckt mir Mummeldecke fest unters Kinn, ich rupfe sie wieder los. Meine Finger spielen an dem roten Rand entlang Eisenbahn, puff puff.

Piep piep piep, das ist Türe. Ma springt auf und macht einen komischen Ton, ich glaube, sie hat sich den Kopf gestoßen. Sie macht Schrank ganz fest zu.

Die Luft, die reinkommt, ist ganz kalt. Ich glaube, das ist ein bisschen Weltall, es riecht gut. Türe sagt sein Wumpf, das heißt, Old Nick ist jetzt drin. Ich bin gar nicht mehr müde. Ich setze mich auf die Knie und gucke durch die Ritzen, aber ich kann nichts sehen außer Kommode und Wanne und eine Kurve von Tisch.

»Sieht lecker aus.« Old Nicks Stimme ist ganz tief.

»Ach, das ist nur der Rest vom Geburtstagskuchen«, sagt Ma.

»Du hättest mich erinnern sollen, dann hätte ich ihm was mitgebracht. Wie alt ist er jetzt? Vier?«

Ich warte, dass Ma es sagt, aber sie sagt nichts. »Fünf«, flüstere ich.

Aber sie muss mich gehört haben, weil sie ganz dicht an die Schrank kommt und wütend sagt: »Jack!«

Old Nick lacht, ich wusste gar nicht, dass er das kann. »Es kann ja sprechen.«

Warum sagt er es und nicht er?

»Willst du rauskommen und deine neue Jeans anprobieren?«

Das sagt er nicht zu Ma, er meint mich. Meine Brust fängt an, bumm bumm bumm zu machen.

»Er schläft doch schon fast«, sagt Ma.

Nein, tue ich nicht. Ich wünschte, ich hätte nicht fünf geflüstert. Jetzt hat er mich gehört. Ich wünschte, ich hätte gar nichts gemacht.

»Ist ja schon gut«, sagt Old Nick gerade. »Kann ich ein Stück haben?«

»Er ist schon trocken. Wenn du wirklich willst …«

»Nein, vergiss es, du bist ja der Boss.«

Ma sagt nichts.

»Ich bin doch sowieso nur dafür da, einzukaufen und den Abfall rauszuschaffen, durch die Kinderabteilung zu tapern, die Leiter hochzuklettern und dein Oberlicht zu enteisen, immer zu Diensten, Ma’am …«

Ich glaube, er macht Sarkasmus, das heißt, er sagt in Wahrheit das Gegenteil und mit so einer falschen Stimme.

»Danke.« Ma hört sich gar nicht an wie sonst. »Jetzt haben wir viel mehr Licht.«

»Na, das war doch gar nicht so schwer, oder?«

»Tut mir leid. Vielen Dank, wollte ich sagen.«

»Manchmal muss ich dir wirklich alles aus der Nase ziehen.«

»Und danke für die Lebensmittel und die Jeans.«

»Gern geschehen.«

»Warte, ich hol dir einen Teller. Vielleicht ist die Mitte ja noch genießbar.«

Dann ein bisschen Geklapper, ich glaube, sie gibt ihm Kuchen. Meinen Kuchen. Nach kurzer Zeit spricht er irgendwie verschwommen. »Stimmt, ziemlich trocken.«

Sein Mund ist voll mit meinem Kuchen!

Lampe geht aus, klick, ich erschrecke mich. Es macht mir nichts aus, wenn es dunkel ist, aber ich will nicht davon überrascht werden. Ich liege unter Mummeldecke und warte.

Als Old Nick den Bett quietscht, höre ich zu und zähle mit meinen Fingern Fünferpäckchen ab, heute sind es 217 Quietscher. Ich muss immer zählen, bis er so komisch röchelt, und dann hört er auf. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn ich nicht zählen täte, weil ich es immer mache.

Und was ist in den Nächten, wo ich schlafe?

Weiß nicht, vielleicht zählt Ma dann.

Nach 217 ist alles still.

Ich höre den Knopf von Fernseher anschalten, es ist nur der Nachrichtenplanet. Durch die Ritzen sehe ich was mit Panzern, nicht interessant. Ich stecke meinen Kopf unter Mummeldecke. Ma und Old Nick reden ein bisschen, aber ich höre nicht zu.





Ich wache in Bett auf, und es regnet, dann ist Oberlicht immer ganz fusselig. Ma gibt mir was und summt dabei ganz leise Singing in the Rain.

Rechts schmeckt es nicht so gut. Da fällt es mir wieder ein, und ich setze mich auf. »Warum hast du ihm nicht gesagt, dass mein Geburtstag ist?«

Ma hört auf zu lächeln. »Du sollst doch schlafen, wenn er da ist.«

»Aber wenn du es ihm gesagt hättest, hätte er mir irgendwas mitgebringt.«

»Dir was mitgebracht«, sagt sie. »Das erzählt er immer.«

»Was denn?« Ich warte. »Du hättest ihn erinnern müssen.«

Ma streckt ihre Arme über den Kopf. »Ich will nicht, dass er dir Sachen mitbringt.«

»Aber das Sonntagsgutti …«

»Das ist etwas anderes, Jack. Das sind Dinge, die wir brauchen und um die ich ihn bitte.«

Sie zeigt auf Kommode, da ist was Blaues zusammengefaltet. »Da liegt übrigens deine neue Jeans.«

Sie geht rüber und macht Pipi.

»Du könntest ihn um ein Geschenk für mich bitten. Ich habe noch nie im Leben ein Geschenk gekriegt.«

»Dein Geschenk hast du von mir bekommen, weißt du nicht mehr? Es war die Zeichnung.«

»Die blöde Zeichnung will ich nicht.« Ich muss weinen.

Ma trocknet sich die Hände ab, kommt und nimmt mich in den Arm. »Ist ja schon gut.«

»Es könnte doch …«

»Ich kann dich nicht hören. Hol erst mal tief Luft.«

»Es könnte doch …«

»Sag mir, was los ist.«

»Es könnte doch ein Hund sein.«

»Was könnte ein Hund sein?«

Ich kann nicht aufhören, ich muss es ihr beim Weinen sagen. »Das Geschenk. Es könnte ein Hund sein, der sich in echt verwandelt hat, und dann würden wir ihn Lucky nennen.«

Ma wischt mir mit der flachen Hand über die Augen. »Du weißt doch, dass wir keinen Platz haben.«

»Haben wir doch.«

»Hunde müssen viel laufen.«

»Wir laufen doch.«

»Aber ein Hund …«

»Wir rennen einfach ganz, ganz oft auf Laufbahn hin und her, und Lucky könnte neben uns herlaufen. Ich wette, er wäre schneller als du.«

»Jack. Ein Hund würde uns verrückt machen.«

»Würde er nicht.«

»Würde er doch. So eingepfercht und dann das Bellen und Kratzen …«

»Lucky würde nicht kratzen.«

Ma rollt mit den Augen. Sie geht rüber zu Schränkchen und holt die Cornflakes raus. Dann schüttet sie sie in unsere Schüsseln, sie zählt nicht mal.

Ich mache ein brüllendes Löwengesicht. »In der Nacht, wenn du schläfst, dann bin ich wach, und dann ziehe ich die Folie aus den Löchern, damit Freund Maus wiederkommt.«

»Sei nicht albern.«

»Ich bin nicht albern, du bist der alberne Schafskopf.«

»Hör mal, ich verstehe ja …«

»Freund Maus und Lucky sind meine Freunde.« Ich muss schon wieder weinen.

»Es gibt keinen Lucky.« Ma spricht durch ihre zugemachten Zähne.

»Gibt es doch, und ich liebe ihn.«

»Das hast du doch nur erfunden.«

»Und Freund Maus auch, er ist mein wirklicher Freund, und du hast ihn verschwindet.«

»Stimmt genau«, schreit Ma, »und zwar, damit er dir nachts nicht übers Gesicht läuft und dich beißt.«

Ich weine so viel, dass mein Luftholen ganz abgehackt ist. Ich wusste gar nicht, dass Freund Maus mein Gesicht beißen würde. Ich dachte, das machen nur Vampire.

Ma lässt sich auf Zudeck fallen und bewegt sich nicht mehr.

Nach einer Minute gehe ich zu ihr und lege mich hin. Ich hebe ihr T-Shirt hoch, um was zu trinken. Dafür muss ich aufhören, mir die Nase zu wischen. Die Linke ist gut, aber es ist nicht viel drin.

Später probiere ich meine neue Jeans an. Sie fällt immer wieder runter.

Ma zieht an einem Faden, der rausguckt.

»Nicht.«

»Er war sowieso schon lose. So ein billiges …« Sie sagt nicht, was.

»Baumwolle«, erkläre ich ihr. »Daraus sind Jeans nämlich gemacht.« Ich lege den Faden in Basteleimer im Kommode.

Ma kniet sich hin und holt Nähzeug. Sie macht ein paar Nähte an der Hüfte, und danach bleibt meine Jeans oben.

Heute Morgen haben wir eine Menge zu tun. Zuerst nehmen wir Piratenschiff auseinander, den wir letzte Woche gemacht haben, und basteln daraus Panzer. Ballon ist der Fahrer. Früher war er mal so groß wie Mas Kopf und dick und rosa, aber jetzt ist er nur noch so groß wie meine Faust und rot und ganz schrumpelig. Jedes Mal, wenn der Erste im Monat passiert, blasen wir einen neuen auf, also kriegt Ballon erst ein Schwesterchen, wenn April ist. Ma spielt auch mit Panzer, aber nicht lange. Sie verliert schnell die Lust auf Sachen, das kommt vom Großsein.

Montag ist Waschtag, wir nehmen die Socken, die Unterwäsche, meine graue Hose, auf die Ketchup gespritzt ist, die Laken und die Trockentücher mit in Wanne und quetschen den ganzen Dreck raus. Zum Trocknen macht Ma Thermostat total heiß, sie holt Trockenständer neben Türe hervor und klappt ihn auf, und ich sage ihm, er muss stark sein. Ich würde gern auf ihm reiten so wie früher, als ich noch klein war, aber jetzt bin ich zu riesig und breche ihm vielleicht den Rücken. Es wäre bestimmt cool, wenn man manchmal kleiner würde und dann wieder größer, so wie Alice. Als wir aus allen Sachen das Wasser rausverdreht und sie aufgehängt haben, müssen Ma und ich uns die T-Shirts runterreißen und uns abwechselnd in Kühli schieben, damit wir abkühlen.

Das Mittagessen ist Bohnensalat, mein zweitschlimmstes Lieblingsgericht. Nach dem Mittagsschläfchen spielen wir jeden Tag Geschrei, außer samstags und sonntags. Wir räuspern uns und steigen auf Tisch, damit wir näher an Oberlicht sind. Wir halten uns an den Händen fest, damit wir nicht runterfallen. Dann sagen wir: »Auf die Plätze, fertig, los«, machen unsere Zähne ganz weit auf und rufen schreien brüllen kreischen gellen schmettern grölen so laut, wie wir können. Heute bin ich am lautesten, weil meine Lungen sich vom Fünfsein ausdehnen.

Dann tun wir die Finger auf die Lippen und machen Psst. Einmal habe ich Ma gefragt, was wir hören wollen, und sie hat gesagt, nur für den Fall, man weiß ja nie.

Dann mache ich Pausbilder von einer Gabel und vom Kamm und den Deckeln und von allen Seiten meiner Jeans. Das Schreibpapier ist für Pausbilder am meisten glatt, aber Klopapier ist gut für ein Bild, das immer weitergeht, zum Beispiel male ich heute mich mit einem Auto und einem Papagei und einem Leguan und einem Waschbär und dem Weihnachtsmann und einer Ameise und Lucky und mit meinen ganzen Fernseher-Freunden hintereinander, und ich bin König Jack. Als ich fertig bin, rolle ich es wieder auf, damit wir es für unsere Popos benutzen können. Ich nehme ein neues Stück von der nächsten Rolle für einen Brief an Dora, dafür muss ich den roten Stift mit Stumpfmesser spitzen. Ich packe den Stift ganz fest, weil er so kurz ist, dass er fast schon weg ist. Ich schreibe perfekt, nur manchmal drehen sich meine Buchstaben von hinten nach vorne. Vorgestern bin ich fünf, du kannst das letzte Stück von meinem Kuchen haben, aber es gibt keine Kerzen, alles Gute, Jack. Nur beim von reißt es ein bisschen. »Wann kriegt sie ihn?«

»Mal überlegen«, sagt Ma. »Ich nehme an, er braucht ein paar Stunden bis zum Meer, das spült ihn dann an den Strand …«

Sie hört sich komisch an, weil sie wegen Schlimmerzahn einen Eiswürfel lutscht. Strände und Meer sind Fernseher, aber ich glaube, wenn wir einen Brief dahin schicken, dann werden sie einen Moment lang in echt. Die Kacka sinkt runter, und der Brief treibt auf den Wellen. »Wer findet ihn? Diego?«

»Möglich. Und dann bringt er ihn seiner Cousine Dora …«

»In seinem Safari-Jeep, wrummm wrummm, mitten durch den Dschungel.«

»Also würde ich schätzen, morgen früh. Spätestens zum Mittagessen.«

Der Eiswürfel macht jetzt nur noch eine kleine Beule in Mas Gesicht. »Zeig mal.«

Sie streckt ihn auf der Zunge raus.

»Ich glaube, ich habe auch einen Schlimmerzahn.«

Ma schreit: »Jack, oh Gott!«

»Ganz, ganz echt in echt. Aua aua aua.«

Ihr Gesicht wird anders. »Du kannst ruhig einen Eiswürfel lutschen, wenn du willst. Dafür musst du nicht erst Zahnschmerzen haben.«

»Cool.«

»Du sollst mir nicht solche Angst machen.«

Ich wusste gar nicht, dass ich ihr Angst machen kann. »Vielleicht tut es ja weh, wenn ich sechs bin.«

Als sie die Eiswürfel aus Frierer holt, pustet sie Luft aus ihren Backen.

»Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht.«

Aber ich habe ja gar nicht gelogen, nur so getan.

Es regnet den ganzen Nachmittag. Gott schaut kein einziges Mal rein. Wir singen Stormy Weather und It’s Raining Men und das andere Lied, wo es darum geht, wie die Wüste den Regen vermisst.

Das Abendessen ist Fischstäbchen und Reis, ich darf die Zitrone ausquetschen, sie ist nicht in echt, nur aus Plastik. Einmal haben wir eine richtige Zitrone gehabt, aber die ist zu schnell geschrumpelt. Ma macht ein Stück von ihrem Fischstäbchen in die Erde unter Pflanze.

Der Zeichentrickplanet kommt abends nicht, vielleicht weil es dunkel ist und die da keine Lampen haben. Heute Abend suche ich mir Kochen aus, es ist aber kein richtiges Essen, sie haben nämlich überhaupt keine Dosen. Die Sie und der Er lächeln sich an und machen ein Fleisch mit obendrauf Teig und grüne Sachen drum rum und andere grüne Sachen auf Häufchen. Dann schalte ich um auf den Fitnessplaneten, wo Personen in Unterwäsche mit lauter Maschinen immer wieder dasselbe machen müssen, ich glaube, sie sind eingesperrt. Das ist bald vorbei, und dann kommen die Personen von Zuhause im Glück, die bauen Häuser in alle möglichen Formen um und malen sie in einer Million verschiedener Farben an, sie machen die Farbe nicht nur auf ein Bild, sondern über alles. Häuser, das sind ganz viele Räume, die zusammenkleben, da wohnen Fernseher-Personen drin, aber manchmal gehen sie auch raus, und dann passiert ihnen Wetter.

»Wie wäre es, wenn wir das Bett da hinstellen?«, fragt Ma.

Ich glotze sie an, dann gucke ich dahin, wo sie hinzeigt. »Das ist doch Fernseherwand.«

»Nur, weil wir sie so nennen«, sagt sie, »aber vielleicht würde das Bett da hinpassen, zwischen das Klo und … wir müssten den Schrank ein bisschen verrücken. Die Kommode stünde dann genau hier, wo das Bett war, und der Fernseher obendrauf.«

Ich schüttele ganz viel den Kopf. »Dann könnten wir ja gar nichts sehen.«

»Doch, wenn wir uns da drüben in den Schaukelstuhl setzen.«

»Keine gute Idee.«

»Na gut, vergiss es.« Ma faltet ganz fest die Arme zusammen.

Die Frau im Fernseher weint, weil ihr Haus jetzt gelb ist. »Hat ihr braun besser gefallen?«, frage ich.

»Nein«, sagt Ma. »Sie ist so glücklich, dass sie weinen muss.«

Das ist ja komisch. »Ist sie traurigfroh so wie du, wenn schöne Musik im Fernsehen kommt?«

»Nein, sie ist einfach bescheuert. So, jetzt schalten wir das Fernsehen mal ab.«

»Nur noch fünf Minuten. Bitte.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Ich mache auch Papagei, diesmal mache ich es noch besser.« Ich passe genau auf die Frau im Fernseher auf und sage: »Ein Traum ist wahr geworden. Also wirklich, Darren, das übersteigt meine kühnsten Erwartungen, dieses Gesims …«

Ma drückt auf Aus. Ich will sie fragen, was ein Gesims ist, aber ich glaube, sie ist immer noch sauer wegen dem Möbelverrücken, was für eine verrückte Idee.

In Schrank soll ich eigentlich schlafen, aber ich zähle Streite. In drei Tagen hatten wir drei Stück, einen wegen den Kerzen und einen wegen Freund Maus und einen wegen Lucky. Wenn fünf sein heißt, dass man sich jeden Tag streitet, wäre ich lieber wieder vier.

»Gute Nacht, Raum«, sage ich ganz leise. »Gute Nacht, Lampe und Ballon.«

»Gute Nacht, Herd«, sagt Ma, »und gute Nacht, Tisch.«

Ich grinse. »Gute Nacht, Wörterball. Gute Nacht, Fort. Gute Nacht, Teppich.«

»Gute Nacht, Luft«, sagt Ma.

»Gute Nacht, ihr ganzen Geräusche.«

»Gute Nacht, Jack.«

»Gute Nacht, Ma. Und die Läuse, vergiss die Läuse nicht.«

»Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«





Als ich aufwache, ist Oberlicht ganz blau in seinem Glas, nicht mal in den Ecken ist noch Schnee. Ma sitzt auf ihrem Stuhl und hält sich das Gesicht, das heißt Aua. Sie guckt was auf Tisch an, zwei Sachen.

Ich springe auf und grapsche es. »Es ist ein Jeep. Ein Jeep mit Fernsteuerung!« Ich lasse ihn durch die Luft zoomen, er ist rot und so groß wie meine Hand. Die Fernsteuerung ist silbern und viereckig, wenn ich mit dem Daumen an einem von den Schaltern wackle, drehen sich die Jeepräder ganz schnell, wrummmm.

»Es ist ein verspätetes Geburtstagsgeschenk.«

Ich weiß, wer das mitgebringt hat, Old Nick nämlich, aber sie sagt es nicht.

Ich will meine Cornflakes nicht essen, aber Ma sagt, sofort danach darf ich wieder mit dem Jeep spielen. Ich esse 21 Stück, dann habe ich keinen Hunger mehr. Ma sagt, das ist Verschwendung, deshalb isst sie den Rest.

Ich finde heraus, wie man Jeep nur mit der Fernsteuerung bewegt. Die dünne silberne Antenne kann ich total lang oder total kurz machen. Mit einem Schalter lässt man den Jeep vor und zurück fahren, mit dem anderen von einer Seite zur anderen. Wenn ich beide gleichzeitig drücke, wird Jeep gelähmt wie von einem Giftpfeil und macht arghhhhh.

Ma sagt, sie fängt besser mal mit Putzen an, weil Dienstag ist. »Vorsichtig«, sagt sie, »denk dran, er ist zerbrechlich.«

Das weiß ich schon. Alles ist zerbrechlich.

»Und wenn du ihn lange Zeit angeschaltet lässt, verbrauchen sich die Batterien, und Ersatz haben wir nicht.«

Ich kann Jeep überall in Raum herumfahren lassen, es geht ganz einfach außer am Rand von Teppich, die rollt sich unter den Rädern auf. Fernsteuerung hat zu sagen, sie befiehlt: »Jetzt aber mal los, du lahmarschiger Jeep. Zweimal um das Tischbein da, hopp hopp. Nicht schlappmachen mit den Rädern.« Manchmal ist Jeep müde, dann dreht Fernsteuerung an seinen Rädern, grrrrrrrrrr. Der ungezogene Jeep versteckt sich in Schrank, aber Fernsteuerung findet ihn mit Zauberkraft und lässt ihn vor- und zurücksausen und gegen die Latten krachen.

Dienstage und Freitage riechen immer nach Essig. Der Lappen war mal eine von meinen Windeln, die ich anhatte, bis ich eins war, jetzt schrubbt Ma damit unter Tisch. Bestimmt wischt sie das Netz von Spinne weg, aber es ist mir eigentlich egal. Dann holt sie Staubsauger, der alles laut und staubig macht, wah wah wah.

Jeep schleicht sich unter Bett. »Komm zurück, mein süßer kleiner Jeepy«, sagt Fernsteuerung. »Wenn du dich in einem Fisch im Fluss verwandelst, dann bin ich der Fischer und fange dich in meinem Netz.« Aber Jeep, dieser Schelm, ist ganz still, bis Fernsteuerung mit der Antenne ganz drin ein Schläfchen hält, dann schleicht sich Jeep hinter sie und nimmt ihr die Batterien raus, hahaha.

Ich spiele den ganzen Tag mit Jeep und Fernsteuerung. Nur als ich in Wanne bin, müssen sie auf Tisch parken, damit sie nicht rostig werden. Als wir Geschrei spielen, recke ich sie fast bis Oberlicht hoch und mache so laut wie möglich wrummm mit seinen Rädern.

Ma legt sich wieder hin und hält sich die Zähne. Manchmal atmet sie ganz tief aus und aus und aus.

»Warum schnaufst du so lange?«

»Ich versuche, drüber wegzukommen.«

Ich gehe hin, setze mich neben ihren Kopf und streiche ihr die Haare aus den Augen, ihre Stirn ist glitschig. Sie nimmt meine Hand und hält sie ganz fest. »Ist schon in Ordnung.«

Es sieht aber nicht in Ordnung aus. »Willst du mit Jeep und Fernsteuerung und mir spielen?«

»Vielleicht später.«

»Wenn du spielst, ist die Willenssache nicht mehr so wichtig.«

Sie lächelt ein bisschen, aber beim nächsten Atmer ist es lauter, als wenn man stöhnt.

Um 05:57 sage ich: »Ma, es ist fast sechs.« Also steht sie auf und macht das Abendessen, aber sie isst nichts davon. Jeep und Fernsteuerung warten in Wanne, weil er jetzt trocken ist, er ist ihre Geheimhöhle. »Eigentlich ist Jeep gestorben und in den Himmel gekommen«, sage ich und esse ganz schnell mein Hühnerfleisch.

»Ist nicht wahr!«

»Aber dann in der Nacht, als Gott geschlafen hat, ist Jeep rausgeschlichen, und dann ist er den Bohnenstängel bis Raum runtergerutscht, damit er mich besuchen kann.«

»Das war ganz schön pfiffig von ihm.«

Ich esse drei grüne Bohnen und trinke einen großen Schluck Milch und dann noch drei hinterher. Bei fünf ginge es noch schneller, aber das kann ich mir nicht vorstellen, da würde mein Hals zugehen. Einmal, als ich vier war, hat Ma auf die Einkaufsliste geschrieben: Grüne Bohnen/anderes TK-Gemüse, und ich habe Grüne Bohnen mit dem orangenen Bleistift durchgekrakelt, das fand sie lustig. Am Ende esse ich das weiche Brot, weil ich es gern im Mund behalte wie ein Kissen. »Danke, Jesuskind, vor allem für das Hühnerfleisch«, sage ich, »und bitte so bald keine grünen Bohnen mehr. Sag mal, warum bedanken wir uns eigentlich beim Jesuskind und nicht ihm?«

»Ihm?«

Ich nicke in Richtung Türe.

Trotzdem ich gar nicht den Namen gesagt habe, verzieht sie das Gesicht. »Warum sollten wir uns bei dem denn bedanken?«

»Hast du aber neulich Abend gemacht, für das Essen und weil er den Schnee weggemacht hat und für die Hose.«

»Du sollst nicht lauschen.« Manchmal, wenn sie richtig wütend ist, geht ihr Mund ganz weit auf. »Es war kein ehrlicher Dank.«

»Aber warum …«

Sie platzt dazwischen: »Er bringt die Sachen nur. Er ist nicht der, der den Weizen auf dem Feld wachsen lässt.«

»Was für ein Feld?«

»Er kann nicht die Sonne darauf scheinen oder es regnen lassen oder überhaupt irgendwas.«

»Aber Ma, Brot kommt doch nicht von Feldern.«

Sie presst die Lippen aufeinander.

»Warum hast du gesagt …«

»Es ist doch bestimmt schon Zeit fürs Fernsehen«, sagt sie schnell.

Es kommen Videos, die finde ich toll. Meistens hüpft Ma mit mir herum, aber heute nicht. Ich springe auf Bett und bringe Jeep und Fernsteuerung bei, wie man mit dem Popo wackelt. Es kommen Rihanna und T.I. und Lady Gaga und Kanye West. »Warum haben Rapper sogar abends Sonnenbrillen auf?«, frage ich Ma. »Tun ihnen die Augen weh?«

»Nein, sie wollen nur cool aussehen. Und sie wollen nicht, dass ihnen die Fans ins Gesicht glotzen, weil sie so berühmt sind.«

Ich bin durcheinander. »Warum sind die Fans berühmt?«

»Nein, ich meine die Stars.«

»Und die wollen das nicht?«

»Na ja, ich schätze schon«, sagt Ma und steht auf, um Fernseher auszuschalten. »Aber sie wollen auch ein bisschen für sich sein.«

Als ich was kriege, erlaubt Ma mir nicht, dass ich Jeep und Fernsteuerung mit ins Bett bringe, trotzdem sie meine Freunde sind. Und dann sagt sie, dass sie hoch auf Regal müssen, wenn ich schlafe. »Sonst knuffen sie dich in der Nacht.«

»Nein, tun sie nicht, sie versprechen es.«

»Hör zu, den Jeep räumen wir weg, und du darfst mit der Fernsteuerung schlafen. Die ist ja kleiner, solange die Antenne drin ist. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

Als ich in Schrank bin, sprechen wir durch die Ritzen. »Gott beschütze Jack«, sagt sie.

»Gott beschütze Ma, und er soll ihre Zähne wieder gesund zaubern. Gott beschütze Jeep und Fernsteuerung.«

»Gott beschütze die Bücher.«

»Gott beschütze alles hier und das Weltall und auch Jeep. Ma?«

»Ja?«

»Wo sind wir, wenn wir schlafen?«

Ich kann sie gähnen hören. »Na, hier.«

»Aber die Träume.« Ich warte. »Sind die Fernseher?« Sie antwortet immer noch nicht. »Gehen wir zum Träumen in Fernseher?«

»Nein. Wir sind immer nur hier.« Ihre Stimme hört sich an, als wäre sie ganz weit weg.

Ich liege zusammengerollt da und spiele mit den Fingern an den Schaltern. Dann flüstere ich: »Könnt ihr nicht schlafen, kleine Schalter? Ist schon in Ordnung, trinkt was.« Ich lege sie mir an die Nippel, sie wechseln sich ab. Ich bin fast am Schlafen, aber nur fast.

Piep, piep, piep. Das ist Türe.

Ich spitze die Ohren. Da kommt auch schon die kalte Luft rein. Wenn ich meinen Kopf aus Schrank hätte, würde Türe aufgehen, und ich wette, ich könnte ganz genau die Sterne und die Raumschiffe und die Planeten und die Aliens sehen, die in Ufos rumdüsen. Ich wünschte, wünschte, wünschte, dass ich das sehen könnte.

Bumm. Das ist Türe, der zugeht, und Old Nick erzählt Ma, dass es irgendwas nicht gab und was anderes sowieso unverschämt teuer war.

Ich frage mich, ob er hochgeguckt und Jeep gesehen hat. Ja, er hat ihn mir mitgebringt, aber ich glaube nicht, dass er schon mal mit ihm gespielt hat. Er weiß nicht, wie Jeep plötzlich losrast, wenn ich Fernsteuerung anschalte, wrummm.

Heute Abend reden Ma und er nur ein bisschen miteinander. Lampe geht aus, und Old Nick quietscht das Bett. Manchmal zähle ich Einer statt Fünferpäckchen, nur so zur Abwechslung. Aber dann komme ich aus der Reihe und zähle wieder Fünfer, das geht schneller, ich komme bis 387.

Alles ruhig. Ich denke, er muss eingeschlafen sein. Schaltet Ma auch aus, wenn er aus ist, oder bleibt sie wach und wartet, dass er wieder weg ist? Vielleicht sind sie ja beide aus und nur ich bin an, komisch. Ich könnte mich aufsetzen und aus Schrank rauskrabbeln, sie würden es nicht mal merken. Ich könnte ein Bild von ihnen in Bett malen oder so was. Ich frage mich, ob sie nebeneinander liegen oder auseinander.

Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Was ist, wenn er gerade was kriegt? Würde Ma ihm was geben, oder würde sie sagen: Kommt nicht in die Tüte, das ist nur für Jack?

Wenn er was trinken würde, würde er vielleicht mehr in echt.

Am liebsten würde ich aufspringen und schreien.

Ich finde den Anschalter von Fernsteuerung und mache ihn grün. Wäre bestimmt lustig, wenn sie mit ihren Superkräften die Räder von Jeep da oben auf Regal drehen lassen würde. Da würde Old Nick aber ziemlich überrascht aufwachen, haha.

Ich versuche den Vorwärtsschalter, aber nichts passiert. Ach, Mensch, ich hab ja vergesst, die Antenne rauszuziehen. Ich mache sie ganz lang und versuche es noch mal, aber Fernsteuerung klappt immer noch nicht. Ich schiebe ihre Antenne durch die Ritzen, sie ist gleichzeitig draußen und ich drinnen. Ich drücke den Schalter. Ich höre ein leises Geräusch, das müssen die Räder von Jeep sein, die wach werden, und dann …

WUMMMMMMM!

Old Nick schreit so laut, wie ich es noch nie gehört habe, irgendwas mit Jesus, aber das Jesuskind hat es gar nicht gemacht, ich war das. Lampe ist an, das Licht schlägt durch die Ritzen nach mir, ich kneife ganz fest die Augen zu. Dann krabble ich zurück und ziehe Mummeldecke über meinen Kopf.

Er brüllt: »Was ziehst du hier ab?«

Ma hört sich ganz labberig an. »Was, was?«, sagt sie. »Hast du schlecht geträumt?«

Ich beiße in Mummeldecke, sie ist so weich wie das graue Brot in meinem Mund.

»Hast du irgendwas vorgehabt? Sag’s mir.« Seine Stimme wird tiefer. »Ich hab dir ja schon mal gesagt, wenn du irgendwas versuchst, wenn …«

»Ich habe geschlafen.« Ma spricht mit einer zusammengepressten, leisen Stimme. »Bitte … sieh doch, es ist nur der dämliche Jeep vom Regal gefallen.«

Jeep ist nicht dämlich!

»Es tut mir leid«, sagt Ma. »Es tut mir wirklich leid. Ich hätte ihn irgendwo hinstellen sollen, wo er nicht runterfallen kann. Es tut mir wirklich ganz fürchterlich …«

»Na schön.«

»Komm, wir machen das Licht aus …«

»Nein«, sagt Old Nick. »Mir reicht’s.«

Keiner sagt was. Ich zähle ein Heuwägelchen, zwei Heuwägelchen, drei Heuwägelchen …

Piep, piep. Türe geht auf und wieder zu, bumm. Er ist weg.

Lampe klickt wieder aus.

Ich taste auf dem Boden von Schrank nach Fernsteuerung. Ich entdecke etwas Schreckliches. Ihre Antenne ist ganz kurz und spitz, sie muss in der Ritze abgebrochen sein.

»Ma«, flüstere ich.

Keine Antwort.

»Fernsteuerung ist kaputt.«

»Schlaf endlich.« Ihre Stimme ist so kratzig und unheimlich, dass ich beinahe denke, das ist gar nicht ihre.

Ich zähle fünfmal meine Zähne. Diesmal komme ich immer auf zwanzig, aber ich muss es trotzdem immer wieder machen. Bis jetzt hat noch nie einer wehgetan, aber vielleicht kommt das, wenn ich sechs bin.

Ich muss am Schlafen sein, aber ich merke es nicht, weil dann wache ich nämlich auf.

Ich bin immer noch in Schrank, es ist ganz dunkel. Ma hat mich noch nicht in Bett geholt. Warum hat sie mich nicht geholt?

Ich schiebe die Tür auf und höre, ob sie atmet. Sie schläft. Im Schlaf kann sie ja wohl nicht mehr böse auf mich sein, oder?

Ich krieche unter Zudeck. Ich liege neben Ma, ohne sie zu berühren, um sie herum ist alles heiß.





ENTLÜGEN

Am Morgen essen wir Haferbrei, und ich sehe Flecken. »Du bist dreckig am Hals.«

Ma trinkt nur ein bisschen Wasser, beim Schlucken bewegt sich ihre Haut. Ich glaube, das da ist gar kein Dreck.

Ich esse ein bisschen Brei, aber er ist zu heiß. Ich spucke ihn wieder in Weichlöffel aus. Ich glaube, Old Nick hat die Flecken da auf ihren Hals gemacht. Ich versuche was zu sagen, aber es kommt nichts raus. Ich versuche es noch mal. »Tut mir leid, dass ich in der Nacht gemacht habe, dass Jeep runterfällt.«

Ich klettere von meinem Stuhl. Ma lässt mich auf ihren Schoß. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, fragt sie. Ihre Stimme ist immer noch kratzig.

»Ihm zeigen.«

»Wie bitte?«

»Ich war … ich war … ich war …«

»Ist ja gut, Jack. Schön langsam.«

»Aber Fernsteuerung ist abgebrochen, und jetzt bist du ganz böse auf mich.«

»Hör mal«, sagt Ma, »der Jeep ist mir vollkommen egal.«

Ich blinzele ein paarmal. »Aber er war mein Geschenk.«

»Worüber ich böse bin …« – ihre Stimme wird lauter und noch kratziger –, »ist, dass du ihn aufgeweckt hast.«

»Jeep?«

»Old Nick.«

Ich zucke vor Schreck zusammen, dass sie ihn laut sagt.

»Du hast ihm Angst gemacht.«

»Er hatte Angst vor mir?«

»Er wusste nicht, dass du es bist«, sagt Ma. »Er dachte, ich würde ihn angreifen und ihm was Schweres auf den Kopf hauen.«

Ich halte mir den Mund und die Nase zu, aber die Gluckser sprudeln trotzdem raus.

»Das ist nicht witzig. Es ist alles andere als witzig.«

Ich sehe wieder ihren Hals, die Flecken, die er ihr gemacht hat, da muss ich nicht mehr glucksen.

Der Haferbrei ist immer noch zu heiß, deshalb gehen wir noch mal auf Bett und kuscheln.

Heute Morgen kommt Dora, hurra. Sie ist auf einem Boot, das fast in ein Schiff kracht, wir müssen mit den Armen wedeln und rufen: »Pass auf!«, aber Ma ruft nicht. Schiffe sind nur Fernseher und das Meer auch, außer wenn unsere Kacka und unsere Briefe da ankommen. Oder vielleicht sind die ja auch nicht mehr in echt, wenn sie erst mal da ankommen. Alice sagt, wenn sie im Meer ist, kann sie mit der Eisenbahn nach Hause fahren, das ist altmodisch für Zug. Wälder sind Fernseher und Dschungel auch und Wüsten und Straßen und Wolkenkratzer und Autos. Tiere sind auch Fernseher, außer Ameisen und Spinne und Freund Maus, aber der ist wieder weggegangen. Bazillen sind in echt, und Blut. Jungen sind Fernseher, aber sie sehen ungefähr so aus wie ich, der Ich im Spiegel, der ist ja auch nicht in echt, nur ein Bild. Manchmal mache ich meinen Pferdeschwanz auf und tue meine Haare überall hin und schlängele mit meiner Zunge durch, dann strecke ich mein Gesicht raus und rufe: Buh!

Es ist Mittwoch, also waschen wir unsere Haare. Wir machen uns Schaumturbane mit Spüli. Ich gucke mir Mas ganzen Hals an, nur nicht da.

Sie macht mir einen Schnurrbart, aber der kitzelt zu viel, deshalb reibe ich ihn ab. »Und wie wäre es mit einem richtigen Bart?«, fragt sie. Sie macht als Bart lauter Schaum auf mein Kinn.

»Ho ho ho. Ist der Nikolaus ein Riese?«

»Ziemlich groß ist er schon, glaube ich«, sagt Ma.

Ich denke, der muss in echt sein, weil er uns die Millionen von Schokolädchen in der Schachtel mit dem lila Band gebringt hat.

»Ich werde einmal der Riesentöter-Riese Jack. Ich werde ein guter Riese. Dann finde ich alle Bösen und schlage ihnen die Köpfe ab, zeng zong.«

Wir machen unsere Trommeln. In ein paar Schraubgläser tun wir mehr Wasser und aus anderen schütten wir einen kleinen Wasserfall. Aus einem baue ich mir einen Jumbo-Megatron-Transformerfighter mit Antischwerkraft-Blaster, eigentlich ist es Holzlöffel.

Ich drehe mich um und gucke auf Impression – Sonnenaufgang. Da gibt es ein schwarzes Boot mit zwei winzigen Personen und darüber Gottes gelbes Gesicht und wuscheliges Orange-Licht auf dem Wasser und so blaues Zeugs, ich glaube, das sollen andere Boote sein, schwer zu sagen, weil es Kunst ist.

Für Sport sucht Ma sich Inseln aus, das heißt, ich stehe auf Bett, und Ma tut die Kissen und Stuhlschaukel und die Stühle und Teppich, die ist ganz zusammengefaltet, und Tisch und Müll an lauter überraschende Stellen. Ich darf jede Insel nicht zweimal besuchen. Stuhlschaukel ist am schwierigsten, die versucht immer, mich runterzukatapultieren. Ma schwimmt herum und ist das Ungeheuer von Loch Ness und versucht, meine Füße zu fressen.

Jetzt bin ich dran. Ich suche mir Kissenschlacht aus, aber Ma sagt, aus meinem Kissen kommt schon der Schaum raus, deshalb machen wir lieber Karate. Wir verbeugen uns immer, um unserem Gegner Respekt zu zeigen. Dann schreien wir ganz wild huh und hi-jah. Einmal schlage ich zu fest zu und tue Mas Handgelenk weh, aber aus Versehen.

Sie ist müde, deshalb sucht sie sich Augengymnastik aus, das heißt, sich nebeneinander auf Teppich legen, die Arme angelegt, damit wir beide draufpassen. Wir gucken erst auf entfernte Sachen wie zum Beispiel Oberlicht und dann auf was Nahes wie unsere Nasen, wir müssen ganz schnell zwischen den beiden hin und her gucken.

Während Ma das Mittagessen heiß macht, lasse ich den armen Jeep überall herumzoomen, weil er nicht mehr alleine fahren kann. Fernsteuerung kann Sachen anhalten, er erstarrt Ma wie einen Roboter. »Jetzt wieder an«, sage ich.

Sie rührt wieder im Topf. »Jetzt wird gemampft«, sagt sie.

Gemüsesuppe, bääh. Ich blubbere Blasen, damit sie mehr Spaß macht.

Für das Mittagsschläfchen bin ich noch nicht müde genug, deshalb hole ich ein paar Bücher runter. Ma macht die Stimme: »Hierrr kommt Dylan«, dann hört sie auf. »Ich kann Dylan nicht ausstehen.«

Ich starre sie an. »Aber er ist doch mein Freund.«

»Ach, Jack … Ich kann das Buch einfach nicht leiden. Verstehst du … es ist nicht so, dass ich Dylan selbst nicht leiden könnte.«

»Und warum kannst du das Buch Dylan nicht leiden?«

»Ich habe es zu oft vorgelesen.«

Aber wenn ich etwas will, dann will ich es immer, zum Beispiel Schokolade, ich habe noch nie zu oft Schokolade gegessen.

»Du könntest es doch selbst lesen«, sagt sie.

Das ist ja Quatsch, ich könnte alle selber lesen, sogar Alice mit ihren altmodischen Wörtern. »Mir ist es lieber, wenn du mir vorliest.«

Ihre Augen sind ganz hart und glänzend. Dann schlägt sie das Buch wieder auf. »Hierrr kommt Dylan!«

Weil sie sauer ist, lasse ich sie Das Häschen, das weglief lesen und dann noch ein bisschen Alice. Mein liebstes Lied ist das von der wu-underschönen Suppe. Ich wette, da ist kein Gemüse drin. Alice ist ewig in einer Halle mit ganz vielen Türen, eine ist klitzeklein, und als sie die mit dem goldenen Schlüssel aufkriegt, ist da ein Garten mit bunten Blumen und einem coolen Springbrunnen, aber Alice ist immer falsch groß. Als sie endlich in den Garten kommt, stellt sich raus, dass die Rosen nur aufgemalt sind und nicht in echt, und sie muss mit den Flamingos und den Igeln Krocket spielen.

Wir legen uns auf Zudeck. Ich kriege ganz viel. Ich denke, dass Freund Maus vielleicht wiederkommt, wenn wir ganz leise sind, aber er macht es nicht, Ma muss jedes einzelne Loch zugestopft haben. Sie ist nicht gemein, aber manchmal macht sie gemeine Sachen.

Als wir aufgestanden sind, spielen wir Geschrei. Ich haue die Pfannendeckel zusammen wie Becken. Geschrei dauert ewig, weil jedes Mal, wenn ich anfange aufzuhören, Ma noch ein bisschen weiterkreischt, ihre Stimme verschwindet beinahe. Die Flecken auf ihrem Hals sehen so aus, wie wenn ich mit Rote-Bete-Saft male. Ich glaube, die Flecken sind die Fingerabdrücke von Old Nick.

Danach spiele ich mit Klorollen Telefon. Ich mag es, wie die Wörter dröhnen, wenn ich durch eine ganz dicke spreche. Normalerweise macht Ma die ganzen Stimmen, aber heute Nachmittag muss sie sich hinlegen und lesen. Es ist Sakrileg, und aus dem spähen die Augen von einer Frau raus, sie sieht aus wie die Mutter vom Jesuskind.

Ich rufe Boots und Seestern Patrick und das Jesuskind an und erzähle ihnen alles, was ich jetzt kann, wo ich fünf bin. »Ich kann mich unsichtbar machen«, flüstere ich in mein Telefon. »Ich kann meine Zunge umdrehen und wie eine Rakete ins Weltall düsen.«

Mas Augenlider sind zu, wie kann sie denn da durch lesen?

Ich spiele Tastatur, da stehe ich neben Türe auf meinem Stuhl, und normalerweise sagt Ma die Zahlen, aber heute muss ich sie mir ausdenken. Ich tippe sie ganz schnell auf Tastatur, bloß keinen Fehler machen. Die Zahlen machen zwar nicht, dass der Türe aufpiept, aber mir gefällt das Geklacker, wenn ich sie drücke.

Verkleiden ist ein leises Spiel. Ich ziehe die Königskrone auf, die ist aus ein bisschen Goldfolie und ein bisschen Silberfolie und da drunter einem großen Milchkarton. Für Ma erfinde ich ein Armband aus zwei verknoteten Socken, eine weiß und eine grün.

Ich hole Spielesammlung von Regal und messe mit Lineal, jeder Domino ist über drei Zentimeter groß und die Dame-Steine ungefähr einen. Ich mache aus meinen Fingern Sankt Peter und Paul, sie verbeugen sich jedes Mal voreinander, bevor sie dran sind, und dann düsen sie ab.

Mas Augen sind wieder auf. Ich bringe ihr das Socken-Armband, sie sagt, es ist wunderschön, und zieht es sofort an.

»Können wir Stibitzen beim Nachbarn spielen?«

»Lass mir noch einen Moment Zeit«, sagt sie. Sie geht zu Becken und wäscht sich das Gesicht. Ich weiß nicht, warum, sie war ja gar nicht dreckig, aber vielleicht gab es ja Bazillen.

Ich stibitze zweimal ihre ganzen Karten, sie einmal, verlieren tue ich überhaupt nicht gern. Danach spielen wir Rommé und Quartett, meistens gewinne ich. Danach spielen wir einfach nur noch mit den Karten herum, Tanzen und Klauen und so Sachen. Den Karobuben habe ich am liebsten, und die ganzen anderen Buben hab ich am zweitliebsten.

»Guck mal.« Ich zeige auf den Uhr. »Wir können Abend essen.«

Jeder kriegt einen Hotdog, lecker.

Für Fernseher setze ich mich in Stuhlschaukel, aber Ma setzt sich mit Nähzeug auf Bett und macht mit lila Lappen den Saum von ihrem braunen Kleid wieder dran. Wir gucken den Doktorplaneten, wo Ärzte und Schwestern Löcher in Personen schneiden, um die Bazillen rauszuholen. Die Personen sind nicht tot, sie schlafen. Die Ärzte beißen den Faden nicht ab wie Ma, sie benutzen superscharfe Dolche, und danach nähen sie die Personen wieder zu wie Frankenstein.

Als die Werbung kommt, bittet Ma mich, rüberzugehen und auf stumm zu drücken. Es kommt ein Mann mit einem gelben Helm, der ein Loch in die Straße bohrt, er hält sich den Kopf und verzieht das Gesicht. »Hat er Aua?«, frage ich.

Sie sieht vom Nähen auf. »Bestimmt hat er Kopfschmerzen von dem lauten Schlagbohrer.«

Wir können den Schlagbohrer nicht hören, weil es auf stumm steht. Der Fernseher-Mann steht am Becken und nimmt Pillen aus einem Fläschchen, im nächsten Moment lächelt er und wirft einem Jungen einen Ball zu. »Ma, Ma.«

»Was?« Sie macht einen Knoten.

»Das ist unsere Flasche. Hast du gesehen? Hast du den Mann mit dem Aua im Kopf gesehen?«

»Nein.«

»Die Flasche, aus der er die Pille genommen hat, ist genau die, die wir haben, die mit den Scherztabletten.«

Ma starrt Fernseher an, aber jetzt zeigt er uns ein Auto, das um einen Berg herumrast.

»Nein, vorher«, sage ich. »Er hatte wirklich unsere Flasche mit den Scherztabletten.«

»Vielleicht war es einfach nur die gleiche wie unsere, aber unsere ist es nicht.«

»Ist sie doch.«

»Nein, davon gibt es viele.«

»Wo?«

Ma guckt erst mich an und dann wieder ihr Kleid, sie zupft am Saum. »Unsere Flasche steht jedenfalls da oben auf dem Regal, und die anderen sind …«

»Im Fernseher?«, frage ich.

Sie starrt auf die Fäden und wickelt sie um die kleinen Kartons, damit sie wieder in Nähzeug passen.

»Weißt du was?« Ich hüpfe auf und ab. »Weißt du, was das heißt? Er muss in Fernseher gehen.« Der Doktorplanet kommt wieder, aber ich gucke gar nicht hin. »Old Nick«, sage ich, damit sie nicht glaubt, ich hätte den Mann mit dem gelben Helm gemeint. »Wenn er nicht hier ist, am Tag, weißt du, was dann? Dann geht er in Fernseher. Da hat er unsere Scherztabletten in einem Geschäft gekauft und sie uns gebringt.«

»Gebracht«, sagt Ma und steht auf. »Gebracht, nicht gebringt. Zeit zum Schlafengehen.« Sie singt Indicate the Way to My Abode, aber ich singe nicht mit.

Ich glaube nicht, dass sie kapiert, wie sensationell das ist. Die ganze Zeit über, als ich mein Schlaf-T-Shirt anziehe und meine Zähne putze, und sogar noch, als ich auf Bett was kriege, denke ich darüber nach. Ich nehme den Mund runter und sage: »Wie kommt es, dass wir ihn nie in Fernseher sehen?«

Ma gähnt und setzt sich auf.

»Jedes Mal, wenn wir gucken, sehen wir ihn nie, wieso?«

»Er ist nicht da.«

»Aber die Flasche, wie hat er die gekriegt?«

»Weiß ich nicht.«

Sie sagt das so komisch. Ich glaube, sie tut nur so. »Du musst es wissen. Du weißt doch alles.«

»Hör mal, das spielt doch wirklich keine Rolle.«

»Doch, es ist eine wichtige Willenssache.« Ich schreie beinahe.

»Jack …«

Jack was? Was soll Jack heißen?

Ma legt sich wieder auf die Kissen. »Es ist sehr schwer zu erklären.«

Ich glaube, sie kann es erklären, aber sie will nicht. »Du kannst es, weil ich jetzt nämlich fünf bin.«

Ihr Gesicht sieht zu Türe. »Na schön, unsere Pillen waren früher tatsächlich mal in einem Geschäft. Da hat er sie geholt und sie uns als Sonntagsgutti mitgebracht.«

»Ein Geschäft im Fernseher?« Ich sehe hoch zu Regal, ob da die Flasche noch steht. »Aber die Scherztabletten sind doch in echt …«

»Es ist auch ein echtes Geschäft.« Ma reibt sich ein Auge.

»Wie … ?«

»Herrgott, ist ja schon gut.«

Warum schreit sie denn?

»Pass auf. Was wir im Fernsehen sehen … das sind Bilder von wirklichen Dingen.«

Das ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe.

Ma hat eine Hand über dem Mund.

»Dora ist echt in echt?«

Sie nimmt die Hand weg. »Nein, die nicht. Eine Menge Sachen im Fernsehen sind unechte Bilder … Dora ist zum Beispiel nur gezeichnet … aber die anderen Leute, die mit den Gesichtern, die aussehen wie deins und meins, die sind echt.«

»Richtige Menschen?«

Sie nickt. »Und die Orte sind auch echt, die Farmen zum Beispiel und die Wälder und Flugzeuge und Städte …«

»Nie im Leben.« Warum veräppelt sie mich? »Wo sollen die denn hinpassen?«

»Da draußen«, sagt Ma. »Ins Freie.« Sie wirft den Kopf zurück.

»Draußen hinter Bettwand?« Ich glotze ihn an.

»Draußen hinter Raum.« Sie zeigt jetzt in die andere Richtung, wo Herdwand ist. Ihre Finger machen einen Kreis.

»Die Geschäfte und die Wälder düsen im Weltall rum?«

»Nein. Vergiss es, Jack. Ich hätte gar nicht …«

»Hättest du doch.« Ich schüttele ganz fest ihr Knie. »Ich will es wissen.«

»Nicht heute Abend, ich finde nicht die richtigen Worte, um es dir zu erklären.«

Alice sagt, sie kann es selbst nicht erklären, weil sie nicht sie selbst ist. Sie weiß noch, wer sie am Morgen war, aber seitdem hat sie sich ein paarmal verwandelt.

Plötzlich steht Ma auf und holt die Scherztabletten von Regal. Ich glaube, sie will gucken, ob es auch dieselben sind wie die in Fernseher, aber sie macht das Fläschchen auf und isst eine und dann noch eine.

»Findest du die Wörter denn morgen?«

»Jack, es ist acht Uhr neunundfünfzig, geh jetzt bitte einfach schlafen.« Sie bindet den Abfallbeutel zu und stellt ihn neben Türe.

Ich lege mich in Schrank, aber ich bin hellwach.





Heute ist einer von den Tagen, wo Ma Verschwunden ist.

Sie wacht nicht ordentlich auf. Sie ist zwar da, aber nicht richtig. Sie bleibt in Bett und hat das Kopfkissen überm Kopf.

Peterchen steht hoch, ich drücke ihn runter.

Ich esse meine hundert Cornflakes und stelle mich auf meinen Stuhl, damit ich die Schüssel und Weichlöffel abwaschen kann. Als ich das Wasser abdrehe, ist es ganz still. Ich frage mich, ob Old Nick in der Nacht gekommen ist. Ich glaube nicht, weil der Abfallbeutel immer noch neben Türe steht, aber vielleicht war er ja doch da und hat bloß den Abfall nicht mitgenommen. Vielleicht ist Ma gar nicht einfach nur Verschwunden. Vielleicht hat er ihren Hals noch fester zugedrückt, und jetzt ist sie …

Ich gehe ganz dicht bei sie bei und horche, bis ich Atem höre. Ich bin nur ein paar Zentimeter weit weg, meine Haare berühren Mas Nase, und sie tut die Hand über ihr Gesicht, deshalb mache ich einen Schritt zurück.

Alleine baden tue ich nicht, ich ziehe mich einfach nur an.

Es kommen Stunden und Stunden, Hunderte von Stunden.

Ma steht zum Pinkeln auf, sagt aber nichts, ihr Gesicht ist ganz leer. Ich habe schon ein Glas Wasser neben Bett gestellt, aber sie kriecht einfach nur wieder unter Zudeck.

Ich kann es nicht leiden, wenn sie Verschwunden ist, aber dass ich den ganzen Tag Fernseher gucken kann, finde ich gut. Am Anfang mache ich es ganz leise und dann immer ein bisschen lauter. Bei zu viel Fernseher kann ich mich in einen Zombie verwandeln, aber heute ist Ma der Zombie, dabei guckt sie noch nicht mal. Es kommen Bob der Baumeister und Wonder Pets und Barney und seine Freunde. Jedes Mal stehe ich auf und berühre sie zur Begrüßung. Barney und seine Freunde umarmen sich ganz oft, dann renne ich immer hin und will mittenrein, aber manchmal bin ich zu spät. Heute geht es um eine Fee, die durch die Nacht schleicht und alte Zähne in Geld verwandelt. Ich will Dora haben, aber die kommt nicht.

Donnerstag heißt Wäsche waschen, aber ganz allein schaffe ich das nicht, und Ma liegt ja immer noch auf den Laken.

Als ich wieder Hunger kriege, gucke ich auf Uhr, aber er zeigt erst 09:47. Zeichentrick ist vorbei, deshalb gucke ich Football und den Planeten, wo die Leute Preise gewinnen. Die Frau mit den plusterigen Haaren ist auf ihrem roten Sofa und redet mit einem Mann, der früher mal ein Golfstar war. Es gibt auch noch einen anderen Planeten, wo Frauen Halsketten hochhalten und sagen, wie vorzüglich sie sind. »Schwachköpfe«, sagt Ma immer, wenn sie diesen Planeten sieht. Heute sagt sie nichts, sie merkt gar nicht, dass ich gucke und gucke und mein Gehirn schon anfängt zu müffeln.

Wie können die Bilder von Sachen in Fernseher denn in echt sein?

Ich stelle mir sie vor, wie sie da alle im Draußen hinter den Wänden herumschwirren, das Sofa und die Halsketten und das Brot und die Scherztabletten und die Flugzeuge und die Sies und Ers, die Boxer und der Mann mit dem einem Bein und die Frau mit den plusterigen Haaren, alle zoomen sie an Oberlicht vorbei. Ich winke ihnen zu, aber da sind auch Wolkenkratzer und Kühe und Schiffe und Laster, es ist rammelvoll da draußen, ich zähle das ganze Zeug, das vielleicht in Raum fällt. Ich kann nicht richtig atmen und muss anstatt meine Zähne zählen, von links nach rechts oben und dann von rechts nach links unten, dann wieder zurück, jedes Mal sind es zwanzig, aber ich denke trotzdem noch, dass ich vielleicht falsch zähle.

Als es 12:04 ist, kann das Mittagessen passieren, also schneide ich eine Dose Baked Beans auf, schön vorsichtig. Ich frage mich, ob Ma wohl aufwachen würde, wenn ich mir die Hand geschneidet hätte und Hilfe schreien würde. Ich habe noch nie kalte Bohnen gegessen. Ich esse neun, dann habe ich keinen Hunger mehr. Den Rest tue ich in ein Schüsselchen, damit es keine Verschwendung gibt. Ein paar kleben unten in der Dose, ich gieße Wasser rein. Vielleicht steht Ma später ja auf und schrubbt sie. Vielleicht hat sie ja Hunger und sagt: »O Jack, wie aufmerksam von dir, dass du mir die Bohnen in einem Schüsselchen aufbewahrt hast.«

Ich messe noch mehr Sachen mit Lineal, aber es ist schwer, ganz allein die Zahlen zusammenzurechnen. Ich lasse ihn Purzelbaum schlagen, er ist Akrobat von einem Zirkus. Ich spiele mit Fernsteuerung, halte sie auf Ma und flüstere: »Aufwachen«, aber sie macht es nicht. Ballon ist ganz verschrumpelt, er reitet auf der Pflaumensaftflasche bis fast an Oberflicht, die zwei machen das Licht ganz glitzerig braun. Sie haben Angst vor Fernsteuerung, vor dem spitzen Ende, deshalb tue ich sie in Schrank und klappe die Türen zu. Ich sage allen Sachen, keine Sorge, morgen ist Ma wieder da. Ich lese ganz allein die fünf Bücher, aber von Alice nur ein bisschen. Die meiste Zeit sitze ich bloß da.

Geschrei spiele ich nicht, weil ich sonst Ma störe. Ich denke, es ist nicht so schlimm, wenn man mal einen Tag auslässt.

Dann schalte ich wieder Fernseher an und wackle mit Häschen, es macht die Planeten ein bisschen weniger fusselig, aber nur ein bisschen. Es kommt Autorennen, wie sie so superschnell fahren, find ich gut, aber wenn sie dann schon hundertmal um das Oval rumgefahren sind, ist es nicht mehr besonders interessant. Ich will Ma aufwecken und sie nach dem Draußen fragen, wo lauter richtige Menschen und Sachen herumschwirren, aber dann wäre sie böse. Oder vielleicht würde sie ja auch gar nicht anschalten, nicht mal, wenn ich sie schüttele. Deshalb mache ich das nicht. Ich gehe ganz dicht bei sie bei, ihr halbes Gesicht und ihr Hals sind zu sehen. Die Flecken sind jetzt lila.

Ich trete Old Nick so lange, bis ihm der Hintern platzt. Dann zappe ich mit Fernsteuerung Türe auf und sause ins Draußen und hole mir alles in richtigen Geschäften und bringe es Ma.

Ein bisschen weine ich, aber ohne Krach zu machen.

Ich gucke eine Sendung mit Wetter und eine, wo Feinde ein Schloss belagern, die Guten bauen eine Barrikade, damit der Türe nicht aufgeht. Ich kaue an meinem Finger. Ma kann mir ja nicht sagen, ich soll aufhören. Ich frage mich, wie viel von meinem Gehirn schon Matsch ist und wie viel noch okay. Vielleicht müsste ich ja brechen wie einmal, als ich drei war und auch noch Durchfall hatte. Was ist, wenn ich Teppich ganz vollbreche, wie soll ich sie dann allein sauber machen?

Ich gucke auf den Fleck von damals, als ich geboren wurde. Dann knie ich mich hin und streichle ihn, er fühlt sich ein bisschen warm und kratzig an, genau wie der Rest von Teppich, kein Unterschied.

Ma ist nie mehr als einen Tag Verschwunden. Ich weiß nicht, was ich mache, wenn ich morgen aufwache und sie immer noch Verschwunden ist.

Dann kriege ich Hunger, ich esse eine Banane, trotzdem die noch ein bisschen grün ist.

Dora ist ein Bild im Fernseher und trotzdem meine richtige Freundin, das ist komisch. Jeep ist wirklich in echt, ich kann ihn mit meinen Fingern fühlen. Superman ist nur Fernseher. Bäume sind Fernseher, aber Pflanze ist in echt, oh, ich hab ja ganz vergesst, ihm Wasser zu geben. Ich trage ihn von Kommode zu Spülbecken und mache das sofort. Ich frage mich, ob er Mas Fischstückchen gegessen hat.

Skateboards sind Fernseher und Jungen und Mädchen auch, trotzdem sagt Ma, sie sind lebendig, wie soll das denn gehen, wenn sie so platt sind? Ma und ich könnten eine Barrikade bauen, wir könnten Bett gegen Türe schieben, damit er nicht aufgeht, da würde Old Nick aber einen Schreck kriegen, haha. Lasst mich rein, würde er rufen, sonst werde ich husten und prusten und euer Haus zusammenpusten. Gras ist Fernseher und Feuer auch, aber das könnte richtig in Raum kommen, wenn ich die Bohnen heiß mache und das Rote auf meinen Ärmel springt und mich verbrennt. Das würde ich gern mal sehen, aber erleben möchte ich es lieber nicht. Luft ist in echt, aber Wasser nur in Wanne und Becken, Flüsse und Seen sind Fernseher. Beim Meer bin ich mir nicht sicher, weil wenn es im Draußen herumschwappen täte, würde es ja alles nass machen. Ich will Ma schütteln und sie fragen, ob das Meer in echt ist. Raum ist ganz wirklich in echt, aber das Draußen vielleicht auch, nur hat es einen Umhang an, der es unsichtbar macht wie Prinz JackerJack in der Geschichte. Das Jesuskind ist Fernseher, glaube ich, außer in dem Bild mit seiner Ma und seinem Vetter und seiner Grandma, aber Gott ist in echt, er sieht mit seinem gelben Gesicht durch Oberlicht rein, nur heute nicht, da ist alles grau.

Ich will bei Ma in Bett sein, aber anstatt sitze ich auf Teppich und habe nur meine Hand auf der Beule von ihrem Fuß unter Zudeck. Mein Arm wird müde, deshalb lasse ich ihn eine Zeit lang baumeln, dann tue ich ihn wieder hin. Ich wickle das Ende von Teppich auf und lasse es wieder zurückrollen. Das mache ich Hunderte Male.

Als es dunkel wird, versuche ich, noch mehr Baked Beans zu essen, aber sie sind ekelhaft. Anstatt esse ich ein bisschen Brot und Erdnusscreme. Ich mache Frierer auf und stecke meinen Kopf zwischen die Tüten mit Erbsen und Spinat und den schrecklichen grünen Bohnen. Ich lasse ihn da, bis ich ganz taub bin, sogar meine Augenlider. Dann springe ich weg und mache die Tür zu und reibe meine Backen, damit sie warm werden. Ich kann sie mit den Händen fühlen, aber ich kann sie nicht meine Hände auf sich fühlen fühlen, komisch.

In Oberlicht ist es jetzt dunkel, ich hoffe, Gott steckt sein silbernes Gesicht rein.

Ich ziehe mein Schlaf-T-Shirt an und überlege, ob ich dreckig bin, weil ich nicht gebadet habe. Ich versuche mich zu riechen. In Schrank mummele ich mich in Mummeldecke, aber mir ist kalt. Ich habe heute vergesst, Thermostat hochzustellen, deswegen, es ist mir gerade erst eingefallen, aber jetzt bei Nacht kann ich es nicht machen.

Ich würde unheimlich gern etwas kriegen, den ganzen Tag habe ich nichts gekriegt. Sogar aus der Rechten, aber die Linke wäre mir lieber. Wenn ich mich jetzt zu Ma kuscheln und was kriegen könnte … aber dann schubst sie mich vielleicht weg, und das wäre noch schlimmer.

Und was ist, wenn ich bei ihr in Bett bin, und dann kommt Old Nick? Ich weiß nicht, ob es schon neun ist, zum Uhr sehen ist es zu dunkel.

Ich schleiche mich in Bett, gaaanz langsam, damit Ma nichts merkt. Ich lege mich nur daneben. Wenn ich das Piep piep höre, kann ich ja ganz schnell wieder in Schrank springen.

Was ist, wenn er kommt und Ma nicht aufwacht? Ist er dann noch mehr wütender? Macht er ihr dann noch schlimmere Flecken?

Ich bleibe wach, damit ich ihn kommen höre.

Er kommt nicht, aber ich bleibe trotzdem wach.





Der Abfallbeutel steht immer noch neben Türe. Ma ist heute Morgen vor mir aufgestanden, hat ihn aufgeknotet und die Bohnen reingetan, die sie aus dem Schälchen gekratzt hat. Wenn der Beutel immer noch da ist, heißt es, dass er nicht gekommen ist, also jetzt schon zwei Abende nicht, hurra.

Freitag ist Matratzen-Tag. Wir drehen sie so gut von hinten nach vorne und von einer Seite zur anderen, dass sie keine Rumpel kriegt. Sie ist so schwer, dass ich meine ganzen Muskeln brauche, und als sie runterfloppt, haut sie mich auf Teppich. Ich sehe den braunen Fleck auf Matratze, der ist von damals, als ich zum ersten Mal aus Mas Bäuchlein rausgekommen bin. Danach machen wir ein Staub-Rennen. Staub, das sind klitzekleine, unsichtbare Teilchen von unserer Haut, die wir nicht mehr brauchen, weil uns neue wächst wie bei den Schlangen. Ma niest ganz hoch wie die Opernsängerin, die wir mal in Fernseher gehört haben.

Wir machen unsere Einkaufsliste, aber beim Sonntagsgutti wissen wir nicht, was. »Frag nach Süßigkeiten«, sage ich. »Und nicht bloß Schokolade. Süßigkeiten, die wir noch nie gekriegt haben.«

»So was richtig Klebriges, damit du auch solche Zähne kriegst wie ich?«

Ich kann es nicht leiden, wenn Ma Sarkasmus macht.

Jetzt lesen wir Sätze aus den Büchern ohne Bilder, zuerst aus Die Hütte, da gibt es ein gruseliges Haus und ganz weißen Schnee. »Seitdem«, lese ich, »haben wir häufig zusammen ›herumgehangen‹, wie die Kinder es heute nennen, und einen Kaffee zusammen getrunken – oder für mich einen Chai-Tee, extra heiß mit Sojamilch.«

»Hervorragend«, sagt Ma, »Aber Chai reimt sich auf Brei.«

Die Personen in Büchern und im Fernseher haben immer Durst, sie trinken Bier und Saft und Champagner und Latte und alle möglichen anderen Flüssigkeiten, manchmal stoßen sie ihre Gläser an die von den anderen, wenn sie gut gelaunt sind, aber sie machen sie nicht kaputt. Ich lese den Satz noch einmal, er ist immer noch schwer zu verstehen.

»Wer sind der Er und der Ich, sind das die Kinder?«

»Hmm«, macht Ma und liest über meine Schulter. »Ich glaube, mit die Kinder meint er junge Leute im Allgemeinen.«

»Was heißt im Allgemeinen?«

»Viele junge Leute.«

Ich versuche mir sie vorzustellen, wie sie alle zusammen spielen. »Richtig menschliche?«

Ma sagt einen Moment lang nichts, und dann sagt sie ganz leise: »Ja.« Also hat alles gestimmt, was sie erzählt hat.

Die Flecken an ihrem Hals sind immer noch da. Ich frage mich, ob die überhaupt noch mal weggehen.





In der Nacht blinkt sie, es weckt mich in Bett auf. Lampe an, ich zähle bis fünf, Lampe aus, ich zähle bis eins, Lampe an, ich zähle bis zwei. Ich lasse einen Stöhner raus.

»Nur noch ein kleines bisschen.« Sie starrt immer noch zu Oberlicht rauf, der ist ganz schwarz.

Neben Türe steht kein Abfallbeutel, das heißt, er muss da gewesen sein, als ich geschlafen habe. »Bitte, Ma.«

»Sofort.«

»Es tut mir in den Augen weh.«

Sie beugt sich über Bett, gibt mir einen Kuss neben meinen Mund und zieht Zudeck über mein Gesicht. Das Licht blinkt immer noch, aber dunkler.

Nach einer Weile kommt sie zurück in Bett und gibt mir was, damit ich wieder einschlafen kann.





Am Samstag macht Ma mir zur Abwechslung drei Zöpfe, die fühlen sich komisch an. Ich wackle mit dem Kopf und haue mich damit.

Heute Morgen gucke ich nicht den Zeichentrickplaneten, anstatt suche ich mir ein bisschen Gärtnerei und einmal Fitness und einmal Nachrichten aus. Bei allem, was ich sehe, frage ich: »Ma, ist das in echt?«, und sie sagt Ja, außer an der Stelle über einen Film mit Werwölfen und einer Frau, die platzt wie ein Ballon, das sind nur Spezialeffekte, also Malen auf Computern.

Das Mittagessen ist eine Dose Kichererbsen-Curry und außerdem Reis.

Ich würde gern noch mal superlaut Geschrei spielen, aber an Wochenenden dürfen wir das nicht.

Fast den ganzen Nachmittag spielen wir das Fadenspiel, wir können schon den Diamanten machen und die Krippe und die Stricknadeln und üben weiter am Skorpion, bloß hängt da am Ende immer Mas Finger fest.

Das Abendessen sind Mini-Pizzas, eine für jeden, und eine wird geteilt. Danach gucken wir einen Planeten, wo Personen ganz viele zipfelige Sachen anhaben und riesige weiße Haare. Ma sagt, die sind in echt, aber sie tun so, als wären sie Leute, die schon vor Hunderten von Jahren gestorben sind. Es ist so eine Art Spiel, aber besonders lustig hört es sich nicht an.

Sie schaltet Fernseher aus und schnüffelt herum. »Ich kann immer noch das Curry von heute Mittag riechen.«

»Ich auch.«

»Gut geschmeckt hat es, aber es ist eklig, dass man den Geruch nicht loswird.«

»Meins hat auch eklig geschmeckt«, sage ich.

Sie lacht. Die Flecken an ihrem Hals werden weniger, jetzt sind sie irgendwie grün und gelb.

»Erzählst du mir eine Geschichte?«

»Welche?«

»Eine, die du mir noch nie erzählt hast.«

Ma lächelt mich an. »Ich glaube, inzwischen kennst du alles, was ich kenne. Der Graf von Monte Christo?«

»Den habe ich schon eine Million Mal gehört.«

»Gulliver in Lilliput?«

»Zillionen Mal.«

»Nelson auf Robben Island?«

»Dann kam er nach siebenundzwanzig Jahren heraus und wurde die Regierung.«

»Goldlöckchen?«

»Macht mir zu viel Angst.«

»Die Bären knurren doch nur«, sagt Ma.

»Trotzdem.«

»Prinzessin Diana?«

»Die hätte sich besser mal angeschnallt.«

»Siehst du, du kennst alle.« Ma pustet die Luft aus den Backen. »Momentchen, da gibt es noch eine über eine Meerjungfrau …«

»Die kleine Meerjungfrau.«

»Nein, eine andere. Diese Meerjungfrau hier sitzt eines Abends auf den Felsen und kämmt ihr Haar, da kommt ein Fischer angeschlichen und fängt sie in seinem Netz.«

»Will er sie zum Abendessen braten?«

»Nein, nein, er nimmt sie mit nach Hause in seine Hütte, und sie muss ihn heiraten«, sagt Ma. »Er versteckt ihren Zauberkamm, damit sie nie mehr zurück ins Meer kann. Nach einer Zeit bekommt die Meerjungfrau ein Baby …«

»Das heißt JackerJack«, rufe ich.

»Genau. Aber jedes Mal, wenn der Fischer zum Fischen weg ist, sucht sie die Hütte ab, und eines Tages findet sie heraus, wo er ihren Kamm versteckt hat …«

»Haha.«

»Und sie läuft weg zu den Felsen und gleitet ins Meer hinein.«

»Nein.«

Ma guckt in mein Gesicht. «Gefällt dir die Geschichte nicht?«

»Sie soll nicht weg sein.«

»Ist doch alles gut.« Sie holt mit ihrem Finger die Träne aus meinem Auge. »Ich habe vergessen zu sagen, dass sie natürlich ihr Baby JackerJack mitnimmt, den hat sie sich ganz fest ins Haar geknotet. Und als der Fischer zurückkommt, ist die Hütte leer, und er sieht die beiden nie mehr wieder.«

»Ertrinkt er?«

»Der Fischer?«

»Nein, JackerJack, unter Wasser?«

»Nein, keine Sorge«, sagt Ma. »Schließlich ist er doch ein halber Meerjüngling. Er kann Luft genauso atmen wie Wasser, ganz egal.« Ma steht auf und guckt auf Uhr, es ist 08:27.

Ich liege ewig lang in Schrank, aber ich werde nicht müde. Wir singen Lieder und sagen Gebete auf. »Nur noch ein Gedicht«, bettele ich, »bitte, bitte.« Ich suche mir Das Haus von Jack aus, weil es das längste ist.

Mas Stimme hört sich dösig an. »Das ist der Mann im zerlumpten Kleid …«

»Der küsste die verlorene Maid …«

»Die molk die Kuh mit dem schiefen Horn …«

Ich sage schnell noch ein paar Sätze auf, jetzt bloß Beeilung: »Die stieß den Hund, der die Katze macht bang, die die Ratte verschlang, die …«

Piep piep.

Ich mache meinen Mund ganz fest zu.

Das Erste, was Old Nick sagt, verstehe ich nicht.

»Oh, tut mir leid«, sagt Ma, »wir haben Curry gegessen. Übrigens habe ich mir überlegt, ob es vielleicht möglich wäre …« Ihre Stimme ist ganz hoch. »Ob es vielleicht irgendwann möglich wäre, einen Ventilator oder was Ähnliches einzubauen.«

Er sagt gar nichts. Ich glaube, sie sitzen auf Bett.

»Nur einen kleinen«, sagt sie.

»Tolle Idee«, sagt Old Nick. »Damit sämtliche Nachbarn sich fragen, warum ich mir in meinem Schuppen neuerdings ein Süppchen koche.«

Ich glaube, das ist auch wieder Sarkasmus.

»Ach ja. Tut mir leid«, sagt Ma. »Ich hatte nicht bedacht …«

»Dann kann ich ja auch gleich einen blinkenden Neon-Pfeil aufs Dach montieren.«

Ich frage mich, wie ein Pfeil blinkt.

»Es tut mir wirklich leid«, sagt Ma. »Mir war nicht klar, dass der Geruch, ich meine, dass ein Ventilator so …«

»Ich glaube, du weißt gar nicht, wie gut ihr es hier habt«, sagt Old Nick. »Kann das sein?«

Ma sagt gar nichts.

»Oberirdisch, natürliches Licht, Klimaanlage. Da gibt es ganz andere Bunker, das kannst du mir glauben. Frisches Obst, Toilettenartikel und was nicht noch, du brauchst nur mit dem Finger zu schnippen, und schon hast du es. Eine Menge Mädchen würden ihrem Schöpfer auf Knien danken, wenn es ihnen so gut ginge, sicher wie in einem Haus. Gerade mit dem Kleinen …«

Bin ich das?

»Keine Angst vor Besoffenen am Steuer«, sagt er, »keine Drogenhändler, keine Perversen …«

Genz schnell redet Ma dazwischen: »Ich hätte nicht nach einem Ventilator fragen sollen, das war dumm von mir, alles in Ordnung.«

»Na, dann ist ja gut.«

Eine Weile sagt keiner was.

Ich zähle meine Zähne, immer wieder komme ich aus der Reihe, erst neunzehn, dann zwanzig, dann wieder neunzehn. Ich beiße mir auf die Zunge, bis es wehtut.

»Klar, Verschleiß gibt es immer, ist ja auch normal.« Seine Stimme ist jetzt woanders, ich glaube, er steht drüben neben Wanne. »Die Fuge hier ist hochgequollen, das muss ich abschleifen und neu versiegeln. Und siehst du hier? Da kommt schon der Putz durch.«

»Wir passen aber immer auf«, sagt Ma leise.

»Aber nicht genug. Kork ist für eine derartige Beanspruchung nicht gedacht. Ich habe damals nur für eine einzelne, ruhige Bewohnerin geplant.«

»Kommst du ins Bett?«, fragt Ma mit dieser komischen hohen Stimme.

»Lass mich erst mal die Schuhe ausziehen.« Ich höre ein Ächzen und dann, wie etwas auf Boden fällt. »Kaum bin ich zwei Minuten da, liegst du mir schon mit Renovierungen in den Ohren …«

Lampe geht aus.

Old Nick quietscht Bett, ich zähle bis 97, dann glaube ich, dass ich eine Zahl ausgelassen habe, und komme aus der Reihe.

Ich bleibe wach und horche, trotzdem es gar nichts zu hören gibt.





Am Sonntag essen wir Bagel zum Abendessen, ganz zäh und mit Gelee und Erdnusscreme. Ma nimmt ihren Bagel aus dem Mund, und da steckt was Spitzes drin. »Endlich«, sagt sie.

Ich hebe es hoch, es ist ganz gelblich und mit dunkelbraunen Stellen. »Schlimmerzahn?«

Ma nickt. Sie fühlt hinten in ihren Mund.

Das ist wirklich verrückt. »Wir könnten ihn wieder reinstecken, mit Mehlklebe vielleicht.«

Sie schüttelt den Kopf und grinst. »Ich bin doch froh, dass er draußen ist, jetzt kann er mir nicht mehr wehtun.«

Eben noch war er ein Teil von ihr und jetzt nicht mehr. Nur noch ein Ding. »He, weißt du was? Wenn du ihn unter dein Kopfkissen legst, kommt in der Nacht unsichtbar eine Fee und verwandelt ihn in Geld.«

»Hier drin leider nicht«, sagt Ma.

»Warum nicht?«

»Weil die Zahnfee von Raum gar nichts weiß.« Ihre Augen gucken durch die Wände.

Im Draußen gibt es alles. Immer wenn ich jetzt an etwas denke, an Schi zum Beispiel oder Feuerwerk oder Inseln oder Fahrstühle oder Jo-Jos, dann fällt mir ein, dass sie in echt sind, dass sie wirklich im Draußen passieren, alle zusammen. Das macht mir den Kopf müde. Und dann auch noch Leute, Feuerwehrmänner Lehrer Diebe Babys Heilige Fußballspieler und noch ganz andere, die sind alle wirklich im Draußen. Ich bin da aber nicht. Ma und ich, wir sind die Einzigen, die da nicht sind. Sind wir noch in echt?

Nach dem Abendessen erzählt Ma mir Hänsel und Gretel und Wie die Berliner Mauer fiel und Rumpelstilzchen. Ich mag die Stelle, wo die Königin den Namen von dem Zwerg raten muss, oder sonst nimmt er ihr Baby mit. »Sind Geschichten wahr?«

»Welche?«

»Die von der Meerjungfrauenmutter und von Hänsel und Gretel und überhaupt alle.«

»Na ja«, sagt Ma, »nicht wortwörtlich.«

»Was ist …«

»Sie sind Zauberei, sie handeln nicht von wirklichen Personen, die heute herumlaufen.«

»Dann sind sie also Schwindel?«

»Nein, nein. Geschichten haben eine andere Wahrheit.«

Mein Gesicht ist ganz verknautscht, so schwer ist das zu verstehen. »Ist die Berliner Mauer wahr?«

»Früher gab es da mal eine Mauer, aber die ist nicht mehr da.«

Ich bin so müde, dass ich glaube, gleich zerreiße ich in zwei Teile wie Rumpelstilzchen am Ende.

»Gute Nacht«, sagt Ma und macht die Türen von Schrank zu. »Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«





Ich wusste nicht, dass ich abgeschaltet war, aber dann ist Old Nick da, und er ist ganz laut.

»Aber Vitamine …«, sagt Ma gerade.

»Halsabschneiderei.«

»Willst du denn, dass wir krank werden?«

»Alles nur ein Riesenschwindel«, sagt Old Nick. »Ich hab da mal einen Enthüllungsbericht gesehen, die landen doch alle nur im Klo.«

Wer landet im Klo?

»Es ist doch nur … wenn unsere Ernährung reichhaltiger wäre …«

»Ach, das musste ja kommen. Maunz maunz maunz …« Ich kann ihn durch die Ritzen sehen, er sitzt auf der Ecke von Wanne.

Mas Stimme wird wütend. »Ich wette, unser Unterhalt kostet weniger als der für einen Hund. Wir brauchen ja nicht mal Schuhe.«

»Du hast doch keine blasse Ahnung mehr, was heute in der Welt da draußen los ist. Was glaubst du eigentlich, wo das ganze Geld immer noch herkommt?«

Keiner sagt was. Dann Ma: »Was meinst du damit? Geld im Allgemeinen oder …«

»Sechs Monate schon.« Er hat die Arme verschränkt, sie sind riesig. »Vor sechs Monaten bin ich gefeuert worden. Und da musst du mir noch mit den Sorgen kommen, die du dir in deinem hübschen kleinen Köpfchen zurechtlegst?«

Ich kann auch Ma durch die Ritzen sehen, sie ist fast neben ihm.

»Was ist passiert?«

»Spielt doch keine Rolle.«

»Suchst du dir neue Arbeit?«

Sie starren sich an.

»Hast du Schulden?«, fragt sie. »Wie willst du denn … ?«

»Halt die Klappe.«

Ich will es gar nicht, aber ich habe so große Angst, dass er ihr wieder wehtut, dass der Ton einfach aus mir rausplatzt.

Old Nick sieht genau in meine Richtung, er macht einen Schritt und dann noch einen und noch einen, dann klopft er an die Latten. Ich sehe seine Hand dunkel werden. »He, du da drinnen.«

Er spricht mit mir. Meine Brust macht bumm bumm. Ich umklammere meine Knie und beiße die Zähne zusammen. Ich will unter Mummeldecke kriechen, aber ich kann nicht. Ich kann gar nichts.

»Er schläft«, sagt Ma.

»Lässt sie dich Tag und Nacht in dem Schrank da?«

Mit dich bin ich gemeint. Ich warte, dass Ma Nein sagt, aber sie macht es nicht.

»Das ist doch nicht normal.« Ich kann in seine Augen gucken, sie sind ganz hell. Kann er mich sehen? Verwandle ich mich jetzt zu Stein? Was, wenn er die Tür aufmacht? Ich glaube, da würde ich …

»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagt er zu Ma. »Seit dem Tag, als er geboren wurde, hast du ihn mich noch nicht ein einziges Mal richtig ansehen lassen. Hat die arme kleine Missgeburt zwei Köpfe oder so was?«

Warum hat er das gesagt? Am liebsten würde ich meinen einen Kopf aus Schrank stecken, nur um ihn ihm zu zeigen.

Aber da steht schon Ma vor den Ritzen, ich kann die Knubbel von ihren Schulterblättern durch das T-Shirt sehen. »Er ist nur ängstlich.«

»Vor mir braucht er keine Angst zu haben«, sagt Old Nick. »Ich habe ihm noch nie ein Haar gekrümmt.«

Warum sollte er mir ein Haar krümmen?

»Hab ihm doch sogar diesen schicken Jeep gekauft, oder? Mit Jungs kenne ich mich aus, schließlich war ich selber mal einer. Jetzt komm schon, Jack.«

Er hat meinen Namen gesagt.

»Komm raus, und du kriegst einen Lolli.«

Einen Lolli!

»Lass uns einfach ins Bett gehen.« Mas Stimme ist ganz komisch.

Old Nick lacht ein bisschen. »Das ist es also, was dir fehlt, Mädchen.«

Was Ma fehlt? Ist es was auf der Liste?

»Komm schon«, sagt sie noch einmal.

»Hat dir deine Mutter keine Manieren beigebracht?«

Lampe geht aus.

Aber Ma hat doch gar keine Mutter.

Bett ist laut, das macht er beim Draufsteigen.

Ich ziehe Mummeldecke über meinen Kopf und halte mir fest die Ohren zu, damit ich nichts höre. Ich will die Quietscher nicht zählen, aber ich mache es trotzdem.





Als ich aufwache, bin ich immer noch in Schrank, und es ist total dunkel.

Ich frage mich, ob Old Nick immer noch da ist. Und der Lolli?

Die Regel heißt: in Schrank bleiben, bis Ma kommt und mich holt.

Ich frage mich, welche Farbe der Lolli hat. Gibt es im Dunkel Farben?

Ich versuche mich wieder auszuschalten, aber ich bin ganz an.

Ich strecke meinen Kopf raus, nur mal …

Ich drücke die Türen auf, ganz langsam und leise. Das Einzige, was ich höre, ist das Summen von Kühli. Ich stehe auf und mache einen Schritt, zwei Schritte, drei. Ich stoße mit der Zehe gegen irgendwas, auuuuu. Ich hebe es auf, und es ist ein Schuh, ein riesiger Schuh. Ich gucke zu Bett, und da ist Old Nick, sein Gesicht ist aus Felsen, glaube ich. Ich strecke meinen Finger vor, berühren will ich es nicht, nur beinahe.

Seine Augen blitzen ganz weiß. Ich springe zurück und lasse den Schuh fallen. Zuerst denke ich, jetzt schreit er, aber er grinst mit großen, glänzenden Zähnen und sagt: »Hallo, Söhnchen.«

Ich weiß nicht, was das …

Dann ist Ma lauter, als ich sie jemals gehört habe, sogar beim Geschreispielen: »Bleib weg, bleib weg von ihm!«

Ich renne zu Schrank, ich stoße mir den Kopf, auaaaa, und sie kreischt immer weiter: »Bleib weg von ihm!«

»Halt die Klappe«, sagt Old Nick, »halt einfach die Klappe.« Dann sagt er ihr irgendwelche Sachen, die ich

wegen dem Gekreisch nicht hören kann. Ihre Stimme irgendwie wuschelig. »Hör auf, so einen Radau zu machen«, sagt er.

Statt Wörtern sagt Ma mmmmmmm. Ich halte mir den Kopf an der Stelle, wo ich mich gestoßen habe, dann tue ich ihn in beide Hände.

»Du bist wirklich das Letzte«, sagt er.

»Ich kann auch ganz leise sein«, sagt sie, sie flüstert fast. Ich kann ihren Atem hören, er ist ganz kratzig. »Du weißt, wie leise ich sein kann, wenn du ihn nur in Ruhe lässt. Mehr habe ich nie von dir verlangt.«

Old Nick schnaubt. »Du willst doch jedes Mal was Neues von mir, sobald ich auch nur die Tür aufmache.«

»Es geht doch nur um Jack.«

»Dann vergiss mal lieber nicht, von wem du den hast.«

Ich spitze die Ohren, aber Ma sagt nichts.

Dann irgendwelche Geräusche. Sucht er seine Kleider zusammen? Seine Schuhe, ich glaube, er zieht sich die Schuhe an.

Als er weg ist, schlafe ich nicht ein. Ich bin die ganze Nacht in Schrank wach. Ich warte Hunderte von Stunden, aber Ma holt mich nicht.





Ich schaue hoch zu Dach, als es plötzlich hochgeht und der Himmel reinsaust und alle Raketen und Kühe und Bäume mir auf den Kopf krachen …

Nein, ich bin in Bett. Oberlicht fängt an, Helles runterzutropfen, also muss Morgen sein.

»Das war nur ein böser Traum«, sagt Ma und streichelt mir die Backe.

Ich kriege was, aber nicht viel. Dafür aus der leckeren Linken.

Dann fällt es mir wieder ein und ich strampele in Bett hoch und suche nach neuen Flecken auf ihr drauf, aber ich sehe keine. »Tut mir leid, dass ich in der Nacht aus Schrank gekommen bin.«

»Ich weiß«, sagt sie.

Ist das dasselbe wie verzeihen? Mir fällt noch mehr wieder ein. »Was ist eine kleine Missgeburt?«

»Ach, Jack.«

»Warum hat er gesagt, dass mit mir was nicht stimmt?«

Ma seufzt. »Mit dir stimmt alles, du bist von Kopf bis Fuß perfekt.« Sie küsst mich auf die Nase.

»Aber warum hat er es dann gesagt?«

»Er versucht nur, mich in den Wahnsinn zu treiben.«

»Warum versucht … ?«

»Du weißt doch, wie gern du mit Autos und Ballons und solchen Sachen spielst. Na ja, und er spielt nun mal gern mit meinem Kopf.« Sie macht tock tock.

Ich weiß nicht, wie man mit Köpfen spielt. »Ist feuern wie Feuer machen?«

»Nein, es bedeutet, dass er seine Arbeit verloren hat.«

Ich dachte, verlieren kann man nur Sachen, zum Beispiel die eine von unseren sechs Nadeln. Im Draußen muss alles ganz anders sein. »Warum hat er gesagt, vergiss nicht, von wem du mich hast?«

»Jetzt sei mal einen Moment lang still, ja?« Ich zähle stumm ein Heuwägelchen, zwei Heuwägelchen, in jeder von den sechzig Sekunden springen die Fragen in meinem Kopf hoch.

Ma schüttet sich ein Glas Milch ein, ich kriege keins. Sie starrt in Kühli, das Licht geht nicht an, komisch. Sie macht die Tür wieder zu.

Die Minute ist um. »Warum hat er gesagt, vergiss nicht, von wem du mich hast?«

Ma klickt Lampe, aber der wacht auch nicht auf. »Er hat gemeint … wem du gehörst.«

»Ich gehöre dir.«

Sie lächelt mich kurz an.

»Ist die Birne von Lampe alle?«

»Ich glaube nicht, dass das der Grund ist.« Sie zittert, dann geht sie rüber und guckt auf Thermostat.

»Warum hat er gesagt, du sollst es nicht vergessen?«

»Weißt du, eigentlich hat er alles falsch verstanden. Er glaubt nämlich, du gehörst ihm.«

»Ha! Was für ein Schafskopf.«

Ma starrt auf Thermostat. »Kein Strom.«

»Was ist das?«

»Im Moment hat nichts Strom.«

Was für ein verrückter Tag.

Wir essen unsere Cornflakes und putzen uns die Zähne und ziehen uns an und geben Pflanze Wasser. Wir wollen Wanne einlaufen lassen, aber das erste bisschen Wasser kommt eiskalt raus, deshalb machen wir uns nur mit dem Waschlappen sauber. Durch den Oberlicht kommt es heller rein, aber nur ein bisschen. Fernseher klappt auch nicht, ich vermisse meine Freunde. Ich tue so, als ob sie auf den Bildschirm kommen, und tätschle sie mit meinen Fingern. Ma sagt, wir sollen noch ein Hemd und eine Hose mehr anziehen, damit uns warm wird, sogar an jeden Fuß zwei Socken. Um uns aufzuwärmen, machen wir Laufbahn, kilometerweit, dann lässt Ma mich die äußeren Socken ausziehen, weil meine Zehen ganz gequetscht sind. »Mir tun die Ohren weh«, sage ich ihr.

Ihre Augenbrauen gehen hoch.

»Es ist zu still in denen.«

»Ach so. Das kommt daher, dass du die ganzen leisen Geräusche nicht hörst, an die wir gewöhnt sind, das Summen vom Kühlschrank oder wenn die Heizung anspringt.«

Ich spiele mit Schlimmerzahn, ich verstecke ihn an verschiedenen Stellen, zum Beispiel in Kommode und im Reis und hinter Spüli. Ich versuche zu vergessen, wo er ist, und dann bin ich ganz überrascht. Ma schneidet die ganzen grünen Bohnen aus Frierer, warum denn bloß so viele?

Da fällt mir das einzige Gute von gestern Abend ein. »Oh, Ma … der Lolli.«

Sie schneidet weiter. »Der ist im Müll.«

»Warum hat er ihn da reingetan?« Ich laufe rüber, trete auf das Pedal, und der Deckel geht auf, dong, aber den Lolli sehe ich nicht. Ich taste an den Orangenschalen und dem Reis und dem Eintopf und dem Plastik vorbei.

Ma packt mich an den Schultern. »Lass ihn da.«

»Aber das ist meine Süßigkeit vom Sonntagsgutti«, sage ich ihr.

»Es ist Abfall.«

»Ist es nicht.«

»Und er hat ihn höchstens 50 Cent gekostet. Der macht sich doch über uns lustig.«

»Ich habe noch nie einen Lolli gehabt.« Ich zappele so lange, bis ich los bin.

Nichts kann Herd heiß machen, weil der Strom abgeschneidet ist. Deshalb gibt es zum Mittagessen quietschige, eiskalte grüne Bohnen, die sind sogar noch ekliger als gekochte grüne Bohnen. Aber wir müssen sie aufessen, weil sie sonst schmelzen und verderben. Mir würde das nichts ausmachen, aber es ist Verschwendung.

»Soll ich dir Das Häschen, das weglief vorlesen?«, fragt Ma, als wir alles ganz kalt abgewaschen haben.

Ich schüttele den Kopf. »Wann wird der Strom wieder angeschneidet?«

»Das weiß ich leider auch nicht.«

Wir gehen in Bett, um uns aufzuwärmen. Ma zieht ihre ganzen Sachen hoch, und ich kriege eine Menge, erst aus der Linken und dann aus der Rechten.

»Was ist, wenn Raum immer kälterer wird?«

»Das passiert bestimmt nicht. In drei Tagen ist April«, sagt sie und schmust mich. »So kalt kann es draußen nicht sein.«

Wir dösen, aber ich nur ein bisschen. Ich warte, bis Ma ganz schwer ist, dann krabbele ich raus und suche wieder in Müll.

Ich finde den Lolli fast am Boden, er sieht aus wie ein roter Ball. Ich wasche mir die Arme und auch meinen Lolli, weil da der eklige Eintopf dran ist. Ich kriege das Plastik sofort ab, und dann lutsche ich und lutsche, es ist das Süßeste, was ich jemals gekriegt habe. Ich frage mich, ob so das Draußen schmeckt.

Wenn ich weglaufen würde, dann würde ich mich in einen Stuhl verwandeln, und Ma wüsste nicht, welcher. Oder ich würde mich unsichtbar machen und an Oberlicht kleben, und sie würde genau durch mich durchgucken. Oder ich würde ein Staubkörnchen werden, und ihr die Nase raufkriechen und sie würde mich wieder aus sich rausniesen.

Ihre Augen sind auf.

Ich halte den Lolli hinter meinen Rücken.

Sie macht sie wieder zu.

Ich lutsche noch stundenlang weiter, trotzdem mir schon ein bisschen schlecht ist. Dann bleibt nur noch ein Stöckchen übrig, und ich werfe es in Müll.

Als Ma aufsteht, sagt sie nichts wegen dem Lolli, vielleicht war sie ja immer noch am Schlafen, als sie die Augen aufhatte. Sie versucht noch mal, Lampe anzuschalten, aber der bleibt aus. Sie sagt, sie lässt ihn angeschaltet, damit wir es sofort wissen, wenn der Strom wiederkommt ist.

»Was ist, wenn er mitten in der Nacht wiederkommt und uns aufweckt?«

»Ich glaube nicht, dass es mitten in der Nacht passiert.«

Wir spielen mit Flummi und mit Wörterball Bowling und schmeißen Vitaminflaschen um, auf die wir mal alle möglichen Köpfe gebastelt haben, als ich vier war, einen Drachen und ein Alien und die Prinzessin und das Krokodil. Meistens gewinne ich. Ich übe zusammenzählen und abziehen und Reihen und malnehmen und teilen und die größten Zahlen aufschreiben, die es gibt. Ma näht mir zwei neue Puppen aus den kleinen Socken von als ich ein Baby war, sie haben ein aufgenähtes Grinsen und ganz verschiedene Knopfaugen. Ich kann auch nähen, aber es macht nicht viel Spaß. Ich wünschte, ich könnte mich an mein Baby-Ich erinnern. Wie ich damals war.

Ich schreibe einen Brief an Spongebob mit einem Bild von mir und Ma hinten drauf, wie wir tanzen, damit uns nicht kalt wird. Wir spielen Schnipp Schnapp und Memory und Quartett. Ma will Schach, aber das macht mein Gehirn labberig, deshalb sagt sie, na gut, Dame.

Meine Finger werden so steif, dass ich sie mir in den Mund tue. Ma sagt, so verbreiten sich Bazillen, sie will, dass ich sie erst noch mal mit dem eiskalten Wasser wasche.

Wir basteln aus Mehlteig haufenweise Perlen für eine Kette, aber die können wir erst auffädeln, wenn sie ganz trocken und hart sind. Dann basteln wir ein Raumschiff aus Schachteln und Schüsselchen, das Klebeband ist beinahe alle, aber Ma sagt, auch egal, und verbraucht das letzte Fitzelchen.

Oberlicht wird dunkel.

Zum Abendessen gibt es ganz schwitzigen Käse und halb gefrorenen Brokkoli. Ma sagt, ich muss essen, sonst wird mir noch kälterer.

Sie nimmt zwei Scherztabletten und einen tüchtigen Schluck, damit sie runterrutschen.

»Warum hast du denn immer noch Aua, Schlimmerzahn ist doch weg?«

»Wahrscheinlich, weil ich jetzt die anderen mehr spüre.«

Wir ziehen unsere Schlaf-T-Shirts an und noch mehr Sachen oben drüber. Ma fängt ein Lied an: »The Other side of the mountain …«

»The other side of the mountain …«, singe ich.

»The other side of the mountain …«

»Was all that he could see.«

Ich singe Ninety-nine Bottles of Beer on the Wall, bis ich runter bei siebzig bin.

Ma hält sich die Ohren zu und fragt, können wir den Rest bitte morgen machen? »Dann haben wir ja vielleicht wieder Strom.«

»Logisch«, sage ich.

»Und wenn nicht – dass die Sonne aufgeht, kann selbst er ja nicht verhindern.«

Old Nick? »Warum soll der die Sonne verhindern?«

»Kann er gar nicht, das habe ich doch gerade gesagt.« Ma umarmt mich und sagt: »Ach, tut mir leid.«

»Was tut dir leid?«

Sie pustet die Luft aus den Backen. »Ich bin schuld, ich habe ihn wütend gemacht.«

Ich starre ihr Gesicht an, aber ich kann es gar nicht richtig sehen.

»Er kann es nicht ausstehen, wenn ich zu schreien anfange. Das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Jetzt will er uns bestrafen.«

In meiner Brust wummert es ganz laut. »Wie will er uns bestrafen?«

»Tut er ja gerade. Er hat den Strom abgeschaltet.«

»Ach, das ist doch nicht schlimm.«

Ma lacht. »Wie bitte? Wir frieren, wir essen glibberiges Gemüse …«

»Ja, aber ich dachte, er würde uns bestrafen.« Ich versuche mir das vorzustellen. »Zum Beispiel, wenn es zwei verschiedene Räumen gibt, und er mich in einen und dich in einen anderen tut.«

»Jack, du bist einfach wunderbar.«

»Warum bin ich wunderbar?«

»Keine Ahnung«, sagt Ma, »so bist du eben einfach schon rausgeflutscht.«

Wir kuscheln noch enger auf Bett. »Dunkel mag ich nicht«, sage ich ihr.

»Jetzt ist ja schon Schlafenszeit, da wäre es auch sonst dunkel.«

»Vielleicht.«

»Wir erkennen uns doch auch, wenn wir nicht gucken können, oder?«

»Stimmt.«

»Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«

»Muss ich nicht in Schrank?«

»Heute Nacht nicht.«





Wir wachen auf, und die Luft ist noch kälterer. Uhr zeigt 07:09, der hat eine Batterie, also heimlich ein bisschen Strom in sich drin.

Ma ist dauernd am Gähnen, weil sie in der Nacht wach gewesen ist.

Ich habe Bauchweh, und sie sagt, das kommt vielleicht von dem ganzen rohen Gemüse. Ich will eine Scherztablette aus der Flasche, aber sie gibt mir nur eine halbe. Ich warte und warte, aber mein Bäuchlein fühlt sich trotzdem nicht anders an.

Oberlicht wird heller.

»Ich bin froh, dass er letzte Nacht nicht gekommen ist«, sage ich Ma. »Ich wette, der kommt überhaupt nicht mehr wieder, das wäre supercool.«

»Jack.« Sie runzelt ein bisschen die Stirn. »Jetzt denk mal scharf nach.«

»Tue ich ja.«

»Was würde dann denn wohl passieren? Woher bekämen wir unser Essen?«

Da weiß ich Bescheid. »Vom Jesuskind von den Feldern im Draußen.«

»Nein … ich meine, wer bringt es uns?«

Oha.

Ma steht auf, sie sagt, es ist ein gutes Zeichen, dass die Wasserhähne noch klappen. »Er hätte ja auch noch das Wasser abstellen können. Aber das hat er nicht.«

Ich weiß nicht, was für ein Zeichen das sein soll.

Zum Frühstück gibt es einen Bagel, aber er ist kalt und matschig.

»Was, wenn er den Strom nicht wieder anstellt?«, frage ich.

»Das macht er bestimmt. Vielleicht im Laufe des Tages.«

Ein paarmal probiere ich die Schalter an Fernseher aus. Nur eine blöde graue Kiste, ich kann mein Gesicht sehen, aber nicht so gut wie in Spiegel.

Wir machen allen möglichen Sport, damit uns warm wird. Karate und Inseln und Simon Says und Trampolin. Und Himmel und Hölle, da müssen wir von einer Korkfliese zur nächsten hüpfen und dürfen dabei nicht auf die Linien kommen oder umfallen. Ma will Blindekuh spielen und bindet sich meine Tarnhose um die Augen. Ich verstecke mich unter Bett neben Eierschlange und halte sogar die Luft an, platt wie ein Pfannekuchen. Sie braucht Hunderte von Stunden, bis sie mich gefindet hat. Danach will ich Abseilen machen. Ma hält meine Hände, und ich laufe ihre Beine rauf, bis meine Füße höher sind als mein Kopf. Dann hänge ich verkehrt herum da, meine Zöpfe fallen mir ins Gesicht, und ich muss lachen. Ich mache einen Salto und stehe wieder richtig. Das will ich noch mal und noch mal machen, aber ihr schlimmes Handgelenk tut weh.

Danach sind wir müde.

Wir basteln ein Mobile aus einer langen Spaghetti und Fäden, an die wir Sachen kleben, kleine Bilder von mir nur in Orange und von Ma nur in Grün und gezwirbelte Alufolie und abgerissenes Klopapier. Mit der Nähnadel aus Nähzeug macht Ma den obersten Faden an Dach fest, dann baumelt die Spaghetti da, und die ganzen kleinen Sachen fliegen, und wir stehen drunter und blasen ganz fest.

Ich habe Hunger, und Ma sagt, ich darf den letzten Apfel haben.

Was ist, wenn Old Nick uns keine neuen Äpfel mehr bringt?

»Warum bestraft er uns noch immer?«, frage ich.

Ma verzieht den Mund. »Er betrachtet uns einfach als Dinge, die ihm gehören, weil ihm Raum ja auch gehört.«

»Und wieso?«

»Weil er ihn gebaut hat.«

Das ist komisch. Ich dachte immer, Raum ist einfach da. »Hat nicht Gott alles gemacht?«

Ma sagt einen Moment lang nichts, dann streichelt sie mir über den Nacken. »Jedenfalls alles, was gut ist.«

Wir spielen Arche Noah auf Tisch, alle Sachen wie Kamm und kleiner Teller und die Bücher und Jeep müssen sich hintereinander aufstellen und husch husch in Schachtel steigen, bevor die gigantische Flut kommt. Ma spielt gar nicht mehr richtig mit. Sie hat den Kopf in den Händen, als ob er schwer ist.

Ich knabbere am Apfel. »Tun die andern Zähne weh?«

Sie sieht mich durch ihre Finger an, ihre Augen sind jetzt noch riesiger.

»Welche?«

Ma steht so plötzlich auf, dass ich beinahe Angst kriege. Sie setzt sich in Stuhlschaukel und streckt die Hände aus. »Komm mal her, ich erzähle dir eine Geschichte.«

»Eine neue?«

»Ja.«

»Toll.«

Sie wartet, bis ich mich gemütlich in ihre Arme gekuschelt habe. Ich knabbere den Apfel an der anderen Seite ab, damit er länger hält. »Du weißt doch, dass Alice gar nicht immer im Wunderland gewesen ist, oder?«

Die kenne ich ja schon, Ma hat mich ausgetrickst. »Ja, sie geht in das Haus vom weißen Kaninchen und wird so groß, dass sie die Arme aus dem Fenster stecken muss und den Fuß durch den Kamin, und dann tritt sie die Eidechse Bill raus, boing, die Stelle ist lustig.«

»Nein, ich meine davor. Weißt du noch, wie sie im Gras lag?«

»Und dann ist sie viertausend Meilen tief durch das Loch gefallen, aber wehgetan hat sie sich nicht.«

»Also, ich bin auch so ähnlich wie Alice«, sagt Ma.

Ich lache. »Quatsch. Die ist doch ein kleines Mädchen mit einem riesigen Kopf, sogar noch größer als dem von Dora.«

Ma beißt sich auf die Lippe, da ist eine dunkle Stelle. »Stimmt, aber ich komme auch von woanders, genau wie sie. Vor langer Zeit war ich …«

»Oben im Himmel.«

Sie legt mir den Finger auf den Mund, damit ich still bin. »Von da bin ich runtergekommen und war ein Kind so wie du. Ich habe bei meiner Mutter und bei meinem Vater gewohnt.«

Ich schüttele den Kopf. »Die Mutter bist doch du!«

»Aber ich hatte auch mal eine, zu der habe ich Mom gesagt«, erzählt Ma. »Ich habe sie sogar immer noch.«

Warum veräppelt sie mich die ganze Zeit, ist das ein Spiel, was ich nicht kenne?

»Sie ist … na ja, du würdest wohl Grandma zu ihr sagen.«

So wie Doras abuela. Und die heilige Anna auf dem Bild, bei der im Schoß die Jungfrau Maria sitzt. Ich esse das Mittelding vom Apfel, er ist beinahe ganz alle. Den Rest lege ich auf Tisch. »Und bist du auch in ihrem Bäuchlein gewachsen?«

»Ähm … nein, das nicht. Ich wurde adoptiert. Von ihr und meinem Dad … du würdest Grandpa zu ihm sagen. Und außerdem hatte ich … habe ich … einen Bruder, der heißt Paul.«

Ich schüttele den Kopf. »Der ist doch Heiliger.«

»Nein, ein anderer Paul.«

»Wie kann es denn zwei Pauls geben?«

»Du würdest Onkel Paul zu ihm sagen.«

Das sind mir zu viele Namen, mein Kopf ist schon voll. Aber mein Bäuchlein ist immer noch leer, so als wenn der Apfel gar nicht drin wäre. »Was gibt es zum Mittagessen?«

Ma lächelt nicht. »Ich erzähle dir gerade was über deine Familie.«

Ich schüttele den Kopf.

»Dass du ihnen noch nie begegnet bist, heißt noch lange nicht, dass sie nicht existieren. Es gibt mehr Dinge auf der Erde, als du dir vorstellen kannst.«

»Ist noch irgendein Käse übrig, der nicht schwitzig ist?«

»Jack, das hier ist wichtig. Ich habe in einem Haus gewohnt, mit meiner Mom und meinem Dad und mit Paul.«

Ich muss mitspielen, damit sie nicht böse wird. »Ein Haus im Fernseher?«

»Nein, draußen.«

So ein Quatsch. Ma war noch nie im Draußen.

»Aber es sah genauso aus wie die Häuser, die im Fernsehen kommen. Ein Haus am Rande einer Stadt mit einem Garten dahinter und mit einer Hängematte.«

»Was ist eine Hängematte?«

Ma holt den Bleistift von Regal und malt ein Bild von zwei Bäumen, dazwischen sind lauter Seile, die kreuz und quer zusammengeknotet sind, und auf denen liegt eine Person.

»Ist das ein Pirat?«

»Das bin ich, wie ich in der Hängematte liege.« Ma faltet das Papier zusammen, sie ist ganz aufgeregt. »Und ich bin auch mit Paul zum Spielplatz gegangen und habe auf den Schaukeln geschaukelt und Eis gegessen. Deine Grandma und dein Grandpa haben mit uns im Auto Ausflüge gemacht, zum Zoo und zum Strand. Ich war ihre kleine Tochter.«

»Quatsch.«

Ma zerknüllt das Bild. Auf Tisch ist was Nasses, das Weiße wird davon ganz glänzend.

»Musst doch nicht weinen«, sage ich.

»Doch, muss ich.« Sie reibt sich die Tränen übers Gesicht.

»Warum musst du?«

»Ich wünschte, ich könnte es dir besser erklären. Ich vermisse es so.«

»Du vermisst die Hängematte?«

»Alles. Draußen zu sein.«

Ich halte ihre Hand fest. Sie will, dass ich dran glaube, deshalb versuche ich es, aber dabei tut mir der Kopf weh. »Hast du wirklich früher mal im Fernseher gewohnt?«

»Es ist kein Fernsehen, das habe ich dir doch schon gesagt. Es ist die echte Welt, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß die ist.« Ihre Arme schnellen vor, sie zeigt auf die Wände. »Raum ist nur ein ganz kleiner, stinkiger Teil davon.«

»Raum ist nicht stinkig.« Ich knurre beinahe schon. »Stinkig ist er nur manchmal, wenn du furzt.«

Ma wischt sich wieder die Augen.

»Deine Fürze sind viel stinkiger als meine. Du versuchst nur, mich zu veräppeln, und damit hörst du mal lieber sofort auf.«

»Okay«, sagt sie, ihre Luft zischt raus wie bei Ballon. »Komm, wir essen ein Sandwich.«

»Warum?«

»Du hast doch gesagt, du hast Hunger.«

»Jetzt nicht mehr.«

Ihr Gesicht ist wieder böse. »Ich mache jetzt ein Sandwich«, sagt sie. »Und du wirst es essen. Verstanden?«

Es gibt bloß Erdnusscreme, weil der Käse schon ganz klebrig ist. Ma sitzt neben mir, aber sie isst nichts. »Ich weiß ja, das ist alles ein bisschen viel auf einmal«, sagt sie.

Das Sandwich?

Zum Nachtisch teilen wir uns ein Schüsselchen Mandarinen. Ich kriege die großen Stücke, weil sie lieber die kleinen hat.

»Bei so was würde ich dich nie anlügen«, sagt Ma, als ich den Saft schlürfe. »Ich konnte es dir vorher nicht sagen, weil du zu klein warst, um es zu verstehen. Damals habe ich dich also sozusagen belogen. Aber jetzt bist du fünf und kannst es verstehen.«

Ich schüttele den Kopf.

»Was ich jetzt gerade mache, ist das Gegenteil von lügen. So etwas wie entlügen.«

Wir machen ein langes Mittagsschläfchen.

Ma ist schon wach und sieht mich von ganz nah an. Ich kuschele mich an und trinke was aus der Linken.

»Warum gefällt es dir hier denn nicht?«, frage ich sie.

Sie setzt sich auf und zieht ihr T-Shirt herunter.

»Ich wollte noch mehr.«

»Wolltest du nicht«, sagt sie, »du hast ja schon geplappert.«

Ich setze mich auch auf. »Warum gefällt es dir nicht mit mir in Raum?«

Ma drückt mich ganz fest an sich. »Mit dir gefällt es mir doch immer.«

»Aber du hast gesagt, er ist klein und stinkig.«

»Ach, Jack.« Einen Moment lang sagt sie gar nichts. »Stimmt, ich wäre lieber draußen. Aber mit dir zusammen.«

»Mir gefällt es aber hier mit dir.«

»In Ordnung.«

»Wie hat er ihn gemacht?«

Sie weiß, wen ich meine. Ich glaube nicht, dass sie es mir erzählt, aber dann sagt sie: »Eigentlich war es nur ein Gartenschuppen, die üblichen knapp sechzehn Quadratmeter aus PVC-beschichtetem Blech. Aber dann hat er ein schalldichtes Oberlicht installiert und innen jede Menge Schaumstoff zum Isolieren plus eine Schicht Walzblei, weil Blei jedes Geräusch schluckt. Ach ja, und natürlich eine Sicherheitstür mit Code. Er ist immer noch stolz darauf, wie prima er das damals hingekriegt hat.«

Der Nachmittag will gar nicht vorbeigehen.

In der komischen, eisekalten Helligkeit lesen wir alle unsere Bilderbücher. Oberlicht ist heute anders. Er hat so was Schwarzes, wie ein Auge.

»Guck mal, Ma.«

Sie guckt hoch und grinst. »Das ist ein Blatt.«

»Warum?«

»Das muss der Wind von einem Baum auf die Scheibe geweht haben.

»Ein richtiger Baum im Draußen?«

»Genau. Siehst du, das ist der Beweis. Die ganze Welt ist da draußen.«

»Komm, wir spielen Bohnenstängel. Wir stellen meinen Stuhl hier auf Tisch drauf …«

Sie hilft mir dabei. »Dann Müll auf Stuhl drauf«, erkläre ich ihr. »Und dann klettere ich ganz nach oben.«

»Das ist zu gefährlich.«

»Ist es nicht, wenn du dich auf Tisch stellst und Müll festhältst, damit ich nicht wackele.«

»Hmm«, sagt Ma, das heißt fast schon Nein.

»Können wir es nicht mal versuchen? Bitte, bitte.«

Es klappt perfekt, ich falle überhaupt nicht. Als ich auf Müll stehe, kann ich sogar die Korkränder von Dach berühren, wo sie schräg bis hoch zu Oberlicht gehen. Da ist etwas über seinem Glas, was ich vorher noch nie gesehen habe. »Eine Honigwabe«, rufe ich Ma zu und streichele sie.

»Das ist eine Polykarbonatbeschichtung«, erklärt sie. »Unzerbrechlich. Bevor du geboren wurdest, habe ich oft da oben gestanden und hinausgeschaut.«

»Das Blatt ist ganz schwarz und hat lauter Löcher.«

»Ja, es ist bestimmt ein abgestorbenes vom letzten Winter.«

Drumherum kann ich Blau sehen, das ist der Himmel, und ein bisschen Weiß. Ma sagt, das sind Wolken. Ich gucke durch die Honigwabe, ich gucke und gucke, aber ich sehe nichts als Himmel. Da ist nichts drin, keine Schiffe oder Züge oder Pferde oder Mädchen oder Wolkenkratzer düsen vorbei.

Als ich wieder von Müll und von meinem Stuhl klettere, stoße ich Mas Arm weg.

»Jack!«

Ich springe ganz allein auf Boden. »Wer dreimal lügt, dem glaubt man nicht. Es gibt überhaupt kein Draußen.«

Sie fängt an, mir noch mehr zu erklären, aber ich stecke mir die Finger in die Ohren und rufe: »Bla bla bla bla bla.«

Ich spiele nur mit mir und mit Jeep. Beinahe weine ich, aber ich tue so, als ob nicht.

Ma sucht in Schränkchen. Sie knallt Dosen aneinander, und ich glaube, ich kann sie zählen hören. Sie zählt, was wir noch übrig haben.

Mir ist jetzt total kalt, meine Hände sind ganz taub unter den Socken, die ich drüber habe.

Zum Abendessen frage ich immer wieder, ob wir nicht den Rest von den Cornflakes essen können, bis Ma am Ende sagt, na gut. Ich verschütte ein paar, weil ich meine Finger nicht fühlen kann.

Das Dunkel kommt wieder, aber Ma hat alle Lieder aus Mein großes Buch der Kinderlieder im Kopf dabei, ich sage, sie soll mir Oranges and Lemons singen. Meine Lieblingsstelle ist: I do not know, says the great Bell of Bow, weil es da so tief runtergeht wie bei einem Löwen. Und außerdem die Stelle mit Here comes the chopper to chop off your head. »Was ist ein Chopper?«

»Das ist wohl ein großes Messer.«

»Glaube ich nicht«, sage ich ihr. »Das ist ein Helikopter, die Flügel drehen sich ganz schnell und hacken Köpfe ab.«

»Bäh.«

Wir sind gar nicht müde, aber ohne was zu sehen kann man nicht viel machen. Wir setzen uns auf Bett und machen uns unsere eigenen Reime. »Unser Freund Wickles isst gerne Mixed Pickles.«

»Unsere Freunde, die Pinguine, wollen keine Linguine.«

»Der war gut«, lobe ich Ma. »Unser Freund Shannon hat gewinnt das Rennen.«

»Gewonnen«, sagt Ma. »Unsere Freundin Jools liebt Swimmingpools.«

»Unser Freund Barney wohnt auf ’ner Farm-y.«

»Reim dich oder ich fress dich.«

»Na gut«, sage ich. »Unser Freund Onkel Paul fiel gestern aufs Maul.«

»Er ist wirklich mal vom Motorrad gefallen.«

Ich hatte ganz vergesst, dass der ja in echt war. »Warum ist er vom Motorrad gefallen?«

»Es war ein Unfall. Aber der Rettungswagen hat ihn in ein Krankenhaus gebracht, und die Ärzte haben ihn wieder heile gemacht.«

»Haben sie ihn aufgeschneidet?«

»Aber nein, sie haben ihm nur einen Gips um den Arm getan, damit es nicht mehr wehtut.«

Krankenhäuser sind also auch in echt, genau wie Motorräder. Bestimmt platzt mir noch der Kopf wegen den ganzen neuen Sachen, die ich glauben soll.

Jetzt ist es ganz schwarz, nur Oberlicht glänzt irgendwie dunkel. Ma sagt, in eine Stadt gibt es immer ein bisschen Licht von den Straßenlaternen und den Lampen in den Gebäuden und so.

»Wo ist die Stadt?«

»Gleich da draußen«, sagt sie und zeigt auf Bettwand.

»Aber ich habe durch Oberlicht geguckt und sie nirgendwo gesehen.«

»Und deshalb bist du ja auch böse auf mich geworden.«

»Ich bin nicht böse auf dich.«

Sie gibt mir meinen Kuss zurück. »Oberlicht zeigt schnurstracks in den Himmel. Und die meisten Sachen, von denen ich dir erzählt habe, sind am Boden. Wenn wir die sehen wollten, bräuchten wir ein Seitenfenster.«

»Wir könnten doch nach einem Seitenfenster als Sonntagsgutti fragen.«

Ma lacht ein bisschen.

Ich hatte schon vergesst, dass Old Nick gar nicht mehr kommt. Vielleicht war mein Lolli überhaupt das allerletzte Sonntagsgutti.

Erst glaube ich, dass ich gleich zu weinen anfange, aber was dann rauskommt, ist ein riesiges Gähnen. »Gute Nacht, Raum«, sage ich.

»Ist es schon so spät? Na dann, gute Nacht«, sagt Ma.

»Gute Nacht, Lampe und Ballon.« Ich warte auf Ma, aber sie sagt nichts mehr. »Gute Nacht, Jeep, und gute Nacht, Fernsteuerung. Gute Nacht, Teppich, gute Nacht, Mummeldecke, und gute Nacht, ihr Läuse. Und nicht beißen.«





Was mich aufweckt, ist ein Geräusch, immer wieder von Neuem. Ma ist nicht in Bett. Es gibt ein bisschen Licht, die Luft ist immer noch eisekalt. Ich gucke über den Rand, und sie hockt in der Mitte von Boden und macht mit ihrer Hand watsch watsch watsch. »Was hat Boden denn gemacht?«

Ma hört auf und pustet ganz lange die Luft aus den Backen. »Ich muss auf irgendwas einschlagen«, sagt sie, »aber ich will auch nichts kaputt machen.«

»Warum denn nicht?«

»Ehrlich gesagt, würde ich mit Vergnügen etwas kaputt machen. Am liebsten alles.«

Ich mag es nicht, wenn sie so ist. »Was gibt es zum Frühstück?«

Ma guckt mich nur an. Dann steht sie auf, geht rüber zu Schränkchen und holt einen Bagel heraus, ich glaube, es ist der letzte.

Selbst isst sie nur ein Viertel, sie hat nicht so großen Hunger.

Wenn wir unseren Atem rausblasen, ist er ganz neblig. »Das liegt daran, dass es heute kälter ist«, sagt Ma.

»Du hast gesagt, es würde nicht mehr kälterer.«

»Tut mir leid, da habe ich mich wohl vertan.«

Ich esse den Bagel auf. »Hast du immer noch eine Grandma und einen Grandpa und einen Onkel Paul?«

»Ja«, sagt Ma und lächelt ein bisschen.

»Sind sie im Himmel?«

»Aber nein.« Ihr Mund zuckt. »Jedenfalls glaube ich das nicht. Paul ist nur drei Jahre älter als ich, er ist also – meine Güte, der muss jetzt neunundzwanzig sein.«

»In Wahrheit sind sie hier«, flüstere ich. »Sie verstecken sich.«

Ma sieht sich um. »Wo?«

»Unter Bett.«

»Oha, da sind sie aber eingequetscht. Schließlich sind sie zu dritt und ziemlich groß.«

»So groß wie Nilpferde?«

»Ganz so groß nicht.«

»Vielleicht sind sie … in Schrank.«

»Bei meinen Kleidern?«

»Ja. Wenn wir es klappern hören, dann sind die es, und die Kleiderbügel fallen runter.«

Mas Gesicht ist ganz leer.

»Ich hab doch nur Spaß gemacht«, erkläre ich ihr.

Sie nickt.

»Können sie irgendwann mal in echt hierherkommen?«

»Ich wünschte, das könnten sie«, sagt Ma. »Ich bete so sehr darum, jede Nacht.«

»Ich höre dich aber gar nicht.«

»Nur im Kopf«, sagt Ma.

Ich wusste gar nicht, dass sie Sachen in ihrem Kopf betet, wo ich sie nicht hören kann.

»Sie wünschen es sich auch«, sagt Ma, »aber sie wissen nicht, wo ich bin.«

»Du bist doch mit mir in Raum.«

»Aber sie wissen nicht, wo das ist, und von dir wissen sie überhaupt nichts.«

Das ist komisch. »Sie könnten doch auf Doras Landkarte gucken, und dann würde ich da als Überraschung rausspringen.«

Beinahe lacht Ma, aber nicht wirklich. »Raum ist auf keiner Landkarte.«

»Wir könnten es ihnen am Telefon sagen, Bob der Baumeister hat eins.«

»Aber wir nicht.«

»Wir könnten doch nach einem als Sonntagsgutti fragen«, fällt mir ein. »Wenn Old Nick nicht mehr sauer ist.«

»Jack! Der würde uns niemals ein Telefon geben, nicht mal ein Fenster.« Ma nimmt meine Daumen in die Hand und drückt sie. »Wir sind wie Leute in einem Buch, und er lässt keinen anderen darin lesen.«

Für Sport machen wir Schnelllauf. Es ist schwer, Tisch und die Stühle zu verrücken, wenn die Hände sich anfühlen, als wären sie nicht da. Ich laufe zehn Mal hin und zurück, aber danach ist mir immer noch nicht warm, und meine Zehen sind stolperig. Dann machen wir Trampolin und Karate, hi-jah, und danach suche ich mir wieder Bohnenstängel aus. Ma sagt, na gut, aber ich muss versprechen, dass ich nicht ausflippe, wenn ich nichts sehe. Ich klettere auf Tisch, auf meinen Stuhl und auf Müll und wackele kein bisschen. Ich halte mich an den Rändern fest, wo Dach schräg bis zu Oberlicht hochgeht. Ich glotze so lange durch die Honigwabe auf das Blau, dass ich blinzeln muss. Nach einer Weile sagt Ma, sie will runter und Mittagessen machen.

»Bitte kein Gemüse, mein Bäuchlein verträgt das nicht.«

»Wir müssen es aber aufbrauchen, bevor es schlecht wird.«

»Wir könnten doch Nudeln essen.«

»Die muss man kochen, und wir haben doch keinen Strom.«

»Dann eben Reis. Was ist, wenn … ?« Dann vergesse ich zu sprechen, weil ich es durch die Honigwabe sehe. Das Ding ist so klein, dass ich erst glaube, ich habe nur was im Auge, habe ich aber nicht. Es ist eine kleine Linie, die einen dicken weißen Streifen auf den Himmel macht. »Ma …«

»Was?«

»Ein Flugzeug!«

»Wirklich?«

»Wirklich in echt. Oh …«

Dann falle ich auf Ma und dann auf Teppich, Müll knallt auf uns drauf und auch mein Stuhl. Ma sagt aua aua aua und reibt sich das Handgelenk. »Tut mir leid, tut mir leid«, rufe ich und küsse es wieder gut. »Ich hab es gesehen, es war ein richtiges Flugzeug, nur in klein.«

»Das kommt nur daher, weil es so weit weg ist«, sagt sie und lächelt ganz viel. »Ich wette, wenn du es von Nahem sehen würdest, dann wäre es in Wahrheit riesig.«

»Das Irrste war, dass es ein I auf den Himmel gemalt hat.«

»Das nennt man einen …« Sie schlägt sich an den Kopf. »Fällt mir nicht mehr ein. Es ist so eine Art Streifen, von dem Rauch, den das Flugzeug macht.«

Zum Mittagessen essen wir die ganzen sieben letzten Cracker mit dem klebrigen Käse. Wir halten die Luft an, damit wir ihn nicht riechen müssen.

Unter Zudeck gibt Ma mir was. Das gelbe Gesicht von Gott leuchtet ein bisschen, aber nicht genug zum Sonnenbaden. Ich kann nicht ausschalten. Ich starre so feste rauf zu Oberlicht, dass mir die Augen zu jucken anfangen, aber Flugzeuge sehe ich keine mehr. Trotzdem, das eine habe ich in echt gesehen, als ich oben auf Bohnenstängel war, es war kein Traum. Ich habe es im Draußen vorbeidüsen sehen, also gibt es das Draußen wirklich, wo Ma ein kleines Mädchen war.

Wir stehen auf und spielen das Fadenspiel und Domino und Unterseeboot und Puppen und eine Menge anderer Sachen, aber immer nur kurze Zeit. Wir machen Summen, aber die Lieder sind alle zu einfach zu raten. Dann gehen wir wieder in Bett und wärmen uns auf.

»Los, morgen gehen wir ins Draußen«, sage ich.

»Ach, Jack.«

Ich liege auf Mas Arm, der ist ganz dick in den zwei Pullovern. »Ich mag es, wie es da riecht.«

Sie dreht mir den Kopf zu und starrt mich an.

»Wenn Türe nach neun aufgeht und die Luft reinkommt, dann ist sie nicht wie unsere Luft.«

»Das hast du also gemerkt«, sagt sie.

»Ich merke alles.«

»Stimmt, sie ist frischer. Im Sommer riecht sie nach gemähtem Gras, weil wir in seinem Garten sind. Manchmal erhasche ich einen Blick auf Büsche und Hecken.«

»Dem Garten von wem?«

»Dem von Old Nick. Raum ist doch aus seinem Schuppen gemacht, weißt du nicht mehr?«

Es ist schwer, sich die ganzen Sachen zu merken, nichts davon hört sich wirklich wahr an.

»Er ist der Einzige, der den Zahlencode kennt, die man in die Tastatur draußen eintippen muss.«

Ich starre auf Tastatur. Ich wusste gar nicht, dass es noch eine gibt. »Ich tippe die Zahlen rein.«

»Tja, aber nicht die geheimen, mit denen die Tür aufgeht … wie mit einem unsichtbaren Schlüssel«, sagt Ma. »Und wenn er dann wieder ins Haus geht, gibt er den Code auf der hier wieder ein.« Sie zeigt auf Tastatur.

»In das Haus mit der Hängematte?«

»Nein.« Mas Stimme ist laut. »Old Nick wohnt in einem anderen.«

»Können wir irgendwann mal in seins gehen?«

Sie hält sich die Hand vor den Mund. »Lieber würde ich in das von deiner Grandma und deinem Grandpa gehen.«

»Dann könnten wir in der Hängematte schaukeln.«

»Wir könnten tun und lassen, was wir wollten. Wir wären frei.«

»Wenn ich sechs bin?«

»Irgendwann auf jeden Fall.«

Von Mas Gesicht läuft es nass auf meins. Ich zucke zusammen, es schmeckt salzig.

»Ist schon in Ordnung«, sagt sie und reibt sich über die Backe. »Alles in Ordnung. Ich habe nur … ich habe ein bisschen Angst.«

»Du darfst keine Angst haben.« Ich schreie beinahe. »Keine gute Idee.«

»Nur ein kleines bisschen. Es kann uns nichts passieren, das Wichtigste haben wir.«

Jetzt habe ich sogar noch größere Angst. »Aber was ist, wenn Old Nick nicht wieder den Strom anschneidet und kein neues Essen mehr bringt, nie nie nie mehr.«

»Das macht er schon«, sagt sie, sie atmet immer noch ganz hastig. »Ich bin mir fast hundert Prozent sicher, dass er das macht.«

Fast hundert, das sind 99. Reichen 99?

Ma setzt sich auf und reibt sich das Gesicht mit dem Arm von ihrem Pullover.

Mein Bäuchlein rumort, ich frage mich, was wir noch übrig haben. Es wird schon wieder dunkel. Ich glaube nicht, dass das Licht gewinnt.

»Hör mal zu, Jack. Ich muss dir noch eine Geschichte erzählen.«

»Eine wahre?«

»Total wahr. Du weißt ja, dass ich früher immer ganz traurig war.«

Die Geschichte mag ich. »Und dann bin ich vom Himmel gekommen und in deinem Bäuchlein gewachsen.«

»Stimmt. Aber weißt du … traurig war ich wegen Raum«, sagt Ma. »Old Nick … ich kannte ihn überhaupt nicht, ich war damals neunzehn. Er hat mich gestohlen.«

Ich versuche das zu verstehen. Swiper, nicht stehlen! Aber ich habe noch nie gehört, dass einer Leute stiehlt.

Ma hält mich zu fest. »Ich war Studentin. Es war früh am Morgen, und ich bin über einen Parkplatz gelaufen, auf dem Weg zur College-Bibliothek. Ich habe … es gibt da so einen kleinen Apparat mit tausend Liedern drin, die spielt er dir ins Ohr. Ich war von allen meinen Freunden die Erste, die einen hatte.«

Ich wünschte mir, den Apparat hätte ich.

»Jedenfalls war da so ein Mann, der kam herbeigerannt und bat um Hilfe, weil sein Hund einen Anfall hatte und er Angst hatte, dass er vielleicht sterben könnte.«

»Wie heißt er?«

»Der Mann?«

Ich schüttele den Kopf. »Der Hund.«

»Nein, der Hund war doch nur ein Trick, damit er mich in seinen Pick-up bekam, in den Laster von Old Nick.«

»Welche Farbe hat er?«

»Der Laster? Braun, er hat immer noch denselben, an dem hängt er wohl.«

»Wie viele Räder?«

»Du musst dich darauf konzentrieren, worum es hier geht«, sagt Ma.

Ich nicke. Ihre Hände sind zu fest, ich mache sie los.

»Er hat mir die Augen verbunden.«

»Wie bei Blindekuh?«

»Ja, aber es war kein Spaß. Er fuhr und fuhr, und ich hatte fürchterliche Angst.«

»Und wo war ich?«

»Du warst noch gar nicht auf der Welt, das weißt du doch.«

Hatte ich vergesst. »War der Hund auch in dem Laster?«

»Es gab keinen Hund.« Ma hört sich schon wieder sauer an. »Du musst mich die Geschichte erzählen lassen.«

»Kann ich mir eine andere aussuchen?«

»So ist es gewesen.«

»Kann ich Jack der Riesentöter haben?«

»Hör mir zu«, sagt Ma und hält mir den Mund zu. »Er hat mich gezwungen, eine schlimme Medizin zu schlucken, damit ich einschlief. Und als ich wieder aufwachte, war ich hier.«

Es ist beinahe schwarz, und ich kann Mas Gesicht jetzt überhaupt nicht mehr sehen. Es ist weggedreht, ich kann nur noch zuhören.

»Als er zum ersten Mal die Tür aufgemacht hat, habe ich um Hilfe geschrien, da hat er mich zusammengeschlagen. Danach habe ich das nie wieder versucht.«

Mein Bäuchlein ist ganz verknotet.

»Am Anfang hatte ich Angst einzuschlafen, für den Fall, dass er wiederkam«, sagt Ma. »Aber die Zeit, wo ich schlief, war die einzige, wo ich nicht weinen musste, deshalb habe ich ungefähr sechzehn Stunden am Tag geschlafen.«

»Hast du eine Pfütze gemacht?«

»Was?«

»Alice weint eine Pfütze, weil sie sich nicht mehr an ihre ganzen Gedichte und Zahlen erinnern kann, und dann ertrinkt sie beinahe.«

»Nein«, sagt Ma, »aber mir tat die ganze Zeit der Kopf weh, und meine Augen juckten. Der Geruch der Korkfliesen hat mich krank gemacht.«

»Was für ein Geruch?«

»Ich habe mich selbst in den Wahnsinn getrieben, immer wieder auf meine Uhr geschaut und die Sekunden gezählt. Alle möglichen Dinge haben mir Angst gemacht, sie schienen größer zu werden oder kleiner, wenn ich sie ansah, aber wenn ich wegsah, fingen sie an zu rutschen. Als er mir endlich ein Fernsehgerät brachte, ließ ich es die ganze Woche rund um die Uhr laufen, lauter Blödsinn. Bei den Werbespots für Essen, das ich kannte, tat mir richtig der Mund weh, weil ich das Zeug so unbedingt haben wollte. Manchmal hörte ich aus dem Fernseher Stimmen, die mir etwas sagen wollten.«

»So wie Dora?«

Sie schüttelt den Kopf. »Wenn er auf der Arbeit war, versuchte ich auszubrechen. Ich habe alles probiert. Tagelang habe ich mich auf dem Tisch auf Zehenspitzen gestellt und am Oberlicht herumgekratzt, bis ich mir sämtliche Fingernägel abgebrochen hatte. Ich warf alles dagegen, was ich in die Hände kriegte, aber ich habe es noch nicht mal geschafft, einen Riss ins Glas zu bekommen.«

Oberlicht ist nur ein Viereck, wo es weniger dunkel ist. »Was alles?«

»Die große Pfanne, Stühle, den Mülleimer …«

Boah, das hätte ich gern gesehen, wie sie Müll hochgeworfen hat.

»Ein andermal habe ich ein Loch gegraben.«

Ich kapiere nicht. »Wo?«

»Man kann es noch tasten. Willst du mal? Wir müssen da drunter …«

Ma schlägt Zudeck zurück und holt die Schachtel unter Bett hervor. Als sie reinkrabbelt, grunzt sie ein bisschen. Ich schiebe mich neben sie, wir sind neben Eierschlange, bloß nicht zerdrücken. »Die Idee ist mir bei Gesprengte Ketten gekommen, das ist der Film mit der spannenden Flucht.« Ihre Stimme wummert neben meinem Kopf.

Mir fällt die Geschichte mit dem Nazilager wieder ein, das ist nicht so ein Sommerlager mit Mäusespeck überm Feuer, es ist im Winter, und Millionen von Personen essen Madensuppe. Die Alliierten haben die Tore aufgehauen, und alle sind rausgelaufen. Ich glaube, die Alliierten sind alle Engel so wie der heilige Peter.

»Gib mir mal deine Finger …« Ma zieht daran. Ich fühle den Kork von Boden. »Genau hier.« Plötzlich ist da eine Fliese, die durchhängt und raue Kanten hat. Meine Brust macht bumm bumm. Ich habe überhaupt nie gewisst, dass da ein Loch war. »Vorsichtig. Nicht, dass du dich schneidest. Ich habe es damals mit dem gezackten Messer gemacht«, sagt sie. »Ich habe den Kork abgelöst, aber das Holz hat mich eine ganze Weile gekostet. Die Bleischicht und der Schaumstoff waren danach nur noch ein Kinderspiel. Aber weißt du, was ich dann gefunden habe?«

»Das Wunderland?«

Ma macht einen so wütenden Ton, dass ich mir an Bett den Kopf stoße.

»Tut mir leid.«

»Was ich fand, war ein Maschendrahtzaun.«

»Wo?«

»Genau hier in diesem Loch.«

Ein Zaun in einem Loch? Ich tue meine Hand rein und noch weiter rein.

»Etwas aus Metall. Hast du es?«

»Ja.« Kalt und ganz glatt. Ich fasse es mit den Fingern an.

»Als er damals den Schuppen in Raum umgebaut hat«, sagt Ma, »da hat er unter die Fußbodenplanken einen Maschendraht gezogen. Auch in alle Wände und sogar ins Dach. Da hätte ich mich niemals durchschneiden können.«

Wir sind wieder rausgekrochen und sitzen mit dem Rücken gegen Bett. Ich bin ganz außer Puste.

»Als er das Loch entdeckt hat, hat er gebrüllt.«

»Wie ein Bär?«

»Nein, vor Lachen. Ich hatte Angst, dass er mich schlagen würde, aber er hat das damals urkomisch gefunden.«

Meine Zähne sind ganz fest zusammen.

»Damals hat er noch öfter gelacht«, sagt Ma.

Old Nick ist ein stinkiger, stehlender Zombieräuber. »Wir könnten doch eine Meuterei gegen ihn machen«, erkläre ich ihr. »Dann erledige ich ihn mit meinem Jumbo-Megatron-Tranformer-Blaster.«

Sie gibt mir einen Kuss neben mein Auge. »Wir schaffen es nicht, ihn zu verletzen. Ich habe es einmal versucht, als ich ungefähr anderthalb Jahre hier war.«

Das ist ja irre. »Du hast Old Nick wehgetan?«

»Genauer gesagt, ich habe den Deckel vom Klo genommen, und das glatte Messer hatte ich auch dabei. Eines Abends kurz vor neun habe ich mich hinter der Tür an die Wand gestellt …«

Ich kapiere nicht. »Klo hat gar keinen Deckel.«

»Früher gab es mal einen, über der Schüssel. Es war der schwerste Gegenstand in Raum.«

»Bett ist doch superschwer.«

»Und wie hätte ich das Bett hochheben sollen?«, fragt Ma. »Jedenfalls, als ich ihn hereinkommen hörte …«

»Das Piep piep.«

»Genau. Ich habe ihm den Deckel auf den Kopf geschlagen.«

Ich nehme meinen Daumen in den Mund und kaue und kaue.

»Aber ich habe nicht fest genug zugeschlagen. Der Deckel fiel auf den Boden und brach entzwei, und er … Old Nick … der hat es geschafft, die Tür zuzudrücken.«

Ich schmecke was Komisches.

Mas Stimme ist ganz hastig. »Ich wusste, meine einzige Chance würde sein, dass ich ihn zwinge, mir den Code zu geben. Also habe ich ihm das Messer an die Kehle gedrückt, ungefähr so.«

Sie hält mir den Fingernagel unter das Kinn, das gefällt mir nicht. »›Gib mir den Code‹, habe ich gesagt.«

»Und hat er es gemacht?«

Ma pustet die Luft aus den Backen. »Er hat mir ein paar Zahlen gesagt, und ich bin hin und habe sie eingetippt.«

»Welche Zahlen?«

»Ich glaube nicht, dass es die richtigen waren. Er ist aufgesprungen und hat mir das Handgelenk verdreht und sich das Messer geschnappt.«

»Dein schlimmes Handgelenk?«

»Davor war es noch nicht schlimm. Nicht weinen«, sagt Ma in mein Haar. »Das ist doch alles schon so lange her.«

Ich versuche zu sprechen, aber nichts will rauskommen.

»Deshalb dürfen wir nicht noch einmal versuchen, ihm wehzutun, Jack. Als er am nächsten Abend wiederkam, hat er gesagt, dass er mir erstens den Code nie und nimmer verraten würde und zweitens, wenn ich noch ein einziges Mal versuchen würde, ihn so hereinzulegen, dann würde er einfach wegbleiben, und ich würde immer hungriger und hungriger werden und am Ende sterben.«

Ich glaube, sie hat aufgehört.

Mein Bäuchlein grummelt ganz laut, und jetzt komme ich drauf, warum Ma mir diese schreckliche Geschichte erzählt. Sie will mir sagen, dass wir bald …

Dann blinzele ich und halte mir die Augen zu, und alles ist ganz grell, weil Lampe wieder angegangen ist.





STERBEN

Es ist ganz warm. Ma ist schon auf. Es liegen eine neue Schachtel Cornflakes und vier Bananen auf Tisch, hurra. In der Nacht muss Old Nick gekommen sein. Ich springe aus Bett. Es gibt auch Makkaroni und Hotdogs und Mandarinen und …

Ma isst gar nichts davon, sie steht bei Kommode und guckt Pflanze an. Da sind drei Blätter ab. Ma berührt den Stängel von Pflanze und …

»Nein!«

»Sie war doch schon tot.«

»Du hast ihn kaputt gemacht.«

Ma schüttelt den Kopf. »Was lebendig ist, kann man biegen, Jack. Ich glaube, es war die Kälte, sie hat die Pflanze innen ganz steif gemacht.«

Ich versuche, den Stängel wieder zusammenzustecken. »Er braucht Klebeband.« Da fällt mir ein, dass wir gar keins mehr haben, Ma hat das letzte auf Raumschiff geklebt. Blöde Ma! Ich laufe hin und ziehe Schachtel unter Bett heraus, ich finde Raumschiff und reiße die Klebestreifen ab.

Ma guckt einfach nur zu.

Ich drücke das Klebeband auf Pflanze, aber es geht bloß wieder ab, und er ist wieder in zwei Hälften.

»Es tut mir wirklich leid.«

»Mach ihn wieder lebendig«, verlange ich von Ma.

»Würde ich ja, wenn ich nur könnte.«

Sie wartet, bis ich zu weinen aufhöre, dann wischt sie mir über die Augen. Jetzt ist mir zu warm, ich ziehe meine Extrasachen aus.

»Am besten tun wir sie in den Müll«, sagt Ma.

»Nein«, sage ich. »Durch Klo.«

»Da könnte das Rohr verstopfen.«

»Wir können ihn ja in kleine Stückchen brechen …«

Ich küsse ein paar Blätter von Pflanze und spüle sie weg, dann wieder ein paar, die spüle ich auch weg. Dann breche ich den Stängel in Stückchen. »Auf Wiedersehen, Pflanze«, flüstere ich. Vielleicht wächst er sich im Meer ja wieder ganz zusammen und danach bis in den Himmel.

Das Meer ist ja in echt, fällt mir dabei wieder ein. Im Draußen ist alles in echt, alles, was es gibt, weil ich in dem Blauen zwischen den Wolken das Flugzeug gesehen habe. Ma und ich können da nicht hin, weil wir den geheimen Code nicht kennen, aber trotzdem ist es in echt.

Davor wusste ich noch nicht mal, dass man darüber wütend sein kann, dass wir Türe nicht aufkriegen. Mein Kopf war zu klein, das Draußen passte gar nicht rein. Als ich ein kleiner Junge war, habe ich auch wie ein kleiner Junge gedacht. Aber jetzt bin ich fünf und weiß alles.

Gleich nach dem Frühstück baden wir, das Wasser ist ganz dampfig, hmmm. Wir lassen Wanne so volllaufen, dass es beinahe eine Überschwemmung macht. Ma legt sich nach hinten und schläft beinahe ein. Ich wecke sie auf, damit ich ihr die Haare waschen kann und sie mir meine. Wir waschen auch die Wäsche, aber danach sind überall lange Haare auf den Laken, die müssen wir abpflücken, wir machen ein Rennen und gucken, wer schneller ist.

Zeichentrick ist schon vorbei, jetzt malen Kinder Eier an für das Häschen, das weglief. Ich gucke mir jedes verschiedene Kind an und sage im Kopf: Du bist in echt.

»Das ist das Osterhäschen, nicht das, was weggelaufen ist«, sagt Ma. »Paul und ich haben früher immer … als wir noch klein waren, hat uns der Osterhase in der Nacht Schokoladeneier gebracht und sie überall im Garten versteckt, unter Büschen und in Löchern in den Bäumen, sogar in der Hängematte.«

»Hat er dafür deine Zähne mitgenommen?«, frage ich.

»Nein, es war alles umsonst.« Ihr Gesicht ist ganz alle.

Ich glaube nicht, dass der Osterhase weiß, wo Raum ist, und Büsche und Bäume haben wir sowieso nicht, die sind vor Türe.

Es ist ein ziemlich gut gelaunter Tag, weil es warm ist und was zu essen da, aber Ma ist gar nicht gut gelaunt. Wahrscheinlich vermisst sie Pflanze.

Ich darf bei Sport aussuchen, heute machen wir Wandern. Wir nehmen uns an der Hand und marschieren auf Laufbahn und rufen ganz laut, was wir sehen können. »Guck mal, Ma, ein Wasserfall.«

Eine Minute später rufe ich: »Guck mal, Ma, ein Gnu.«

»Wahnsinn.«

»Du bist dran.«

»Oh, guck mal«, sagt Ma. »Eine Schnecke.«

Ich bücke mich, damit ich sie sehen kann. »Guck mal, eine Planierraupe, die einen Wolkenkratzer plattmacht.«

»Guck mal«, sagt sie. »Ein Flamingo fliegt vorbei.«

»Guck mal, ein sabbernder Zombie.«

»Jack!« Aber erst mal muss sie trotzdem grinsen.

Dann marschieren wir noch schneller und singen dabei: »This Land is Your Land.«

Danach legen wir Teppich wieder hin, jetzt ist sie unser fliegender Teppich, wir düsen über den Nordpol.

Dann will Ma Toter Mann haben, wo wir ganz still daliegen müssen, ich vergesse es aber und kratze mich an der Nase, sie gewinnt. Als Nächstes will ich Trampolin machen, aber sie sagt, sie hat keine Lust mehr auf Sport.

»Dann machst du eben einfach den Kommentar und ich das Hüpfen.«

»Tut mir leid, aber ich lege mich lieber noch mal ein Weilchen hin.«

Heute ist sie aber wirklich nicht besonders lustig.

Ganz langsam ziehe ich Eierschlange unter Bett raus, ich kann hören, wie sie mit ihrer Nadelzunge zischt: »Ssslafe sanft, sssüß und fein.« Ich streichle sie vor allem an den Eiern, die angeknackst oder eingedellt sind. Eins zerbröselt mir in den Fingern. Mit einer Prise Mehl mache ich eine Klebe und pappe die Stücke auf ein Schreibpapier, jetzt ist es ein Berg mit ganz vielen Zacken. Ich will ihn Ma zeigen, aber die hat die Augen zu.

Also gehe ich in Schrank und spiele, dass ich ein Bergmann bin. Unter meinem Kopfkissen finde ich einen Goldklumpen, in Wahrheit ist es Schlimmerzahn. Er ist nicht lebendig und hat sich nicht gebogen, er ist abgebrochen, aber trotzdem müssen wir ihn nicht durch Klo runterspülen. Er ist doch aus Ma gemacht, aus ihrem Gesicht geschneidet.

Ich stecke meinen Kopf raus, und Mas Augen gehen auf. »Was machst du?«, frage ich sie.

»Ich denke nur nach.«

Wenn ich nachdenke, kann ich dabei gleichzeitig was Interessantes tun. Sie etwa nicht?

Sie steht auf, um das Mittagessen zu machen, heute kommt es aus einer Schachtel mit ganz orangenen Makkaroni, delicioso.

Danach spiele ich Ikarus, dem die Flügel schmelzen. Ma macht ganz langsam den Abwasch. Ich warte, dass sie fertig wird, damit wir spielen können, aber sie will nicht spielen, sie sitzt einfach nur in Stuhlschaukel und schaukelt.

»Was machst du?«

»Ich denke immer noch nach.« Eine Minute später fragt sie: »Was hast du da in dem Kissenbezug?«

»Das ist mein Rucksack.« Ich habe zwei von den Ecken an meinem Hals zusammengeknotet. »Der ist für wenn wir ins Draußen gehen, wenn wir gerettet werden.« Ich habe Schlimmerzahn und Jeep und Fernsteuerung und eine Unterhose für mich und eine für Ma reingetan und außerdem Schere und die vier Äpfel, falls wir Hunger kriegen. »Gibt es da Wasser?«, frage ich.

Ma nickt. »Flüsse, Seen …«

»Nein, ich meine zum Trinken. Gibt es einen Wasserhahn?«

»Haufenweise Wasserhähne.«

Ich bin froh, dass ich keine Wasserflasche mitnehmen muss, mein Rucksack ist nämlich jetzt schon ziemlich schwer. Ich muss ihn vom Hals weghalten, damit er mir nicht das Sprechen abquetscht.

Ma schaukelt und schaukelt. »Früher habe ich oft davon geträumt, wie ich gerettet werde«, sagt sie. »Ich habe Botschaften geschrieben und sie in Abfallbeuteln versteckt, aber es hat sie nie jemand gefunden.«

»Du hättest sie durch Klo schicken sollen.«

»Und wenn wir schreien, hört uns auch kein Mensch«, sagt Ma. »Gestern habe ich die halbe Nacht lang das Licht an- und ausgeschaltet, und irgendwann habe ich gedacht, es sieht sowieso keiner.«

»Aber …«

»Niemand wird uns retten.«

Zuerst sage ich gar nichts. Und dann sage ich: »Du weißt auch nicht immer alles.«

So ein komisches Gesicht wie jetzt habe ich bei ihr noch nie gesehen.

Ich hätte lieber, sie wäre den ganzen Tag Verschwunden, als wenn sie so eine Nicht-Ma ist wie jetzt.

Ich hole meine ganzen Bücher von Regal und lese sie: Mein Aufklappbuch Flughafen und Mein großes Buch der Kinderlieder und Der Bagger Dylan, mein Lieblingsbuch nämlich, und Das Häschen, das weglief, aber da höre ich in der Mitte auf und hebe den Rest für Ma auf. Dafür lese ich ein bisschen Alice, das mit der gruseligen Herzogin lasse ich aber aus.

Endlich hört Ma auf zu schaukeln.

»Kann ich was kriegen?«

»Klar«, sagt sie. »Komm her.«

Ich setze mich auf ihren Schoß, hebe ihr T-Shirt hoch und trinke ganz viel und ganz lange.

»Fertig?«, fragt sie in mein Ohr.

»Ja.«

»Hör mal zu, Jack. Hörst du zu?«

»Ich höre immer zu.«

»Wir müssen hier raus.«

Ich glotze sie an.

»Und wir müssen es ganz allein hinkriegen.«

Aber sie hat doch gesagt, wir wären wie Leute in einem Buch, wie kann denn jemand aus einem Buch fliehen?

»Wir müssen einen Plan austüfteln.« Ihre Stimme ist ganz hoch.

»Und was für einen?«

»Keine Ahnung. Ich versuche schon seit sieben Jahren, mir was einfallen zu lassen.«

»Wir könnten ja die Wände einreißen.« Aber wir haben keinen Jeep, mit dem man sie umfahren könnte, und auch keine Planierraupe. »Wir könnten sogar … Türe sprengen.«

»Und womit?«

»Bei Tom und Jerry hat das der Kater mal gemacht …«

»Es ist wirklich ganz toll, dass du dir was einfallen lässt«, sagt Ma, »aber was wir brauchen, ist eine Idee, die auch wirklich funktioniert.«

»Eine riesengroße Explosion«, schlage ich vor.

»Wenn sie riesengroß ist, dann fliegen wir dabei selbst in die Luft.«

Daran hatte ich nicht gedacht. Ich falle mir noch was ein. »Oh, Ma! Wir könnten doch … wir könnten warten, bis Old Nick einen Abend reinkommt, und dann könnten wir sagen: ›Oh, guck mal, was für einen leckeren Kuchen wir gemacht haben, nimm dir ein großes Stück von unserem leckeren Osterkuchen.‹ Und in Wahrheit wäre er vergiftet.«

Ma schüttelt den Kopf. »Selbst wenn wir ihn krank machen, gibt er uns den Code trotzdem nicht.«

Ich denke so feste nach, dass es wehtut.

»Sonst noch eine Idee?«

»Du sagst doch sowieso jedes Mal Nein.«

»Sei nicht böse. Ich versuche doch nur, realistisch zu sein.«

»Was für Ideen sind realistisch?«

»Weiß ich auch nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Ma leckt sich über die Lippen. »Ich muss immer wieder an diesen einen Moment denken, wo die Tür aufgeht … wenn wir genau den richtigen Zeitpunkt erwischen, diese eine Zehntelsekunde, dann könnten wir vielleicht an ihm vorbeistürmen.«

»Au ja, das ist eine coole Idee.«

»Und selbst wenn nur du allein rauskämst, während ich ihm die Augen traktiere …« Ma schüttelt den Kopf. »Ausgeschlossen.«

»Nein, eingeschlossen!«

»Er würde dich erwischen, Jack. Er würde dich erwischen, noch bevor du halb durch den Garten wärst, und dann …« Sie spricht nicht weiter.

Nach einer Minute sage ich: »Sonst noch eine Idee?«

»Immer nur dieselben, sie drehen sich in meinem Kopf wie Hamster im Laufrad«, presst Ma hervor.

Warum sind Hamster im Rad? Ist das so ein Riesenrad wie auf der Kirmes?

»Wir müssen einen listigen Trick machen«, sage ich ihr.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel wie damals, als du Studentin warst und er dich in seinen Laster getrickst hat, mit einem Hund, der gar nicht in echt war.«

Ma seufzt. »Ich weiß ja, dass du nur versuchst, mir zu helfen, aber könntest du jetzt trotzdem mal einen Moment den Mund halten, damit ich nachdenken kann?«

Aber wir haben doch schon nachgedacht, ganz feste haben wir zusammen nachgedacht. Ich stehe auf und esse die Banane mit dem großen braunen Stück, weil das Braune ist nämlich immer am süßesten.

»Mensch, Jack!« Mas Augen sind ganz riesig, und sie spricht superschnell. »Was du da über den Hund gesagt hast … das war tatsächlich eine brillante Idee. Wie wäre es, wenn wir so tun, als wärst du krank?«

Erst bin ich durcheinander, aber dann kapiere ich. »So wie der Hund, der gar keiner war?«

»Genau. Wenn er reinkommt … dann könnte ich ihm doch weismachen, dass du ganz krank bist.«

»Was für krank?«

»Vielleicht eine richtig schlimme Grippe«, sagt Ma. »Versuch mal, ganz schlimm zu husten.«

Ich huste und huste, und sie hört zu. »Hmm«, sagt sie.

Ich glaube nicht, dass ich es besonders gut mache. Ich huste noch lauter, und es fühlt sich an, als würde mein Hals aufreißen.

Ma schüttelt den Kopf. »Husten können wir vergessen.«

»Ich kann noch lauter.«

»Du machst das ganz prima, aber es hört sich trotzdem noch unecht an.«

Ich lasse einen so lauten, fürchterlichen Huster los wie noch nie in meinem Leben.

»Ich weiß nicht«, sagt Ma. »Vielleicht lässt sich Husten einfach nur schwer vortäuschen …« Dann schlägt sie sich an den Kopf. »Ich bin ja so dämlich.«

»Bist du nicht.« Ich streichle die Stelle, die sie gehauen hat.

»Es muss irgendwas sein, was du dir von Old Nick eingefangen hast, verstehst du? Er ist der Einzige, der hier Bazillen reinschleppt, und eine Grippe hatte er doch gar nicht. Nein, wir brauchen … vielleicht irgendwas im Essen?« Sie starrt wie wild auf die Bananen. »Kolibakterien. Würde man davon Fieber bekommen?«

Ma soll mir keine Fragen stellen, sie soll es wissen.

»Ein so schlimmes Fieber, dass du nicht mehr sprechen kannst, nicht mal richtig wach wirst du …«

»Warum kann ich nicht sprechen?«

»Wenn du nichts sagen musst, geht der Schwindel einfacher. Ja, genau«, sagt Ma, ihre Augen sind ganz glänzend. »Ich werde ihm sagen: ›Du musst Jack in deinem Laster ins Krankenhaus fahren, damit die Ärzte ihm die richtige Medizin geben können.‹«

»Ich fahre in dem braunen Laster?«

Ma nickt. »Ins Krankenhaus.«

Sagenhaft. Aber da fällt mir der Doktorplanet ein. »Ich will aber nicht aufgeschneidet werden.«

»Keine Sorge, die Ärzte tun dir nicht wirklich was. Du weißt doch, in Wahrheit fehlt dir doch gar nichts, richtig?« Sie streichelt mir über den Rücken. »Es ist nur ein Trick für unsere spannende Flucht. Old Nick trägt dich ins Krankenhaus, und sobald du den ersten Arzt siehst … oder auch eine Schwester, ganz egal … dann rufst du: ›Hilfe!‹«

»Du kannst doch rufen.«

Vielleicht hat Ma mich gar nicht gehört. Dann sagt sie: »Ich bin im Krankenhaus ja gar nicht dabei.«

»Und wo bist du?«

»Ich bleibe hier in Raum.«

Da habe ich eine bessere Idee. »Du solltest auch schwindelkrank sein, so wie damals, als wir zur selben Zeit Durchfall hatten, und dann nimmt er uns alle zwei in seinem Laster mit.«

Ma beißt sich auf die Lippe. »Das kauft er uns nicht ab. Ich weiß schon, das wird bestimmt nicht einfach für dich, wenn du ganz allein hier rausmusst. Aber ich werde die ganze Zeit in deinem Kopf mit dir reden, das verspreche ich. Weißt du noch, als Alice immer weiter runtergefallen ist, da hat sie doch auch die ganze Zeit über im Kopf mit ihrer Katze Dinah geredet.«

Bestimmt ist Ma dann nicht wirklich in meinem Kopf. Mir tut schon das Bäuchlein weh, wenn ich nur daran denke. »Den Plan finde ich nicht gut.«

»Jack …«

»Blöde Idee.«

»Eigentlich …«

»Ich gehe nicht ohne dich ins Draußen.«

»Jack …«

»Kommt nicht in die Tüte, nicht in die Tüte, nicht in die Tüte.«

»Na gut, beruhig dich wieder. Vergessen wir die Sache.«

»Wirklich?«

»Ja. Das können wir erst versuchen, wenn du so weit bist.«

Sie hört sich immer noch sauer an.

Heute ist April, also darf ich einen Ballon aufblasen. Drei sind noch übrig, ein roter, ein gelber und noch ein gelber. Ich suche mir gelb aus, weil ich dann für nächsten Monat auch noch einen roten oder einen gelben habe. Ich blase ihn auf und lasse ihn ganz oft in Raum herumdüsen, das blubberige Geräusch gefällt mir. Es ist schwer zu entscheiden, wann man den Knoten zumacht, weil danach der Ballon nicht mehr düst, er fliegt nur noch langsam. Aber wenn ich Ballontennis spielen will, muss ich den Knoten zumachen. Also lasse ich ihn ganz viel herumblubbern und blase ihn dreimal so doll auf, dann mache ich den Knoten zu und aus Versehen ist mein Finger drin. Als er richtig geknotet ist, spielen Ma und ich Ballontennis, fünfmal von siebenmal gewinne ich.

»Möchtest du was kriegen?«, fragt sie.

»Aus der Linken bitte«, sage ich und klettere auf Bett.

Viel ist nicht mehr drin, aber das ist lecker.

Ich glaube, ich habe ein bisschen gedöst, aber dann spricht mir Ma ins Ohr. »Weißt du noch, wie sie durch den dunklen Tunnel von den Nazis weggekrochen sind? Immer einer nach dem anderen?«

»Ja.«

»So machen wir es auch, sobald du so weit bist.«

»Durch welchen Tunnel?« Ich gucke überall rum.

»Wie durch den Tunnel, nicht durch einen echten. Was ich damit sagen will, ist, dass die Gefangenen sehr, sehr mutig sind und einer nach dem anderen rauskriechen.«

Ich schüttele den Kopf.

»Es ist der einzige Plan, der funktionieren kann.« Mas Augen sind zu glänzend. »Du bist doch mein mutiger Prinz JackerJack. Du gehst als Erster ins Krankenhaus, in Ordnung? Und dann kommst du mit den Polizisten wieder …«

»Verhaften die mich?«

»Nein, sie helfen dir. Du bringst sie hierhin, damit sie mich retten, und dann bleiben wir für immer zusammen.«

»Ich kann nicht retten«, sage ich. »Ich bin erst fünf.«

»Aber du hast doch Superkräfte«, sagt Ma mir. »Du bist der Einzige, der das schaffen kann. Machst du es?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber sie wartet und wartet.

»Na gut.«

»Heißt das Ja?«

»Ja.«

Sie gibt mir einen fetten Kuss.

Wir klettern aus Bett und essen jeder ein Schüsselchen Mandarinen.

Unser Plan hat ein paar Problemteile. Über die denkt Ma immer wieder nach und sagt, oh nein, aber dann findet sie doch eine Lösung.

»Die Polizisten kennen aber gar nicht den geheimen Code, wie man dich rauslässt«, sage ich ihr.

»Die lassen sich schon was einfallen.«

»Und was?«

Sie reibt sich ein Auge. »Keine Ahnung, einen Schneidbrenner vielleicht.«

»Was …«

»Das ist ein Werkzeug, aus dem eine Flamme herauskommt, damit können sie die Tür einfach aufbrennen.«

»Wir könnten doch einen basteln«, rufe ich und hopse rauf und runter. »Könnten wir nämlich, wir würden die Vitaminflasche mit dem Drachenkopf nehmen und den Drachen auf den Ofen legen und anschalten, bis er brennt und …«

»Und selbst im Feuer umkommen«, sagt Ma nicht besonders freundlich.

»Aber …«

»Jack, das hier ist kein Spiel. Gehen wir den Plan noch mal durch …«

Ich kann mich an alle Teile erinnern, nur die Reihenfolge bringe ich immer wieder durcheinander.

»Schau doch mal, es ist genau wie bei Dora«, sagt Ma. »Erst muss sie an einen Ort und dann an den zweiten, damit sie von da an den dritten kommt. Für uns heißt das Laster, Krankenhaus, Polizei. Willst du das mal aufsagen?«

»Laster, Krankenhaus, Polizei.«

»Oder vielleicht sind es eigentlich sogar fünf Schritte: Krank, Laster, Krankenhaus, Polizei, Ma retten.« Sie wartet.

»Laster …«

»Krank …«

»Krank«, sage ich.

»Krankenhaus … nein, falsch, Laster. Krank, Laster …«

»Krank, Laster, Krankenhaus, Ma retten.«

»Du hast Polizei vergessen«, sagt Ma. »Zähl mal mit den Fingern mit. Krank, Laster, Krankenhaus, Polizei, Ma retten.«

Wir üben es immer wieder. Wir machen einen Plan auf Schreibpapier, mit Bildern. Auf dem Krank bin ich mit zugemachten Augen, und meine Zunge hängt ganz weit raus, dann gibt es einen braunen Pick-up, dann eine Person in einem langen weißen Mantel, das soll Ärzte heißen, dann ein Polizeiauto mit einer blitzigen Sirene und dann eins mit Ma, wie sie winkt und lacht, weil sie frei ist, und dem Schneidbrenner, der spuckt Feuer wie ein Drache. Mein Kopf ist müde, aber Ma sagt, wir müssen noch den Teil üben, wo ich krank bin, das ist der wichtigste. »Wenn er das nämlich nicht glaubt, können wir auch den Rest vergessen. Ich habe mir was überlegt. Ich mache deine Stirn ganz heiß und lasse sie ihn anfassen …«

»Nein.«

»Keine Sorge, ich verbrenne dich schon nicht …«

Sie hat es nicht kapiert. »Er soll mich nicht anfassen.«

»Ach so«, sagt Ma. »Nur einmal, versprochen, und ich bin gleich neben dir.«

Ich schüttele weiter meinen Kopf.

»Doch, das könnte klappen«, sagt sie. »Vielleicht könntest du dich an den Heizungsschlitz legen …« Sie kniet sich hin und tut ihre Hand unter Bett neben Bettwand, dann runzelt sie die Stirn und sagt: »Nicht heiß genug. Vielleicht … ich könnte dir ja, kurz bevor er kommt, einen Beutel mit ganz heißem Wasser auf die Stirn legen. Du liegst im Bett, und wenn wir hören, dass die Tür piep piep macht, verstecke ich den Wasserbeutel.«

»Wo?«

»Spielt doch keine Rolle.«

»Spielt doch eine Rolle.«

Ma sieht mich an. »Du hast recht. Wir müssen an jedes Detail denken, damit nichts unseren Plan vermasselt. Ich lasse den Beutel mit dem heißen Wasser unters Bett fallen, okay? Und wenn Old Nick dann deine Stirn fühlt, ist sie superheiß. Sollen wir das mal probieren?«

»Mit dem Wasserbeutel?«

»Nein, leg dich erst mal nur ins Bett und versuch, ganz labberig dazuliegen, so wie bei Toter Mann.«

Das kann ich richtig gut, mit runterhängendem Mund und so. Sie tut so, als ob sie er ist, mit ganz tiefer Stimme. Sie legt mir ihre Hand über die Augenbrauen und sagt ganz knurrig: »Mann, ist das heiß.«

Ich muss kichern.

»Jack!«

»Tut mir leid.« Jetzt liege ich mucksmäuschenstill da.

Wir üben noch ewig weiter, bis ich irgendwann keine Lust mehr habe, krank zu spielen, und Ma lässt mich aufhören.

Zum Abendessen gibt es Hotdogs. Ma isst von ihrem gar nicht viel. »Also, kannst du jetzt den Plan?«, fragt sie.

Ich nicke.

»Sag ihn mir.«

Ich schlucke das letzte Stück von meinem Brötchen runter. »Krank, Laster, Krankenhaus, Polizei, Ma retten.«

»Prima. Und bist du jetzt so weit?«

»Wofür?«

»Für unsere spannende Flucht. Heute Abend.«

Ich wusste gar nicht, dass es schon heute Abend ist. Ich bin gar nicht so weit. »Warum heute Abend?«

»Ich will nicht mehr länger warten. Wo er jetzt schon den Strom abgeschaltet hat …«

»Aber er hat ihn doch gestern Abend wieder angeschaltet.«

»Ja, nach drei Tagen. Und Pflanze war tot, weil es so kalt gewesen ist. Und wer weiß, was er morgen macht?« Ma steht mit ihrem Teller auf, sie schreit beinahe. »Er sieht vielleicht aus wie ein Mensch, aber in ihm drin ist gar nichts.«

Ich kapiere nicht. »Wie ein Roboter?«

»Noch schlimmer.«

»Einmal war bei Bob der Baumeister so ein Roboter, der …«

Ma platzt dazwischen. »Weißt du, wo dein Herz ist, Jack?«

»Bumm bumm.« Ich zeige auf meine Brust.

»Nein, ich meine das, womit du fühlst, wo du traurig bist oder ängstlich oder lachst und solche Sachen.«

Das ist weiter unten, ich glaube, in meinem Bäuchlein.

»So was hat er nicht.«

»Ein Bäuchlein?«

»Etwas, womit man fühlt«, sagt Ma.

Ich gucke mein Bäuchlein an. »Was hat er denn sonst da?«

Sie zuckt die Achseln. »Einfach ein Loch.«

Wie ein Krater? Aber Krater sind Löcher, wo mal was passiert ist. Was ist passiert?

Ich verstehe immer noch nicht, warum wir den listigen Plan schon heute Nacht machen müssen, nur weil Old Nick ein Roboter ist. »Können wir es nicht an einem anderen Abend machen?«

»Na gut«, sagt Ma und lässt sich in den Stuhl fallen.

»Okay?«

»Ja.« Sie reibt sich die Stirn. »Es tut mir leid, Jack. Ich weiß, dass ich dir zu viel auf einmal zumute. Ich selbst hatte ja einen Haufen Zeit, über alles nachzudenken, aber für dich ist das alles ganz neu.«

Ich nicke wie verrückt.

»Die paar Tage mehr spielen wohl auch keine Rolle mehr. Außer ich gebe ihm wieder einen Grund, sauer zu sein.« Sie lächelt mich an. »Vielleicht in zwei Tagen?«

»Vielleicht wenn ich sechs bin.«

Ma starrt mich an.

»Genau, wenn ich erst sechs bin, dann bin ich auch so weit. Dann trickse ich ihn aus und wir gehen ins Draußen.«

Sie tut ihr Gesicht auf ihre Arme.

Ich ziehe an ihr. »Nicht.«

Als sie wieder hochkommt, hat sie ein Angstgesicht. »Du hast doch gesagt, du wärst mein Superheld.«

Ich glaube nicht, dass ich das gesagt habe.

»Willst du denn gar nicht fliehen?«

»Doch. Nur nicht wirklich.«

»Jack!«

Ich linse nach dem letzten Bissen vom Hotdog, aber eigentlich will ich ihn nicht. »Können wir nicht einfach dableiben?«

Ma schüttelt den Kopf. »Er wird allmählich zu eng hier.«

»Was?«

»Raum«

»Raum ist nicht eng. Guck doch.« Ich klettere auf meinen Stuhl und springe mit ausgestreckten Armen hoch und drehe mich um mich rum. Ich stoße gegen gar nichts.

»Du hast ja keine Ahnung, was das hier bei dir anrichtet.« Ihre Stimme ist zittrig. »Du solltest alles sehen, alles anfassen können …«

»Mache ich doch schon.«

»Noch mehr, ganz andere Sachen. Du brauchst mehr Platz. Gras. Ich dachte, du wolltest Grandma und Grandpa kennenlernen, und Onkel Paul. Auf dem Spielplatz schaukeln, Eis essen …«

»Nö, lieber nicht.«

»Ach, vergiss es einfach.«

Ma zieht ihre Sachen aus und ihr Schlaf-T-Shirt an. Ich auch. Sie sagt gar nichts mehr, so böse ist sie auf mich. Sie bindet den Abfallbeutel zu und stellt ihn neben Türe. Heute Abend keine Liste.

Wir putzen unsere Zähne. Sie spuckt aus. Auf ihrem Mund ist was Weißes. Ihre Augen gucken meine in Spiegel an. »Wenn ich könnte, würde ich dir ja mehr Zeit lassen«, sagt sie. »Ich schwöre, ich würde in aller Ruhe abwarten, bis du so weit bist, wenn ich glauben würde, dass uns nichts passieren kann. Kann es aber doch.«

Ganz schnell drehe ich mich zu der echten Ma um und vergrabe mein Gesicht in ihrem Bäuchlein. Ich mache ein bisschen Zahnpasta auf ihr T-Shirt, aber das ist ihr egal.

Wir liegen auf Bett, und Ma gibt mir was, aus der Linken, reden tun wir nicht.

In Schrank kann ich nicht einschlafen, leise singe ich: »John Jacob Jingleheimer Schmidt.« Ich warte, dann singe ich es noch mal.

Endlich antwortet Ma. »His name is my name, too.«

»Whenever I got out …«

»The people always shout …«

»There goes John Jacob Jingleheimer Schmidt …«

Normalerweise macht sie bei dem na na na na na na na immer mit, das ist ja die lustigste Stelle, aber heute nicht.





Ma weckt mich auf, aber es ist immer noch Nacht. Sie beugt sich in Schrank, und als ich mich aufsetze, stoße ich mir die Schulter an. »Komm schnell gucken«, sagt sie.

Wir stehen neben Tisch und starren hoch. Da oben ist das riesigste silberne Gesicht von Gott, das man sich vorstellen kann. So hell, dass es alles in Raum glänzen lässt, die Wasserhähne und Spiegel und die Töpfe und Türe und sogar Mas Backen. »Weißt du was?«, sagt sie. »Manchmal ist der Mond ein Halbkreis und manchmal eine Sichel und manchmal nur eine kleine Kurve, so wie wenn man sich den Fingernagel schneidet.«

»Quatsch«, sage ich. »Das ist doch nur Fernseher.«

Sie zeigt hoch zu Oberlicht. »Du hast ihn immer nur gesehen, wenn er voll und direkt über uns war. Aber wenn wir hier rauskommen, können wir ihn auch tiefer am Himmel sehen, und dann hat er alle möglichen Formen. Manchmal sogar am Tag.«

»Kommt nicht in die Tüte.«

»Das stimmt aber. Du ahnst ja nicht, was für einen Spaß du in der Welt haben wirst. Warte nur mal, bis du die Sonne untergehen siehst, ganz rot …«

Ich gähne.

»Tut mir leid«, sagt sie, jetzt flüstert sie wieder. »Komm wieder ins Bett.«

Ich gucke, ob der Abfallbeutel weg ist. Ist er. »War Old Nick da.«

»Ja. Ich habe ihm erzählt, dass du irgendwie krank wirst. Krämpfe, Durchfall.« Mas Stimme lacht beinahe.

»Warum hast du …«

»So fängt er langsam an, unseren Trick zu glauben. Morgen Abend ist es so weit, dann machen wir es.«

Ich reiße meine Hand aus ihrer. »Das hättest du ihm nicht sagen dürfen.«

»Jack …«

»Keine gute Idee.«

»Es ist ein guter Plan.«

»Es ist ein dämlicher Doof-Plan.«

»Es ist der Einzige, den wir haben«, sagt Ma ganz laut.

»Aber ich habe Nein gesagt.«

»Stimmt, und davor hast du Vielleicht gesagt, und davor hast du Ja gesagt.«

»Du bist ein Mogler.«

»Ich bin deine Mutter.« Ma brüllt beinahe. »Und das heißt, dass ich manchmal für uns beide entscheiden muss.«

Wir gehen in Bett. Ich rolle mich zusammen, sie ist hinter mir.

Ich wünschte, wir hätten als Sonntagsgutti diese besonderen Boxhandschuhe bekommen, dann dürfte ich sie hauen.





Als ich aufwache, habe ich Angst, und die geht nicht weg.

Ma lässt uns nach dem Kackamachen nicht abziehen, sie verquirlt alles mit dem Griff von Holzlöffel, bis es aussieht wie Kacka-Suppe, es stinkt ganz fürchterlich.

Wir spielen überhaupt nicht, wir üben nur, wie ich labberig bin und kein einziges Wort sage. Ich fühle mich sogar in echt ein bisschen krank, Ma sagt, das ist nur Einbildungskraft. »Du kannst dich so gut verstellen, dass du dich sogar selbst austrickst.«

Ich packe wieder meinen Rucksack, der eigentlich ein Kissenbezug ist, ich tue Fernsteuerung rein und meinen gelben Ballon, aber Ma sagt Nein. »Wenn du irgendwas mitnimmst, dann kommt Old Nick drauf, dass du weglaufen willst.«

»Ich könnte Fernsteuerung doch in meiner Hosentasche verstecken.«

Sie schüttelt den Kopf. »Du wirst nur dein Schlaf-T-Shirt und deine Unterhose tragen, die Sachen hättest du nämlich an, wenn du wirklich vor Fieber glühen würdest.«

Ich stelle mir vor, wie Old Nick mich in den Laster trägt, und dabei wird mir so schwindelig, als würde ich gleich umkippen.

»Was du jetzt fühlst, ist die Angst. Aber was du tust, beweist deinen Mut.«

»Häh?«

»Mut-Angst.«

»Mungst.«

Wörtersandwich bringt Ma immer zum Lachen, aber diesmal war es gar nicht lustig gemeint.

Zum Mittagessen gibt es Rindersuppe, ich sauge aber nur die Cracker aus.

»Über welchen Teil machst du dir denn jetzt gerade Sorgen?«, fragt Ma.

»Das Krankenhaus. Was, wenn ich nicht die richtigen Wörter sage?«

»Du musst denen bloß erklären, dass deine Mutter eingesperrt ist und der Mann, der dich gebracht hat, es gewesen ist.«

»Aber die Wörter …«

»Was denn?« Sie wartet.

»Was ist, wenn sie überhaupt nicht rauskommen?«

Ma legt ihren Mund an ihre Finger. »Ich vergesse immer wieder, dass du außer mit mir ja noch nie mit jemandem geredet hast.«

Ich warte.

Ma atmet ganz lange und laut aus. »Weißt du was, ich habe eine Idee. Ich schreibe dir einen Zettel, den du bei dir versteckst. Eine Notiz, die alles erklärt.«

»Toll.«

»Du gibst sie einfach dem Erstbesten … ich meine, nicht einem Patienten … dem Ersten in Uniform.«

»Und was macht der dann damit?«

»Sie lesen natürlich.«

»Fernseher-Personen können lesen?«

Sie starrt mich an. »Das sind echte Menschen, schon vergessen? Genau wie wir.«

Das glaube ich immer noch nicht, aber ich sage lieber nichts.

Ma schreibt auf ein Blatt Schreibpapier eine Nachricht. Es ist eine Geschichte über uns und Raum und Bitte umgehend Hilfe schicken, das bedeutet superschnell. Oben beim Anfang stehen zwei Wörter, die ich vorher noch nie gesehen habe. Ma sagt, das sind ihre Namen, wie Fernseher-Personen sie haben. So haben sie früher alle im Draußen genannt, ich bin der Einzige, der Ma sagt.

Mein Bäuchlein tut mir weh, ich will nicht, dass sie andere Namen hat, die ich nie gewisst habe. »Habe ich auch andere Namen?«

»Nein, du bleibst immer Jack. Obwohl … meinen Nachnamen hättest du dann vermutlich auch.« Sie zeigt auf den zweiten.

»Wofür?«

»Na, damit man weiß, dass du nicht derselbe bist wie die ganzen anderen Jacks in der Welt.«

»Was für andere Jacks? So wie in Zaubergeschichten?«

»Nein, echte Jungen«, sagt Ma. »Da draußen sind Millionen von Leuten und es gibt nicht genügend Namen für alle, deshalb müssen sie sich welche teilen.«

Ich will meinen Namen nicht teilen. Mein Bäuchlein tut mir noch mehr weh. Eine Tasche habe ich nicht, deshalb stecke ich die Nachricht in meine Unterhose, sie ist kratzig.

Das ganze Licht spült weg. Ich wünschte, der Tag würde länger dableiben, damit nicht Abend ist.

Es ist 08:41, ich bin in Bett und übe. Ma hat einen Plastikbeutel mit total heißem Wasser vollgemacht und ganz fest zugeknotet, damit keins verschüttet. Den tut sie in noch einen Beutel und knotet den auch zu. »Aua.« Ich versuche mich zu ducken.

»Tut es an den Augen weh?« Sie legt den Beutel wieder auf mein Gesicht. »Er muss heiß sein, sonst funktioniert es nicht.«

»Aber es tut weh.«

Sie probiert ihn bei sich selbst aus. »Nur noch ein kleines bisschen länger.«

Ich drücke meine Fäuste dazwischen.

»Du musst jetzt genauso viel Mut haben wie Prinz JackerJack«, sagt sie, »sonst klappt es nicht. Soll ich Old Nick lieber sagen, dass es dir wieder besser geht?«

»Nein.«

»Ich wette, der Riesentöter Jack würde sich auch einen heißen Beutel aufs Gesicht legen, wenn er müsste. Jetzt komm, nur noch ein bisschen.«

»Lass mich selbst.« Ich schiebe den Beutel aufs Kopfkissen weg, zerknittere mein Gesicht und lege es dann auf das Heiße. Manchmal hebe ich es hoch und mache eine Pause, dann fühlt Ma meine Stirn und meine Backen und sagt: »Brütend heiß«, danach muss ich mein Gesicht wieder drauflegen. Ich weine ein bisschen, nicht wegen dem Heißen, aber gleich kommt Old Nick. Ich will nicht, dass er heute Abend kommt, da werde ich in echt krank. Ich höre die ganze Zeit, ob es piep piep macht. Hoffentlich kommt er nicht, ich habe keine Mungst, ich habe einfach nur ganz richtige Angst.

Ich laufe zum Klo und mache noch mehr Kacka, Ma verquirlt sie. Ich will abziehen, aber Ma sagt Nein, Raum muss so stinken, als hätte ich den ganzen Tag Durchfall gehabt.

Als ich wieder in Bett komme, küsst sie mich hinten auf den Hals und sagt: »Du machst das ganz prima. Wein nur, das ist perfekt.«

»Warum ist … ?«

»Weil es dich noch kränker aussehen lässt. Jetzt müssen wir noch irgendwas mit deinen Haaren anstellen … warum habe ich daran denn nicht früher gedacht?« Sie macht ein bisschen Spüli auf ihre Hände und reibt es mir über den ganzen Kopf. »Das sieht schön schmierig aus. Hmm, aber es riecht zu gut, du musst mehr stinken.« Sie geht rüber und guckt wieder auf Uhr. »Uns läuft die Zeit davon«, sagt sie doller zitterig. »Ich bin so ein Dummie, du musst doch schlecht riechen, du musst richtig … Moment.«

Sie beugt sich über Bett, hustet ganz komisch und steckt sich die Hand in den Mund. Sie macht immer wieder diesen komischen Ton. Und dann kommt ihr irgendein Glibber aus ihrem Mund, wie Spucke, aber viel dicker. Ich kann die Fischstäbchen sehen, die wir zum Abendessen hatten.

Sie reibt alles auf das Kopfkissen. »Aufhören«, schreie ich und versuche wegzukrabbeln.

»Tut mir leid, es muss sein.« Mas Augen sind ganz komisch glänzend. Sie wischt ihre Kotze auf mein T-Shirt, sogar auf meinen Mund. Es stinkt wie noch nie, ganz scharf und giftig. »Jetzt leg dein Gesicht wieder auf den heißen Beutel.«

»Aber …«

»Komm schon, Jack, beeil dich.«

»Ich will nicht mehr.«

»Das ist kein Spiel, wir können jetzt nicht einfach aufhören. Los jetzt.«

Ich weine, weil es so stinkt und mein Gesicht an dem Beutel so heiß ist, dass ich denke, es schmilzt gleich ab. »Du bist gemein.«

»Aus gutem Grund.«

Piep piep piep piep.

Ma schnappt sich den Beutel mit dem Wasser, er reißt mir von der Backe. »Psst.« Sie drückt mir die Augen zu, schiebt mein Gesicht in das eklige Kissen und zieht Zudeck über meinen ganzen Rücken.

Die kältere Luft kommt mit ihm rein. Sofort ruft Ma: »Da bist du ja endlich.«

»Nicht so laut.« Nick sagt das leise, es kommt wie ein Knurren.

»Ich bin einfach …«

»Psst.« Noch mal piep piep und dann das Bumm. »Du kennst doch die Regeln«, sagt er. »Keinen Mucks von dir, bis die Tür zu ist.«

»Tut mir ja leid. Aber Jack geht es sehr schlecht.« Mas Stimme zittert, und einen Moment lang glaube ich es sogar, sie kann sich besser verstellen als wie ich.

»Hier drin stinkt es.«

»Weil es dem Kleinen oben und unten rausgekommen ist.«

»Ist doch wahrscheinlich nur ein 24-Stunden-Virus, morgen ist das bestimmt wieder vorbei«, sagt Old Nick.

»Er hat es jetzt schon über dreißig Stunden. Er hat Schüttelfrost, er glüht …«

»Dann gib ihm eben eine von den Kopfschmerztabletten.«

»Was glaubst du denn, was ich schon den ganzen Tag versuche? Er kotzt sie sofort wieder aus. Nicht mal Wasser kann er bei sich behalten.«

Old Nick pustet die Luft aus den Backen. »Lass mich ihn mal anschauen.«

»Nein«, sagt Ma.

»Jetzt stell dich nicht so an.«

»Nein! Ich habe gesagt: Nein.«

Ich drücke mein Gesicht ins Kissen, das ist ganz klebrig. Meine Augen sind zu. Old Nick ist da, direkt neben Bett, er kann mich sehen. Ich fühle seine Hand auf meiner Backe, ein Ton kommt aus mir raus, weil ich so viel Angst habe. Ma hat gesagt, es würde auf der Stirn sein, ist es aber nicht, es ist auf meiner Backe, er fühlt sie, und seine Hand ist überhaupt nicht wie die von Ma, sie ist kalt und schwer …

Dann ist sie wieder weg. »Ich besorge ihm im Drugstore irgendwas Stärkeres, der hat die ganze Nacht auf.«

»Was Stärkeres? Er ist gerade mal fünf Jahre alt und vollkommen dehydriert, er hat weiß Gott was für ein Fieber.« Ma schreit, nicht gut. Bestimmt wird Old Nick gleich wütend.

»Halt doch einfach mal einen Moment die Klappe, und lass mich nachdenken.«

»Er muss sofort in die Notaufnahme, da hilft alles nichts, und das weißt du auch.«

Old Nick macht einen Ton, ich weiß nicht, was er bedeutet.

Mas Stimme ist so, als ob sie weint. »Wenn du ihn jetzt nicht da hinbringst, wird er … könnte er …«

»Sei nicht so hysterisch«, sagt er.

»Bitte. Ich flehe dich an.«

»Kommt nicht infrage.«

Beinahe sage ich in die Tüte. Ich denke es, aber sagen tue ich es nicht. Ich sage überhaupt nichts, ich bin einfach nur labberig und Verschwunden.

»Du kannst ihnen doch einfach erzählen, dass er ein illegaler Einwanderer ist und keine Papiere hat«, sagt Ma. »Er ist sowieso nicht in der Lage, einen Mucks zu machen, und sobald sie seinen Flüssigkeitshaushalt wieder aufgefüllt haben, kannst du ihn ja wieder zurückbringen …« Ihre Stimme läuft hinter ihm her. »Bitte. Ich tue auch alles, was du willst.«

»Mit dir kann man einfach nicht vernünftig reden.« Es hört sich an, als ob er jetzt drüben bei Türe steht.

»Geh nicht. Bitte, bitte …«

Etwas fällt runter. Ich habe so viel Angst, dass ich auf gar keinen Fall die Augen aufmache. Ma heult. Dann piep piep. Bumm. Türe ist zu, wir sind allein.

Es ist ganz still. Ich zähle fünfmal meine Zähne, immer zwanzig außer einmal, da sind es neunzehn, aber ich zähle noch mal, bis es wieder zwanzig sind. Ich linse zur Seite. Dann hebe ich meinen Kopf von dem stinkigen Kissen.

Ma sitzt auf Teppich und lehnt mit dem Rücken an Türewand. Sie starrt irgendein Nichts an. »Ma?«, flüstere ich.

Dann macht sie was total Komisches. Sie lächelt irgendwie.

»Habe ich nicht gut so getan, als ob?«

»Oh doch. Du warst ein echter Superheld.«

»Aber er hat mich nicht ins Krankenhaus gebracht.«

»Ist schon in Ordnung.« Ma steht auf und macht in Becken einen Lappen nass, dann kommt sie und wischt mir das Gesicht ab.

»Aber du hast es gesagt.« Das ganze brennende Gesicht und die Kotze, und er hat mich angefasst. »Krank, Laster, Krankenhaus, Polizei, Ma retten.« Ma nickt, sie zieht mein T-Shirt hoch und wischt meine Brust ab. »Das war Plan A, es war einen Versuch wert. Aber ich hab mir schon gedacht, dass er einfach zu viel Angst haben würde.«

Sie bringt alles durcheinander. »Er hatte Angst?«

»Davor, dass du den Ärzten vielleicht doch von Raum erzählst und die Polizei ihn dann ins Gefängnis sperrt. Ich hatte gehofft, er würde es vielleicht riskieren, wenn er dächte, dass du in Lebensgefahr bist … aber richtig daran geglaubt habe ich von Anfang an nicht.«

Ich verstehe. »Du hast mich ausgetrickst«, brülle ich. »Ich sollte überhaupt nicht in dem braunen Laster fahren.«

»Jack«, sagt sie und umarmt mich ganz fest, ihre Knochen tun mir im Gesicht weh.

Ich drücke sie weg. »Du hast gesagt, keine Lügen mehr, und jetzt würdest du entlügen, aber du hast schon wieder gelogen.«

»Ich bemühe mich, so gut ich kann«, sagt Ma.

Ich lutsche an meiner Lippe.

»Hör zu. Hörst du mir mal einen Moment zu?«

»Ich habe keine Lust mehr, dir zuzuhören.«

Sie nickt. »Ich weiß. Aber hör mir trotzdem mal zu. Es gibt noch einen Plan B. Plan A war in Wahrheit nur der erste Teil von Plan B.«

»Das hast du mir nie gesagt.«

»Es ist ziemlich kompliziert. Ich habe mir die ganzen letzten Tage darüber den Kopf zerbrochen.«

»Ach ja? Ich habe einen Riesenkopf zum Zerbrechen.«

»Den hast du wirklich.«

»Viel riesiger als du.«

»Stimmt. Aber ich wollte nicht, dass du dir gleichzeitig zwei Pläne merken musstest. Das hätte dich vielleicht durcheinandergebracht.«

»Ich bin schon durcheinander. Ich bin hundert Prozent durcheinander.«

Sie küsst mich durch meine ganz klebrigen Haare. »So, und jetzt erzähle ich dir von dem Plan B.«

»Ich will deine stinkigen, blöden Pläne überhaupt nicht hören.«

»Na schön.«

Ich zittere, weil ich kein T-Shirt anhabe. In Kommode finde ich ein sauberes, es ist blau.

Wir gehen auf Bett, der Gestank ist fürchterlich. Ma zeigt mir, wie man nur durch den Mund atmet, weil Münder nichts riechen. »Kann ich mit dem Kopf andersrum liegen?«

»Prima Idee«, sagt Ma.

Sie will wieder lieb sein, aber vergeben tue ich ihr trotzdem nicht.

Wir legen unsere Füße an das stinkige Ende von Wand und unsere Köpfe an das andere. Ich glaube, ich kann überhaupt nicht mehr ausschalten.





Es ist schon 08:21, ich habe lange geschlafen, und jetzt kriege ich was, die Linke ist ganz sahnig. Ich glaube nicht, dass Old Nick wiedergekommen ist.

»Ist es Samstag?«, frage ich.

»Genau.«

»Cool, dann waschen wir ja unsere Haare.«

Ma schüttelt den Kopf. »Du darfst nicht sauber riechen.«

Das hatte ich kurz vergesst. »Wie geht er?«, frage ich.

»Wer?«

»Der Plan B.«

»Willst du ihn dir jetzt doch anhören?«

Ich sage nichts.

»Also, hier kommt er.« Ma räuspert sich. »Ich bin ihn immer wieder in alle Richtungen durchgegangen und ich glaube, er könnte vielleicht klappen. Keine Ahnung, sicher bin ich mir nicht, er klingt verrückt, und ich weiß, dass es unglaublich gefährlich ist, aber …«

»Sag ihn mir einfach.«

»Okay, okay.« Sie holt laut Luft. »Kannst du dich noch an den Grafen von Monte Christo erinnern?«

»Der war in einem Verlies auf einer Insel eingesperrt.«

»Ja, aber weißt du noch, wie er da rausgekommen ist? Er hat so getan, als wäre er sein toter Freund, und sich in dem Leichentuch versteckt. Dann haben die Wachen ihn ins Meer geworfen, aber der Graf ist nicht ertrunken, er hat sich herausgewunden und ist weggeschwommen.«

»Erzähl mir den Rest von der Geschichte.«

Ma wedelt mit der Hand. »Das ist doch egal, Jack. Entscheidend ist: Genauso wirst du das auch machen.«

»Ich werde ins Meer geworfen?«

»Nein, du wirst so fliehen wie der Graf von Monte Christo.«

Ich bin schon wieder durcheinander. »Ich habe doch gar keinen toten Freund.«

»Was ich meine, ist, dass du dich so verstellen sollst, als wärst du tot.«

Ich starre sie an.

»Eigentlich ist es eher wie in einem Theaterstück, das ich mal in der Schule gesehen habe. Da gab es ein Mädchen, Julia, die mit dem Jungen weggelaufen ist, den sie liebte. Sie hat eine Medizin getrunken und so getan, als wäre sie tot, und ein paar Tage später, tataa, ist sie wieder aufgewacht.«

»Nein, das war das Jesuskind.«

»Ähm … das war wieder anders.« Ma reibt sich die Stirn. »Jesus war ja wirklich drei Tage lang tot, und dann ist er wieder zum Leben erwacht. Du wirst überhaupt nicht tot sein, du tust nur so wie das Mädchen in dem Theaterstück.«

»Ich weiß nicht, wie man ein Mädchen nachmacht.«

»Nein, du sollst so tun, als ob du tot bist.« Mas Stimme hört sich ein bisschen sauer an.

»Wir haben gar kein Leichentuch.«

»Ach, dann nehmen wir eben den Teppich.«

Ich starre auf Teppich mit ihrem ganzen roten und schwarzen und braunen Zickzack runter.

»Wenn Old Nick zurückkommt… heute oder morgen Abend, wann auch immer, dann erzähle ich ihm, du wärest gestorben. Ich zeige ihm den aufgerollten Teppich mit dir drin.«

Das ist das Verrückteste, was ich jemals gehört habe. »Warum?«

»Weil in deinem Körper nicht mehr genug Wasser war, und das Fieber wahrscheinlich dein Herz hat stillstehen lassen.«

»Nein, warum in Teppich?«

»Ach so«, sagt Ma. »Kluge Frage. Das ist deine Verkleidung, damit er nicht herausfindet, dass du in Wahrheit noch am Leben bist. Weißt du, als du gestern so tun musstest, als wärst du krank, hast du das ganz super hingekriegt. Aber tot spielen ist noch viel schwerer. Wenn er merkt, dass du auch nur ein einziges Mal atmest, weiß er sofort, dass es ein Trick ist. Und außerdem sind Tote ganz kalt.«

»Wir könnten einen Beutel mit kaltem Wasser nehmen …«

Sie schüttelt den Kopf. »Überall kalt, nicht nur im Gesicht. Ach ja, und außerdem werden sie ganz steif, du müsstest daliegen wie ein Roboter.«

»Nicht labberig?«

»Das Gegenteil von labberig.«

Aber er ist doch der Roboter, Old Nick. Ich habe ein Herz.

»Deshalb glaube ich auch, die einzige Chance, damit er nicht merkt, dass du eigentlich am Leben bist, ist die, dass wir dich in den Teppich einwickeln. Und dann sage ich ihm, er muss dich irgendwo hinbringen und vergraben, verstehst du?«

Mein Mund fängt an zu zittern. »Warum muss er mich begraben?«

»Weil Leichen schnell zu stinken anfangen.«

Raum ist jetzt schon ziemlich stinkig, vom Nichtabziehen und dem Kotze-Kissen und all den Sachen. »The worms crawl in, the worms crawl out …«

»Genau.«

»Ich will nicht, dass ich begraben werde und ganz matschig und dass die Würmer durch mich durchkriechen.«

Ma streichelt mir über den Kopf. »Es ist doch nur ein Trick, schon vergessen?«

»Wie ein Spiel.«

»Aber nicht lachen. Es ist ein ernstes Spiel.«

Ich nicke. Ich glaube, ich muss weinen.

»Glaub mir«, sagt Ma, »wenn mir irgendetwas anderes eingefallen wäre, bei dem ich auch nur den Hauch einer Chance sähe …«

Ich weiß nicht, was der Hauch einer Chance ist.

»Also dann.« Ma steigt aus dem Bett. »Jetzt erzähle ich dir, wie wir es machen, danach hast du auch nicht mehr so viel Angst. Old Nick wird die Zahlen eingeben und die Tür aufmachen, dann trägt er dich aus Raum, du bist in den Teppich gewickelt.«

»Bist du auch in Teppich?« Ich weiß die Antwort schon, aber ich frage trotzdem, könnte ja doch sein.

»Ich bleibe einfach hier und warte«, sagt Ma. »Er trägt dich dann zu seinem Pick-up und legt dich hinten drauf, da, wo es offen ist …«

»Ich will auch hier warten.«

Sie legt den Finger an den Mund, damit ich still bin. »Und das ist deine Chance.«

»Was?«

»Der Laster. Sobald er das erste Mal an einem Stoppschild anhält, krabbelst du aus dem Teppich, springst auf die Straße, rennst weg und holst die Polizei, damit sie mich rettet.«

Ich starre sie an.

»Diesmal ist er Plan also: Tot, Laster, Weglaufen, Polizei, Ma retten. Wiederhol mal.«

»Tot, Laster, Weglaufen, Polizei, Ma retten.«

Wir frühstücken, jeder kriegt 125 Cornflakes, weil wir Extrakraft brauchen. Ich habe keinen Hunger, aber Ma sagt, ich soll alle aufessen.

Dann ziehen wir uns an und üben das mit dem Totsein. Es ist der verrückteste Sport, den wir jemals gemacht haben. Ich lege mich an den Rand von Teppich, und Ma wickelt sie über mich und sagt mir, ich soll auf meinen Bauch, dann auf den Rücken, dann wieder auf den Bauch, auf den Rücken, bis ich ganz fest aufgerollt bin. Es riecht komisch in Teppich, staubig und irgendwie anders, als wenn ich nur auf ihr draufliege.

Ma hebt mich hoch, ich bin ganz zerquetscht. Sie sagt, ich bin ein langes und schweres Paket, aber Old Nick kann mich einfach heben, weil er mehr Muskeln hat. »Er trägt dich durch den Garten und vermutlich in seine Garage, ungefähr so …« Ich merke, wie wir in Raum herumlaufen. Ich bin am Hals gescheuert, aber trotzdem bewege ich mich kein bisschen. »Oder vielleicht auch über der Schulter, das ist so …« Sie wuchtet mich hoch und grunzt. Ich werde zusammengefaltet.

»Ist es weit weg?«

»Was hast du gesagt?«

Meine Wörter verschwinden in Teppich.

»Moment mal«, sagt Ma. »Mir ist gerade eingefallen, dass er dich vielleicht ein paarmal ablegen muss, um die Türen aufzumachen.« Sie legt mich hin, mit dem Kopf zuerst.

»Aua.«

»Aber du gibst keinen Mucks von dir, klar?«

»Tut mir leid.« Teppich ist auf meinem Gesicht, sie kitzelt mir in der Nase, aber ich komme nicht dran.

»Danach wird er dich auf die Ladefläche seines Lasters werfen, ungefähr so.«

Sie lässt mich hinfallen, wumm. Ich beiße die Zähne zusammen, damit ich nicht schreie.

»Bleib ganz, ganz steif, wie ein Roboter, okay? Egal, was passiert.«

»Okay.«

»Wenn du nämlich nachgibst oder dich bewegst oder nur das kleinste Geräusch von dir gibst, Jack, wenn du irgendwas davon aus Versehen machst, dann weiß er, dass du in Wahrheit am Leben bist, und wird so wütend, dass er …«

»Was?« Ich warte. »Ma? Was macht er dann?«

»Keine Angst, er glaubt bestimmt, dass du tot bist.«

Woher weiß sie das so genau?

»Dann steigt er vorne in seinen Laster ein und fährt los.«

»Wohin?«

»Ähm, vermutlich aus der Stadt raus. Irgendwohin, wo niemand ihn beobachten kann, wie er ein Loch gräbt, vielleicht in einen Wald oder so. Aber das Entscheidende ist, sobald der Motor angeht … – das ist dann ganz laut und wummert und wackelt, ungefähr so …« Sie blubbert in den Teppich, normalerweise muss ich immer lachen, wenn sie blubbert, aber jetzt … »Das ist dein Zeichen, dass du anfangen musst, aus dem Teppich zu krabbeln. Willst du es mal versuchen?«

Ich zappele hin und her, aber ich komme nicht raus, es ist zu eng. »Ich klemme fest. Ich klemme fest, Ma.«

Sie rollt mich sofort raus. Ich hole ganz viel Luft.

»Alles in Ordnung?«

»In Ordnung.«

Sie lächelt mich an, aber es ist ein komisches Lächeln, als wenn sie nur so tut, als ob. Dann wickelt sie mich wieder ein, ein bisschen lockerer.

»Es zerquetscht mich immer noch.«

»Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass er so steif wäre. Momentchen …« Ma rollte mich wieder auf. »He, versuch doch mal, die Arme vor der Brust zu kreuzen und die Ellbogen ein Stück rausgucken zu lassen, damit mehr Platz ist.«

Als sie mich diesmal mit gefalteten Armen eingerollt hat, kriege ich sie über meinen Kopf. Ich winke am Ende von Teppich mit den Fingern.

»Super. Jetzt versuch mal hochzukrabbeln, als wäre es ein Tunnel.«

»Es ist zu eng.« Ich weiß nicht, wie der Graf das gemacht hat, und dabei war er auch noch am Ertrinken. »Lass mich raus.«

»Versuch es noch ein bisschen länger.«

»Lass mich sofort raus!«

»Wenn du weiter so panisch bist«, sagt Ma, »dann wird unser Plan nicht funktionieren.«

Ich weine wieder, Teppich ist nass auf meinem Gesicht. »Ich will raus!«

Teppich rollt auf, ich krieg wieder Luft.

Ma legt ihre Hand auf mein Gesicht, aber ich schlage sie weg.

»Jack …«

»Nein.«

»Hör mir zu.«

»Dämlicher Plan B.«

»Ich weiß ja, dass es gruselig ist. Glaubst du, ich wüsste das nicht? Aber wir müssen es versuchen.«

»Nein, müssen wir nicht. Erst wenn ich sechs bin.«

»Es gibt da etwas, das nennt man Zwangsvollstreckung.«

»Was?« Ich glotze Ma an.

»Es ist schwer zu erklären.« Sie pustet die Luft aus den Backen. »Old Nicks Haus gehört eigentlich gar nicht ihm, es gehört der Bank. Und wenn er seine Arbeit verloren und kein Geld mehr hat und die Bank nicht mehr bezahlt, dann wird sie wütend und versucht vielleicht, ihm sein Haus wegzunehmen.«

Ich frage mich, wie eine Bank so was machen will. Vielleicht mit einem riesigen Bagger? »Mit Old Nick drin?«, frage ich, »so wie Dorothy, als der Tornado ihr Haus hochgehoben hat?«

»Hör mir zu.« Ma packt mich so fest an den Ellbogen, dass es beinahe wehtut. »Ich versuche nur dir zu erklären, dass er niemals jemanden in sein Haus oder seinen Garten lassen würde, weil sie dann doch Raum finden würden, klar?«

»Und uns retten?«

»Nein, das würde er nie zulassen.«

»Was würde er machen?«

Ma nuckelt so fest an ihren Lippen, bis sie keine mehr hat. »Die Sache ist, wir müssen vorher fliehen. Wir stecken dich jetzt also wieder in den Teppich, und du übst noch ein bisschen, bis du gelernt hast, wie du dich rauszwängen kannst.«

»Nein.«

»Jack, bitte …«

»Ich habe zu viel Angst«, schreie ich. »Ich mache das nie wieder, und ich hasse dich.«

Ma atmet ganz komisch, sie setzt sich auf Boden. »Ist ja schon gut.«

Wieso ist es gut, wenn ich sie hasse?

Sie hat die Hände auf ihrem Bäuchlein. »Ich habe dich in Raum gebracht. Ich wollte es nicht, aber ich habe es gemacht, und es hat mir noch keine Sekunde leidgetan.«

Ich starre sie an, und sie starrt zurück.

»Ich habe dich hierhergebracht, und heute Abend bringe ich dich raus.«

»Okay.«

Ich sage es ganz leise, aber sie hört es. Sie nickt.

»Und dich aber auch, mit dem Schneidbrenner. Einen nach dem anderen, aber alle zwei beide.«

Ma nickt immer noch. »Aber auf dich kommt es an. Auf dich ganz allein.«

Ich schüttele den Kopf, bis er wackelig ist, weil es mich ganz allein ja gar nicht gibt.

Wir gucken uns an und lächeln.

»Glaubst du, du kannst jetzt wieder in den Teppich?«

Ich nicke. Ich lege mich hin. Ma rollt mich ganz fest ein. »Ich kann nicht …«

»Natürlich kannst du.« Ich spüre, wie sie mich durch Teppich tätschelt.

»Ich kann nicht, ich kann nicht.«

»Kannst du mal für mich bis hundert zählen?«

Ich mache es, ist einfach, ganz schnell.

»Du hörst dich schon ruhiger an. Gleich haben wir es heraus«, sagt Ma. »Hmm. Wenn das mit dem Krabbeln nicht klappt … meinst du, du könntest dich dann vielleicht aufrollen?«

»Aber ich bin innen drin.«

»Ich weiß, aber du kannst mit den Händen oben rausgreifen und die Ecke suchen. Komm, wir versuchen es mal.«

Ich taste herum, bis ich etwas Spitzes greife.

»Das ist sie«, sagt Ma. »Prima, und jetzt ziehen. Nicht in die Richtung, in die andere, dann merkst du, wie er locker wird. Als wenn man eine Banane schälen wollte.«

Ich mache nur ein bisschen los.

»Du liegst auf der Kante, du drückst sie runter.«

»Tut mir leid.« Die Tränen kommen wieder.

»Es muss dir nicht leidtun, du machst das prima. Und wenn du mal rollst?«

»Wo lang?«

»Da, wo es sich lockerer anfühlt. Vielleicht auf dein Bäuchlein, dann suchst du wieder die Ecke vom Teppich und ziehst dran.«

»Ich kann nicht.«

Ich schaffe es. Ich kriege einen Ellbogen raus.

»Hervorragend«, sagt Ma. »Oben hast du ihn schon ganz locker. He, wie wäre es mit Aufsetzen, versuch doch mal, dich aufzusetzen.«

Es tut weh, und es ist unmöglich.

Ich schaffe es, mich aufzusetzen, und jetzt sind alle beide Ellbogen draußen, und Teppich wird um mein Gesicht herum lose. Ich kann sie ganz wegziehen. »Ich hab’s geschafft«, schreie ich, »ich bin die Banane.«

»Du bist die Banane«, sagt Ma. Sie küsst mich aufs Gesicht, es ist ganz nass. »Komm, das probieren wir gleich noch mal.«

Als ich so müde bin, dass ich nicht mehr kann, erzählt Ma mir, was im Draußen kommt. »Old Nick fährt die Straße entlang. Du bist hinten, auf dem offenen Teil vom Laster, deshalb kann er dich nicht hören, okay? Halt dich an der Kante vom Laster fest, damit du nicht runterfällst, er fährt nämlich ganz schnell, ungefähr so.« Sie zieht mich und wackelt mich auf die Seite. »Und wenn er dann auf die Bremse tritt, fühlt sich das ungefähr so an – du wirst in die andere Richtung geschleudert, weil der Laster langsamer wird. Das bedeutet, da ist ein Stoppschild, und da müssen die Fahrer einen Moment lang anhalten.«

»Sogar er?«

»Aber klar. Also, sobald du das Gefühl hast, dass der Laster kaum noch fährt, kannst du an der Seite runterspringen.«

Ins Weltall. Das sage ich aber nicht, ich weiß ja, dass es nicht stimmt.

»Du landest auf dem Bürgersteig, der ist so hart wie …« Sie sieht sich um. »So wie Keramik, nur rauer. Und dann läufst du weg und läufst und läufst, genau wie der dicke fette Pfannkuchen.«

»Den Pfannkuchen hat das Schwein gefressen.«

»Okay, das war kein gutes Beispiel«, sagt Ma. »Schließlich sind wir zwei die gerissenen Trickser:

Jack be nimble, Jack be quick …«

»Jack jump over the candlestick.«

»Du musst die Straße entlangrennen, weg von dem Laster, so superschnell wie … weißt du noch, wie wir einmal diesen Zeichentrickfilm gesehen haben, den mit dem Road Runner?«

»Tom und Jerry, die rennen auch.«

Ma nickt. »Hauptsache, du lässt dich nicht von Old Nick schnappen. Ach ja, und versuch, auf den Bürgersteig zu springen, wenn du kannst, der ist ein bisschen höher als die Straße, dann fährt dich kein Auto um. Und du musst dabei schreien, damit dir jemand hilft.«

»Wer?«

»Keine Ahnung, irgendwer?«

»Wer ist irgendwer?«

»Lauf einfach auf den Ersten zu, den du siehst. Warte mal … es ist dann ja schon ziemlich spät. Vielleicht ist auch gar keiner mehr unterwegs.« Sie beißt sich auf den Daumen, auf den Nagel. Ich sage ihr nicht, sie soll das lassen. »Wenn du niemanden siehst, musst du einem Auto winken, damit es anhält, und den Leuten darin sagen, dass du und deine Ma gekidnappt wurden. Und wenn es auch keine Autos gibt … ach, Mensch! … dann musst du wohl zu einem Haus laufen … zu irgendeinem Haus, in dem Licht brennt … und dann haust du mit den Fäusten, so fest du kannst, gegen die Tür. Aber nur bei einem Haus mit Licht, nicht bei einem leeren. Du musst es an der Vordertür machen, weißt du, welche das ist?«

»Die, die vorne ist.«

»Versuch es gleich mal.« Ma wartet. »Du sprichst genauso mit ihnen wie mit mir. Tu so, als wären sie ich. Was sagst du?«

»Ich und du, wir sind …«

»Nein, tu so, als ob ich die Leute in dem Haus wäre oder die in dem Auto oder auf dem Bürgersteig. Sag ihnen, du und deine Ma …«

Ich versuche es noch mal. »Du und deine Ma …«

»Nein, du sagst: ›Meine Ma und ich … ‹«

»Du und ich …«

Sie pustet die Luft aus den Backen. »Okay, macht nichts, gib ihnen einfach den Zettel. Ist der Zettel noch gut versteckt?«

Ich gucke in meine Unterhose. »Er ist verschwunden!« Dann spüre ich, dass er nach hinten gerutscht ist, zwischen meinen Popo. Ich hole ihn raus und zeige ihn ihr.

»Behalt ihn vorne drin. Wenn du ihn aus Versehen fallen lässt, kannst du den Leuten auch einfach sagen: ›Ich bin gekidnappt worden.‹ Sag es mal genau so.«

»Ich bin gekidnappt worden.«

»Sag es schön laut, damit sie dich auch hören.«

»Ich bin gekidnappt worden«, rufe ich.

»Phantastisch«, sagt Ma. »Dann rufen sie die Polizei und … ich nehme mal an, die Polizisten suchen dann alle Gärten in der Gegend ab, bis sie Raum gefunden haben.« Ihr Gesicht sieht nicht besonders sicher aus.

»Mit dem Schneidbrenner«, erinnere ich sie.

Wir üben und üben. Tot, Laster, Rauskrabbeln, Springen, Laufen, Jemand, Zettel, Polizei, Schneidbrenner. Das sind neun Sachen, ich glaube nicht, dass ich die alle gleichzeitig im Kopf behalten kann. Ma sagt, natürlich kann ich, ich bin doch ihr Superheld. Freund Fünf.

Ich wünschte, ich wäre noch vier.

Das Mittagessen darf ich aussuchen, weil es ein besonderer Tag ist, nämlich unser letzter Tag in Raum. Das sagt Ma, aber eigentlich glauben tue ich es nicht. Plötzlich bin ich am Verhungern hungrig. Ich suche mir Makkaroni und Hotdogs und Cracker aus, das sind drei Mittagessen auf einmal.

Die ganze Zeit, wo wir Dame spielen, habe ich Angst vor unserer spannenden Flucht, deshalb verliere ich zweimal, danach habe ich keine Lust mehr.

Wir versuchen ein Mittagschläfchen, aber wir können nicht ausschalten. Ich kriege was, erst aus der Linken und dann aus der Rechten und dann wieder aus der Linken, bis fast nichts mehr da ist.

Keiner von uns will was zum Abendessen. Ich muss wieder das kotzige T-Shirt anziehen. Ma sagt, meine Socken kann ich anlassen. »Sonst tut die Straße vielleicht an deinen Füßen weh.« Sie wischt sich erst ein Auge und dann das andere. »Zieh dein dickstes Paar an.«

Ich weiß nicht, warum sie wegen Socken weinen muss. Ich gehe in Schrank und suche unter meinem Kopfkissen Schlimmerzahn. »Den tue ich in meine Socke.«

Ma schüttelt den Kopf. »Was ist, wenn du drauftrittst und dir den Fuß wehtust?«

»Mache ich nicht, er bleibt genau hier an der Seite.«

Es ist 06:13, da ist gleich schon Abend. Ma sagt, ich muss eigentlich schon in Teppich eingerollt sein, vielleicht kommt Old Nick früher, weil ich krank bin.

»Noch nicht.«

»Eigentlich …«

»Bitte nicht …«

»Dann setz dich hier vorne hin, damit ich dich ganz schnell einrollen kann, wenn wir müssen.«

Wir sagen den Plan immer wieder auf, damit ich die neun Sachen üben kann:

Tot, Laster, Rauskrabbeln, Springen, Laufen, Jemand, Zettel, Polizei, Schneidbrenner.

Jedes Mal, wenn ich das Piep piep piep höre, zucke ich, aber es ist gar nicht in echt, nur ausgedacht. Ich starre auf Türe, er ist so glänzend wie ein Dolch. »Ma?«

»Hmm?«

»Lass es uns lieber morgen machen.«

Sie beugt sich runter und drückt mich ganz fest. Das heißt Nein.

Ich hasse sie wieder ein bisschen.

»Wenn ich könnte, würde ich es für dich tun.«

»Warum kannst du nicht?«

Sie schüttelt den Kopf. »Es tut mir so leid, dass nur du es machen kannst und dass es jetzt sein muss. Aber ich bin die ganze Zeit in deinem Kopf, das weißt du ja. Die ganze Zeit spreche ich mit dir.«

Wir gehen Plan B noch ganz oft mehr durch. »Was ist, wenn er Teppich aufmacht?«, frage ich. »Nur um mich tot anzugucken?«

Ma sagt einen Moment lang nichts. »Du weißt ja, das Schlagen böse ist.«

»Ja.«

»Also, heute Abend ist ein Sonderfall. Ich glaube wirklich nicht, dass er das macht, er will die Sache bestimmt schnell hinter sich bringen, aber wenn er rein zufällig doch … dann schlägst du ihn so fest, wie du nur kannst.«

Boah.

»Tritt ihn, beiß ihn, stich ihm in die Augen …« Ihre Finger stechen die Luft. »Mach alles, nur damit du von ihm wegkommst.«

Ich kann das gar nicht richtig glauben. »Darf ich ihn sogar totmachen?«

Ma läuft rüber zu Schränkchen, auf dem trocknen die Sachen vom Abwasch. Sie holt Glattmesser. Ich sehe, wie er glänzt, ich muss an die Geschichte denken, wo sie ihn Old Nick an den Hals gehalten hat. »Was meinst du, kannst du das festhalten, wenn du in den Teppich gerollt bist, und falls …« Sie starrt Glattmesser an. Dann legt sie ihn wieder zu den Gabeln auf Abtropfer. »Was habe ich mir dabei eigentlich gedacht?«

Woher soll ich das wissen, wenn sie es nicht weiß.

»Du erstichst dich ja«, sagt Ma.

»Nein, mache ich nicht.«

»Doch, Jack, ganz bestimmt. Du schnitzelst dich kurz und klein, wenn du mit einer offenen Klinge in einem Teppich herumstrampelst … Ich glaube, ich verliere langsam den Verstand.«

Ich schüttele den Kopf. »Er ist da drin.« Ich tippe auf ihre Haare.

Ma streichelt meinen Rücken.

Ich taste nach Schlimmerzahn, er ist in meiner Socke. Der Zettel ist in meiner Unterhose, vorne. Damit die Zeit vorbeigeht, singen wir, aber leise. Loose Yourself und Tubthumping und Home on the Range.

»Where the deer and the antilope play«, singe ich.

»Where seldom is heard a discouraging word …«

»And the skies are not cloudy all day.«

»Es wird Zeit«, sagt Ma und hält Teppich auf.

Ich will nicht. Ich lege mich hin und tue meine Hände über meine Schultern, meine Ellbogen gucken raus. Ich warte, dass Ma mich aufrollt.

Aber anstatt guckt sie mich nur an. Meine Füße, meine Beine, meine Arme, meinen Kopf; ihre Augen rutschen immer wieder über mein ganzes Ich hin und her, als wäre sie am Zählen.

»Was ist?«, frage ich.

Sie sagt kein Wort. Sie beugt sich runter, aber sie küsst mich nicht, sie berührt nur mein Gesicht mit ihrem, bis ich nicht mehr weiß, welches wem gehört. Meine Brust macht bumm bumm bumm. Ich will sie nicht loslassen.

»Also dann«, sagt Ma, ihre Stimme ist ganz kratzig. »Wir haben ganz schöne Mungst, was? Totale Mungst. Wir sehen uns dann draußen.« Sie faltet Teppich über mich, und das Licht ist weg.

Ich bin in dem kratzigen Dunkel eingerollt.

»Nicht zu eng?«

Ich versuche, ob ich meine Arme über meinen Kopf und wieder zurück kriege, es schrammt ein bisschen.

»Okay?«

»Okay«, sage ich.

Dann warten wir nur noch. Etwas kommt oben in Teppich rein und reibt meine Haare, es ist ihre Hand, das weiß ich, auch ohne hingucken. Ich kann mein Atmen hören, es macht richtig Krach. Ich denke an den Graf in dem Sack, wo die Würmer reinkriechen. Wie er runter runter runter fällt und dann platsch ins Meer. Können Würmer schwimmen?

Tot, Laster, Laufen, Jemand – nein, Rauskrabbeln, dann Springen, Laufen, Jemand, Zettel, Schneidbrenner. Ich habe Polizei vor Schneidbrenner vergesst, es ist einfach zu kompliziert. Bestimmt vermassele ich es, und Old Nick begräbt mich in echt, und Ma muss immer und immer warten.

Nach einer langen Zeit flüstere ich: »Kommt er oder nein.«

»Ich weiß es nicht«, sagt Ma. »Er muss einfach kommen. Wenn er auch nur bisschen menschlich ist …«

Ich dachte immer, menschlich ist man entweder oder ist es nicht. Und wenn er es nur ein bisschen ist, was ist dann mit dem Rest?

Ich warte und warte. Ich kann meine Arme nicht spüren. Teppich liegt auf meiner Nase, ich will mich jucken. Ich probiere und probiere, und dann komme ich dran. »Ma?«

»Ich bin hier.«

»Ich auch.«

Piep piep.

Ich zucke zusammen, eigentlich soll ich tot sein, aber ich kann nichts dafür, ich will sofort aus Teppich raus, aber ich hänge fest, ich darf es nicht mal versuchen, sonst sieht er …

Etwas drückt auf mich, das muss Mas Hand sein. Jetzt muss ich ihr Super-Prinz JackerJack sein, also liege ich total still da. Kein Gezappel mehr. Ich bin Leiche, ich bin der Graf, nein ich bin sein Freund, der ist noch töter. Ich bin ganz steif, wie ein kaputter Roboter mit ohne Strom.

»Da, nimm.« Das ist die Stimme von Old Nick, er hört sich an wie immer. Er weiß noch nicht mal, dass ich gestorben bin. »Antibiotika, gerade erst abgelaufen. Bei Kindern nur die Hälfte nehmen, hat der Typ gesagt.«

Ma antwortet nichts.

»Wo ist er, im Schrank?«

Der er, das bin ich.

»Ist er etwa in dem Teppich? Bist du verrückt geworden, ein krankes Kind so einzuwickeln?«

»Du bist ja nicht wiedergekommen«, sagt Ma, ihre Stimme ist ganz komisch. »In der Nacht ist es schlimmer geworden, und morgens ist er nicht mehr aufgewacht.«

Nichts. Dann macht Old Nick einen komischen Ton. »Bist du dir sicher?«

»Ob ich mir sicher bin?« Jetzt kreischt Ma, aber ich rühre mich nicht. Ich bin ganz steif, ich höre nichts und sehe nichts.

»Oh nein.« Ich höre einen ganz langen Atmer von ihm. »Das ist ja furchtbar. Du armes Mädchen, du …«

Einen Moment lang sagt keiner was.

»Dann muss es ja wohl was richtig Ernstes gewesen sein«, sagt Old Nick, »da hätten die Pillen sowieso nicht mehr geholfen.«

»Du hast ihn umgebracht«, heult Ma.

»Jetzt komm, beruhig dich erst mal.«

»Wie soll ich mich beruhigen, wenn Jack …« Sie atmet komisch, ihre Worte kommen raus, als würde sie würgen. Sie tut so in echt, als ob, dass ich es beinahe glaube.

»Lass mich mal.« Seine Stimme ist ganz nah. Ich werde ganz fest und steif, steif, steif.

»Rühr ihn nicht an!«

»Okay, okay.« Dann sagt Old Nick: »Hier kann er nicht bleiben.«

»Mein Baby!«

»Ich weiß, es ist schrecklich. Aber ich muss ihn jetzt rausschaffen.«

»Nein.«

»Wie lange ist es her?«, fragt er. »Heute Morgen, hast du gesagt? Vielleicht schon in der Nacht? Der muss doch schon anfangen zu … es ist nicht gesund, ihn hierzubehalten. Ich muss ihn mitnehmen und … und … was für ihn suchen.«

»Nicht im Garten.« Ma spricht beinahe, als wenn sie knurren würde.

»Ist okay.«

»Wenn du ihn in den Garten tust … das hättest du nie machen dürfen, es ist zu nah. Wenn du ihn da begräbst, höre ich ihn weinen.«

»Ich hab doch schon gesagt, ist okay.«

»Du musst ihn ganz weit wegfahren, hörst du?«

»In Ordnung. Lass mich …«

»Noch nicht.« Sie weint und weint. »Du darfst seine Ruhe nicht stören.«

»Ich lasse ihn eingerollt.«

»Wag es nicht, einen Finger …«

»In Ordnung.«

»Schwör mir, dass du ihn nicht mal ansiehst mit deinen verkommenen Augen.«

»Okay.«

»Schwör es.«

»Ich schwöre. Okay?«

Ich bin tot tot tot.

»Ich werde es wissen«, sagt Ma. »Ich werde wissen, wenn du ihn im Garten begräbst, und dann schreie ich jeden Abend, sobald du die Tür aufmachst. Ich nehme die ganze Bude auseinander, das schwöre ich dir. Du musst mich schon umbringen, um mich zum Schweigen zu bringen, das ist mir dann auch egal.«

Warum sagt sie ihm, er soll sie umbringen?

»Jetzt beruhig dich mal.« Old Nick hört sich an, als würde Dora mit ihrem Hund sprechen. »Ich hebe ihn jetzt hoch und trage ihn zum Wagen, okay?«

»Ganz sachte. Such einen schönen Platz für ihn aus«, sagt Ma. Sie weint so viel, dass ich kaum hören kann, was sie sagt. »Einen mit Bäumen und einem See oder so.«

»Klar. Ich muss jetzt los.«

Ich werde in Teppich gepackt, dann werde ich zusammengedrückt, das ist Ma, sie sagt: »Jack, Jack, Jack.«

Dann werde ich hochgehoben. Ich glaube erst, das ist sie, aber dann weiß ich, es ist er. Nicht bewegen, nicht bewegen, JackerJack, bleib steif steif steif. Ich werde in Teppich zerquetscht. Ich kann nicht richtig atmen, aber Tote atmen sowieso nicht. Bitte mach, dass er mich nicht aufwickelt. Ich wünschte, ich hätte Stumpfmesser.

Dann wieder das Piep piep, dann das Klick, das heißt, Türe ist offen. Das Ungeheuer hat mich, ich rieche Menschenfleisch. An meinen Beinen wird es warm, oh nein, aus Peterchen kommt ein bisschen Pipi raus. Und aus meinem Popo auch ein bisschen Kacka. Davon hat Ma nichts gesagt. Stinkig. Tut mir leid, Teppich. Ein Grunzen neben meinem Ohr, Old Nick hat mich ganz fest gepackt. Ich habe so viel Angst, dass ich gar keinen Mut mehr übrig habe, halt halt halt, aber ich muss ganz leise sein, sonst rät er, dass es ein Trick ist, und frisst mich mit dem Kopf zuerst, er reißt mir die Beine aus …

Ich zähle meine Zähne, aber ich vertue mich andauernd, 19, 21, 22. Ich bin Prinz Roboter, der Super JackerJack, Freund Fünf, ich bewege mich nicht. Bist du da, Schlimmerzahn? Ich kann dich nicht spüren, aber du bist bestimmt in meiner Socke, an der Seite. Du bist ein Stück von Ma, ein kleines Stück aus ihrem Gesicht geschneidet, und kommst mit mir mit.

Ich kann meine Arme nicht spüren.

Die Luft ist anders. Da ist immer noch das Staubige von Teppich, aber als ich meine Nase ein klitzekleines bisschen hebe, rieche ich Luft, die …

Im Draußen.

Geht das überhaupt?

Nichts bewegt sich. Old Nick steht nur da. Warum steht er immer noch im Garten? Was will er … ?

Es bewegt sich wieder. Ich bleibe steif steif steif.

Auaaaa, ich falle auf was Hartes. Ich glaube nicht, dass ich einen Mucks gemacht habe, ich habe keinen gehört. Aber ich glaube, ich habe mir auf den Mund gebissen, da drin ist so ein Geschmack, das ist bestimmt Blut.

Es kommt noch ein Piep, aber diesmal anders. Ein Rappeln wie von lauter Eisen. Wieder hoch, dann rumms, wieder runter auf mein Gesicht, aua aua aua. Wumm. Dann fängt alles unter meinem Bäuchlein an zu zittern und zu hämmern, es ist ein Erdbeben …

Nein, es ist der Laster, was sonst? Es ist überhaupt nicht nur wie Blubbern, es ist eine Million Mal stärker. Ma!, rufe ich in meinem Kopf, Tot, Laster, das sind zwei von neun. Ich bin hinten auf dem braunen Pick-up, genau wie in der Geschichte.

Ich bin nicht in Raum. Bin ich noch ich?

Jetzt bewegt sich was. Ich sause ganz in echt auf dem Laster vorwärts, wirklich in echt.

Ach ja, ich muss ja Rauskrabbeln. Ich fange an, so zu machen wie eine Schlange, aber Teppich ist fester geworden, ich weiß nicht, wieso, ich klemme fest, ich hänge fest. Ma, Ma, Ma … Ich kann nicht raus, wie wir es geübt haben, alles ist schiefgegangen, tut mir leid. Old Nick bringt mich irgendwohin, und dann begräbt er mich, the worms crawl in, the worms crawl out …

Ich weine wieder, mir läuft die Nase, meine Arme sind unter der Brust verknotet. Ich kämpfe gegen Teppich, die ist nie mehr meine Freundin, ich trete so wie bei Karate, aber sie hat mich gefangen, sie ist das Leichentuch für die Leichen, die ins Meer fallen …

Dann ist der Krach leiser. Nichts bewegt sich. Der Laster hat angehalten.

Es ist ein Stopp, ein Stopp mit einem Stoppschild, das heißt, jetzt muss ich Springen machen, das ist bei fünf, aber ich habe noch gar nicht drei gemacht, wenn ich nicht rauskrabbeln kann, wie soll ich dann springen? Ich kann nicht vier fünf sechs sieben acht oder neun machen, ich hänge bei drei fest, bestimmt begräbt er mich mit den Würmern …

Es bewegt sich wieder, wrumm wrumm.

Ich kriege eine Hand über mein Gesicht, es ist voller Rotz, meine Hand schrammt oben raus, und ich ziehe meinen anderen Arm hoch. Meine Finger greifen die neue Luft, etwas Kaltes, dann Eisen und was anderes, was nicht aus Eisen ist, aber darauf hüpft. Ich grabsche und ziehe ziehe ziehe und trete, mein Knie, aua aua aua. Umsonst, es geht nicht. Die Ecke suchen. Ist das Ma, die in meinem Kopf spricht, wie sie versprochen hat, oder fällt es mir nur wieder ein? Ich taste ganz um Teppich herum, aber da ist keine Ecke an ihr dran, dann finde ich sie doch und ziehe, sie wird ein kleines bisschen lose, glaube ich. Ich rolle mich auf den Rücken, aber das ist noch enger, und ich kann die Ecke nicht mehr finden.

Stopp. Der Laster hat wieder gehalten. Ich bin noch immer nicht raus, dabei sollte ich schon beim ersten Mal springen. Ich ziehe Teppich runter, bis sie mir beinahe den Ellbogen bricht, und dann kann ich ein riesiges Geblitze sehen, dann ist es wieder weg, weil der Laster wieder fährt, wrumm.

Ich glaube, das war das Draußen, was ich da gesehen habe. Das Draußen ist in echt und ganz hell, aber ich kann nicht …

Ma ist nicht da, keine Zeit zu weinen. Ich bin Prinz JackerJack, ich muss JackerJack sein, sonst kriechen die Würmer rein. Ich liege wieder nach unten, ich mache die Knie krumm und strecke meinen Popo hoch, gleich platze ich einfach aus Teppich, jetzt ist sie schon lockerer, sie geht von meinem Gesicht ab.

Ich kann die ganze schöne schwarze Luft atmen. Ich setze mich auf und wickle Teppich ab, als wäre ich eine zerquetschte Banane. Mein Pferdeschwanz ist aufgegangen, ich habe überall Haare im Gesicht. Ich finde meine Beine, eins und zwei, und kriege meine ganzen Teile raus, geschafft! Ich wünschte, Dora könnte mich sehen, da würde sie bestimmt das Pri-ma gemacht!-Lied singen.

Noch ein Licht kommt vorbeigesaust. Im Himmel rutschen Sachen vorbei, ich glaube, das sind Bäume. Und Häuser und Lichter und irgendwelche riesigen Stangen, und alles zoomt. Es ist, als wäre ich in einem Zeichentrickfilm, nur durcheinanderer. Ich halte mich am Rand von dem Laster fest, er ist ganz hart und kalt. Der Himmel ist riesengroß, da hinten ist ein rosa-orangenes Stück, aber der Rest ist ganz grau. Als ich nach unten gucke, ist da die Straße, schwarz und ganz, ganz lang. Ich kann supergut springen, aber nicht, wenn alles brüllt und bumst und das ganze Licht so verschwommen ist und die Luft komisch riecht, wie nach Äpfeln oder so. Meine Augen klappen nicht richtig. Ich habe viel zu viel Angst, um Mungst zu haben.

Der Laster hat wieder angehalten, aber ich kann nicht springen, ich kann mich nicht bewegen. Ich schaffe es, aufzustehen und mich umzugucken, aber …

Ich rutsche aus und knalle gegen den Laster, mein Kopf schlägt auf etwas, was wehtut, aus Versehen rufe ich: Arghhh!

Wieder Halt.

Ein Eisengeräusch. Das Gesicht von Old Nick. Er ist aus dem Laster gekommen, mit dem wütendsten Gesicht, das ich jemals gesehen habe und …

Springen.

Der Boden bricht mir die Füße, knacks, mein Knie schlägt mir ins Gesicht, aber ich laufe laufe laufe dahin, wo es einen Jemand gibt, Ma hat gesagt, ich soll zu einem Jemand laufen oder zu einem Auto oder zu einem Haus mit Licht. Ich sehe ein Auto, aber das ist innen dunkel, und aus meinem Mund kommt sowieso nichts, alles ist voller Haare, aber ich laufe weiter, lauf, Pfannkuchen, lauf. Ma ist nicht da, sie hat mir versprochen, dass sie in meinem Kopf ist, lauf lauf lauf. Da brüllt es hinter mir, das ist er, das ist Old Nick, und der kommt und reißt mich in Stücke, ich rieche Menschenfleisch. Ich muss den Jemand finden und Hilfe Hilfe rufen, aber da ist kein Jemand, ich muss immer, immer weiterlaufen, aber meine Luft ist alle, und ich kann nichts sehen und …

Ein Bär.

Ein Wolf?

Ein Hund. Ist ein Hund ein Jemand?

Ein Jemand kommt hinter dem Hund her, aber es ist eine sehr kleine Person, ein Baby, was läuft, es schiebt etwas mit Rädern, und da ist noch ein kleineres Baby drin. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich rufen soll, ich bin auf stumm, ich laufe nur weiter auf die Personen zu. Das Baby lacht, es hat fast keine Haare. Das kleinere in dem Schiebeding ist gar nicht in echt, glaube ich, es ist eine Puppe. Der Hund ist klein, aber in echt, er macht nämlich Kacka auf dem Boden, bei den Hunden im Fernseher habe ich so was nie gesehen. Hinter dem Baby kommt noch eine Person und sammelt die Kacke in einer Tüte auf, als ob es ein Schatz ist. Ich glaube, es ist ein Er, ein Jemand mit kurzen Haaren so wie bei Old Nick, aber geringelter, und er ist auch brauner als das Baby. Ich rufe: »Hilfe«, aber es kommt nicht richtig laut raus. Ich laufe, bis ich beinahe bei ihnen bin, da bellt der Hund und springt hoch und frisst mich.

»Raja!«

Da sind lauter rote Flecken auf meinen Fingern.

»Raja, sitz!« Die Mann-Person packt den Hund am Hals.

Aus meiner Hand fällt mein Blut.

Und dann, zack, werde ich von hinten gepackt, es ist Old Nick mit seinen Riesenhänden auf meinen Rippen. Ich hab’s vermasselt, er hat mich geschnappt, es tut mir leid leid leid, Ma. Er hebt mich hoch.

Dann schreie ich, aber ich schreie noch nicht mal Wörter. Er hat mich unter dem Arm, er trägt mich wieder zum Laster, Ma hat gesagt, ich darf schlagen, ich darf ihn umbringen, ich schlage und schlage, aber ich komme nicht dran, ich schlage nur mich selbst …

»Entschuldigen Sie«, ruft die Person mit der Kacka-Tüte. »He, Mister!« Seine Stimme ist nicht tief, und sie ist leiser.

Old Nick dreht uns um. Ich vergesse zu schreien.

»Tut mir leid. Fehlt Ihrem kleinen Mädchen auch nichts?«

Was für ein kleines Mädchen?

Old Nick räuspert sich, er trägt mich immer noch weiter zum Laster, aber er geht jetzt rückwärts. »Alles bestens.«

»Normalerweise tut Raja nichts, aber als die Kleine plötzlich auf ihn zugerannt kam …«

»Nur ein Trotzanfall«, sagt Old Nick.

»He. Warten Sie doch mal. Ich glaube, ihre Hand blutet.«

Ich gucke auf meinen gefressenen Finger. Das Blut macht Tropfen.

Der Jemand hat die Baby-Person hochgehoben, er hält sie auf dem Arm und die Kacka-Tüte in der anderen Hand und sieht ganz durcheinander aus.

Old Nick stellt mich hin, er hat seine Finger so fest auf meiner Schulter, dass es wehtut. »Alles unter Kontrolle.«

»Und ihr Knie auch, das sieht übel aus. Das war aber nicht Raja. Ist sie hingefallen?«, fragt der Mann.

»Ich bin keine Sie«, sage ich, aber nur in meinem Hals drin.

»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten.« Old Nick knurrt beinahe.

Ma, Ma, du musst das mit dem Reden machen. Sie ist nicht mehr in meinem Kopf, sie ist überhaupt nirgends. Sie hat doch den Zettel geschrieben, ganz vergesst, ich schiebe meine nicht gefressene Hand in meine Unterhose und kann ihn nicht finden, aber dann doch, er ist voller Pipi. Ich kann nicht sprechen, aber ich winke dem Jemand damit.

Old Nick reißt ihn mir weg und verschwindet ihn.

»Hören Sie, das hier … das hier gefällt mir nicht«, sagt der Mann. Er hat ein kleines Telefon in der Hand, wo ist das denn hergekommen? Er sagt: »Ja, bitte die Polizei.«

Alles passiert genau so, wie Ma es gesagt hat, jetzt sind wir schon bei Polizei, das ist acht, dabei habe ich noch nicht mal den Zettel gezeigt oder von Raum erzählt, ich mache alles andersrum. Ich soll mit dem Jemand reden, als ob er ein Mensch ist. Also sage ich: »Ich bin gekidnappt worden«, aber es kommt nur ganz leise raus, weil Old Nick mich wieder hochgehoben hat und zum Laster läuft, er rennt. Ich zittere wie verrückt, ich kann ihn nicht richtig schlagen, gleich hat er …

»Ich habe Ihr Kennzeichen, Mister.«

Das ist die Mann-Person, sie schreit, schimpft sie mich aus? Was für ein Kennzeichen?

»K neun drei …« Er ruft Zahlen, warum ruft er Zahlen?

Plötzlich, aua aua aua, haut mich die Straße auf mein Bäuchlein und auf die Hände und ins Gesicht, und Old Nick rennt weg, aber ohne mich. Er hat mich fallen lassen. Jede Sekunde ist er weiter weg. Er hat mich fallen lassen, das müssen Zauberzahlen sein!

Ich versuche aufzustehen, aber ich weiß nicht, wie.

Dann ein Krach wie von einem Ungeheuer, der Laster macht WRUMMM und kommt auf mich zu, bestimmt haut er mich gleich in Stücke, ich weiß nicht, wie wo was, das Baby weint, ich habe noch nie ein echtes Baby weinen hören …

Der Laster ist weg. Er ist einfach vorbeigefahren und um die Ecke, ohne anzuhalten. Ich höre ihn noch ein bisschen, dann höre ich ihn nicht mehr.

Da ist der höhere Teil, der Bürgersteig, Ma hat mir gesagt, ich soll auf den Bürgersteig. Ich muss kriechen, aber ohne das Knie auf den Boden zu tun. Der Bürgersteig hat lauter große, verkratzte Vierecke.

Dann ein schrecklicher Gestank. Die Nase von dem Hund ist direkt neben mir, er ist wiedergekommen und will mich auffressen, ich schreie.

»Raja!« Der Mann zieht den Hund weg. Dann hockt er sich hin, das Baby hat er auf einem Knie, es zappelt. Die Kacka-Tüte hat er nicht mehr. Er sieht genauso aus wie eine Fernseher-Person, nur näher und breiter und mit Geruch, ein bisschen wie Spüli und Minze und Curry gemischt. Mit der Hand, die nicht den Hund hält, versucht er an mich dranzukommen, aber ich rolle mich gerade noch rechtzeitig weg. »Ist ja gut, Süße«, sagt er. »Ist ja alles gut.«

Wer ist Süße? Seine Augen gucken auf meine Augen. Süße, das bin ich. Ich kann nicht hingucken, es ist zu verrückt, ihn anzugucken, wie er mich anguckt, und dann redet er auch noch mit mir.

»Wie heißt du?«

Fernseher-Personen fragen einen nie was, außer Dora, und die weiß meinen Namen schon.

»Kannst du mir sagen, wie du heißt?«

Ma hat gesagt, ich soll mit dem Jemand reden, das ist meine Aufgabe. Ich versuche, aber es kommt nichts raus. Ich lecke mir über die Lippen. »Jack.«

»Wie war das?« Er beugt sich näher heran. Ich rolle mich zusammen und verstecke den Kopf in den Armen. »Keine Angst, dir tut niemand was. Sag mir deinen Namen noch mal ein bisschen lauter.«

Es ist einfacher, wenn ich ihn nicht angucke. »Jack.«

»Jackie?«

»Jack.«

»Oh. Verstehe, tut mir leid. Dein Dad ist jetzt weg, Jack.«

Wovon redet er?

Das Baby fängt an, an seinem Dings zu ziehen, dem über dem Hemd, es ist ein Jackett.

»Ich heiße übrigens Ajeet«, sagt die Mann-Person, »und das hier ist meine Tochter … Halt still, Naisha. Jack braucht ein Pflaster für das Aua auf seinem Knie. Mal sehen, ob …« Er fühlt in alle Teile von seiner Tasche. »Raja tut es sehr leid, dass er dich gebissen hat.«

Der Hund sieht nicht aus, als ob es ihm leidtut, er hat spitze, dreckige Zähne. Hat er mein Blut getrunken wie ein Vampir?

»Du siehst nicht gut aus, Jack. Warst du vor Kurzem mal krank?«

Ich schüttele den Kopf. »Ma.«

»Was hast du gesagt?«

»Ma hat auf mein T-Shirt gebrochen.«

Das Baby spricht noch mehr, aber nicht in Sprache. Sie packt die Ohren von dem Raja-Hund, warum hat sie keine Angst vor dem?

»Entschuldigung, das habe ich nicht verstanden«, sagt der Ajeet-Mann.

Ich sage gar nichts mehr.

»Die Polizei müsste jeden Moment da sein, okay?« Er hat sich umgedreht und guckt auf der Straße hin und her, das Naisha-Baby weint jetzt ein bisschen. Er wippt sie auf dem Knie. »Gleich gehen wir zu Ammi und dann ins Bettchen.«

Ich denke an Bett. An das Warme.

Er drückt kleine Knöpfe auf seinem Telefon und sagt wieder was, aber ich höre nicht zu.

Ich will hier weg. Aber ich glaube, wenn ich mich bewege, beißt mich der Raja-Hund wieder und trinkt noch mehr von meinem Blut. Ich sitze auf einer Ritze, ein Teil von mir in einem Viereck und der Rest in einem anderen. Mein gefressener Finger tut unheimlich weh und auch mein Knie, das rechte, da kommt Blut raus, wo die Haut aufgeplatzt ist, am Anfang war es rot, aber jetzt wird es schwarz. Neben meinem Fuß liegt ein spitzes Oval, ich versuche es aufzuheben, aber es klebt fest, dann kriege ich es doch zwischen meine Finger, es ist ein Blatt. Ein Blatt von einem echten Baum, so wie das, was neulich auf Oberlicht war. Ich gucke hoch, über mir ist ein Baum, der muss das Blatt fallen gelassen haben. Der große Lichtkreis blindet mich. Und der Riesenhimmel dahinter ist jetzt ganz schwarz, wo ist das rosa-orangene Stück hin? Die Luft bewegt sich auf meinem Gesicht, aus Versehen zittere ich.

»Dir muss doch kalt sein. Ist dir nicht kalt?«

Ich glaube erst, der Ajeet-Mann fragt das Baby Naisha, aber er meint mich. Das merke ich, als er sein Jackett auszieht und über mich hängt.

»Hier.«

Ich schüttele den Kopf, weil das ist doch das Jackett von einer Person, so was hatte ich noch nie an.

»Wie hast du deine Schuhe verloren?«

Was für Schuhe?

Danach sagt der Ajeet-Mann nichts mehr.

Ein Auto hält an, was das ist, weiß ich, das ist nämlich ein Polizeiauto aus Fernseher. Personen steigen aus, es sind zwei, mit lauter kurzen Haaren, einer hat schwarze Haare und einer gelbe, sie kommen ganz schnell angelaufen. Ajeet redet mit ihnen. Das Baby Naisha versucht abzuhauen, aber er hält sie mit den Armen fest, ohne wehtun, glaube ich. Raja legt sich auf irgendwas Braunes, es ist Gras, dabei dachte ich, das müsste grün sein, den ganzen Bürgersteig entlang gibt es viereckige Stücke davon. Ich wünschte, ich hätte noch den Zettel, aber Old Nick hat ihn verschwindet. Ich weiß die Wörter nicht mehr, sie sind mir aus dem Kopf geschüttelt.

Ma ist immer noch in Raum, ich will sie so viel hier haben, so viel. Old Nick ist weggelaufen und ganz schnell mit seinem Laster gefahren, aber wo will er hin? Nicht bei den See oder die Bäume, weil er nämlich gesehen hat, dass ich gar nicht tot bin, ich durfte ihn umbringen, aber ich habe es nicht geschafft.

Plötzlich fällt mir etwas Schreckliches ein. Vielleicht ist er zurück zu Raum gefahren, vielleicht ist er jetzt gerade da und macht Türe auf, piep piep, er ist wütend und nur wegen mir, weil ich nicht tot bin …

»Jack?«

Ich gucke, welcher Mund sich bewegt. Es ist ein Polizist, ich glaube, derjenige, der erzählt hat, dass er eine Sie ist, schwer zu sagen, aber es sind die schwarzen Haare und nicht die gelben. Sie sagt noch einmal: »Jack«, woher weiß die das? »Ich bin Officer Oh. Kannst du mir sagen, wie alt du bist?«

Ich muss Ma retten, ich muss mit der Polizei reden, damit sie den Schneidbrenner holt, aber mein Mund klappt nicht. Sie hat so ein Ding an ihrem Gürtel, es ist ein Revolver genau wie bei einem Polizisten im Fernseher. Was ist, wenn das böse Polizisten sind wie die, die den heiligen Peter eingesperrt haben, daran habe ich gar nie gedacht. Ich gucke den Gürtel an, nicht das Gesicht, es ist ein cooler Gürtel mit einer Schnalle.

»Weißt du, wie alt du bist?«

Piepseinfach, ich hebe fünf Finger hoch.

»Fünf Jahre also, prima.« Officer Oh sagt was, was ich nicht hören kann. Dann irgendwas über ein Kleid. Das sagt sie zweimal.

Ich spreche so laut, wie ich kann, aber ohne hingucken. »Ich habe kein Kleid.«

»Nein? Wo schläfst du denn abends?«

»In Schrank.«

»In einem Schrank?«

Versuch es, sagt Ma in meinem Kopf, aber Old Nick ist neben ihr, er ist so wütend wie noch nie und …

»Hast du gesagt, in einem Schrank?«

»Du hast drei Kleider«, sage ich. »Ich meine, Ma. Eins ist rosa, und eins ist grün mit Streifen, und eins ist braun, aber du … sie hat lieber Jeans an.«

»Deine Ma, meintest du die?«, fragt Officer Oh. »Hat die solche Kleider?«

Nicken ist leichter.

»Wo ist denn deine Ma heute Abend?«

»In Raum.«

»In einem Raum, okay«, sagt sie. »In was für einem Raum?«

»Raum.«

»Kannst du mir auch sagen, wo der ist?«

Mir fällt was ein. »Auf keiner Landkarte.«

Sie pustet die Luft aus den Backen, ich glaube, meine Antworten sind überhaupt nicht gut.

Der andere Polizist ist vielleicht ein Er, so Haare habe ich in echt noch nie gesehen. Beinahe durchsichtig. Er sagt: »Sind an der Kreuzung Navaho und Alcott, haben ein verstörtes Kind aufgegriffen, möglicherweise Missbrauchsfall.« Ich glaube, er spricht mit seinem Telefon. Es ist wie Papagei spielen, ich kenne die Wörter, aber ich weiß nicht, was sie bedeuten. Er geht näher an Officer Oh heran. »Was erreicht?«

»Ist zäh.«

»Beim Zeugen auch. Der Verdächtige ist ein Weißer, männlich, ungefähr eins achtzig, Mitte vierzig bis Mitte fünfzig. Ist in einem mittelbraunen Pick-up geflohen, könnte ein F-hundertfünfzig sein oder auch ein Ram, Kennzeichen fängt an mit K neun drei, danach vielleicht ein B oder P, kein Bundesstaat …«

»Der Mann, der bei dir war, war das dein Dad?« Officer Oh spricht wieder mit mir.

»Hab keinen.«

»Der Freund von deiner Mutter?«

»Hab keinen.« Das habe ich schon mal gesagt, darf ich Sachen zweimal sagen?

»Kannst du dich an seinen Namen erinnern?«

Ich mache, dass ich mich erinnere. »Ajeet.«

»Nein, der andere, der mit dem Laster weggefahren ist.«

»Old Nick«, flüstere ich, weil er es nicht gut fände, wenn ich ihn sage.

»Wie war das?«

»Old Nick.«

»Negativ«, sagt der Polizeimann zu seinem Telefon. »Verdächtiger bei Eintreffen nicht auffindbar, Vorname Nick oder Nicholas, kein Nachname.«

»Und wie heißt deine Ma?«, fragt Officer Oh.

»Ma.«

»Hat sie noch einen anderen Namen?«

Ich hebe zwei Finger hoch.

»Gleich zwei? Prima. Weißt du noch, welche?«

Sie standen auf dem Zettel, der verschwindet ist. Plötzlich fällt mir wieder was ein. »Er hat uns gestohlen.«

Officer Oh setzt sich neben mir auf den Boden. Er ist nicht wie unser Boden, ganz hart und zitterkalt. »Jack, möchtest du eine Decke haben?«

Ich weiß nicht. Mummeldecke ist nicht da.

»Du hast da ein paar ziemlich üble Verletzungen. Hat dieser Nick das gemacht?«

Der Polizeimann ist wieder da, er hält mir ein blaues Ding hin, ich fasse es nicht an. »Ich höre«, sagt er zu seinem Telefon. Officer Oh legt das blaue Ding um mich, es ist nicht so kuschelig grau wie Mummeldecke, es ist rauer. »Wie hast du dir die Verletzungen geholt?«

»Der Hund ist ein Vampir.« Ich suche nach Raja und seinen Menschen, aber sie sind weg. »Der Finger hier ist gebissen, und mein Knie war der Boden.«

»Wie bitte?«

»Die Straße, die hat mich geschlagen.«

»Ich höre.« Das sagt der Polizeimann, er spricht wieder mit seinem Telefon. Dann sieht er Officer Oh an und sagt: »Soll ich schon mal das Jugendamt einschalten?«

»Lass mir noch ein paar Minuten Zeit«, sagt sie. »Jack, du bist doch bestimmt ein guter Geschichtenerzähler.«

Woher weiß sie das? Der Polizeimann guckt auf seine Uhr, die an seinem Handgelenk festgemacht ist. Mas Handgelenk fällt mir ein, das nicht mehr heile ist. Ist Old Nick jetzt gerade da, dreht er ihr das Handgelenk um oder den Hals, reißt er sie in Stücke?

»Meinst du, du könntest mir mal erzählen, was heute Abend passiert ist?« Officer Oh grinst mich an. »Und vielleicht kannst du ja auch ganz langsam und deutlich sprechen, ich habe nämlich keine besonders guten Ohren.« Vielleicht ist sie taub, aber mit ihren Fingern, wie die Tauben im Fernseher, spricht sie nicht.

»Verstanden«, sagt der Polizeimann.

»Legen wir los?«, fragt Officer Oh.

Ihre Augen gucken nur mich an. Ich mache meine zu und tue so, als würde ich mit Ma reden, davon kriege ich Mut. »Wir haben einen Trick gemacht«, sage ich ganz langsam. »Ich und Ma, wir haben so getan, als ob ich krank bin, und dann war ich tot, aber nicht in echt, dann ich wickle mich auf und springe aus dem Laster, nur sollte ich schon beim ersten Mal springen, wo es langsam wird, aber das habe ich nicht geschafft.«

»Okay. Und was ist dann passiert?« Officer Ohs Stimme ist direkt neben meinem Kopf.

Ich gucke immer noch nicht, sonst vergesse ich meine Geschichte. »Ich hatte einen Zettel in meiner Unterhose, aber er hat ihn verschwindet. Aber Schlimmerzahn habe ich noch.«

Ich suche ihn mit den Fingern in meiner Socke. Ich mache die Augen auf.

»Darf ich den mal sehen?«

Sie versucht, Schlimmerzahn zu nehmen, aber ich lasse sie nicht. »Der ist von Ma.«

»Ist das deine Ma, meinst du die damit?«

Ich glaube, ihr Gehirn klappt genauso wenig wie ihre Ohren. Wie kann Ma denn ein Zahn sein? Ich schüttele den Kopf. »Nur ein Stückchen von ihr, es ist aus dem Gesicht geschneidet und rausgefallen.«

Officer Oh sieht Schlimmerzahn von ganz nah an, und ihr Gesicht wird ganz hart. Der Polizeimann schüttelt den Kopf und sagt was, was ich nicht hören kann.

»Jack«, sagt sie danach, »du hast mir doch erzählt, dass du beim ersten Mal rausspringen solltest, als der Laster anhielt, richtig?«

»Ja, aber ich war noch in Teppich, dann habe ich die Banane geschält, aber ich hatte nicht genug Mungst.« Ich spreche und gucke dabei gleichzeitig Officer Oh an. »Aber nach dem dritten Mal Halt hat der Laster bsoiiiiing gemacht.«

»Was hat er gemacht?«

»So wie …« Ich zeige es ihr. »Ganz woandershin.«

»Er hat die Richtung geändert.«

»Ja, und ich habe mich gestoßen, und Old Nick, der ist ganz wütend ausgestiegen, und da bin ich gesprungen.«

»Bingo.« Officer Oh klatscht sich in die Hände.

»Häh?«, sagt der Polizeimann.

»Drei Stoppschilder und einmal abgebogen. Nach links oder nach rechts?« Sie wartet. »Egal. Das hast du ganz prima gemacht, Jack.« Sie starrt auf die Straße, und dann hat sie plötzlich so ein Ding in der Hand, wie ein Telefon, wo kam das denn her? Sie guckt auf den kleinen Bildschirm, dann sagt sie: »Sag denen, sie sollen das Teilkennzeichen abgleichen mit … Carlingford Avenue, eventuell auch Washington Drive …«

Ich sehe Raja und Ajeet und Naisha überhaupt nicht mehr. »Musste der Hund ins Gefängnis?«

»Aber nein«, sagt Officer Oh. »Er hat sich wirklich nur vertan.«

»Ich höre«, sagt der Polizeimann in sein Telefon. Er schüttelt in die Richtung von Officer Oh den Kopf.

Sie steht auf. »He, vielleicht kann ja Jack das Haus für uns finden. Möchtest du mal in einem Streifenwagen fahren?«

Ich kann nicht aufstehen, sie streckt ihre Hand aus, aber ich tue so, als ob ich es nicht sehe. Ich schiebe erst einen Fuß unter mich und dann den anderen, mir ist ein bisschen schwindelig. Beim Auto steige ich da rein, wo die Tür offen ist. Officer Oh setzt sich auch nach hinten und klickt mir den Gurt zu, ich mache mich ganz klein, damit ihre Hand nichts berührt außer der blauen Decke.

Das Auto fährt jetzt, aber nicht so schüttelig wie der Laster, ganz weich und brummig. Ein bisschen wie auf dem Sofa auf dem Planeten im Fernseher, wo die Frau mit den plusterigen Haaren Fragen stellt, nur ist es hier Officer Oh. »Dieser Raum«, sagt sie, »ist der in einem Bungalow, oder gibt es da Treppen?«

»Es ist kein Haus.« Ich glotze das glänzende Ding in der Mitte an, es ist wie Spiegel, aber viel kleiner, ich kann das Gesicht vom Polizeimann da drin sehen, er ist der Fahrer. Seine Augen sehen mich in dem kleinen Spiegel rückwärts an, deshalb gucke ich lieber nach draußen. Alles saust vorbei, es macht mich ganz duselig.

Überall ist Licht, es kommt aus dem Auto auf die Straße und malt über alles drüber. Da kommt noch ein Auto, ein weißes und superschnell, gleich kracht es in …

»Keine Angst«, sagt Officer Oh.

Als ich meine Hände vom Gesicht nehme, ist das andere Auto weg. Hat unseres es etwa verschwindet?

»Und? Klingelt schon was bei dir?«

Ich höre nichts klingeln. Überall nur Bäume und Häuser und dunkle Autos. Ma, Ma, Ma. Ich höre sie nicht in meinem Kopf, sie sagt gar nichts. Seine Hände sind ganz fest um sie, immer fester und fester, sie kann nichts sagen, sie kann nicht atmen, sie kann gar nichts machen. Was lebendig ist, kann man biegen, aber sie wird gebiegt und gebiegt und …

»Sieht das hier vielleicht so aus wie deine Straße?«, fragt Officer Oh.

»Ich hab keine Straße.«

»Ich meine die Straße, aus der dieser Nick dich heute Abend weggebracht hat.«

»Die hab ich noch nie gesehen.«

»Wie bitte?«

Ich habe keine Lust mehr, was zu sagen.

Officer Oh schnalzt mit der Zunge.

»Kein Pick-up weit und breit, außer dem schwarzen da hinten«, sagt der Polizeimann.

»Wir können ja trotzdem mal anhalten.«

Das Auto bleibt stehen. Es tut mir leid.

»Glaubst du, da steckt vielleicht irgend so eine Sekte dahinter?«, fragt er. »Die langen Haare, keine Nachnamen und dann der Zustand, in dem der Zahn ist …«

Officer Oh verzieht den Mund. »Jack, gibt es in eurem Raum eigentlich Tageslicht?«

»Es ist doch Abend«, sagte ich. Hat sie das nicht gemerkt?

»Ich meine, am Tag. Wo kommt das Licht rein?«

»Oberlicht.«

»Es gibt also ein Oberlicht. Hervorragend.«

»Ich höre«, sagt der Polizeimann zu seinem Telefon.

Officer Oh guckt wieder auf ihren glänzenden Bildschirm. »Auf der Carlingford zeigt der Sat ein paar Häuser mit Oberlichtern im Dachgeschoss …«

»Raum ist nicht in einem Haus«, sage ich noch mal.

»Ich kann dir nicht richtig folgen, Jack. Wo ist er denn dann?«

»In nichts. Raum ist innen.«

Da drin ist Ma und auch Old Nick, er will, dass jemand tot ist, und das bin nicht ich.

»Und was ist draußen?«

»Das Draußen.«

»Erzähl mir noch ein bisschen mehr von dem, was draußen ist.«

»Eins muss man dir lassen«, sagt der Polizeimann. »Du gibst nicht so schnell auf.«

Bin ich etwa das Du?

»Weiter, Jack«, sagt Officer Oh, »erzähl mir, was draußen direkt vor diesem Raum ist.«

»Das Draußen«, schreie ich. Ich muss es doch ganz schnell erklären, wegen Ma, warte doch, Ma, warte auf mich! »Da gibt es so Sachen, die sind in echt, Eiscreme und Bäume und Geschäfte und Flugzeuge und Farmen und die Hängematte.«

Officer Oh nickt.

Ich muss mich doller anstrengen, aber ich weiß nicht, wie. »Aber da ist abgeschlossen, und wir haben den Code nicht.«

»Ihr wolltet die Tür aufschließen und hinauskommen?«

»So wie Alice.«

»Ist Alice auch eine Freundin von dir?«

Ich nicke. »Sie ist in dem Buch.«

»Menschenskinder, Alice im Wunderland!«, sagt der Polizeimann.

Das wusste ich schon. Aber wie hat er denn unser Buch gelesen, er war doch überhaupt noch nie in Raum. Ich sage ihm: »Kennst du Stelle, wo sie mit ihren Tränen einen Teich weint?«

»Wie bitte?« Er sieht mich rückwärts durch den kleinen Spiegel an.

»Ihre Tränen machen einen Teich, weißt du nicht mehr?«

»Deine Ma hat geweint?«, fragt Officer Oh.

Die von Draußen kapieren wirklich überhaupt nichts, ich frage mich, ob sie zu viel Fernseher gucken. »Nein, Alice! Sie will doch die ganze Zeit in den Garten, genau wie wir.«

»Ihr wolltet auch in den Garten?«

»Er ist hinterm Haus, aber wir wissen den geheimen Code nicht.«

»Der Raum grenzt direkt an den Garten?«, fragt sie.

Ich schüttele den Kopf.

Officer Oh reibt sich das Gesicht. »Hilf mir doch mal, Jack. Ist dieser Raum neben einem Garten?«

»Nicht neben.«

»Na schön.«

Ma Ma Ma. »Er ist drum rum.«

»Der Raum steht im Garten?«

»Ja.«

Ich habe Officer Oh eine Freude gemacht, aber ich weiß nicht, warum. »Na also, na also.« Sie guckt auf ihren Bildschirm und drückt auf Knöpfe. »Frei stehende Gebäude auf der Carlingford und der Washington …«

»Oberlicht«, sagt der Polizeimann.

»Richtig, mit einem Oberlicht …«

»Ist das Fernseher?«, frage ich.

»Hmm? Nein, es ist ein Foto von den ganzen Straßen hier. Die Kamera ist ganz weit oben im All.«

»Im Weltall?«

»Ja.«

»Cool.«

Die Stimme von Officer Oh ist ganz aufgeregt. »Drei vier neun Washington, Schuppen hinterm Haus, erleuchtetes Oberlicht … das muss es einfach sein.«

»Drei vier neun Washington«, sagt der Mann zu seinem Telefon. »Ich höre.« Er guckt rückwärts in den Spiegel. »Name des Besitzers stimmt nicht überein, aber ein männlicher Weißer, Geburtsdatum zwölfter Zehnter einundsechzig.«

»Fahrzeug?«

»Ich höre«, sagt er wieder. Er wartet. »Silverado Baujahr zweitausendeins, braun, K neun drei P sieben vier zwei.«

»Bingo«, sagt Officer Oh.

»Wir haben’s«, sagt er, »erbitte Verstärkung nach drei vier neun Washington.«

Das Auto dreht genau andersrum. Dann fahren wir schneller, ich werde durcheinandergewirbelt.

Dann wird angehalten. Officer Oh guckt aus dem Fenster auf ein Haus. »Kein Licht«, sagt sie.

»Er ist in Raum«, sage ich, »er macht sie tot«, aber wegen dem Weinen schmelzen meine Worte einfach, deshalb kann ich sie gar nicht hören.

Hinter uns ist noch ein Auto, genau wie unseres. Und noch mehr Polizeipersonen steigen aus. »Bleib ganz brav hier sitzen, Jack.« Officer Oh macht die Tür auf. »Wir werden deine Ma schon finden.«

Ich will hoch, aber ihre Hand macht, dass ich im Auto bleibe. »Ich will mit«, versuche ich zu sagen, aber es kommt nichts raus, bloß Tränen.

Sie hat eine große Lampe, die macht sie jetzt an. »Dieser Officer hier bleibt die ganze Zeit bei dir …«

Ein Gesicht, das ich noch nie gesehen habe, kommt durchs Fenster.

»Nein!«

»Rücken Sie ihm lieber nicht zu dicht auf die Pelle«, sagt Officer Oh dem neuen Polizisten.

Etwas knarrt, und dann springt das Auto hinten auf … Kofferraum, so heißt das.

Ich tue meine Hände über den Kopf, damit nichts reinkommen kann, keine Gesichter, keine Lichter, keine Töne und kein Geruch. Ma Ma, bitte sei nicht tot, bitte sei nicht tot …

Ich zähle bis einhundert, so wie Ma es mir gesagt hat, aber danach bin ich trotzdem noch nicht ruhig. Ich zähle bis fünfhundert, aber die Zahlen klappen nicht. Mein Rücken zuckt und zittert, das muss von dem Kalten kommen, wo ist denn die Decke hingefallen?

Dann ein schrecklicher Krach. Der Polizist auf dem Vordersitz putzt sich die Nase. Dann grinst er ein kleines bisschen und stochert mit dem Papiertuch in den Löchern. Ich gucke weg.

Aus dem Fenster starre ich das Haus ohne Licht an. Ein Stück davon ist jetzt auf, ich glaube, eben war es das noch nicht, glaube ich. Das ist die Garage, so ein riesiges dunkles Viereck. Ich starre Hunderte von Stunden, bis meine Augen zu pieksen anfangen. Jemand kommt aus dem Dunkel, aber das ist schon wieder ein neuer Polizist, den ich noch nie gesehen habe. Dann kommt noch eine Person, das ist Officer Oh und neben ihr …

Ich haue und schlage gegen die Autotür, aber ich weiß nicht, wie, ich muss das Glas kaputt schlagen, aber ich schaffe es nicht. Ma Ma Ma Ma Ma Ma Ma Ma …

Ma macht, dass die Tür aufgeht, und ich falle halb raus. Dann hat sie mich, und sie hebt mich ganz weit hoch. Sie ist es in echt, sie ist hundert Prozent am Leben.

»Wir haben es geschafft«, sagt sie, als wir beide zusammen hinten im Auto sitzen. »Obwohl … eigentlich hast du es ja ganz allein geschafft.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich habe immer wieder den Plan vermasselt.«

»Du hast mich gerettet«, sagt Ma und küsst mich aufs Auge und hält mich ganz fest.

»War er da?«

»Nein, ich war ganz allein und habe gewartet. Das war wirklich die längste Stunde meines Lebens. Und plötzlich wurde ohne Vorwarnung die Tür aufgesprengt, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen.«

»Der Schneidbrenner!«

»Nein, sie haben es mit einer Schrotflinte gemacht.«

»Ich will die Explosion sehen.«

»Die hat nur eine Sekunde gedauert. Du kannst dir ein andermal eine angucken … versprochen.« Ma grinst. »Jetzt können wir machen, was wir wollen.«

»Warum?«

»Weil wir frei sind.«

Mir ist schwindelig, meine Augen gehen von ganz allein zu.

Ma spricht in mein Ohr, sie sagt, wir müssen noch mit ein paar anderen Polizisten reden. Ich kuschele mich an sie und sage: »Ich will in Bett.«

»Es dauert nicht mehr lange, und dann kriegen wir ein Plätzchen zum Schlafen.«

»Nein, in Bett.«

»Du meinst in Raum?« Ma wird irgendwie zurückgezerrt, sie starrt mir in die Augen.

»Ja. Die Welt habe ich gesehen, und jetzt bin ich müde.«

»Ach, Jack«, sagt sie. »Dahin gehen wir nie wieder zurück.«

Das Auto fährt los, und ich muss so viel weinen, dass ich überhaupt nicht mehr aufhören kann.





DANACH

Officer Oh sitzt vorne mit drin, und von hinten sieht sie anders aus. Sie dreht sich um und lächelt mich an und sagt: »Hier ist das Revier.«

»Kannst du allein rausklettern?«, fragt Ma. »Sonst trage ich dich.« Sie macht das Auto auf, und kalte Luft springt rein. Ich mache mich ganz klein. Sie zerrt an mir, bis ich mich hinstelle und mir dabei das Ohr am Auto stoße. Dann läuft sie los und trägt mich dabei auf der Hüfte, ich klammere mich an ihren Schultern fest. Es ist dunkel, aber dann sind da plötzlich Lichter, wie Feuerwerk.

»Die Geier«, sagt Officer Oh.

Wo?

»Keine Bilder«, schreit der Polizeimann.

Was für Bilder? Ich sehe keine Geier. Ich sehe nur Personengesichter mit blitzenden Geräten und dicken schwarzen Stöcken. Sie schreien, aber ich kann nichts verstehen. Officer Oh versucht, mir die Decke über den Kopf zu machen, ich ziehe sie wieder runter. Ma rennt. Ich zittere überall, wir sind in einem Gebäude, und es ist tausend Prozent hell, deshalb halte ich mir die Hände vor die Augen.

Der Boden ist ganz glänzend und hart, nicht wie unser Boden, die Wände sind blau, und es gibt viel mehr davon, und es ist zu laut. Überall sind Personen, alles keine Freunde von mir. Da ist ein Ding wie ein Raumschiff, ganz hell und mit lauter Sachen in kleinen Vierecken, die aussehen wie Chipstüten und Schokoriegel. Ich gehe gucken und will sie anfassen, aber sie sind in dem Glas eingesperrt. Ma zieht an meiner Hand.

»Hier entlang«, sagt Officer Oh. »Nein, gleich hier rein …«

Wir sind in einem Raum, wo es leiser ist. Ein riesiger, ganz breiter Mann sagt: »Ich entschuldige mich ausdrücklich für den Aufmarsch der Presse. Dabei hatten wir schon unsere Telefonanlage aufgerüstet, aber diese Kerle haben neuerdings solche Tracking-Scanner …« Er streckt die Hand aus. Ma stellt mich auf die Beine und macht dann seine Hand rauf und runter wie Personen im Fernseher.

»Und du, junger Mann, wie ich höre, bist du ja ein ganz besonders tapferes Kerlchen gewesen.«

Er guckt mich an, dabei kennt er mich gar nicht, und warum sagt er, dass ich ein Mann bin? Ma setzt sich in einen Stuhl, es ist aber keiner von unseren, dann lässt sie mich auf ihren Schoß. Ich versuche zu schaukeln, aber Stuhlschaukel gibt es nicht. Nichts stimmt.

»Also«, sagt der breite Mann, »ich weiß, dass es schon spät ist und Ihr Sohn ein paar Schürfwunden hat, die versorgt werden müssen. In der Cumberland-Klinik stehen für Sie auch schon alle Gewehr bei Fuß, es ist eine sehr nette Einrichtung.«

»Was für eine Einrichtung?«

»Ähm, eine psychiatrische.«

»Wir sind doch nicht …«

Er platzt dazwischen. »Dort wird man in der Lage sein, sich angemessen um Sie zu kümmern, mit aller gebotenen Diskretion. Vordringlich ist jedoch, dass ich mit Ihnen noch heute Abend Ihre Aussage etwas eingehender durchgehe, sofern Sie dazu in der Lage sind.«

Ma nickt.

»Bestimmte Aspekte meiner Fragen könnten möglicherweise auch peinlich sein. Würden Sie es daher vorziehen, wenn Officer Oh bei der Befragung zugegen ist?«

»Ist mir gleich … nein«, sagt Ma, sie gähnt.

»Ihr Sohn hat heute Abend eine Menge durchgemacht. Vielleicht sollte er lieber draußen warten, während wir, ähm …«

Aber wir sind doch schon im Draußen.

»Das geht schon in Ordnung«, sagt Ma und legt die blaue Decke um mich. »Machen Sie nicht die Tür zu«, ruft sie noch schnell, als Officer Oh rausgeht.

»Natürlich«, sagt Officer Oh, sie lässt die Tür halb offen.

Ma spricht mit dem riesigen Mann, er sagt einen von ihren anderen Namen zu ihr. Ich gucke mir die Wände an, sie haben sich in was Sahniges verwandelt, so als hätten sie überhaupt keine Farbe. Es gibt Rahmen mit lauter Wörtern drin, eins ist mit einem Adler, der sagt: Der Himmel ist nicht die Grenze. Jemand geht an der Tür vorbei, ich zucke zusammen. Ich wünschte, die Tür wäre zu. Ich will unbedingt was kriegen.

Ma zieht ihr T-Shirt wieder bis zu ihrer Hose runter. »Jetzt geht es gerade nicht«, flüstert sie. »Ich spreche doch mit dem Captain.«

»Und wann kam es zu dem Vorfall … können Sie sich noch an ein ungefähres Datum erinnern?«, fragt er.

Sie schüttelt den Kopf. »Irgendwann Ende Januar. Ich war erst seit ein paar Wochen wieder an der Uni …«

Ich habe immer noch Durst. Ich hebe wieder ihr T-Shirt hoch. Diesmal pustet sie nur die Luft aus den Backen und lässt mich, sie versteckt mich an ihrer Brust.

»Wäre es Ihnen, ähm … lieber … ?«, fragt der Captain.

»Nein, machen wir einfach weiter«, sagt Ma. Es ist die Rechte, und es ist nicht viel drin, aber ich will nicht extra runterklettern und auf die andere Seite, sonst sagt sie vielleicht, das reicht, weil es nämlich noch nicht reicht.

Ma redet ewig über Raum und Old Nick und all das, ich bin zu müde zum Zuhören. Eine Sie-Person kommt rein und erzählt dem Captain etwas.

Ma sagt: »Gibt es ein Problem?«

»Nein, nein«, sagt der Captain.

»Warum starrt sie uns dann so an?« Ihre Arme verstecken mich noch mehr. »Ich stille meinen Sohn, haben Sie etwas dagegen einzuwenden, Lady?«

Vielleicht wissen sie im Draußen ja gar nichts davon, dass man etwas kriegt, es ist ein Geheimnis.

Ma und der Captain reden noch unheimlich lange weiter. Ich schlafe fast schon, aber es ist zu hell, und ich kann es mir nicht gemütlich machen.

»Was ist los?«, fragt sie.

»Jetzt müssen wir aber wirklich wieder in Raum«, sage ich ihr. »Ich muss auf Klo.«

»Keine Sorge, hier auf dem Revier gibt es welche.«

Der Captain zeigt uns den Weg, vorbei an dem sagenhaften Gerät, durch das Glas kann ich beinahe die Schokoriegel berühren. Ich wünschte, ich wüsste den Code, mit dem man sie rauslässt.

Es gibt eins zwei drei vier Klos, jeder ist in einem kleinen Raum in noch einem größeren Raum, mit vier Becken und überall Spiegeln.

Es stimmt, im Draußen haben die Klos Deckel über den Schüsseln, ich kann nicht reingucken. Als Ma Pipi macht und wieder aufsteht, gibt es ein fürchterliches Tosen, ich weine. »Ist ja gut«, sagt sie und wischt mir mit der flachen Hand das Gesicht ab. »Das ist nur eine automatische Spülung. Schau mal, mit diesem kleinen Auge sieht das Klo, wann wir fertig sind, und zieht ganz von selbst ab. Ist das nicht schlau?«

Ich will nicht, dass ein schlaues Klo in unsere Popos guckt.

Ma sagt, ich soll aus meiner Unterhose steigen. »Ich habe aus Versehen ein bisschen Kacka gemacht, als Old Nick mich getragen hat«, sage ich ihr.

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagt sie, und dann macht sie was total Verrücktes: Sie wirft meine Unterhose in einen Müll.

»Aber …«

»Die brauchst du nicht mehr. Wir besorgen dir neue.«

»Als Sonntagsgutti?«

»Nein, an jedem Tag, an dem wir Lust dazu haben.«

Das ist komisch. Sonntags wäre es mir lieber.

Der Wasserhahn ist wie die echten in Raum, aber er ist falsch geformt. Ma macht ihn auf, macht Papier nass und wischt mir damit die Beine und den Popo ab. Sie hält ihre Hände unter eine Maschine, und dann kommt da heiße Luft raus wie bei unseren Heizungsschlitzen, nur heißer und schon wieder mit Krach. »Das ist ein Händetrockner, siehst du? Willst du es mal probieren?« Sie lächelt mich an, aber ich bin zu müde zum Lächeln. »Na schön, dann reib dir einfach die Hände an deinem T-Shirt ab.« Dann legt sie die blaue Decke um mich, und wir gehen wieder raus. Ich will in das Gerät gucken, wo die ganzen Dosen und Tüten und Schokoriegel im Gefängnis sitzen. Aber Ma zieht mich weiter bis zu dem Raum, wo der Captain ist und noch mehr reden will.

Nach Hunderten von Stunden stellt Ma mich hin, ich bin ganz labberig. Dass ich nicht in Raum schlafe, macht mich richtig krank.

Wir fahren in so was wie ein Krankenhaus. Aber war das nicht unser alter Plan A: Krank, Laster, Krankenhaus? Ma hat jetzt eine blaue Decke um, ich glaube, es ist die, die ich vorher hatte, aber ich habe auch noch eine um, also muss ihre eine andere sein. Der Streifenwagen sieht aus, als wäre er derselbe, aber genau weiß ich es nicht, im Draußen ist alles schwer zu kapieren. Auf der Straße stolpere ich und falle beinahe hin, aber Ma fängt mich auf.

Wir fahren. Jedes Mal, wenn ich ein Auto kommen sehe, kneife ich meine Augen zu.

»Weißt du, die sind auf der anderen Seite«, sagt Ma.

»Was für eine andere Seite?«

»Siehst du die Linie da in der Mitte. Sie müssen immer auf der anderen Seite bleiben und wir auf dieser hier, damit wir nicht zusammenprallen.«

Plötzlich sind wir angehalten. Das Auto geht auf, und eine Person ohne Gesicht guckt rein. Ich schreie.

»Jack, Jack«, ruft Ma.

»Ein Zombie!«

Ich drücke mein Gesicht gegen ihr Bäuchlein.

»Ich bin Dr. Clay, willkommen im Cumberland«, sagt das Nicht-Gesicht mit einer unheimlich tiefen, kollerigen Stimme. »Die Maske ist nur zu eurer Sicherheit. Willst du mal druntergucken?« Er zieht das weiße Ding hoch, und da ist eine Mann-Person, die lächelt, ein total braunes Gesicht mit einem klitzekleinen schwarzen Dreieck auf dem Kinn. Er lässt die Maske wieder zurückschnappen. Seine Wörter kommen durch das Weiße. »Hier ist für jeden von euch auch eine.«

Ma nimmt die Masken. »Muss das unbedingt sein?«

»Denken Sie an all das, was so durch die Gegend schwirrt und mit dem Ihr Sohn vermutlich noch nie in Berührung gekommen ist.«

»Na gut.« Sie macht eine Maske auf sich drauf und eine auf mich, mit Schleifen hinter den Ohren. Die drückt, das mag ich nicht. »Ich sehe überhaupt nichts rumschwirren«, flüstere ich zu Ma.

»Bazillen«, sagt sie.

Ich dachte immer, die sind nur in Raum, ich wusste gar nicht, dass die Welt auch voll davon ist.

Wir gehen in ein großes, angezündetes Gebäude, ich meine schon, das ist das Revier, ist es aber nicht. Da ist eine, die heißt Aufnahme und tippt auf einem … ich weiß, das ist ein Computer, genauso wie im Fernseher. Alle sehen aus wie die Personen auf dem Doktorplaneten, ich darf nicht vergessen, dass die hier in echt sind.

Dann sehe ich was, das Coolste überhaupt, so ein riesiges Glas mit Ecken, aber statt Dosen und Schokoriegeln sind da lebendige Fische drin, die schwimmen und spielen Verstecken mit Steinen. Ich zerre, aber Ma will nicht mitkommen, sie redet immer noch mit der Aufnahme, die hat auch einen Namen auf ihrem Etikett, ihrer ist Pilar.

»Hör mal, Jack«, sagt Dr. Clay, dabei knickt er die Beine ein wie ein riesiger Frosch, warum macht er das? Sein Kopf ist beinahe neben meinem, seine Haare sind nur Fusseln und höchstens einen halben Zentimeter lang. Er hat seine Maske nicht mehr an, nur noch ich und Ma. »Wir müssen uns deine Ma in dem Raum da mal kurz anschauen, okay?«

Er sagt das zu mir. Aber er hat sie doch schon angeguckt.

Ma schüttelt den Kopf. »Jack bleibt bei mir.«

»Dr. Kendrick … das ist die diensthabende Allgemeinmedizinerin … ich fürchte, Dr. Kendrick muss unverzüglich die üblichen Untersuchungen zur Beweissicherung durchführen. Blut, Urin, Haare, Partikel unter den Fingernägeln, oraler und vaginaler Abstrich und …«

Ma starrt ihn an. Sie pustet die Luft aus den Backen. »Ich bin gleich da drüben«, sagt sie und zeigt auf eine Tür. »Und wenn du mich rufst, kann ich dich hören, okay?«

»Nicht okay.«

»Bitte. Du bist doch so ein mutiger JackerJack gewesen, und jetzt dauert es nicht mehr lange. Okay?«

Ich klammere mich an ihr fest.

»Hmm, vielleicht könnte er ja mit reinkommen, und wir stellen eine Trennwand auf«, sagt Dr. Kendrick. Ihre Haare haben eine Farbe wie Sahne und sind alle auf ihrem Kopf hochgedreht.

»Ein Fernseher?«, flüstere ich zu Ma. »Da drüben ist eins.« Es ist total viel größer als das in Raum, da tanzen welche, und die Farben sind viel blitziger.

»Warum eigentlich nicht«, sagt Ma. »Könnte er vielleicht hier in der Aufnahme sitzen bleiben? Das würde ihn vielleicht ablenken.«

Die Pilar-Frau ist hinter der Theke und spricht am Telefon, sie lächelt mich an, aber ich tue so, als sehe ich es nicht. Es gibt jede Menge Stühle, Ma sucht einen für mich aus. Ich gucke ihr nach, wie sie mit den Ärzten fortgeht. Ich muss mich an dem Stuhl festhalten, damit ich ihr nicht hinterherrenne.

Es gibt einen neuen Planeten mit einem Footballspiel, die Personen haben riesige Schultern und Helme. Ich frage mich, ob das wirklich in echt passiert oder ob es nur Bilder sind. Ich gucke nach dem Fischglas, aber es ist zu weit weg, ich kann die Fische nicht sehen, aber da sein müssen sie noch, sie können ja nicht gehen. Die Tür, wo Ma reingegangen ist, steht ein bisschen auf, ich glaube, ich höre ihre Stimme. Warum wollen sie Blut von ihr haben und Pipi und Fingernägel? Sie ist immer noch da, trotzdem ich sie nicht sehe, genau wie sie die ganze Zeit in Raum war, als ich unsere spannende Flucht gemacht habe. Old Nick ist in seinem Laster weggedüst, jetzt ist er nicht in Raum, und im Draußen ist er auch nicht, ich sehe ihn nämlich nicht im Fernseher. Mein Kopf ist schon ganz abgenutzt, so viel muss ich überlegen.

Ich hasse es, wie die Maske drückt. Ich setze sie mir auf den Kopf. Sie hat einen steifen Teil, da ist ein Draht drin, glaube ich, der hält mir die Haare aus den Augen. Jetzt gibt es Panzer in einer Stadt, die ganz kaputt gemacht ist, eine alte Person weint. Ma ist schon lange in dem anderen Raum, tun sie ihr etwa weh? Die Pilar-Frau redet immer noch am Telefon. Noch ein anderer Planet, diesmal reden Männer in einem gigantossalen Raum, alle haben Jacketts an, ich glaube, die zanken sich irgendwie. Sie reden stundenlang.

Dann kommt wieder was anderes, da ist Ma, und sie trägt jemanden, das bin ja ich.

Ich springe auf und gehe ganz nah an den Bildschirm. Da ist ein Ich genauso wie in Spiegel, bloß bin ich klitzeklein. Unten drunter rutschen Wörter vorbei: LOKALNACHRICHTEN TOP-AKTUELL. Eine Sie-Person redet, aber ich kann sie nicht sehen: »… alleinstehender Sonderling seinen Gartenschuppen in ein abgeschottetes Verlies verwandelt, und das im 21. Jahrhundert. Die Opfer des Despoten sind gespenstisch blass und scheinen sich nach dem endlosen Albtraum ihrer Einkerkerung in einem besorgniserregenden Schockzustand zu befinden.« Jetzt kommt, wie Officer Oh versucht, mir eine Decke über den Kopf zu legen, aber ich lasse sie nicht. Die unsichtbare Stimme sagt: »Hier Bilder des unterernährten Jungen, der nicht aus eigener Kraft gehen kann und dennoch zwanghaft nach einer seiner Befreierinnen schlägt.«

»Ma«, rufe ich.

Sie kommt nicht. Ich höre sie rufen: »Nur noch ein paar Minuten.«

»Da sind wir! Wir sind im Fernseher!«

Aber alles ist weg. Pilar steht auf, sie hält eine Fernbedienung ausgestreckt und starrt mich an. Dr. Clay kommt raus und sagt wütende Sachen zu Pilar.

»Wieder anmachen«, sage ich. »Das sind wir, ich will uns sehen.«

»Es tut mir ganz fürchterlich … ganz fürchterlich leid«, sagt Pilar.

»Jack, willst du jetzt mit zu deiner Ma kommen?« Dr. Clay hält mir seine Hand hin, sie steckt in einem komischen Plastikdings. Ich fasse es nicht an. »Und nicht vergessen, immer die Maske an.« Er zieht sie mir über die Nase. Ich laufe hinter ihm her, aber nicht zu dicht.

Ma sitzt auf einem kleinen, hohen Bett in einem Kleid aus Papier, hinten ist es auseinander. Die Personen im Draußen haben wirklich komische Sachen an. »Meine eigenen Sachen mussten sie mitnehmen.« Es ist ihre Stimme, aber ich kann nicht sehen, wo sie aus der Maske rauskommt.

Ich klettere auf ihren Schoß, der ist ganz zerknittert. »Ich habe uns im Fernseher gesehen.«

»Habe ich schon gehört. Wie haben wir ausgesehen?«

»Klein.«

Ich ziehe an ihrem Kleid, aber da ist kein Reinkommen. »Jetzt geht es gerade nicht.« Anstatt küsst sie mich neben das Auge, aber es ist nicht so ein Kuss, wie ich ihn will. »Gerade hast du aber gesagt …«

»Ich habe gar nichts gesagt.«

»Was Ihr Handgelenk betrifft«, sagt Dr. Kendrick, »möglicherweise muss es über kurz oder lang noch einmal gebrochen werden.«

»Nein!«

»Psst, ist schon in Ordnung«, sagt Ma mir.

»Wenn es so weit ist, dann wird sie schlafen«, sagt Dr. Kendrick und sieht mich an. »Der Chirurg macht einen Metallstift hinein, damit das Gelenk besser funktioniert.«

»So wie bei einem Cyborg?«

»Wie bitte?«

»Ja, ungefähr wie bei einem Cyborg«, sagt Ma und grinst mich an.

»Aber vordringlich scheint mir zunächst einmal die zahnmedizinische Behandlung zu sein«, sagt Dr. Kendrick. »Deshalb werde ich Ihnen sofort Antibiotika verschreiben, begleitet von besonders starken Mitteln zur Analgesie.«

Ich gähne ganz lange.

»Ich weiß«, sagt Ma. »Du müsstest schon längst im Bett sein.«

Dr. Kendrick sagt: »Wenn ich dann jetzt noch kurz Jack untersuchen dürfte?«

»Nein, das sagte ich doch schon.«

»Was will sie mir suchen? Ist es ein Spielzeug?«, flüstere ich zu Ma.

»Das ist überflüssig«, sagt Ma zu Dr. Kendrick.

»Wir folgen nur dem Prozedere, das für solche Fälle wie diesen vorgeschrieben ist«, sagt Dr. Clay.

»Oh, dann haben Sie wohl oft solche Fälle, wie?« Ma ist böse, das kann ich hören.

Er schüttelt den Kopf. »Andere Traumata ja, aber um ehrlich zu Ihnen zu sein, noch keinen Fall, der mit Ihrem vergleichbar wäre. Deshalb müssen wir auch alles richtig machen und Ihnen beiden von Anfang an die bestmögliche Behandlung angedeihen lassen.«

»Jack braucht keine Behandlung, er braucht nur endlich ein bisschen Schlaf.« Ma redet durch ihre Zähne. »Ich habe ihn nie aus den Augen gelassen, und nichts ist ihm je passiert, schon gar nicht das, was Sie andeuten.«

Die Ärzte sehen sich an. Dr. Kendrick sagt: »Ich habe nicht gemeint …«

»Die ganzen Jahre über habe ich ihn beschützt.«

»Hört sich ganz so an«, sagt Dr. Clay.

»Jawohl.« Plötzlich laufen auf Mas Gesicht lauter Tränen runter, eine am Rand von ihrer Maske ist ganz dunkel. Warum bringen die sie zum Weinen?

»Und was er heute Abend … er schläft doch schon im Stehen ein …«

Ich schlafe gar nicht.

»Ich verstehe vollkommen«, sagt Dr. Clay. »Nur Größe und Gewicht, und dann kümmert sie sich noch um die Verletzungen. Einverstanden?«

Nach einer Sekunde nickt Ma.

Ich will nicht, dass Dr. Kendrick mich anfasst, aber ich habe gar nichts dagegen, mich auf die Maschine zu stellen, die mein Schwer zeigt. Wenn ich mich aus Versehen an die Wand lehne, macht Ma mich wieder gerade. Dann stelle ich mich an Zahlen, genau wie wir es neben Türe gemacht haben, aber hier sind es viel mehr, und die Linien sind nicht so krumm. »Das machst du prima«, sagt Dr. Clay.

Dr. Kendrick schreibt eine Menge Sachen auf. Sie hält Maschinen auf meine Augen und in meine Nase und in meinen Mund, und dann sagt sie: »Scheint ja alles tipp-topp zu sein.«

»Wir putzen sie jedes Mal nach dem Essen.«

»Wie bitte?«

»Schön langsam und lauter«, sagt Ma.

»Wir putzen sie nach dem Essen.«

Dr. Kendrick sagt: »Ich wünschte mir, alle meine Patienten würden so auf sich achten.«

Ma hilft mir, mein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Dabei fällt die Maske runter, und ich ziehe sie wieder an. Dr. Kendrick will, dass ich meine ganzen Teile bewege. Sie sagt, meine Hüften sind einwandfrei, aber eine Messung der Knochendichte könnte nicht schaden, das ist so was wie Röntgen. Auf meinen Handflächen und meinen Beinen gibt es Kratzer, die sind von wie ich aus dem Laster gesprungen bin. Das rechte Knie hat lauter getrocknetes Blut. Ich zucke, als Dr. Kendrick es berührt.

»Tut mir leid«, sagt sie.

Ich drücke mich gegen Mas Bäuchlein, das Papier ist zerknittert. »Bestimmt springen Bazillen in das Loch, und dann bin ich tot.«

»Keine Sorge«, sagt Dr. Kendrick, »ich habe hier was ganz Spezielles, damit wischen wir sie alle weg.«

Es brennt. Sie macht es auf meinen gebissenen Finger an der linken Hand, wo der Hund mein Blut getrunken hat. Dann tut sie was auf mein Knie, es ist wie Klebeband, aber mit Gesichtern drauf, es sind Dora und Boots, sie winken mir zu. »Oh, oh …«

»Tut das weh?«

»Sie haben ihn gerade oberglücklich gemacht«, sagt Ma zu Dr. Kendrick.

»Bist du etwa ein Fan von Dora?«, fragt Dr. Clay. »Meine Nichte und mein Neffe auch.« Seine Zähne grinsen wie Schnee.

Dr. Kendrick tut noch mal Dora und Boots auf meinen Finger, es ist eng.

Schlimmerzahn ist immer noch sicher an der Seite von meiner Socke verstaut. Als ich mein T-Shirt und die Decke wieder anziehe, reden die Ärzte ganz leise zusammen, dann sagt Dr. Clay: »Weißt du, was eine Nadel ist, Jack?«

Ma stöhnt. »Also wirklich.«

»Dann kann das Labor gleich morgen früh ein komplettes Blutbild erstellen. Hinweise auf Infektionen, Ernährungsdefizite … alles verwertbares Beweismaterial, und was noch wichtiger ist, es hilft uns herauszufinden, was Jack unmittelbar braucht.«

Ma sieht mich an. »Kannst du noch eine Minute der Superheld sein, damit Dr. Kendrick dich in den Arm pieksen kann?«

»Nein.« Ich verstecke meine zwei Arme unter der Decke.

»Bitte.«

Trotzdem nein, meinen ganzen Mut habe ich jetzt verbraucht.

»Ich brauche nur so viel«, sagt Dr. Kendrick und hält ein Rohr hoch.

Das ist viel mehr als bei einem Hund oder einer Mücke, dann habe ich ja kaum noch was übrig.

»Und danach kriegst du … was würde er gern haben?«, fragt Dr. Kendrick Ma.

»Ich möchte in Bett.«

»Sie meint was Süßes«, sagt Ma. »Einen Kuchen oder so was.«

»Hmm, ich glaube nicht, dass wir gerade Kuchen dahaben, die Küche hat schon zu«, sagt Dr. Clay. »Aber wie wäre es mit einem Lutscher?«

Pilar bringt eine Schüssel rein, die ist voller Lutscher, das sind nämlich Lollis.

Ma sagt: »Na los, such dir einen aus.«

Aber es gibt zu viele, in Gelb und Grün und Rot und Blau und Orange. Sie sind ganz platt wie Kreise, nicht Bälle wie der von Old Nick, den Ma in Müll geworfen hat und den ich trotzdem gelutscht habe. Ma sucht für mich aus, es ist ein roter, aber ich schüttele den Kopf, weil der von ihm auch rot war. Ich glaube, dass ich wieder weinen muss. Ma sucht einen grünen aus. Pilar macht das Plastik ab. Dr. Clay sticht die Nadel in meinen Ellbogen, und ich schreie und versuche mich loszustrampeln, aber Ma hält mich fest, sie steckt mir den Lolli in den Mund, und ich lutsche, aber es hört überhaupt nicht auf wehzutun. »Gleich vorbei«, sagt sie.

»Ich will nicht.«

»Guck, die Nadel ist schon raus.«

»Gut gemacht«, sagt Dr. Clay.

»Nein, den Lutscher.«

»Du hast doch deinen Lutscher«, sagt Ma.

»Ich mag ihn nicht, ich mag das Grün nicht.«

»Kein Problem, spuck ihn einfach aus.«

Pilar nimmt ihn. »Versuch doch mal einen orangefarbenen. Ich mag die orangefarbenen am liebsten«, sagt sie.

Ich wusste nicht, dass ich zwei haben darf. Pilar macht den orangenen für mich auf, und der ist gut.





Erst ist es warm, dann wird es kalt. Das Warme ist schön, aber das Kalte ist nass und kalt. Ma und ich sind in Bett, aber es ist geschrumpft, und es wird kühl, das Laken unter uns und das Laken auf uns auch, und der Zudeck hat sein Weiß verloren, er ist ganz blau …

Das hier ist nicht Raum.

Mein Peterchen steht hoch. »Wir sind im Draußen«, flüstere ich ihm zu.

»Ma.«

Sie springt hoch wie bei einem Stromschlag.

»Ich habe Pipi gemacht.«

»Das ist nicht schlimm.«

»Aber es ist alles nass. Mein T-Shirt am Bäuchlein auch.«

»Vergiss es.«

Ich versuche es zu vergessen. Ich gucke an ihrem Kopf vorbei. Der Boden ist wie Teppich, aber fusselig und mit gar keinem Muster und keinen Ecken, irgendwie grau, er geht bis an die Wände, ich wusste gar nicht, dass Wände grün sind. Es gibt ein Bild von einem Monster, aber als ich genau hingucke, ist es in Wahrheit eine Riesenwelle im Meer. Ein Ding wie Oberlicht gibt es nur in der Wand, ich weiß, was das ist, es ist ein Seitenfenster mit Hunderten von Holzstreifen drüber, aber dazwischen kommt Licht durch. »Ich erinnere mich aber immer noch«, sage ich Ma.

»Das ist doch ganz normal.« Sie findet meine Backe und küsst sie.

»Ich kann es nicht vergessen, weil ich immer noch nass bin.«

»Ach, das«, sagt sie in einem anderen Ton. »Ich meinte nicht, du sollst vergessen, dass du ins Bett gemacht hast. Du sollst dir nur keine Gedanken deswegen machen.« Sie steht auf, sie hat immer noch ihr Papierkleid an, es ist hochgeknittert. »Die Schwestern werden die Laken wechseln.«

Ich sehe keine Schwestern.

»Aber meine anderen T-Shirts …« Die sind in Kommode, in der unteren Schublade. Jedenfalls waren sie gestern da, also nehme ich an, jetzt auch noch. Aber ist Raum überhaupt noch da, wenn wir nicht drin sind?

»Uns fällt schon was ein«, sagt Ma. Sie ist am Fenster und hat gemacht, dass die Holzstreifen weiter auseinandergehen, es gibt ganz viel Licht.

»Wie hast du das gemacht?« Ich laufe hin, und der Tisch schlägt gegen mein Bein, pang.

Ma pustet es wieder gut. »Mit der Schnur hier, siehst du? Das ist die Kordel für die Jalousie.«

»Was ist eine … ?«

»Es ist die Schnur, die die Jalousie auf- und zumacht«, sagt sie. »Und das da ist eine Jalousie fürs Fenster, sie verhindert, dass einer durchgucken kann.«

»Warum darf ich nicht durchgucken?«

»Nicht du, jemand.«

»Bin ich ein Jemand?«

»Sie verhindert einfach, dass Leute rein- oder rausgucken«, sagt Ma.

Dabei gucke ich doch raus, es ist wie im Fernseher. Es gibt Gras und Bäume und ein Stück von einem weißen Gebäude und drei Autos, ein blaues, ein braunes und ein silbernes mit Streifen. »Auf dem Gras …«

»Was?«

»Ist das ein Geier?«

»Ich glaube, es ist nur eine Krähe.«

»Da ist noch eine.«

»Das ist eine … wie heißen die noch mal… eine Taube. Jetzt leide ich schon an Alzheimer. Komm, wir schrubben uns sauber.«

»Wir haben noch nicht gefrühstückt«, sage ich ihr.

»Das können wir danach machen.«

Ich schüttele meinen Kopf. »Das Frühstück kommt vor dem Baden.«

»Nicht unbedingt, Jack.«

»Aber …«

»Wir müssen es nicht mehr so machen wie bis jetzt«, sagt Ma. »Wir können tun und lassen, was wir wollen.«

»Ich habe lieber Frühstück vor dem Baden.«

Aber sie ist schon um eine Ecke verschwunden, und ich kann sie nicht mehr sehen, ich renne hinterher. Ich finde sie in einem anderen kleinen Raum, der Boden hat sich in glänzende und kalte weiße Vierecke verwandelt, die Wände sind auch weiß geworden. Es gibt ein Klo, aber das ist nicht unserer, und das Becken ist zweimal so groß wie Becken, außerdem ist da eine hohe unsichtbare Kiste, das muss die Dusche sein, wo die Fernseher-Personen immer drin rumspritzen. »Wo versteckt sich Wanne?«

»Es gibt keine Wanne.« Ma rumst den Vorderteil von der Kiste auf die Seite, jetzt ist sie auf. Sie zieht ihr Papierkleid aus und knüllt es in einen Korb, ich glaube, das ist ein Müll, aber ohne Deckel, der dong macht. »Komm, das verdreckte Ding schmeißen wir auch gleich mal weg.« Beim Ausziehen zerrt mein T-Shirt an meinem Kopf. Sie knüllt es zusammen und wirft es in den Müll.

»Aber …«

»Es ist doch nur ein Lumpen.«

»Ist es nicht, das ist mein T-Shirt.«

»Du kriegst ein anderes, ach was, einen ganzen Haufen kriegst du.« Ich kann sie kaum hören, weil sie die Dusche angeschaltet hat, es donnert wie verrückt. »Komm mit rein.«

»Ich weiß nicht, wie.«

»Es ist wunderbar, glaub mir.« Ma wartet. »Na gut, ich bin gleich wieder da.« Sie geht rein und fängt an, die unsichtbare Tür wieder zuzumachen.

»Nein!«

»Ich muss, sonst spritzt das Wasser raus.«

»Nein.«

»Du kannst mich doch durch das Glas sehen, ich bin gleich hier.« Sie schiebt die Tür zu, rums. Ich kann sie nicht mehr sehen, bloß verschwommen, nicht wie Ma in echt, nur wie einen Geist, der komische Töne macht.

Ich schlage dagegen, ich weiß nicht, wie es aufgeht, dann doch, und ich rumse es auf.

»Jack!«

»Ich will nicht, dass du drin bist und ich draußen.«

»Dann komm eben rein.«

Ich weine.

Ma wischt mir mit der Hand das Gesicht ab, das verteilt die Tränen. »Tut mir leid«, sagt sie, »tut mir wirklich leid. Ich überlade dich wahrscheinlich.« Sie umarmt mich, und ich werde bis ganz unten nass. »Jetzt musst du aber nicht mehr weinen.«

Als ich noch ein Baby war, habe ich nur geweint, wenn ich einen Grund hatte. Aber jetzt geht Ma in die Dusche und macht auf der falschen Seite zu, das ist doch ein Grund.

Diesmal komme ich mit rein. Ich stelle mich ganz dicht an das Glas, aber ich werde trotzdem noch vollgespritzt. Ma hält ihr Gesicht in den donnernden Wasserfall, und ein Stöhnen kommt aus ihr raus.

»Hast du Aua?«, rufe ich.

»Nein, ich versuche nur, die erste Dusche seit sieben Jahren zu genießen.«

Es gibt ein kleines Tütchen, auf dem steht Shampoo. Ma macht es mit den Zähnen auf, sie braucht fast alles, es ist kaum noch was übrig. Dann gießt sie ewig ihre Haare und tut noch mehr Zeug aus einem anderen Tütchen drauf, auf dem steht Conditioner, damit irgendwas noch seidiger wird. Meine will sie auch vollmachen, aber ich will nicht seidig sein, und ich tue auch nicht mein Gesicht in das Gespritze. Sie wäscht mich mit den Händen, es gibt nämlich keinen Lappen. Ein paar Teile von meinen Beinen sind lila geworden, das ist von damals, als ich vor Ewigkeiten von dem braunen Laster gesprungen bin. Die Wunden tun mir überall weh, aber am wehesten auf meinem Knie unter meinem Dora-und-Boots-Pflaster, das rollt sich schon auf. Ma sagt, das bedeutet, dass es heilt. Ich weiß nicht, warum wehtun heißt, dass es besser wird.

Es gibt ein superdickes Handtuch, und zwar für jeden eins, wir müssen keins zusammen nehmen. Ich würde lieber eins zusammen nehmen, aber Ma sagt, das ist doch albern. Sie wickelt noch ein Handtuch um ihren Kopf, das sind jetzt schon drei, und danach ist es ganz riesig und spitz, genau wie eine Eistüte, wir lachen.

Ich habe Durst. »Kann ich jetzt was kriegen?«

»Ähm, nachher.« Sie hält mir ein großes Dings hin, mit Ärmeln und einem Gürtel wie bei einem Kostüm. »Zieh erst mal den Bademantel hier an.«

»Aber der gehört einem Riesen.«

»Fürs Erste wird er schon gehen.« Sie wickelt die Ärmel auf, bis sie kürzer und ganz plusterig sind. Sie riecht jetzt anders, ich glaube, das ist der Conditioner. Sie bindet mir den Bademantel in der Mitte zu. Ich hebe ihn unten hoch, damit ich gehen kann. »Tataa«, sagt sie, »hier kommt König Jack.«

Sie holt noch genauso einen Bademantel aus einem Schrank, aber das unsere Schrank ist das nicht. Er geht ihr genau bis zu den Fußgelenken,

»I will be king, diddle diddle, you can be my queen«, singe ich.

Ma ist ganz rosa und grinst, ihre Haare sind schwarz vom Nassen. Meine sind in einem Pferdeschwanz, aber ganz verheddert, weil es keinen Kamm gibt, wir haben ihn in Raum gelassen. »Warum hast du Kamm nicht mitgebringt?«, frage ich sie.

»Mitgebracht. Du weißt doch, wie eilig ich es hatte, dich wiederzusehen.«

»Ja, aber wir brauchen ihn.«

»Den ollen Plastikkamm, bei dem schon die halben Zähne abgebrochen waren? Den braucht kein Schwein mehr«, sagt sie.

Ich finde meine Socken neben dem Bett. Ich ziehe sie an, aber Ma sagt, stopp, weil sie ganz dreckig sind und lauter Löcher haben, von der Straße, wo ich gelaufen und gelaufen bin. Die wirft sie auch in den Müll, sie verschwendet alles.

»Aber Schlimmerzahn, wir haben ihn vergesst.« Ich renne hin, hole die Socken aus dem Müll und finde ihn im zweiten.

Ma verdreht die Augen.

»Er ist doch mein Freund«, erkläre ich ihr und tue Schlimmerzahn in die Tasche von meinem Bademantel. Ich lecke mir über die Zähne, weil sie sich komisch anfühlen. »Oh nein, ich habe nach dem Lutscher nicht geputzt.« Ich drückte ganz fest mit den Fingern dagegen, damit sie nicht rausfallen, bloß den gebissenen Finger nicht.

Ma schüttelt den Kopf. »Es war gar kein echter.«

»Er hat aber geschmeckt wie in echt.«

»Nein, ich meine, er war ohne Zucker, die werden mit so einer Art unechtem Zucker gemacht, deshalb sind sie nicht schlecht für deine Zähne.«

Das ist schwer zu verstehen. Ich zeige auf das andere Bett. »Wer schläft da?«

»Das ist für dich.«

»Aber ich schlafe doch bei dir.«

»Tja, das haben die Schwestern eben nicht gewusst.« Ma starrt aus dem Fenster. Ihr Schatten ist auf dem weichen grauen Boden ganz lang, so einen langen habe ich noch nie gesehen. »Ist das eine Katze da auf dem Parkplatz?«

»Zeig!« Ich renne hin und gucke, aber meine Augen finden sie nicht.

»Sollen wir mal ein bisschen auf Erkundung gehen?«

»Wo?«

»Draußen.«

»Wir sind doch schon im Draußen.«

»Ja, aber wir könnten doch ein bisschen an die frische Luft gehen und die Katze suchen«, sagt Ma.

»Cool.«

Sie entdeckt zwei Paar Hausschuhe für uns, aber meine passen mir nicht, deshalb falle ich immer hin, und sie sagt, ich kann erst mal barfuß gehen. Als ich wieder aus dem Fenster sehe, düst gerade ein Ding neben die anderen Autos, es ist ein Lieferwagen, auf dem steht: Cumberland-Klinik.

»Was ist, wenn er kommt?«, flüstere ich.

»Wer?«

»Old Nick, wenn er mit seinem Laster kommt.« Ich war ihn fast schon am Vergessen, wie konnte ich den denn bloß vergessen?

»Ach, das könnte er gar nicht, er weiß ja nicht mal, wo wir sind«, sagt Ma.

»Sind wir schon wieder ein Geheimnis?«

»Irgendwie schon, aber diesmal ein gutes.«

Neben dem Bett gibt es ein … ich weiß, was das ist, nämlich ein Telefon. Ich hebe das Obere ab und sage: »Hallo?«, aber niemand redet, da ist nur so ein Summen.

»Oh, Ma, ich hab noch gar nichts gekriegt.«

»Später.«

Heute ist alles verkehrt rum.

Ma packt den Knopf an der Tür und verzieht das Gesicht, bestimmt wegen ihrem schlimmen Handgelenk. Sie macht es mit der anderen Hand. Wir gehen raus in einen großen Raum mit gelben Wänden und lauter Fenstern und Türen auf der anderen Seite. Jede Wand hat eine andere Farbe, das muss wohl vorgeschrieben sein. Unsere Tür ist die, auf dem ganz in Gold Sieben steht. Ma sagt, in die anderen Türen dürfen wir nicht rein, weil sie anderen Personen gehören.

»Was für anderen Personen?«

»Die kennen wir noch nicht.«

Woher weiß sie das dann? »Dürfen wir denn durch die Seitenfenster gucken?«

»Ja klar, die sind für jedermann.«

»Sind das wir, jedermann?«

»Wir und jeder andere«, sagt Ma.

Jeder andere ist nicht da, also dürfen wir allein. An den Fenstern hier gibt es keine Jalousie, die verhindert, dass einer guckt. Es ist ein anderer Planet, er zeigt mehr Autos, zum Beispiel ein grünes und ein weißes und ein rotes, und außerdem gibt es einen Steinplatz, wo was drauf rumläuft, das sind Personen. »Die sind ja ganz winzig, genau wie Feen.«

»Aber nein, das liegt nur daran, dass sie so weit weg sind«, sagt Ma.

»Sind die wirklich in echt?«

»So echt wie du und ich.«

Ich versuche es, und am Ende glaube ich es auch, aber es ist richtig schwer.

Da ist eine Frau, die gar keine echte Frau ist, das weiß ich deshalb, weil sie grau ist wie eine Statue und ganz nackt.

»Komm«, sagt Ma, »ich verhungere gleich.«

»Ich will doch nur …«

Sie zieht an meiner Hand. Dann können wir nicht mehr weitergehen, weil es Stufen nach unten gibt, ganz viele. »Halt dich am Geländer fest.«

»Am was?«

»Das Ding hier, diese Schiene.«

Das mache ich.

»Kletter einfach runter, einen Schritt nach dem anderen.«

Da falle ich ganz bestimmt. Ich setze mich hin.

»Okay, so geht es auch.«

Ich rutsche auf meinem Popo, erst eine Stufe und dann noch eine. Der riesige Bademantel geht auf. Eine große Person rennt die Stufen rauf, als wenn sie fliegt, aber das stimmt gar nicht, es ist ein echter Mensch, ganz in Weiß. Ich drücke mein Gesicht an Mas Bademantel, damit mich keiner sieht. »Oh«, sagt die Sie, »Sie hätten doch einfach klingeln können.«

Wie Glocken?

»Die Klingel ist direkt neben Ihrem Bett.«

»Wir sind auch so klargekommen«, sagt Ma.

»Ich bin Noreen, ich hole Ihnen sofort neue Masken.«

»Ach, Entschuldigung, die haben wir ganz vergessen«, sagt Ma.

»Kein Problem, ich bringe sie Ihnen aufs Zimmer, ja?«

»Nicht nötig, wir kommen runter.«

»Großartig. Jack, ich piepse rasch einen Pfleger an, damit er dich die Treppe herunterträgt.«

Ich verstehe nicht. Ich verstecke wieder mein Gesicht.

»Ist schon in Ordnung«, sagt Ma, »er macht es auf seine Weise.«

Die nächsten sieben rutsche ich auf meinem Popo runter. Unten bindet mir Ma den Bademantel wieder zu, damit wir immer noch der König und die Königin sind so wie in Lavender’s Blue. Noreen gibt mir eine neue Maske, die ich anziehen muss, sie sagt, dass sie eine Schwester ist und von woanders kommt, aus Irland, und dass ihr mein Pferdeschwanz gefällt. Wir gehen in ein großes Teil mit lauter Tischen, so viele habe ich noch nie gesehen, mit Tellern und Gläsern und Messern, und was sticht mich in mein Bäuchlein, ein Tisch, meine ich. Die Gläser sind unsichtbar so wie unsere, aber die Teller sind blau, das ist eklig.

Es ist wie ein Planet im Fernseher, in dem es nur über uns geht, lauter Personen sagen »Guten Morgen« und »Willkommen bei uns in Cumberland« und »Glückwunsch«. Ich weiß nicht, zu was. Manche haben genauso Bademäntel an wie wir und manche Schlafanzüge und manche ganz verschiedene Uniformen. Die meisten sind riesig, aber sie haben nicht so lange Haare wie wir, sie laufen schnell hin und her und sind plötzlich auf allen Seiten, sogar hinter uns. Sie kommen ganz dicht ran und haben so viele Zähne und riechen falsch. Ein Er mit überall Bart sagt: »Na, mein Kleiner, du scheinst mir ja ein richtiger Held zu sein.«

Der meint mich. Ich gucke nicht hin.

»Wie gefällt dir denn die Welt bis jetzt?«

Ich sage gar nichts.

»Gar nicht übel, oder?«

Ich nicke. Ich halte Mas Hand ganz fest, aber meine Finger glitschen ab, sie haben sich nass gemacht. Sie schluckt ein paar Pillen, die Noreen ihr gibt.

Einen Kopf ganz weit oben mit lauter fusseligen schwarzen Haaren erkenne ich wieder, das ist Dr. Clay mit ohne Maske. Er schüttelt Mas Hand mit seiner weißen Plastikhand und fragt sie, ob wir gut geschlafen haben.

»Ich war zu aufgedreht«, sagt Ma.

Andere Uniform-Personen kommen herbei, Dr. Clay sagt Namen, aber ich verstehe sie nicht. Eine hat ihre Haare in lauter Kurven, ganz grau, und sie heißt die Klinikdirektorin, das heißt, sie hat hier zu sagen, aber sie lacht und sagt, schön wär’s, ich weiß nicht, wo was daran harmonisch sein soll.

Ma zeigt mir einen Stuhl, wo ich mich neben sie draufsetzen soll. Auf dem Teller liegt etwas ganz Verrücktes, es ist silbern und blau und rot, ich glaube, das ist ein Ei, aber kein wirkliches, es ist aus Schokolade.

»Ach ja, frohe Ostern«, sagt Ma. »Das war mir ja vollkommen entfallen.«

Ich halte das falsche Ei auf meiner Hand. Ich wusste gar nicht, dass Häschen auch in Gebäude kommen.

Ma zieht ihre Maske runter bis zum Hals, sie trinkt Saft mit einer komischen Farbe. Meine Maske schiebt sie auf meinen Kopf, damit ich den Saft probieren kann, aber da sind so unsichtbare Stückchen drin, es ist wie wenn Bazillen durch meinen Hals krabbeln, deshalb huste ich ihn ganz leise wieder ins Glas. Es gibt auch Jemands in der Nähe, die so komische Vierecke mit noch kleineren Vierecken und welligem Frühstücksspeck drüber essen. Wie können sie sich nur ihr Essen auf blaue Teller machen lassen, da wird es doch ganz voll Farbe? Riechen tut es lecker, aber zu doll, und meine Hände werden schon wieder glitschig. Ich lege das Ostern wieder genau in die Mitte vom Teller. Dann reibe ich mir die Hände am Bademantel ab, außer meinem gebissenen Finger. Die Messer und Gabeln sind auch falsch, am Griff ist gar nichts Weißes, nur Eisen, das tut bestimmt weh.

Die Personen haben riesige Augen und Gesichter in allen möglichen Formen, und ein paar haben so Schnäuzer und herunterbaumelndem Schmuck und angemalte Teile.

»Gar keine Kinder«, flüstere ich zu Ma.

»Was sagtest du?«

»Wo sind die Kinder?«

»Ich glaube, hier gibt es keine.«

»Du hast aber gesagt, im Draußen gibt es viele Millionen.«

»Die Klinik ist nur ein ganz kleiner Teil von der Welt«, sagt Ma. »Trink deinen Saft. He, guck mal, da drüben ist doch ein Junge.«

Ich linse dahin, wo sie hinzeigt, aber der da ist ganz lang wie ein Mann und hat Nägel in der Nase und im Kinn und über den Augen. Vielleicht ein Roboter?

Ma trinkt irgendein braunes, dampfendes Zeug, dann verzieht sie das Gesicht und stellt das Zeug wieder hin. »Was möchtest du haben?«, fragt sie.

Die Noreen-Schwester ist direkt neben mir, ich zucke zusammen. »Es gibt ein Büfett«, sagt sie. »Du könntest zum Beispiel … mal sehen … Waffeln, Omelette oder Pfannkuchen essen.«

»Nein«, flüstere ich.

»Es heißt nein danke«, sagt Ma, »wenn man gute Manieren hat.«

Personen, die alle keine Freunde von mir sind, gucken mich mit unsichtbaren Strahlen an, ich drücke mein Gesicht an Ma.

»Worauf hast du Lust, Jack?«, fragt Noreen. »Würstchen, Toast?«

»Die gucken«, sage ich Ma.

»Die wollen alle nur nett sein.«

Ich wünschte, sie würden das lassen.

Dr. Clay ist auch wieder da, er beugt sich ganz dicht zu uns hin. »Das muss ja für Jack alles ziemlich überwältigend sein, wahrscheinlich sogar für Sie beide. Vielleicht ein bisschen zu anstrengend für Tag eins?«

Was ist Tag eins?

Ma pustet die Luft aus den Backen. »Wir wollen uns den Garten anschauen.«

Nein, das macht doch Alice.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagt er.

»Iss ein bisschen was«, sagt Ma zu mir. »Es geht dir bestimmt gleich besser, wenn du wenigstens deinen Saft trinkst.«

Ich schüttele den Kopf.

»Vielleicht sollte ich Ihnen einfach zwei Teller zurechtmachen und Ihnen aufs Zimmer bringen«, sagt Noreen.

Ma lässt wieder die Maske über ihr Gesicht schnappen. »Dann komm jetzt«, sagt sie.

Ich glaube, sie ist böse.

Ich halte mich am Stuhl fest. »Was ist mit dem Ostern?«

»Häh?«

Ich zeige darauf.

Dr. Clay stiehlt sich das Ei, und beinahe schreie ich los. »Da hast du es«, sagt er und lässt es in die Tasche von meinem Bademantel fallen.

Die Stufen sind noch schwieriger, wenn man hoch will, deshalb trägt Ma mich.

Noreen sagt: »Lassen Sie mich doch. Darf ich?«

»Wir kommen zurecht«, sagt Ma, beinahe schreit sie.

Ma haut unsere Tür Nummer sieben ganz fest zu, als Noreen weg ist. Wenn wir zwei allein sind, können wir die Masken abnehmen, weil wir dieselben Bazillen haben. Ma versucht das Fenster aufzumachen, sie schlägt dagegen, aber es geht nicht auf.

»Kann ich jetzt was kriegen?«

»Willst du gar nicht frühstücken?«

»Später.«

Also legen wir uns hin, und ich kriege was, diesmal die Linke, lecker.

Ma sagt, das mit den Tellern ist kein Problem, das Blaue kommt gar nicht ans Essen, sie lässt mich mit dem Finger drüberreiben, damit ich es sehe. Und bei den Messern und Gabeln fühlt sich das Eisen ohne weiße Griffe zwar komisch an, aber wehtun tut es eigentlich nicht. Es gibt einen Sirup, der ist für auf die Pfannkuchen, aber meine will ich nicht nass haben. Ich probiere von jedem Essen ein bisschen, und alles ist gut außer der Soße auf den Rühreiern. Das Schokoding, das Ostern, ist innen ganz weich. Es ist doppelt so schokoladig wie alle Schokolädchen davor, die wir schon mal als Sonntagsgutti gekriegt haben. Es ist das Beste, was ich jemals gegessen habe.

»Oh. Wir haben vergesst, uns beim Jesuskind zu bedanken«, sage ich Ma.

»Dann machst du es eben jetzt. Er findet es bestimmt nicht schlimm, dass wir zu spät dran sind.«

Danach lasse ich einen riesigen Rülpser los.

Dann schlafen wir noch mal.





Als die Tür klopft, lässt Ma Dr. Clay rein, sie setzt erst ihre Maske wieder auf und dann meine. Jetzt macht er mir nicht mehr so viel Angst. »Wie geht’s, Jack?«

»Okay.«

»Gimme five?«

Seine Plastikhand ist oben, und er wackelt mit den Fingern, ich tue so, als ob ich es nicht sehe. Meine Finger gebe ich dem nicht, die brauche ich für mich selbst.

Er und Ma sprechen über alle möglichen Sachen, zum Beispiel, warum sie nicht schlafen kann, wegen Herzrasen und Wiedererleben. »Versuchen Sie mal die hier, nur eine vor dem Schlafengehen«, sagt er und schreibt was auf seinen Block. »Und gegen die Zahnschmerzen würden Entzündungshemmer vielleicht besser wirken …«

»Kann ich mir bitte meine Medikamente selbst einteilen, anstatt sie einzeln von den Schwestern zu bekommen wie eine Kranke?«

»Das sollte wohl kein Problem sein, solange Sie sie nicht in Ihrem Zimmer herumliegen lassen.«

»Jack weiß, dass man nicht mit Tabletten spielen darf.«

»Eigentlich hatte ich dabei eher ein paar unserer Patienten im Sinn, bei denen Medikamentenmissbrauch Teil ihrer Krankheit ist. Und nun zu dir: Hier habe ich einen Zaubertupfer.«

»Jack, Dr. Clay spricht mit dir.«

Der Tupfer ist für meinen Arm, er macht, dass man ein Stückchen davon da nicht spürt. Außerdem hat er uns coole Sonnenbrillen mitgebringt, die sollen wir anziehen, wenn es im Fenster zu hell ist. Meine ist rot, und die von Ma ist schwarz. »Wie Rap-Stars«, sage ich zu ihr. Sie werden dunkler, wenn wir im Draußen draußen sind, und heller, wenn wir im Draußen drinnen sind. Dr. Clay sagt, meine Augen sind zwar superscharf, aber sie sind noch nicht daran gewöhnt, weit weg zu gucken, ich muss sie aus dem Fenster dehnen. Ich wusste gar nicht, dass ich Muskeln in meinen Augen habe, ich drücke mit den Fingern drauf, fühle aber keine.

»Was macht der Tupfer?«, fragt Dr. Clay. »Bist du schon taub?« Er pellt ihn ab und drückt mich an der Stelle, ich sehe seinen Finger, aber ich kann ihn nicht spüren. Dann kommt das Schlechte, er hat Nadeln, und er sagt, sorry, aber ich brauche sechs Spritzen, damit ich keine schrecklichen Krankheiten kriege, dafür war der Tupfer da, damit die Nadeln nicht wehtun. Sechs geht nicht, ich will zum Klo von dem Raum rennen.

»Daran könntest du sterben«, sagt Ma und zerrt mich zurück zu Dr. Clay.

»Nein!«

»Ich meine die Bazillen, nicht die Spritzen.«

Trotzdem nein.

Dr. Clay sagt, ich bin wirklich mutig, bin ich aber gar nicht, ich habe meinen ganzen Mut schon bei Plan B aufgebraucht. Ich schreie und schreie. Ma hält mich auf dem Schoß, während er eine Nadel nach der anderen in mich reinsticht, und die tun nämlich doch weh, weil er den Tupfer weggemacht hat. Ich brülle, dass ich ihn haben will, und am Ende tut Ma ihn wieder drauf.

»Jetzt sind wir erst mal fertig. Ehrenwort.« Dr. Clay tut die Nadeln in ein Kistchen an der Wand, auf dem steht: Verletzungsgefahr. In seiner Tasche hat er einen Lutscher für mich, einen orangenen, aber ich bin schon zu satt. Er sagt, ich kann ihn mir für später aufheben.

»… in vielerlei Hinsicht wie ein Neugeborenes, ungeachtet seiner bemerkenswerten Kenntnisse im Lesen und Schreiben«, sagt er zu Ma. Ich passe genau auf, weil der Er ich bin. »Neben den Problemen mit dem Immunsystem sind vor allem Herausforderungen zu erwarten im Bereich … tja … der gesellschaftlichen Eingewöhnung und der Sinnesmodulation … also beim Filtern und Sortieren all der Stimuli, die auf ihn einströmen … sowie die Schwierigkeiten bei der räumlichen Wahrnehmung …«

Ma fragt: »Stößt er deshalb andauernd irgendwo gegen?«

»Genau. Er hat sich so an seine beengte Umgebung gewöhnt, dass er gar nicht lernen musste, Entfernungen einzuschätzen.«

Ma hat ihren Kopf in den Händen. »Ich dachte, er wäre in Ordnung. Jedenfalls im Großen und Ganzen.«

Bin ich nicht in Ordnung?

»Man kann es auch andersherum betrachten …«

Aber dann spricht er nicht weiter, weil es klopft. Als die Tür aufgeht, ist es Noreen mit noch einem Tablett.

Ich lasse einen Rülpser los, mein Bäuchlein ist immer noch voll mit Frühstück.

»Ideal wäre wohl eine Beschäftigungstherapie, und zwar schwerpunktmäßig Spiel- und Kunsttherapie«, sagt Dr. Clay. »Aber bei unserer Besprechung heute Morgen waren sich alle einig, dass es im Augenblick vordringlich darum geht, dafür zu sorgen, dass er sich geborgen fühlt. Ehrlich gesagt, gilt das für Sie beide. Im Wesentlichen kommt es darauf an, ganz langsam den Bereich des Vertrauens zu erweitern.« Seine Hände sind in der Luft und wedeln herum. »Da ich das Glück hatte, letzte Nacht in der Psychiatrie Notdienst zu haben …«

»Glück?«, fragt Ma.

»Ich hätte mich anders ausdrücken sollen.« Er grinst irgendwie. »Jedenfalls werde ich fürs Erste mit Ihnen arbeiten …«

Wie, arbeiten? Ich wusste gar nicht, dass Kinder arbeiten müssen.

»Natürlich geben mir meine Kollegen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie ihren Input, ebenso wie unser Neurologe und die Psychotherapeuten. Zurate ziehen werden wir außerdem einen Ernährungswissenschaftler, einen Physio…«

Noch ein Klopfen. Es ist schon wieder Noreen, diesmal mit einem Polizisten, aber nicht dem mit den gelben Haaren von gestern Abend.

Das macht jetzt drei Personen in dem Raum hier, plus uns beide, zusammen also fünf, er ist ganz voll mit Armen und Beinen und Körpern. Sie reden alle durcheinander, bis es mir wehtut. »Hört auf, alle zusammen zu reden«, sage ich, aber nur auf stumm. Ich stecke mir die Finger in die Ohren.

»Willst du eine Überraschung?«

Das war ich, zu dem Ma das gesagt hat, habe ich gar nicht gemerkt. Noreen ist weg und der Polizist auch. Ich schüttele den Kopf.

Dr. Clay sagt: »Ich bin nicht sicher, ob das die ratsamste …«

»Jack, es gibt wunderbare Neuigkeiten«, unterbricht Ma ihn. Sie hält Bilder hoch. Ich muss gar nicht näher hingehen, ich sehe auch so, wer es ist, nämlich Old Nick. Dasselbe Gesicht wie an dem Abend, als ich in Bett zu ihm hingelinst habe, aber jetzt hat er ein Etikett um den Hals, und er steht an Zahlen so wie die, mit denen wir am Geburtstag immer mein Groß aufgemalt haben, er ist beinahe bei 180, aber nicht ganz. Es gibt ein Bild, da guckt er auf die Seite, und eins, da guckt er mich an.

»Irgendwann in der Nacht hat die Polizei ihn geschnappt und ins Gefängnis gesperrt«, sagt Ma, »und da bleibt er auch.«

Ich frage mich, ob der braune Laster auch im Gefängnis ist.

»Wenn Sie ihn jetzt sehen, löst das bei Ihnen irgendwelche der Symptome aus, über die wir gesprochen haben?«

Sie verdreht die Augen. »Glauben Sie etwa, nach sieben Jahren mit dem Original gehe ich jetzt bloß wegen eines Fotos in die Knie?«

»Was ist mit dir, Jack? Wie fühlt sich das an?«

Ich weiß keine Antwort.

»Ich frage dich jetzt was«, sagt Dr. Clay, »aber du musst nur antworten, wenn du willst, okay?«

Ich sehe erst ihn an und dann wieder die Bilder. Old Nick hängt in den Zahlen fest und kann nicht raus.

»Hat dieser Mann irgendwann mal Sachen gemacht, die dir nicht gefallen haben?«

Ich nicke.

»Kannst du mir sagen, was er gemacht hat?«

»Er hat den Strom abgeschneidet, und das Gemüse ist glibberig geworden.«

»Verstehe. Hat er dir auch mal wehgetan?«

Ma sagt: »Hören Sie …«

Dr. Clay hebt eine Hand hoch. »Niemand zweifelt an Ihren Worten«, sagt er ihr. »Aber ich denke an die Nächte, wenn Sie geschlafen haben. Ich würde meinen Job nicht ordentlich machen, wenn ich nicht Jack selbst frage, oder?«

Ma pustet ganz lange die Luft aus den Backen. »Es ist okay«, sagt sie mir, »du kannst antworten. Hat Old Nick dir je wehgetan?«

»Ja«, sage ich, »zwei Mal.«

Sie starren mich beide an.

»Als ich die spannende Flucht gemacht habe, hat er mich in den Laster geworfen und dann noch mal auf der Straße, beim zweiten Mal hat es am allerdollsten wehgetan.«

»In Ordnung«, sagt Dr. Clay. Er lächelt. Ich weiß nicht, warum. »Ich spreche gleich anschließend mit dem Labor und höre mal nach, ob die von Ihnen beiden noch weitere DNA-Proben brauchen«, sagt er Ma.

»DNA?« Sie hat schon wieder diese verrückte Stimme. »Glauben Sie vielleicht, ich hatte noch andere Besucher?«

»Ich glaube, dass es bei Gericht nun mal so zugeht. Jeder Punkt muss abgehakt werden.«

Ma saugt ihren ganzen Mund nach innen, bis ihre Lippen unsichtbar sind.

»Jeden Tag werden irgendwelche Teufel wegen irgendeines Formfehlers laufen gelassen.« Er hört sich jetzt richtig böse an. »Kapiert?«

»Kapiert.«

Als er weg ist, reiße ich mir die Maske runter und frage: »Ist er böse auf uns?«

Ma schüttelt den Kopf. »Er ist böse auf Old Nick.«

Ich wusste gar nicht, dass Dr. Clay ihn überhaupt kennt. Ich dachte immer, wir sind die Einzigen.

Ich gucke auf das Tablett, das Noreen gebringt hat. Hunger habe ich keinen, aber als ich Ma frage, sagt sie, es ist nach ein Uhr. Das ist ja sogar fürs Mittagessen schon zu spät, Mittagessen muss es immer so um zwölf geben, aber in meinem Bäuchlein ist überhaupt noch kein Platz.

»Gar nicht schlimm«, sagt Ma. »Hier ist eben alles anders.«

»Aber was ist die Regel?«

»Es gibt keine Regel. Wir können um zehn Uhr zu Mittag essen oder auch um drei Uhr in der Nacht.«

»Ich will nicht in der Nacht mittagessen.«

Ma pustet die Luft aus den Backen. »Dann machen wir uns eben eine neue Regel, wann wir mittagessen … irgendwann zwischen zwölf und zwei. Und wenn wir keinen Hunger haben, lassen wir es einfach aus.«

»Wie lassen wir es aus?«

»Wir essen einfach nichts. Null.«

»Okay.« Ich habe nichts dagegen, null zu essen. »Aber was macht Noreen dann mit dem Essen?«

»Sie wirft es weg.«

»Das ist doch Verschwendung.«

»Stimmt, aber es muss trotzdem in den Müll, weil es … weil es irgendwie schmutzig ist.«

Ich gucke das ganze bunte Essen auf den blauen Tellern an. »Sieht überhaupt nicht schmutzig aus.«

»Ist es eigentlich auch nicht, aber sonst will es hier keiner mehr, wenn es schon mal auf unseren Tellern war«, sagt Ma. »Mach dir keine Gedanken darüber.«

Andauernd sagt sie, dass ich mir keine Gedanken machen soll.

Ich gähne so feste, dass ich beinahe umfalle. Ich frage, ob wir noch mal schlafen können, und Ma sagt, klar, aber sie will die Zeitung lesen. Ich weiß nicht, warum sie lieber die Zeitung liest, anstatt mit mir zu schlafen.





Als ich aufwache, ist das Licht am falschen Platz.

»Ist ja gut«, sagt Ma und berührt mein Gesicht mit ihrem. »Alles ist gut.«

Ich ziehe meine coole Sonnenbrille auf und will in unserem Fenster das gelbe Gesicht von Gott angucken. Das Licht kriecht direkt über den fusseligen grauen Teppich.

Noreen kommt mit lauter Tüten herein.

»Sie könnten ruhig anklopfen.« Ma schreit beinahe, dann setzt sie sich die Maske auf.

»Entschuldigung«, sagt Noreen. »Das hab ich ehrlich gesagt getan, aber nächstes Mal klopfe ich auf jeden Fall lauter.«

»Nein, tut mir leid, ich habe wohl … ich hatte gerade mit Jack gesprochen. Vielleicht habe ich es sogar gehört, aber gar nicht begriffen, dass es an der Tür ist.«

»Kein Problem«, sagt Noreen.

»Es kommen Geräusche aus … den anderen Räumen. Ich höre Dinge und weiß nicht, ob sie echt sind, woher sie kommen und überhaupt.«

»Es muss Ihnen ja alles noch sehr fremd vorkommen.«

Ma lacht irgendwie.

»Und nun zu dem jungen Herrn hier.« Ihre Augen werden ganz glänzend. »Möchtest du mal deine neuen Anziehsachen sehen?«

Es sind nicht unsere Anziehsachen, es sind andere Sachen in Tüten, und wenn sie uns nicht passen oder gefallen, bringt Noreen sie sofort zurück ins Geschäft und holt uns neue. Ich probiere alles an. Am besten gefällt mir der Schlafanzug, der ist ganz kuschelig und mit Astronauten drauf. Wie ein Kostüm von einem Fernseh-Jungen. Es gibt auch Schuhe, die mit was Ratschigem angehen, es klebt und heißt Klettverschluss. Es macht mir Spaß, sie zu- und wieder aufzumachen, ratsch ratsch. Aber damit gehen ist schwierig, sie fühlen sich so schwer an, als würden sie mich stolpern. Lieber habe ich sie auf dem Bett an, da wedele ich mit den Füßen in der Luft, und die Schuhe zanken sich, und dann vertragen sie sich wieder.

Ma hat eine Jeans an, die ist zu eng. »So tragen sie die jungen Dinger nun mal heutzutage«, sagt Noreen. »Und Sie haben ja nun auch weiß Gott die Figur dafür.«

»Wer sind die jungen Dinger?«

»Jugendliche.«

Ma grinst, ich weiß nicht, warum. Sie zieht ein Hemd an, das ist auch zu eng.

»Das sind nicht deine richtigen Sachen«, flüstere ich ihr zu.

»Jetzt schon.«

Die Tür klopft, es ist noch eine Schwester, dieselbe Uniform, aber ein anderes Gesicht. Sie sagt, wir sollen lieber unsere Masken wieder auftun, weil wir Besuch haben. Ich habe noch nie Besuch gehabt, ich weiß gar nicht, wie das geht.

Eine Person kommt rein und läuft auf Ma zu, ich springe mit meinen zwei Fäusten hoch, aber Ma lacht und weint gleichzeitig, das ist also traurigfroh.

»O Mom«, sagt Ma. »O Mom.«

»Meine kleine …«

»Ich bin wieder da.«

»Ja, bist du wirklich«, sagt die Sie-Person. »Als der Anruf kam, war ich mir sicher, dass das nur wieder so ein übler Scherz war …«

»Hast du mich vermisst?« Ma fängt an zu lachen, aber ganz komisch.

Die Frau weint auch, es sind lauter schwarze Tröpfchen unter ihren Augen, ich frage mich, warum die Tränen bei ihr schwarz rauskommen. Ihr Mund hat eine Farbe wie Blut, so wie bei den Frauen im Fernseher. Sie hat gelbe kurze Haare, aber nicht ganz kurz, und in ihren Ohren stecken unter dem Loch ganz große goldene Knöpfe. Sie umarmt Ma immer noch ganz feste, sie ist dreimal so rund wie Ma, ich habe noch nie gesehen, wie Ma jemand anderen umarmt.

»Kann ich dich nicht mal einen Moment ohne dieses blöde Ding da anschauen.«

Ma zieht ihre Maske runter, sie lächelt und lächelt.

Jetzt starrt die Frau mich an. »Ich kann es nicht glauben, ich kann es einfach nicht glauben.«

»Jack«, sagt Ma, »das ist deine Grandma.«

Dann habe ich also wirklich eine.

»Was für ein Goldschatz.« Die Frau macht die Arme auf, als wollte sie damit winken, tut sie aber nicht. Sie läuft auf mich zu. Ich gehe hinter den Stuhl.

»Eigentlich ist er superanhänglich«, sagt Ma, »nur ist er eben an niemanden außer mich gewöhnt.«

»Aber natürlich, natürlich.« Die Grandma kommt ein bisschen näher. »Ach, Jack, du bist wirklich der mutigste Junge auf der ganzen Welt, du hast mir mein Baby zurückgebracht.«

Was für ein Baby?

»Heb doch mal einen Moment die Maske hoch«, sagt Ma mir.

Ich mache es und lasse sie sofort wieder zuschnappen.

»Er hat dein Kinn«, sagt die Grandma.

»Findest du?«

»Du warst ja immer schon verrückt nach Kindern, du hast doch sogar umsonst als Babysitterin …«

Sie reden und reden. Ich gucke unter mein Pflaster, um zu sehen, ob mein Finger immer noch abfällt. Die roten Flecken sind jetzt krustig.

Luft kommt rein. Da ist ein Gesicht in der Tür, ein Gesicht mit überall Bart, auf den Backen und am Kinn und unter der Nase, nur nicht am Kopf.

»Ich hatte der Schwester doch gesagt, wir wollen nicht gestört werden«, sagt Ma.

»Ähm, das ist Leo«, sagt Grandma.

»Hallo«, sagt er und wackelt mit den Fingern.

»Wer ist Leo?«, fragt Ma und lächelt gar nicht mehr.

»Eigentlich sollte er im Flur warten.«

»No problemo«, sagt Leo und dann ist er nicht mehr da.

»Wo ist Dad?«, fragt Ma.

»Im Moment noch in Canberra, aber er ist schon auf dem Weg«, sagt Grandma. »Es hat sich vieles verändert, mein Schatz.«

»Canberra?«

»Ach Schatz, das ist wahrscheinlich alles noch zu viel für dich …«

Es stellt sich heraus, dass die haarige Leo-Person gar nicht in echt mein Grandpa ist, der wirkliche ist wieder nach Australien zurückgegangen, als er dachte, Ma wäre tot, er hat sogar ein Begräbnis für sie machen lassen, Grandma war deshalb wütend auf ihn, weil sie nie die Hoffnung aufgegeben hatte. Sie hat sich immer gesagt, dass ihr Liebling bestimmt ihre Gründe hatte zu verschwinden und dass sie zwei sich eines schönen Tages wiedersehen würden.

Ma guckt sie an. »Eines schönen Tages?«

»Wieso, ist das denn etwa keiner?« Grandma winkt zum Fenster hin.

»Was für Gründe hätte ich …«

»Ach, was haben wir uns das Hirn zermartert. Ein Sozialarbeiter hat uns damals gesagt, dass junge Leute in deinem Alter manchmal aus heiterem Himmel verschwinden. Wegen Drogen vielleicht. Ich habe dein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt …«

»Ich hatte einen Notendurchschnitt von 1,7!«

»Und ob du den hattest, du warst ja auch unser ganzer Stolz.«

»Ich wurde von der Straße weg gekidnappt!«

»Ja, jetzt weiß ich das auch. Wir haben überall in der Stadt Plakate aufgehängt, Paul hat eine Webseite eingerichtet. Und die Polizei hat mit jedem gesprochen, den du vom College und aus der Highschool kanntest, um herauszufinden, mit wem du dich sonst noch herumgetrieben hast, den wir nicht kannten. Andauernd dachte ich, ich hätte dich gesehen, es war die reinste Folter«, sagt Grandma. »Manchmal habe ich neben irgendwelchen Mädchen angehalten und gehupt, aber dann waren es doch jedes Mal nur irgendwelche Fremden. An deinem Geburtstag habe ich immer deinen Lieblingskuchen gebacken, nur für den Fall, dass du plötzlich hereinschneist. Weißt du noch, den Schoko-Bananen-Kuchen?«

Ma nickt. Sie hat überall Tränen im Gesicht.

»Ohne Tabletten konnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Die Ungewissheit hat mich innerlich regelrecht aufgefressen. Dein Bruder hat darunter ziemlich leiden müssen. Wusstest du, dass … aber woher solltest du das denn wissen? … Paul hat ein kleines Mädchen, sie ist fast drei und geht schon allein aufs Töpfchen. Seine Lebensgefährtin ist ganz zauberhaft, eine Radiologin.«

Sie reden noch eine Menge mehr, meine Ohren sind vom Zuhören ganz müde. Dann kommt Noreen rein mit Pillen für uns und einem Glas Saft, nicht Orange, es ist Apfel und das Beste, was ich jemals getrunken habe.

Grandma fährt jetzt in ihr Haus. Ich frage mich, ob sie in der Hängematte schläft. »Soll ich … Leo könnte doch nur mal schnell reinkommen und Guten Tag sagen«, sagt sie, als sie an der Tür ist.

Ma sagt erst gar nichts. Und dann: »Vielleicht beim nächsten Mal.«

»Wie du willst. Die Ärzte sagen ja auch, du sollst es langsam angehen lassen.«

»Was langsam angehen lassen?«

»Na, alles eben.« Grandma dreht sich zu mir rum. »Jack, kennst du denn schon das Wort ›Wiedersehen‹?«

»Ich kenne alle Wörter«, erkläre ich ihr.

Da muss sie lachen und lachen.

Sie küsst sich auf ihre eigene Hand und pustet dann zu mir. »Fängst du ihn?«

Ich glaube, sie will, dass ich so tue, als ob ich den Kuss fange, also mache ich es, und sie freut sich, noch mehr Tränen.

»Warum hat sie gelacht, als ich gesagt habe, dass ich alle Wörter kenne? Das war gar kein Witz«, sage ich Ma danach.

»Ach, das macht nichts, es ist immer gut, wenn man die Leute zum Lachen bringt.«

Um 06:12 bringt Noreen ein ganz neues Tablett, das ist das Abendessen. Wir können also um fünf Uhr rum oder um sechs Uhr rum oder sogar um sieben Uhr rum zu Abend essen, sagt Ma. Es gibt irgendwas knackiges Grünes, das ist Rucola und schmeckt zu scharf. Das Brot hat so Stückchen, die in meinem Hals kratzen, ich versuche sie rauszupulen, aber danach sind da Löcher, Ma sagt, ich soll es einfach liegen lassen. Es gibt Erdbeeren, und Ma sagt, die schmecken einfach himmlisch, woher weiß sie, wie der Himmel schmeckt? Wir können nicht alles aufessen. Ma sagt, die meisten Leute stopfen sowieso viel zu viel in sich rein, und wir sollen nur essen, was wir wollen, und den Rest liegen lassen.

Mein Lieblingsding im Draußen ist das Fenster. Jedes Mal ist es anders. Ein Vogel düst direkt vorbei, bsssst, ich weiß nicht, was für einer es war. Die Schatten sind jetzt wieder ganz lang, meiner winkt durch den ganzen Raum bis an die grüne Wand. Ich gucke zu, wie das Gesicht von Gott ganz langsam runterfällt, diesmal sogar noch orangener, und die Wolken haben alle möglichen Farben, und danach gibt es so Streifen, und dann kommt Stückchen für Stückchen das Dunkel, aber ich sehe es erst, als es fertig ist.





Ma und ich stoßen die ganze Nacht immer wieder gegeneinander. Als ich das dritte Mal aufwache, will ich Jeep und Fernsteuerung haben, aber sie sind nicht da.

Jetzt ist keiner mehr in Raum, nur noch Sachen, alles liegt ganz still da, und Staub fällt drauf, weil Ma und ich in der Klinik sind und Old Nick im Gefängnis. Er muss für immer da eingesperrt bleiben.

Mir fällt wieder ein, dass ich ja den Schlafanzug mit den Astronauten anhabe. Ich berühre mein Bein durch den Stoff, es fühlt sich gar nicht an wie meins. Unsere ganzen Sachen, die uns gehört haben, sind in Raum eingesperrt, außer meinem T-Shirt, das hat Ma hier in den Müll geworfen, und jetzt ist es weg. Vor dem Schlafen habe ich nachgeguckt, eine Reinefrau muss es mitgenommen haben. Ich dachte, Reinefrau heißt, dass sie sauberer ist als alle anderen, aber Ma hat mir gesagt, dass sie sauber macht. Ich glaube, die sind so unsichtbar so wie Elfen. Ich wünschte, die Reinemachefrau würde mir mein altes T-Shirt wiederbringen, aber dann wäre Ma bestimmt wieder sauer.

Wir müssen in der Welt sein, wir gehen nie wieder zurück zu Raum, sagt Ma, so ist das nun mal, und ich soll mich darüber freuen. Ich weiß nicht, warum wir da nicht mehr hinkönnen, wenigstens zum Schlafen. Müssen wir immer in der Klinik bleiben, frage ich mich, oder können wir auch mal in andere Teile vom Draußen, zum Beispiel in das Haus mit der Hängematte, aber der wirkliche Grandpa ist ja in Australien, und das ist zu weit weg. »Ma?«

Sie stöhnt. »Jack, gerade war ich endlich mal eingenickt …«

»Wie lange sind wir schon hier?«

»Erst 24 Stunden. Es kommt einem nur länger vor.«

»Nein, ich meine … wie lange müssen wir nach heute noch hierbleiben? Wie viele Tage und Nächte?«

»Ehrlich gesagt, weiß ich das selbst nicht.«

Aber Ma weiß doch immer alles. »Sag es mir.«

»Psst.«

»Aber wie lange?«

»Nur noch ein bisschen«, sagt sie. »Und jetzt sei leise, du weißt doch, dass nebenan Leute sind, und du störst sie.«

Ich sehe die Personen nicht, aber sie sind trotzdem da, es sind die aus dem Raum zum Essen. In Raum habe ich nie einen gestört, nur manchmal Ma, wenn Schlimmerzahn ganz schlimm war. Sie sagt, die Personen sind hier im Cumberland, weil sie ein bisschen krank im Kopf sind, aber nicht doll. Manche können nicht schlafen, weil sie sich so Sorgen machen, oder sie können nicht essen, oder sie waschen sich die Hände zu oft, ich wusste gar nicht, dass man sich zu oft waschen kann. Manche haben sich den Kopf gestoßen, und jetzt wissen sie nicht mehr, wer sie sind, ein paar sind auch die ganze Zeit traurig und ritzen sich sogar mit Messern in die Arme, keine Ahnung, warum. Die Ärzte und Schwestern und Pilar und die unsichtbaren Reinemachefrauen sind nicht krank, die sind zum Helfen da. Ma und ich sind auch nicht krank, wir sollen uns nur ausruhen, und wir wollen auch nicht von den Paparazzi gestört werden, das sind die Geier mit den Kameras und den Mikrofonen, weil wir jetzt berühmt sind wie Rap-Stars, nur haben wir es nicht extra gemacht. Ma sagt, wir brauchen eigentlich nur ein bisschen Hilfe, damit wir alles wieder auf die Reihe kriegen. Ich weiß nicht, was alles.

Ich greife unter das Kissen und fühle, ob Schlimmerzahn sich schon in Geld verwandelt hat, aber nein. Ich glaube, die Fee weiß nicht, wo die Klinik ist.

»Ma?«

»Was?«

»Sind wir eingesperrt?«

»Nein!« Sie bellt beinahe. »Natürlich nicht! Wieso, gefällt es dir hier nicht?«

»Ich meine nur, müssen wir hierbleiben?«

»Nein, wir sind so frei wie die Vögel.«





Ich dachte, gestern wären schon alle komischen Sachen passiert, aber heute gibt es noch einen Haufen mehr.

Ich kann meine Kacka nur ganz schwer rausdrücken, weil mein Bäuchlein nicht an so viel Essen gewöhnt ist.

Wir müssen unsere Laken nicht in der Dusche waschen, das machen nämlich auch die unsichtbaren Reinemachefrauen.

Ma schreibt in ein Notizbuch, das Dr. Clay ihr für ihre Hausaufgaben gegeben hat. Ich dachte, Hausaufgaben machen nur Kinder, die in die Schule gehen, es ist Arbeit für zu Hause, aber Ma sagt, in der Klinik ist eigentlich gar keiner zu Hause, und am Ende gehen alle wieder in ihr richtiges Zuhause.

Ich hasse meine Maske, dadurch kriege ich keine Luft, aber Ma sagt, eigentlich doch.

Wir frühstücken in dem Speisesaal, das ist der Raum zum Essen. Die Personen in der Welt gehen gern für jede Sache in einen anderen Raum. Die Manieren fallen mir wieder ein, das ist, wenn Personen Angst haben, dass sie andere Personen böse machen. »Bitte kannst du mir mehr Pfannekuchen haben?«

Die Sie mit der Schürze sagt: »Er ist wirklich ein Zuckerpüppchen.«

Ich bin kein Zuckerpüppchen, aber Ma flüstert mir zu, es heißt, dass die Frau mich gern hat, und ich soll sie lassen.

Ich probiere den Sirup, der ist super-mega-süß, ich trinke ein ganzes Schälchen leer, bis Ma mich nicht mehr lässt. Sie sagt, der ist nur für auf die Pfannkuchen, aber das finde ich eklig.

Immer wieder kommen Leute mit Kannen voll Kaffee zu ihr, sie sagt Nein. Ich esse so viel Frühstücksspeck, bis ich selbst nicht mehr weiß, wie viel, und als ich »Danke, Jesuskind!« sage, gucken die Leute so zu uns rüber, ich glaube, das ist, weil sie ihn hier im Draußen nicht kennen.

Ma sagt, wenn eine Person sich komisch benimmt, wie zum Beispiel der lange Junge mit den Eisenteilen im Gesicht, der Hugo heißt und die ganze Zeit summt, oder wie Mrs. Garber, die sich die ganze Zeit am Hals kratzt, dann sollen wir nicht lachen außer innen drin hinter unseren Gesichtern, wenn wir gar nicht anders können.

Ich weiß es nie, wann Geräusche passieren, und zucke jedes Mal zusammen. Oft kann ich gar nicht sehen, wer sie macht, manche sind nur winzig wie kleine summende Insekten, aber andere tun mir im Kopf weh. Aber trotzdem alles immer so laut ist, sagt Ma mir andauernd, ich soll nicht so schreien, damit ich keine Personen störe. Dabei hören sie mich oft gar nicht, wenn ich rede.

Ma fragt: »Wo sind deine Schuhe?«

Wir gehen zurück und finden sie in dem Speisesaal unter der Tisch, auf einem Schuh liegt ein Stück Frühstücksspeck, das esse ich.

»Bazillen«, sagt Ma.

Ich trage meine Schuhe an den Klettbändern. Sie sagt mir, ich soll sie anziehen.

»Aber die tun an meinen Füßen weh.«

»Stimmt die Größe nicht?«

»Sie sind zu schwer.«

»Ich weiß ja, dass du nicht daran gewöhnt bist, aber du kannst trotzdem nicht einfach nur auf Socken herumlaufen, am Ende trittst du noch in was Spitzes.«

»Mache ich nicht, das verspreche ich.«

Sie wartet so lange, bis ich sie anziehe. Wir sind in einem Flur, aber nicht dem oben an den Stufen, die Klinik hat nämlich lauter verschiedene Teile. Ich glaube nicht, dass wir hier schon mal waren, haben wir uns etwa verirrt?

Ma guckt aus einem neuen Fenster. »Heute könnten wir doch mal nach draußen gehen, dann könntest du dir die Bäume und die Blumen ansehen.«

»Nein.«

»Jack …«

»Ich meinte, nein danke.«

»Aber die frische Luft!«

Mir gefällt die Luft in Raum Nummer sieben, Noreen bringt uns wieder hin. Aus unserem Fenster kann ich sehen, wie die Autos parken und entparken, und Tauben und manchmal die Katze.

Später gehen wir zum Spielen mit Dr. Clay in einen neuen Raum, der hat einen Teppich mit langen Haaren, nicht so wie unsere Teppich, die ganz platt ist und zickzack, ich frage mich, ob unsere Teppich uns vermisst, ist sie immer noch hinten auf dem Laster oder im Gefängnis?

Ma zeigt Dr. Clay ihre Hausaufgaben, sie reden noch mehr über nicht besonders interessantes Zeug, Entpersonalisierung und Jamais vu. Dann helfe ich Dr. Clay, seinen Spielzeugkoffer auszupacken, der ist das Coolste überhaupt. Er spricht in ein Mobiltelefon, aber es ist nicht in echt. »Wie schön, von dir zu hören, Jack. Ich bin im Moment in der Klinik. Wo bist du?«

Es gibt eine Plastikbanane, in die sage ich: »Ich auch.«

»Was für ein Zufall. Gefällt es dir hier?«

»Mir gefällt der Frühstücksspeck.«

Er lacht, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich schon wieder einen Witz gemacht habe. »Ich mag auch gern Frühstücksspeck. Zu gern.«

Wie kann man etwas zu gern mögen?

Ganz unten in dem Koffer entdecke ich kleine Püppchen, zum Beispiel einen Hund mit Flecken und einen Piraten und einen Mond und einen Jungen, der die Zunge rausstreckt, am liebsten habe ich den Hund.

»Jack, er fragt dich was.«

Ich gucke Ma nur an.

»Und was gefällt dir nicht so gut hier?«, fragt Dr. Clay.

»Dass die Personen immer gucken.«

»Hmm.«

Das sagt er oft anstatt Wörtern.

»Und so plötzliche Sachen.«

»Plötzliche Sachen? Was denn für welche?«

»Blitzige Sachen, die ganz schnell kommen«, erkläre ich ihm.

»Ah, verstehe. Die Welt ist plötzlicher, als uns beliebt.«

»Häh?«

»Entschuldigung, das ist aus einem Gedicht, das du nicht kennen kannst.« Dr. Clay grinst Ma an. »Jack, kannst du mal beschreiben, wo du warst, bevor du in die Klinik gekommen bist?«

Er ist nie in Raum gewesen, deshalb erzähle ich ihm alles von jedem Teil davon, was wir jeden Tag gemacht haben und so, und Ma sagt alles dabei, was ich vergesse. Dr. Clay hat auch so klebriges Zeug in allen Farben, das habe ich mal im Fernseher gesehen, wo wir noch sprechen, macht er damit Bälle und Würmer. Ich stecke meinen Finger in das Gelbe, danach ist was davon unter meinem Fingernagel, ich will nicht, dass der gelb ist.

»Hast du denn nie Knetgummi als Sonntagsgutti bekommen?«, fragt er.

»Es trocknet aus«, platzt Ma dazwischen. »Haben Sie daran schon mal gedacht? Selbst wenn man Knete immer ganz gewissenhaft wieder in den Plastikbecher zurückfüllt, wird sie irgendwann trotzdem zäh.«

»Da haben Sie wohl recht«, sagt Dr. Clay.

»Aus genau demselben Grund habe ich auch um Bunt- und Bleistifte gebeten und nicht um Filzstifte und um Stoffwindeln … lauter Sachen, die hielten, damit ich nicht eine Woche später schon wieder betteln musste.«

Er nickt und nickt.

»Wir haben Mehlteig benutzt, aber der war nun mal immer weiß.« Ma hört sich wütend an. »Glauben Sie etwa, ich hätte Jack nicht lieber jeden Tag Knete in einer anderen Farbe gegeben, wenn ich gekonnt hätte?«

Dr. Clay sagt Mas anderen Namen. »Niemand maßt sich irgendein Urteil über Ihre Alternativen und Entscheidungen an.«

»Jetzt hat Noreen mir erzählt, er wird besser, wenn man Salz und Mehl zu gleichen Teilen mischt. Wussten Sie das vielleicht? Ich bin ja noch nicht mal auf die Idee gekommen, nach Lebensmittelfarben zu fragen. Verdammt noch mal, wäre ich doch nur ein einziges Mal auf …«

Sie sagt Dr. Clay immer wieder, dass es ihr gut geht, aber anhören tut sie sich gar nicht gut. Sie und er reden über kognitive Distorsionen, sie machen eine Atemübung, ich spiele mit den Puppen. Dann ist unsere Zeit rum, weil er jetzt mit Hugo spielen muss.

»War der auch in einem Schuppen?«, frage ich.

Dr. Clay schüttelt den Kopf.

»Was ist ihm denn passiert?«

»Jeder hat so seine eigene Geschichte.«

Als wir wieder in unserem Raum sind, gehen Ma und ich ins Bett, und ich kriege ganz viel. Wegen dem Conditioner riecht sie immer noch falsch. Zu seidig.





Trotz des Mittagsschläfchens bin ich immer noch müde. Mir tropft es andauernd aus der Nase und auch aus den Augen, als wären sie innen drin am Schmelzen. Ma sagt, ich habe mir einfach nur meinen allerersten Schnupfen eingefangen, mehr nicht.

»Aber ich habe doch meine Maske aufgehabt.«

»Trotzdem, die Bazillen schleichen sich eben einfach rein. Bis morgen habe ich mich wahrscheinlich schon bei dir angesteckt.«

Ich weine. »Wir sind doch noch gar nicht mit Spielen fertig.«

Sie umarmt mich.

»Ich will noch nicht in den Himmel.«

»Ach, Schatz.« So hat Ma mich noch nie genannt. »Brauchst keine Angst zu haben, wenn wir krank werden, dann machen die Ärzte uns wieder gesund.«

»Will ich auch.«

»Was willst du?«

»Ich will, dass Dr. Clay mich sofort wieder gesund macht.«

»Ehrlich gesagt, einen Schnupfen kann der auch nicht kurieren.« Ma beißt sich auf die Lippen. »Aber in ein paar Tagen ist wieder alles vorbei, das verspreche ich dir. He, willst du mal lernen, wie man sich die Nase putzt?«

Ich muss nur viermal probieren, und als ich den ganzen Rotz in das Papiertaschentuch rauskriege, klatscht Ma in die Hände.

Noreen bringt das Mittagessen zu uns hoch, wir kriegen Suppe und Kebab und irgendwelchen Reis, der ist aber nicht in echt, sondern Quinoa. Für danach gibt es einen Salat aus Früchten, ich komme auf alle, Apfel und Orange und die, die ich noch nicht kenne, sind Ananas und Mango und Blaubeere und Kiwi und Melone, also zwei richtig und fünf falsch, macht minus drei. Banane ist nicht dabei.

Ich will noch mal die Fische sehen, deshalb gehen wir runter in den Teil, der Aufnahme heißt. »Die haben ja Streifen! Sind sie krank?«

»Die sehen doch quicklebendig aus.« Sagt Ma. »Und der dicke Chef da hinter dem Seetang ganz besonders.«

»Ich meine, im Kopf? Sind das verrückte Fische?«

Ma lacht. »Glaube ich nicht.«

»Ruhen sie sich nur ein bisschen aus, weil sie berühmt sind?«

»Sie sind schon hier geboren worden, in diesem Aquarium hier.« Es ist die Pilar-Frau.

Ich zucke zusammen, weil ich nicht gehört habe, wie sie aus ihrer Theke gekommen ist. »Wieso?«

Sie starrt mich an, aber sie lächelt dabei weiter. »Ähm …«

»Warum sind sie hier?«

»Ich denke mal, damit wir sie anschauen können. Sind sie nicht hübsch?«

»Komm jetzt, Jack«, sagt Ma. »Die Frau hat bestimmt was zu tun.«

Im Draußen ist die ganze Zeit durcheinander. Ma sagt ständig »Langsamer, Jack« zu mir und »Moment noch« und »Jetzt aber mal fertig« und »Beeil dich, Jack«. Jack sagt sie oft, deshalb weiß ich, dass sie mich meint und nicht irgendwelche Personen. Ich weiß fast nie, welche Zeit gerade ist, es gibt zwar Uhren, aber die haben nur so spitze Pfeile, das Geheimnis davon kenne ich nicht, und unser Uhr mit seinen Zahlen ist nicht da. Deshalb muss ich Ma fragen, und die hat keine Lust mehr, dass ich immer was frage. »Ich weiß, welche Zeit es ist. Es ist Zeit, dass wir endlich mal nach draußen gehen.«

Ich will nicht, aber sie sagt immer wieder: »Komm, wir versuchen es mal. Nur versuchen. Jetzt gleich, warum denn nicht?«

Erst muss ich wieder meine Schuhe anziehen. Außerdem brauchen wir Jacken und Mützen und so klebriges Zeug auf unseren Gesichtern unter den Masken und auf unseren Händen, damit uns die Sonne nicht die Haut abbrennt, weil wir aus Raum kommen. Dr. Clay und Noreen wollen mit, sie haben aber keine coolen Sonnenbrillen oder so.

Der Weg in das Draußen vom Draußen ist nicht wie Türe, es ist eine Luftschleuse wie bei einem Raumschiff. Ma fällt das Wort nicht mehr ein, und Dr. Clay sagt: »Drehtür.«

»Au ja«, sage ich. »Das kenne ich vom Fernseher.« Mir gefällt das Rumrumrumlaufen, aber als wir dann draußen sind und das Licht meiner ganz dunklen Sonnenbrille wehtut und der Wind mir ins Gesicht haut, will ich wieder rein.

»Ist gar kein Problem«, sagt Ma immer wieder.

»Ich find es doof.« Die Drehtür ist fest und dreht sich gar nicht mehr und drückt mich raus.

»Nimm einfach meine Hand.«

»Der Wind reißt uns kaputt.«

»Es ist doch nur ein Lüftchen«, sagt Ma.

Das Licht ist nicht wie in einem Fenster, es kommt überall rein, an allen Seiten von meiner coolen Sonnenbrille, bei unserer großen Flucht war das nicht so. Zu viel fürchterliches Glitzeriges und Luftfrische. »Meine Haut brennt ab.«

»Du machst das ganz prima«, sagt Noreen. »Schön langsam und tief durchatmen. So wird ein Schuh draus.«

Wieso wird ein Schuh draus? Und wo will der Atem durch? Auf meiner Sonnenbrille sind Pünktchen, meine Brust macht bum bum bum, und der Wind ist so laut, dass ich überhaupt nichts hören kann.

Noreen macht was Komisches. Sie nimmt mir die Maske ab und tut ein anderes Papier auf mein Gesicht. Ich schiebe es mit meinen glitschigen Händen weg.

Dr. Clay sagt: »Ich weiß nicht, ob das so eine …«

»Atme in die Tüte«, sagt Noreen mir.

Und das mache ich, es ist warm, ich hole nur noch Luft und hole Luft.

Ma hält mich an den Schultern fest. »Komm, wir gehen wieder rein«, sagt sie.

Als wir wieder in Raum Nummer sieben sind, kriege ich was auf dem Bett, immer noch mit Schuhen an und ganz glitschig.

Später kommt Grandma, jetzt kenne ich ihr Gesicht schon. Sie hat aus ihrem Hängematte-Haus Bücher mitgebringt, drei für Ma ohne Bilder, sie ist total froh, und für mich fünf mit Bildern, dabei hat Grandma noch nicht mal gewisst, dass fünf meine liebste Lieblingszahl ist. Sie sagt, die haben mal Ma und meinem Onkel Paul gehört, als sie Kinder waren. Ich glaube nicht, dass sie richtig lügt, aber wirklich wahr kann es ja auch nicht sein, dass Ma mal ein Kind war. »Möchtest du dich mal auf Grandmas Schoß setzen, dann lese ich dir eins vor.«

»Nein danke.«

Es gibt Die kleine Raupe Nimmersatt und Der freigiebige Baum und Lauf, Hündchen, lauf und Der Lorax und Die Geschichte von Peter Hase. Ich gucke mir alle Bilder an.

»Ich meine es ernst. Ich will es ganz genau wissen«, sagt Grandma gerade ganz leise zu Ma. »Das werde ich schon packen.«

»Das bezweifle ich.«

»Leg einfach los.«

Ma schüttelt weiter den Kopf. »Was soll das denn bringen, Mom? Es ist doch vorbei, ich bin auf der anderen Seite.«

»Aber Schatz …«

»Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, du würdest nicht jedes Mal an den ganzen Scheißdreck denken, sobald du mich ansiehst, verstehst du?«

Noch mehr Tränen rollen an Grandma runter. »Ach, mein Herzchen«, sagt sie, »das Einzige, was ich denke, wenn ich dich ansehe, ist: Halleluja.«

Als sie weg ist, liest Ma mir das mit dem Hasen vor, es ist ein Peter, aber nicht der Heilige. Er hat altmodische Sachen an und wird von einem Gärtner gejagt, keine Ahnung, warum er auch ausgerechnet Gemüse stehlen muss. Stehlen ist schlecht, aber wenn ich ein Stehler wäre, würde ich gute Sachen stehlen, so was wie Autos und Schokolade. Es ist kein richtig tolles Buch, aber toll ist, dass ich jetzt so viele neue habe. In Raum hatte ich fünf, aber jetzt sind es noch mal fünf mehr, das macht zusammen zehn. Aber die alten fünf Bücher sind ja eigentlich gar nicht da, also habe ich wohl nur die fünf neuen. Die in Raum gehören jetzt ja vielleicht gar keinem mehr.

Grandma bleibt nur ein bisschen, weil wir schon wieder anderen Besuch haben, es ist unser Anwalt Morris. Ich wusste gar nicht, dass wir einen haben, so wie auf dem Gerichtsplaneten, wo die Leute immer schreien und der Richter mit dem Hammer haut. Wir treffen ihn in einem Raum im Nicht-Oben, da gibt es einen Tisch, und es riecht süß. Seine Haare sind total geringelt. Während er und Ma reden, übe ich Naseputzen.

»Diese Zeitung zum Beispiel, die ein Foto von Ihnen aus der fünften Klasse abgedruckt hat«, sagt er. »Das ist ein glasklarer Fall von Verletzung der Privatsphäre.«

Das Ihnen bedeutet Ma, nicht ich, ich kenne mich schon immer besser aus.

»Sie meinen, wir sollen klagen? Das ist nun wirklich das Letzte, was mir auf der Seele liegt«, sagt sie ihm. Ich zeige ihr mein Taschentuch mit dem Rotz drin, sie hält den Daumen hoch.

Morris nickt ganz viel. »Ich will damit nur sagen, Sie müssen auch an Ihre Zukunft denken und an die des Jungen.« Der Junge, das bin ich. »Na gut, das Cumberland verzichtet fürs Erste auf jegliche Vergütung, und außerdem habe ich auf Wunsch Ihrer Fans einen Fonds eingerichtet. Trotzdem muss ich Ihnen sagen, früher oder später kommen Rechnungen auf Sie zu, das können Sie sich gar nicht vorstellen, Reha, irgendwelche ausgefallenen Therapien, die Wohnung, Schulgeld und Studiengebühren für Sie beide …«

Ma reibt sich die Augen.

»Ich will Sie ja nicht drängen.«

»Sie sagten gerade … meine Fans.«

»Aber klar«, sagt Morris. »Es trudeln alle möglichen Spenden ein, jeden Tag ungefähr ein Sack voll.«

»Ein Sack voll was?«

»Alles Mögliche. Ich habe Ihnen mal eine Auswahl mitgebracht …« Er zieht eine Plastiktüte hinter dem Stuhl hervor und holt Päckchen heraus.

»Sie haben ja alles geöffnet«, sagt Ma und schaut in die Umschläge.

»Glauben Sie mir, dieses Zeug muss gefiltert werden. K-O-T, und das ist noch das Geringste.«

»Warum schickt uns jemand Kacka?«, frage ich Ma.

Morris guckt uns an.

»Er kann nun mal gut buchstabieren«, erklärt Ma ihm.

»Ähm, du wolltest wissen, warum, Jack? Weil da draußen ein Haufen Verrückter herumläuft.«

Ich dachte, die ganzen Verrückten sind hier in der Klinik und kriegen geholfen.

»Aber das meiste, was ihr bekommt, ist von Gratulanten«, sagt Morris. »Schokolade, Spielzeug, lauter solches Zeug.«

Schokolade!

»Ich habe mir gedacht, als Erstes bringe ich Ihnen schon mal die Blumen mit, meine Sekretärin bekommt davon nämlich Kopfschmerzen.« Er hebt eine Riesenmenge Blumen in unsichtbarem Plastik hoch. Das ist es also, was da so riecht.

»Was für Spielzeug?«, flüstere ich.

»Guck mal, hier ist was«, sagt Ma und zieht einen Umschlag heraus. Es ist eine kleine Eisenbahn aus Holz. »Nicht grapschen.«

»Tut mir leid.« Ich mache puff-puff über den ganzen Tisch, dann das Bein runter und über den Boden bis an die Wand, in dem Raum hier ist er blau.

»… massives Interesse von einer ganzen Anzahl von Sendern«, sagt Morris gerade, »Sie sollten sich überlegen, irgendwann ein Buch zu schreiben …«

Mas Mund ist nicht freundlich. »Sie wollen also sagen, wir sollten uns verkaufen, bevor sonst jemand das macht.«

»So würde ich das nicht ausdrücken. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie der Welt da draußen etwas zu sagen haben. Zum Beispiel diese ganze Nummer mit der neuen Bescheidenheit, da treffen Sie aber so was von voll auf den Zeitgeist.«

Ma prustet los.

Morris hebt die Hände hoch. »Aber das liegt natürlich ganz bei Ihnen. Und morgen ist ja auch noch ein Tag.«

Sie liest ein paar von den Briefen. »Kleiner Jack, du wunderbarer Junge, genieße jeden Augenblick, das hast du dir verdient, du warst ja wirklich in der Hölle.«

»Wer hat das gesagt?«, frage ich.

Sie dreht das Blatt um. »Die kennen wir nicht.«

»Warum sagt sie, ich bin wunderbar?«

»Sie hat einfach im Fernsehen von dir gehört.«

Ich suche in den dicksten Umschlägen nach noch mehr Eisenbahnen.

»Hier, die sehen gut aus«, sagt Ma und hält eine kleine Schachtel mit Schokolädchen hoch.

»Da sind ja noch mehr.« Ich habe eine riesengroße gefindet.

»Nein, das sind zu viele, da werden wir nur krank.«

Ich bin ja schon krank mit meinem Schnupfen, deshalb wäre mir das egal.

»Wir schenken sie jemandem«, sagt Ma.

»Wem?«

»Vielleicht den Schwestern.«

»Spielzeug und solche Sachen kann ich ja einem Kinderkrankenhaus spenden«, sagt Morris.

»Gute Idee. Such dir ein paar aus, die du behalten willst«, sagt Ma.

»Wie viele?«

»So viele du willst«, sagt sie und liest noch einen Brief. »Gott schütze Sie und Ihren süßen Sohn, er ist ein Heiliger. Ich bete dafür, dass Sie alle Schönheiten entdecken werden, die diese Welt zu bieten hat. Mögen all Ihre Träume wahr werden und Ihr Lebensweg geebnet sein von Glück und Gold.« Sie legt ihn auf den Tisch. »Wie soll ich bloß je die Zeit finden, das alles zu beantworten?«

Morris schüttelt den Kopf. »Dieser Mistk… sagen wir einfach, der Verdächtige … der hat Ihnen schon die besten sieben Jahre Ihres Lebens gestohlen. Wenn Sie mich fragen, ich würde keine einzige Sekunde mehr verschwenden.«

»Woher wissen Sie, dass das die besten Jahre meines Lebens gewesen wären?«

Er zuckt mit den Achseln. »Ich dachte ja nur … Sie waren doch damals erst neunzehn, oder?«

Es gibt supercoole Sachen, zum Beispiel ein Auto mit Rädern, die schwrummm machen, und eine Pfeife, die aussieht wie ein Schwein. Ich puste rein.

»Mensch, das ist aber laut«, sagt Morris.

»Zu laut«, sagt Ma.

Ich puste noch mal.

»Jack …«

Ich lege sie hin und finde ein samtiges Krokodil, so lang wie mein Bein. Dann eine Rassel mit einer Klingel drin und ein Clownsgesicht, das Ha ha ha ha ha sagt, wenn ich auf die Nase drücke.

»Das auch nicht, da kriegt man ja Gänsehaut«, sagt Ma.

Ich flüstere dem Clown Mach’s gut zu und schiebe ihn wieder in den Umschlag. Außerdem gibt es noch so ein Viereck mit einem Stift dran, auf dem kann ich malen, aber es ist richtig hartes Plastik, kein Papier, und eine Schachtel mit Affen, die haben ganz gebogene Arme und Schwänze, und man kann daraus eine Affenkette machen. Dann noch ein Feuerwehrauto und einen Teddybär mit einer Kappe auf, die nicht mal abgeht, wenn ich ganz fest ziehe. Auf dem Etikett ist ein Bild von einem Babygesicht mit einem Strich drüber und 0–3. Heißt das vielleicht, dass Babys in drei Sekunden davon sterben?

»Komm schon, Jack«, sagt Ma. »So viel brauchst du doch gar nicht.«

»Wie viel brauche ich denn?«

»Keine Ahnung …«

»Wenn Sie bitte hier, hier und hier unterschreiben würden«, sagt Morris gerade.

Sie sieht von den Zetteln hoch, auf denen sie schreibt. »Such dir … hmm … such dir einfach fünf aus.«

Ich zähle. Das Auto und die Affen und das Schreibeviereck und die Holzeisenbahn und die Rassel und das Krokodil. Das sind sechs, nicht fünf, aber Ma und Morris reden und reden. Ich suche mir einen großen leeren Umschlag, und da stecke ich alle sechs rein.

»Okay«, sagt Ma und wirft die restlichen Päckchen wieder in die große Tüte.

»Warte«, sage ich, »ich kann doch was auf die Tüte schreiben, ich kann draufmalen: Geschenke von Jack für die kranken Kinder.«

»Lass das mal Morris machen.«

»Aber …«

Ma pustet die Luft aus den Backen. »Wir haben eine Menge Sachen zu tun, und ein paar von den Sachen müssen wir nun mal andere Leute für uns erledigen lassen, sonst platzt mir der Kopf.«

Warum platzt ihr der Kopf, bloß weil ich auf die Tüte schreibe?

Ich hole die Eisenbahn wieder raus, ich lasse sie durch mein T-Shirt hochfahren, sie ist mein Baby, es guckt raus, und ich küsse es überall.

»Vermutlich im Januar, frühestens aber im Oktober könnte die Sache vor Gericht verhandelt werden«, sagt Morris.

Bei Alice will das Gericht wissen, wer die Kuchen gestohlen hat, die Eidechse Bill muss mit dem Finger schreiben, und als Alice die Geschworenenbank umwirft, stellt sie sie aus Versehen falsch rum wieder auf, haha.

»Nein, ich will wissen, wie lange er im Gefängnis bleibt«, sagt Ma.

Sie meint ihn. Old Nick.

»Nun ja, wie ich vom Bezirksstaatsanwalt höre, hofft er auf fünfundzwanzig bis lebenslang, und bei Verstößen gegen Bundesgesetze gibt es keine Bewährung«, sagt Morris. »Immerhin haben wir es hier zu tun mit Entführung aus sexuellen Beweggründen, Freiheitsberaubung sowie vielfacher Vergewaltigung und Körperverletzung …« Er zählt an seinen Fingern, nicht in seinem Kopf.

Ma nickt. »Und was ist mit dem Baby?«

»Meinen Sie Jack?«

»Ich meine das erste. Gilt das nicht irgendwie als Mord?«

Diese Geschichte habe ich überhaupt noch nie gehört.

Morris verzieht den Mund. »Nicht, wenn es nicht lebend geboren wurde.«

»Sie.«

Ich weiß nicht, wer die Sie ist.

»Sie natürlich, ich bitte um Entschuldigung«, sagt Morris. »Das Höchste, worauf wir hier hoffen können, ist fahrlässige Tötung, möglicherweise auch Totschlag …«

Sie versuchen, Alice aus dem Gericht zu verbannen, weil sie mehr Groß hat als eine Meile. Da gibt es so ein Gedicht, aber schwer zu verstehen:



Würd’ ich und sie vielleicht darein

Verwickelt und verfahren,

Vertraut er dir, sie zu befrei’n,

Gerade wie wir waren.

Plötzlich ist Noreen da, ohne dass ich es gemerkt habe, sie fragt, ob wir lieber nur für uns oder im Speisesaal zu Abend essen wollen.

Ich trage meine ganzen Spielsachen in dem großen Umschlag. Ma weiß nicht, dass es sechs sind und nicht fünf. Ein paar Personen winken, als wir reinkommen, also winke ich zurück, zum Beispiel dem Mädchen mit ohne Haare und am ganzen Hals Tattoos. Eigentlich stören Personen mich nicht besonders, solange sie mich nicht anfassen.

Die Frau mit der Schürze sagt, sie hat gehört, dass ich ins Draußen gegangen bin. Wie sie mich gehört hat, weiß ich aber nicht. »Und, hat es dir gefallen?«

»Nein«, sage ich. »Ich meinte, nein danke.«

Ich lerne viele neue Manieren. Wenn etwas eklig schmeckt, sagt man, es ist interessant, zum Beispiel wilder Reis, der fühlt sich beim Beißen so an, als wäre er gar nicht gekocht. Wenn ich mir meine Nase putze, falte ich das Taschentuch zusammen, damit niemand den Rotz sieht, das ist ein Geheimnis. Wenn ich will, dass Ma mir zuhört und nicht irgendeiner Person, sage ich: »Entschuldigung«, manchmal muss ich auch erst ewig »Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung« sagen, und wenn sie dann fragt, was ist, weiß ich es nicht mehr.

Als wir im Schlafanzug auf dem Bett liegen und ich was kriege, fällt es mir wieder ein. »Wer ist das erste Baby?«, frage ich.

Ma guckt zu mir runter.

»Du hast Morris gesagt, es gab eine Sie, die hat einen Mord gemacht.«

Ma schüttelt den Kopf. »Was ich meinte, war, sie ist ermordet worden … irgendwie.« Ihr Gesicht ist von mir weg.

»Hab ich das gemacht?«

»Aber nein! Du hast gar nichts gemacht. Es war ein Jahr bevor du überhaupt geboren wurdest«, sagt Ma. »Weißt du noch, wie ich dir immer erzählt habe, dass du, als du das erste Mal auf Bett kamst, ein Mädchen warst?«

»Ja.«

»Damit habe ich sie gemeint.«

Jetzt bin ich noch durcheinanderer.

»Ich glaube, sie hat versucht, du zu sein. Die Sache mit der Schnur …« Ma legt den Kopf in ihre Hände.

»Die von der Jalousie?« Ich gucke zur Jalousie, durch die Streifen kommt nur noch Dunkel.

»Nein, du weißt doch, die Schnur, die in den Bauchnabel geht.«

»Die hast du mit Schere durchgeschneidet, und dann war ich frei.«

Ma nickt. »Aber bei dem kleinen Mädchen hat sie sich ganz verheddert, als sie herauskam, deshalb konnte sie nicht atmen.«

»Die Geschichte gefällt mir nicht.«

Sie drückt sich auf die Augenbrauen. »Lass mich erst mal zu Ende erzählen.«

»Ich will …«

»Er stand direkt daneben und hat zugesehen.« Ma schreit beinahe. »Er hatte keinen blassen Schimmer, wie man ein Kind auf die Welt bringt, er hat sich noch nicht mal die Mühe gemacht, das zu googeln. Ich konnte ihre Schädeldecke fühlen, sie war ganz glitschig, ich habe gepresst und gepresst. Ich habe geschrien: ›Hilf mir, ich schaffe es nicht, hilf mir!‹ Und er hat einfach nur dagestanden.«

Ich warte. »Ist sie in deinem Bäuchlein geblieben? Das kleine Mädchen?«

Erst sagt Ma gar nichts und dann: »Als sie rauskam, war sie ganz blau.«

Blau?

»Sie hat nie ihre Augen aufgemacht.«

»Dann solltest du bei Old Nick nach Medizin für sie fragen, als Sonntagsgutti.«

Ma schüttelt den Kopf. »Die Nabelschnur hatte sich ganz fest um ihren Hals gewickelt.«

»War sie immer noch in dir festgebunden?«

»Bis er sie abgeschnitten hat.«

»Und dann war sie frei?«

Auf die ganze Decke fallen Tränen. Ma nickt und weint, aber auf stumm.

»Ist sie jetzt fertig? Die Geschichte?«

»Fast.« Ihre Augen sind zu, aber trotzdem läuft immer noch Wasser raus. »Er hat sie mitgenommen und unter einem Busch im Garten vergraben. Das heißt, nur ihren Körper.«

Der war blau.

»Ihr eigentliches Ich ist sofort in den Himmel gekommen.«

»Ist sie da recycelt worden?«

Beinahe lächelt Ma. »Die Vorstellung daran, dass es so gewesen ist, finde ich jedenfalls schön.«

»Warum findest du sie schön?«

»Vielleicht warst es ja wirklich von Anfang an du. Ein Jahr später hast du es dann noch mal probiert und bist diesmal als Junge zurückgekommen.«

»Und da war ich in echt. Ich bin nicht wieder weggegangen.«

»Das wär doch gar nicht in die Tüte gekommen.« Noch mehr Tränen fallen raus, sie reibt sie weg. »Diesmal habe ich ihn nicht in Raum reingelassen.«

»Warum nicht?«

»Als ich die Türe hörte, das Piepen, da habe ich gebrüllt: ›Verschwinde!‹«

Ich wette, da war er aber sauer.

»Diesmal hatte ich mir alles überlegt. Ich wollte, dass nur wir zwei dabei waren.«

»Und was für eine Farbe hatte ich?«

»Knallrot.«

»Und habe ich meine Augen aufgemacht?«

»Du bist sogar schon mit offenen Augen geboren.«

Ich gähne ganz lange. »Können wir jetzt schlafen?«

»Na klar«, sagt Ma.





In der Nacht falle ich, boing, auf den Boden. Meine Nase läuft ganz viel, aber ich weiß im Dunkel nicht mehr, wie putzen geht.

»Das Bett hier ist für zwei zu klein«, sagt Ma am nächsten Morgen. »In dem anderen hättest du es bestimmt bequemer.«

»Nein.«

»Und wie wäre es, wenn wir die Matratze rausnehmen und direkt hier neben mein Bett legen? Dann könnten wir sogar Händchen halten.«

Ich schüttele den Kopf.

»Jack, wir müssen uns was einfallen lassen.«

»Wir bleiben lieber beide in dem einen, aber wir lassen die Ellbogen drin.«

Ma putzt sich ganz laut die Nase, ich glaube, der Schnupfen ist von mir auf sie gesprungen, aber haben tue ich ihn auch noch.

Wir haben abgemacht, dass ich mit ihr in die Dusche komme, aber den Kopf draußen lasse. Das Pflaster an meinem Finger ist abgefallen, und ich kann es nicht wiederfinden. Ma bürstet mir die Haare, die Knötchen tun weh. Wir haben eine Haarbürste und zwei Zahnbürsten und unsere ganzen neuen Sachen und die kleine Holzeisenbahn und noch andere Spielsachen. Ma hat immer noch nicht gezählt, deshalb weiß sie nicht, dass ich sechs genommen habe anstatt fünf. Ich weiß nicht, wo die Sachen hingehören, ein paar auf die Kommode, ein paar auf den Tisch neben dem Bett, ein paar in den Schrank, immer wieder muss ich Ma fragen, wohin ich alles räumen soll.

Sie liest eins von ihren Büchern ohne Bilder, aber anstatt bringe ich ihr die mit Bildern. Die kleine Raupe Nimmersatt ist eine furchtbare Verschwenderin, sie frisst nur Löcher in Erdbeeren und Salami und überhaupt in alles und lässt den Rest liegen. Ich kann meinen wirklichen Finger durch die Löcher stecken, erst denke ich, jemand hat das Buch kaputt gemacht, aber Ma sagt, das ist extra so, damit es noch mehr Spaß macht. Mir gefällt Lauf, Hündchen, lauf besser, vor allem die Stelle, wo die Hündchen sich mit Tennisschlägern zanken.

Noreen klopft und bringt ein paar aufregende Sachen. Erstens ganz weiche, biegsame Schuhe, die sind wie Socken, aber aus Leder. Dann eine Uhr mit Zahlen, damit ich sie lesen kann wie unseren Uhr. Ich sage: »Es ist jetzt neun Uhr siebenundfünfzig.« Für Ma ist sie zu klein, sie gehört nur mir. Noreen zeigt mir, wie man das Band an meinem Handgelenk festmacht.

»Jeden Tag Geschenke, da wird er ja vollkommen verwöhnt«, sagt Ma und schiebt ihre Maske wieder hoch, damit sie sich die Nase putzen kann.

»Dr. Clay hat gesagt, alles, was dem Jungen ein Gefühl der Stabilität gibt, ist gut.« Wenn sie lächelt, verknittern ihre Augen. »Du hast doch bestimmt ein bisschen Sehnsucht nach zu Hause.«

»Sehnsucht nach zu Hause?« Ma starrt sie an.

»Entschuldigung, ich wollte nicht …«

»Das war kein Zuhause, es war eine schalldichte Zelle.«

»So habe ich das nicht gemeint, bitte verzeihen Sie«, sagt Noreen.

Sie geht ganz schnell raus. Ma sagt nichts, sie schreibt nur in ihr Notizbuch.

Wenn Raum nicht unser Zuhause war, heißt das dann, dass wir keins haben?

Heute Morgen klatsche ich Dr. Clay ab, er ist begeistert.

»Es kommt mir ein bisschen lächerlich vor, weiter diese Masken zu tragen, wenn wir sowieso schon total verschnupft sind«, sagt Ma.

»Es gibt aber auch noch Schlimmeres.«

»Mag sein, aber wir müssen ja sowieso andauernd die Masken hochschieben, um uns die Nase zu putzen …«

Er zuckt mit den Achseln. »Letztendlich ist es Ihre Entscheidung.«

»Masken ab, Jack«, sagt Ma.

»Hurra.«

Wir werfen sie in den Müll.

Dr. Clays Buntstifte wohnen in einer besonderen Schachtel aus Pappe, auf der 120 steht, so viele sind nämlich verschieden. Sie haben ganz erstaunliche Namen, die klein an der Seite stehen, so wie Atomic Tangerine und Fuzzy Wuzzy und Inchworm und Outer Space, ich wusste gar nicht, dass das Weltall eine Farbe hat, oder Purple Mountain’s Majesty und Razzmatazz und Unmellow Yellow und Wild Blue Yonder. Manche sind extra falsch buchstabiert so wie Mauvelous, das soll ein Witz sein, aber ich finde es nicht lustig. Dr. Clay sagt, ich kann alle benutzen, aber ich suche mir nur die fünf Farben aus, die ich von Raum kenne, einen blauen und einen grünen und einen orangenen und einen roten und einen braunen. Er fragt, ob ich vielleicht Raum malen kann, aber ich male schon in Braun ein Raumschiff. Es gibt sogar einen weißen Buntstift, wäre der nicht unsichtbar?

»Und wenn das Papier schwarz ist?«, fragt Dr. Clay. »Oder rot?« Er sucht mir ein schwarzes Blatt heraus, ich probiere, und er hat recht, da drauf kann ich das Weiße sehen. »Was soll denn das Viereck um die Rakete sein?«

»Wände«, erkläre ich ihm. Außerdem gibt es mich als kleines Mädchen, wie ich zum Abschied winke, und das Jesuskind und Johannes den Täufer, sie haben keine Kleider an, weil es sonnig ist vom gelben Gesicht von Gott.

»Ist deine Ma auch auf dem Bild?«

»Sie ist da ganz unten und hält ein Mittagsschläfchen.«

Die richtige Ma lacht ein bisschen und putzt sich die Nase.

»Und was ist mit dem Mann, den ihr Old Nick nennt? Ist der irgendwo?«

»Na gut, der kann hier unten in der Ecke sein, in seinem Käfig.« Ich male ihn und mache die Gitterstäbe ganz dick, er beißt rein. Es gibt zehn Stäbe, das ist die stärkste Anzahl, nicht mal ein Engel könnte sie mit seinem Schneidbrenner aufbrennen, und Ma sagt, für so einen bösen Mann würde sowieso kein Engel seinen Schneidbrenner anmachen. Ich zeige Dr. Clay, wie viele Zahlen ich zählen kann, ich komme bis 1 000 029 und sogar noch weiter, wenn ich will.

»Ich kenne einen kleinen Jungen, der zählt immer wieder dieselben Dinge, wenn er sich irgendwie unsicher fühlt, er kann gar nichts dagegen tun.«

»Was für Dinge?«, frage ich.

»Die Ritzen auf dem Bürgersteig, Knöpfe, solche Sachen.«

Ich finde, der Junge sollte lieber seine Zähne zählen, die sind nämlich immer da, außer sie fallen aus.

»Sie sprechen immer von Trennungsangst«, sagt Ma zu Dr. Clay, »dabei werden Jack und ich doch gar nicht voneinander getrennt.«

»Aber Sie sind jetzt auch nicht mehr nur zu zweit, nicht wahr?«

Sie kaut auf ihren Lippen. Sie sprechen über Soziale Wiedereingliederung und Selbstvorwürfe.

»Den größten Gefallen haben Sie ihm damit getan, dass Sie ihn frühzeitig da herausgeschafft haben«, sagt Dr. Clay. »Mit fünf sind sie noch formbar wie Knete.«

Aber ich bin gar nicht aus Knete, ich bin ein richtiger Junge.

»… möglicherweise noch jung genug, um es zu vergessen«, sagt er gerade, »das wäre ein Segen.«

Segen macht doch das Jesuskind.

Ich will noch weiter mit der Jungenpuppe spielen, die die Zunge herausstreckt, aber die Zeit ist um, jetzt muss Dr. Clay mit Mrs. Garber spielen. Er sagt, ich kann die Puppe bis morgen ausleihen, aber trotzdem gehört sie immer noch Dr. Clay.

»Warum?«

»Na ja, weil alles auf der Welt irgendjemandem gehört.«

So wie meine sechs neuen Spielsachen und meine fünf neuen Bücher, und ich glaube, Schlimmerzahn gehört auch mir, weil Ma ihn nicht mehr wollte.

»Außer den Dingen, die allen gehören«, sagt Dr. Clay. »Zum Beispiel die Flüsse und die Berge.«

»Und die Straße?«

»Ganz richtig, wir dürfen alle die Straßen benutzen.«

»Ich bin auf der Straße gelaufen.«

»Als du geflohen bist, das stimmt.«

»Weil wir ihm nämlich nicht gehört haben.«

»Genau.« Dr. Clay lächelt. »Weißt du, wem du gehörst, Jack?«

»Ja.«

»Dir ganz allein.«

Da vertut er sich, ich gehöre Ma.

Die Klinik hat immer noch mehr Teile, zum Beispiel einen gigantossalen Raum mit einem riesigen Fernseher. Ich hopse rauf und runter, weil ich hoffe, dass Dora kommt oder SpongeBob. Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen. Aber es kommt nur Golf, drei alte Leute gucken zu, die Namen weiß ich nicht.

Im Flur fällt es mir wieder ein, ich frage: »Wofür ist der Segen?«

»Häh?«

»Dr. Clay hat gesagt, dass ich aus Knete bin und vergessen würde.«

»Ach so«, sagt Ma. »Er denkt sich, dass du dich schon bald nicht mehr an Raum erinnern kannst.«

»Kann ich doch.« Ich starre sie an. »Soll ich ihn etwa vergessen?«

»Ich weiß auch nicht.«

Das sagt sie neuerdings immer. Sie ist schon vorgegangen und an den Stufen. Ich muss rennen, damit ich sie einhole.

Dann nach dem Mittagessen. Ma sagt, es wird Zeit, dass wir mal wieder versuchen, ins Draußen zu gehen. »Wenn wir die ganze Zeit drinnen blieben, wäre es ja genauso, als hätten wir unsere spannende Flucht gar nicht gemacht.« Sie hört sich sauer an, sie bindet sich schon die Schnürsenkel zu.

Nach meiner Mütze und der Sonnenbrille und den Schuhen und schon wieder dem klebrigen Zeug bin ich müde.

Noreen wartet am Aquarium auf uns.

Es ist so hell, dass ich meine, ich muss losschreien. Dann wird meine Sonnenbrille dunkler, und ich kann nichts mehr sehen. Die Luft in meiner wunden Nase riecht komisch, und mein Hals ist ganz eng. »Stell dir einfach vor, du siehst das alles im Fernsehen«, sagt mir Noreen ins Ohr.

»Häh?«

»Versuch es einfach mal.« Dann spricht sie mit einer Extrastimme: »Hier sehen wir einen Jungen namens Jack, der mit seiner Mutter und ihrer Freundin Noreen spazieren geht.«

Ich gucke ihr zu.

»Was hat Jack denn da auf seinem Gesicht?«, sagt sie.

»Eine coole rote Sonnenbrille.«

»In der Tat. Seht mal, sie gehen alle an einem milden Apriltag über den Parkplatz.«

Es sind vier Autos da, ein rotes und ein grünes und ein schwarzes und ein braungoldenes. Burnt Siena, so heißt der Buntstift. In den Fenstern drin sind sie wie kleine Häuser mit Sitzen. In dem roten hängt ein Teddybär am Spiegel. Ich streichle das Vorderteil von dem Auto, es ist ganz glatt und so kalt wie ein Eiswürfel. »Vorsicht«, sagt Ma, »sonst löst du noch die Alarmanlage aus.«

Das wusste ich nicht, ich klemme meine Hände wieder unter die Ellbogen.

»Komm, wir gehen aufs Gras.« Sie zerrt mich ein bisschen.

Ich zertrample die grünen Nägel mit meinen Füßen. Dann bücke ich mich und reibe drüber, sie pieksen mich nicht in die Finger. Der eine, den Raja fressen wollte, ist fast schon wieder zugewachsen. Ich gucke wieder auf das Gras, da liegt ein Zweig und ein Blatt, das ist braun, und dann noch was, das ist gelb.

Dann ein Summen, deshalb gucke ich hoch, der Himmel ist so groß, dass er mich fast umhaut. »Ma. Noch ein Flugzeug!«

»Kondensstreifen«, sagt sie und zeigt hoch. »Gerade ist es mir wieder eingefallen, so heißt die Linie da oben.«

Ich trete aus Versehen auf eine Blume, es gibt Hunderte, keine Sträuße, wie die Verrückten sie uns mit der Post schicken, sie wachsen direkt auf der Erde wie Haare auf meinem Kopf. »Osterglocken«, sagt Ma und zeigt drauf, »Magnolien, Tulpen, Flieder. Sind das da Apfelblüten?« Sie riecht an allem, sie schiebt meine Nase an eine Blume, aber die ist zu süß, und mir wird schwindelig. Sie sucht einen Flieder aus und gibt ihn mir.

Von nahe dran sind die Bäume riesige Riesen, sie sind nicht wie Haut, sie sind höckeriger. Ich finde ein dreieckiges Ding so groß wie meine Nase, und Noreen sagt, das ist ein Stein.

»Er ist Millionen von Jahren alt«, sagt Ma.

Woher weiß sie das? Ich gucke unten drunter, kein Etikett.

»He, schau doch mal.« Ma kniet sich hin.

Da krabbelt was. Eine Ameise. »Nicht!«, schreie ich und lege meine Hände über sie wie einen Panzer.

»Was ist denn los?«, fragt Noreen.

»Bitte, bitte, bitte«, sage ich zu Ma, »nicht die.«

»Keine Sorge«, sagt sie, »natürlich zerquetsche ich sie nicht.«

»Versprich es.«

»Ich verspreche es.«

Als ich meine Hände wegnehme, ist die Ameise weg, und ich weine.

Aber dann findet Noreen noch eine und noch eine, und noch zwei andere tragen irgendwas zwischen sich, das zehnmal so groß ist wie sie selbst.

Dann kommt etwas aus dem Himmel gezwirbelt und landet vor mir, ich springe zurück.

»Oh, ein Ahornflügel«, sagt Ma.

»Warum?«

»Das ist der Same von diesem Ahornbaum, der ist in dem kleinen … in dem Flügelpaar hier, damit er ganz weit kommt.«

Er ist so dünn, dass ich durch die trockenen kleinen Linien gucken kann, in der Mitte ist das Braun dicker. Und es gibt ein kleines Loch. Ma wirft ihn in die Luft, und er kreiselt wieder runter.

Ich zeige ihr noch einen, bei dem stimmt was nicht. »Er hat nur noch einen Flügel, den anderen hat er verloren.«

Als ich ihn hochwerfe, fliegt er immer noch einigermaßen, also stecke ich ihn in meine Tasche.

Aber das Coolste ist, dass es da plötzlich so einen surrenden Ton gibt, und als ich hochgucke, ist es ein Helikopter, viel größer als das Flugzeug.

»Machen wir, dass wir reinkommen«, sagt Noreen.

Ma packt mich an der Hand und zerrt mich weg.

»Warte …«, sage ich, aber ich habe keine Luft mehr übrig, und sie ziehen mich zwischen sich mit, meine Nase läuft.

Als wir wieder durch die Drehtür springen, ist mir ganz verschwommen im Kopf. Der Helikopter war voller Paparazzi, und die wollten Bilder von mir und Ma stehlen.





Nach unserem Mittagsschläfchen ist mein Schnupfen immer noch nicht repariert. Ich spiele mit meinen Schätzen, meinem Stein und meinem verletzten Ahornflügel und meinem Flieder, der ist ganz labberig geworden. Grandma klopft mit noch mehr Besuch, aber sie wartet draußen, damit es nicht so ein Gedränge gibt. Die Personen sind zwei, sie heißen mein Onkel, also Paul, der hat ganz labberige Haare nur bis an die Ohren, und Deana, das ist meine Tante, und die hat eine viereckige Brille und eine Million schwarzer Zöpfe wie Schlangen. »Wir haben ein kleines Mädchen, die heißt Bronwyn, und die wird ausflippen, wenn sie dich kennenlernen darf«, sagt sie. »Sie hat gar nicht gewusst, dass sie einen Vetter hat … na ja, vor zwei Tagen wussten wir das ja alle noch nicht, bis Grandma angerufen und uns Bescheid gesagt hat.«

»Wir wären ja sofort in den Wagen gesprungen, aber die Ärzte meinten …« Paul hört auf zu reden und hält sich die Faust an die Augen.

»Ist doch alles gut«, sagt Deana und reibt ihn am Bein.

Er räuspert sich ganz laut. »Es ist nur … es haut mich einfach immer noch um.«

Ich sehe nichts nach ihm hauen.

Ma legt ihm den Arm um die Schulter. »Die ganzen Jahre über hat er geglaubt, seine kleine Schwester wäre tot«, sagt sie.

»Bronwyn?« Das sage ich auf stumm, aber sie hört mich trotzdem.

»Nein, ich. Weißt du nicht mehr? Paul ist doch mein Bruder.«

»Doch, weiß ich.«

»Ich wusste nicht, was ich …« Seine Stimme hört wieder auf, und er putzt sich ganz laut die Nase. Viel, viel lauter als ich, wie bei Elefanten.

»Aber wo ist Bronwyn?«, fragt Ma.

»Na ja, wir dachten …«, sagt Deana. Sie sieht Paul an.

Der sagt: »Ihr zwei werdet sie sicher bald kennenlernen. Sie geht zu den Kleinen Schlaubergern.«

»Was ist das?«, frage ich.

»Ein Haus, wo Eltern ihre Kinder hinschicken, wenn sie gerade etwas anderes zu tun haben«, sagt Ma.

»Warum haben die Kinder was zu tun?«

»Nein, wenn die Eltern zu tun haben.«

»Bronwyn ist sogar ganz scharf darauf«, sagt Deana.

»Da lernt sie Sign und Hip-Hop.«

Er will ein paar Fotos machen, damit er sie Grandpa in Australien mailen kann, der morgen ins Flugzeug steigt. »Keine Sorge, er wird sich schon wieder einkriegen, wenn er ihn erst mal gesehen hat«, sagt Paul zu Ma, aber bei den ganzen Ihms und Ihns blicke ich nicht mehr durch. Außerdem weiß ich nicht, wie man in ein Foto kommt, aber Ma sagt, wir gucken einfach nur in die Kamera, als ob sie ein Freund wäre, und lächeln.

Danach zeigt Paul mir den kleinen Bildschirm und fragt mich, welches ich am besten finde, das erste oder das zweite oder das dritte, aber sie sind alle gleich.

Von dem ganzen Reden sind meine Ohren müde.

Als sie weg sind, denke ich eigentlich, jetzt sind wir nur noch zu zweit, aber da kommt Grandma rein und umarmt Ma ganz lange und pustet mir wieder einen Kuss zu, diesmal von so nah, dass ich das Pusten merke. »Und wie geht es meinem Lieblingsenkel heute?«

»Sie meint dich«, sagt mir Ma. »Was sagt man, wenn jemand dich fragt, wie es dir geht?«

Schon wieder Manieren. »Danke.«

Sie lachen beide, ich habe aus Versehen schon wieder einen Witz gemacht. »Erst ›sehr gut‹ und dann ›danke‹«, sagt Grandma.

»Sehr gut und dann danke.«

»Außer natürlich, es geht dir gar nicht gut, dann kannst du auch sagen: ›Heute nicht so hundertprozentig.‹« Sie dreht sich wieder zu Ma um. »Ach übrigens, Sharon, Michael Keelor und Joyce Soundso … die haben schon mehrmals angerufen.«

Ma nickt.

»Sie können es kaum erwarten, dich wiederzusehen.«

»Ich bin … die Ärzte sagen, für Besuche ist es bei mir noch ein bisschen früh«, sagt Ma.

»Aber sicher, natürlich.«

Der Leo-Mann steht an der Tür.

»Kann er nicht mal kurz reinkommen?«, fragt Grandma.

»Mir egal«, sagt Ma.

Er ist mein Stief-Grandpa, deshalb meint Grandma, ich soll ihn doch einfach Stiefpa nennen, ich wusste gar nicht, dass sie auch Wörtersandwich kennt. Er riecht komisch, irgendwie nach Rauch, er hat ganz krumme Zähne und überall Augenbrauen.

»Wieso hat er lauter Haare im Gesicht und keine am Kopf?«

Er lacht, trotzdem ich das nur zu Ma geflüstert habe. »Wenn ich das wüsste«, sagt er.

»Wir haben uns auf einem Indian Head Massage Weekend kennengelernt«, sagt Grandma, »und ich habe mir ihn ausgesucht, weil er sozusagen die glatteste Arbeitsoberfläche bot.« Sie lachen alle beide, Ma aber nicht.

»Kann ich was kriegen?«, frage ich.

»Gleich«, sagt Ma, »wenn sie gegangen sind.«

Grandma fragt: »Was will er?«

»Ist schon in Ordnung.«

»Soll ich die Schwester rufen?«

Ma schüttelt den Kopf. »Er meint Stillen.«

Grandma starrt sie an. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass du ihn immer noch …«

»Es gab keinen Grund, damit aufzuhören.«

»Na schön, wenn man so eingepfercht ist, dann ist wahrscheinlich alles … aber trotzdem, fünf Jahre …«

»Du hast doch keine blasse Ahnung.«

Grandmas Gesicht ist ganz nach unten gequetscht. »Mangelndes Interesse kann man mir ja wohl nicht vorwerfen.«

»Mom …«

Stiefpa steht auf. »Ich glaube, die brauchen erst mal ein bisschen Ruhe.«

»Hast wohl recht«, sagt Grandma. »Na dann, bis morgen …«

Ma liest mir wieder Der freigiebige Baum und Der Lorax vor, aber leise, weil ihr der Hals wehtut und der Kopf auch. Ich kriege was, ich kriege sogar viel, anstatt Abendessen, Ma schläft mittendrin ein. Es gefällt mir, wenn ich ihr Gesicht angucken kann, ohne dass sie es weiß.

Ich finde eine zusammengefaltete Zeitung, die muss der Besuch mitgebringt haben. Ganz vorne ist ein Bild von einer Brücke, die in zwei Teile gebrochen ist, ich weiß nicht, ob das stimmt. Auf der nächsten Seite ist eins von mir und Ma und der Polizei an dem Tag, als sie mich ins Revier getragen hat. Da steht: HOFFNUNG FÜR BONSAI-JUNGEN. Ich brauche eine Weile, bis ich alle Wörter herausgefindet habe.

»›Wunder-Jack‹ nennen ihn die Angestellten der exklusiven Cumberland-Klinik, die allesamt ihr Herz an den heldenhaften Däumling verloren haben, der am Samstagabend in einer schönen neuen Welt aufgewacht ist. Der gespenstisch blasse langhaarige kleine Prinz ist das Resultat regelmäßigen Missbrauchs seiner wunderschönen jungen Mutter durch das Gartenschuppen-Monster (das nach einer dramatischen Verfolgungsjagd um zwei Uhr nachts von den State Troopers gefasst wurde). Jack findet alles ›nett‹ und liebt Ostereier, steigt aber Treppen immer noch wie ein Affe auf allen vieren hinauf und hinab. Der Fünfjährige war sein ganzes bisheriges Leben in ein heruntergekommenes, mit Kork ausgekleidetes Verlies gesperrt gewesen. Noch können die Experten nicht vorhersagen, wie schwer und in welcher Form dadurch auf lange Sicht seine Entwicklung gestört …«

Ma ist aufgewacht, sie nimmt mir die Zeitung aus der Hand. »Wie wäre es mit deinem Peter-Hase-Buch?«

»Aber das da bin ich, der Bonsai-Junge.«

»Der Was-Junge?« Sie guckt wieder auf die Zeitung und schiebt sich die Haare aus dem Gesicht, dann stöhnt sie irgendwie.

»Was ist Bonsai?«

»Ein ganz kleiner Baum. Die haben die Leute drinnen in Töpfen und beschneiden sie jeden Tag, damit sie schön knorrig bleiben.«

Ich denke an Pflanze. Wir haben ihn nie beschneidet, wir haben ihn so wachsen lassen, wie er wollte, aber anstatt ist er gestorben. »Ich bin kein Baum, ich bin ein Junge.«

»Das ist nur ein sprachliches Bild.« Sie knüllt die Zeitung in den Müll.

»Hier steht, ich bin gespenstisch blass, aber ich bin doch gar kein Gespenst.«

»Die Pappnasen von der Zeitung wissen oft nicht richtig Bescheid.«

Pappnasen, das hört sich an wie bei Alice, aber da sind es in Wahrheit Spielkarten. »Die schreiben, du bist wunderschön.«

Ma lacht.

Aber das ist sie wirklich. Ich habe jetzt schon so viele Personengesichter in echt gesehen, und ihres ist am wunderschönsten.

Ich muss mir wieder die Nase putzen, die Haut wird schon rot und tut weh. Ma nimmt ihre Scherztabletten, aber die zappen das Kopfweh nicht weg. Ich wusste gar nicht, dass sie im Draußen immer noch Aua haben würde. Ich streichle ihr im Dunkel die Haare. In Raum Nummer sieben ist es nicht ganz schwarz, das silberne Gesicht von Gott ist im Fenster, und Ma hat recht, es ist überhaupt kein Kreis, es ist an beiden Enden spitz.

In der Nacht fliegen Vampirbazillen rum, mit Masken auf, deshalb können wir ihre Gesichter nicht sehen, und ein leerer Sarg verwandelt sich in ein riesiges Klo und spült die ganze Welt weg.

»Schhh, das war nur ein Traum«, sagt Ma.

Dann ist Ajeet total verrückt und schickt uns Rajas Kacka in einem Paket mit der Post, weil ich sechs Spielsachen behalten habe, jemand bricht mir die Knochen und steckt Nadeln rein.

Als ich aufwache, bin ich am Weinen, und Ma gibt mir eine Menge, es ist aus der Rechten, aber trotzdem ziemlich sahnig.

»Ich habe sechs Spielzeuge behalten, nicht nur fünf«, sage ich ihr.

»Was?«

»Von denen, die die verrückten Fans geschickt haben. Ich habe sechs behalten.«

»Das macht nichts«, sagt sie.

»Tut es doch. Ich habe das sechste auch behalten, ich habe es nicht den kranken Kindern geschickt.«

»Sie waren für dich, das waren alles deine Geschenke.«

»Und warum durfte ich dann nur fünf haben?«

»Du kannst so viele haben, wie du willst. Jetzt schlaf wieder ein.«

»Kann ich nicht. Jemand hat meine Nase zugemacht.«

»Das ist nur, weil der Rotz zäher wird, und das bedeutet, dass es dir bald wieder gut geht.«

»Aber es kann mir nicht gut gehen, wenn ich nicht atmen kann.«

»Deshalb hat Gott dir ja einen Mund gegeben, durch den du atmen kannst. Plan B«, sagt Ma.





Als es anfängt, hell zu werden, zählen wir unsere Freunde in der Welt. Noreen und Dr. Clay und Dr. Kendrick und Pilar und die Schürzenfrau, den Namen weiß ich nicht, und Ajeet und Naisha.

»Wer sind die denn?«

»Der Mann und das Baby und der Hund, die die Polizei gerufen haben«, erkläre ich ihr.

»Ach, stimmt.«

»Nur glaube ich, dass Raja ein Feind ist, weil er mir in den Finger gebissen hat. Ach ja, und Officer Oh und der Polizeimann, von dem ich den Namen nicht weiß, und der Captain. Das macht zehn und einen Feind.«

»Grandma und Paul und Deana«, sagt Ma.

»Meine Cousine Bronwyn, nur habe ich die noch nicht gesehen. Und Leo. Stiefpa meine ich.«

»Der ist fast siebzig und stinkt nach Dope«, sagt Ma. »Die muss ja echt trostbedürftig gewesen sein.«

»Was ist trostbedürftig?«

Anstatt zu antworten, fragt Ma: »Wie viele haben wir schon?«

»Fünfzehn und einen Feind.«

»Weißt du, der Hund hatte einfach nur Angst. Der hat dich also aus gutem Grund gebissen.«

Läuse beißen ohne Grund. Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh. Ma denkt überhaupt nicht mehr daran, mir das zu sagen. »Okay«, sage ich, »dann sechzehn. Plus Mrs. Garber und das Mädchen mit den Tattoos und Hugo, nur reden wir mit denen eigentlich nie, zählt das trotzdem?«

»Aber klar.«

»Dann sind es neunzehn.« Ich muss mir ein neues Papiertuch holen, die sind weißer als Klopapier, aber manchmal reißen sie, wenn sie nass sind. Dann bin ich sowieso schon auf, deshalb machen wir Wettrennen beim Anziehen, ich gewinne, bloß habe ich meine Schuhe vergesst.

Auf meinem Popo kann ich ganz schnell die Stufen runterrutschen, plimps plamps plumps, dabei klappern meine Zähne. Ich glaube nicht, dass ich wie ein Affe bin, wie die Pappnasen geschrieben haben, aber genau weiß ich es nicht, die auf dem Naturplaneten haben nämlich keine Stufen.

Zum Frühstück esse ich vier Arme Ritter. »Wachse ich schon?«

Ma guckt an mir rauf und runter. »Jede Minute.«

Als wir Dr. Clay besuchen, will Ma, dass ich ihm von meinen Träumen erzähle.

Er glaubt, dass mein Gehirn vielleicht Frühjahrsputz macht.

Ich gucke ihn an.

»Jetzt, wo du in Sicherheit bist, sucht es die ganzen gruseligen Gedanken zusammen, die du nicht mehr brauchst, und wirft sie als schlechte Träume raus.« Seine Hände machen das Werfen nach.

Wegen den Manieren sage ich nichts, aber in Wahrheit sagt er alles verkehrt herum. In Raum war ich in Sicherheit, und im Draußen ist es gruselig.

Dr. Clay spricht mit Ma darüber, dass sie Grandma schlagen will.

»Schlagen darf man nicht«, sage ich.

Sie blinzelt mir zu. »Ich will es ja gar nicht wirklich. Nur manchmal.«

»Haben Sie sie früher auch schon einmal schlagen wollen, bevor Sie gekidnappt wurden?«, fragt Dr. Clay.

»Ach, ja klar.« Ma sieht ihn an, dann lacht sie und stöhnt irgendwie gleichzeitig. »Na also, ich habe mein altes Leben wieder.«

Wir entdecken noch einen Raum mit zwei Sachen drin, ich weiß, was die sind, das sind Computer. Ma sagt: »Hervorragend, dann maile ich gleich mal ein paar Freunden.«

»Wem von den neunzehn?«

»Ähm, ehrlich gesagt, meinte ich alte Freunde von mir, du kennst sie noch nicht.«

Sie setzt sich hin und macht eine Zeit lang auf den Buchstaben tipp tipp, ich gucke zu. Sie runzelt den Bildschirm an. »Mein Passwort fällt mir nicht mehr ein.«

»Was ist … ?«

»Ich bin ja so was von …« Sie hält sich den Mund zu. Sie atmet einmal ganz kratzig durch die Nase. »Ach, macht auch nichts. Komm, Jack, wir suchen mal was Lustiges für dich.«

»Wo?«

Sie bewegt die Maus ein bisschen, und plötzlich ist da ein Bild von Dora. Ich gehe näher dran und gucke zu, sie zeigt mir, wie man mit dem kleinen Pfeil klickt, damit ich das Spiel selber machen kann. Ich setze alle Teile von dem Zauberteller wieder zusammen, und Dora und Boots klatschen in die Hände und singen ein Dankeschön-Lied. Es ist sogar noch besser als im Fernseher.

Ma ist an dem anderen Computer und guckt in einem Buch voller Gesichter, eine neue Erfindung, sagt sie. Sie tippt die Namen ein, und dann kommen sie und lächeln.

»Sind sie wirklich richtig alt?«, frage ich.

»Die meisten sind 26, so wie ich.«

»Aber du hast doch gesagt, es sind alte Freunde.«

»Das bedeutet nur, dass ich sie schon ganz lange kenne. Die sehen so anders aus …« Sie geht mit den Augen näher an die Bilder und murmelt Sachen wie »Südkorea« oder »Schon geschieden, das gibt’s doch nicht«.

Sie entdeckt noch eine neue Webseite mit Videos und Liedern und so Sachen, sie zeigt mir, wie zwei Katzen in Ballettschuhen tanzen, das ist lustig. Dann geht sie auf noch andere Seiten mit nur Wörtern, so was wie Freiheitsstrafen und Menschenraub, sie fragt, ob ich sie noch eine Weile lesen lassen kann, deshalb versuche ich wieder mein Dora-Spiel, und diesmal gewinne ich einen Zauberstern.

Jemand steht in der Tür, ich zucke zusammen. Es ist Hugo, lächeln tut er nicht. »Um zwei skype ich.«

»Wie bitte?«, sagt Ma.

»Um zwei skype ich.«

»Verzeihung, aber ich habe keine Ahnung, was …«

»Jeden Nachmittag um zwei Uhr skype ich mit meiner Mutter. Die wartet bestimmt schon seit zwei Minuten auf mich. Steht alles auf dem Belegungsplan hier an der Tür.«

Als wir wieder in unseren Raum kommen, liegt auf dem Bett ein kleines Gerät mit einem Zettel von Paul. Ma sagt, es ist so eins wie das, was sie gehört hat, als Old Nick sie gestohlen hat, nur sind in dem hier auch Bilder, die man mit den Fingern hin und her schieben kann, und nicht nur Tausende von Liedern, sondern Millionen. Ma macht sich die Stöpseldinger in die Ohren, sie nickt zu einer Musik, die ich nicht höre, und singt mit einer leisen Stimme, dass sie von einem Tag zum nächsten eine Million verschiedener Leute ist.

»Lass mich auch mal.«

»Es heißt Bittersweet Symphony. Als ich dreizehn war, habe ich es von morgens bis abends gehört.« Sie tut einen Stöpsel in mein Ohr.

»Zu laut!« Ich reiße ihn raus.

»Sei vorsichtig damit, Jack, das hat Paul mir geschenkt.«

Ich wusste gar nicht, dass es nur ihr gehört und nicht mir. In Raum gehörte alles uns beiden zusammen.

»Moment, hier sind die Beatles, das ist ein Oldie von vor ungefähr fünfzig Jahren, vielleicht gefällt der dir ja«, sagt Ma. »All You Need Is Love.«

Ich bin durcheinander. »Brauchen Personen nicht auch zu essen und so?«

»Doch, aber das nutzt alles nichts, wenn man nicht auch jemanden hat, den man lieb hat«, sagt Ma. Sie redet zu laut und schnippt immer noch mit dem Finger die Namen durch. »Es hat da mal ein Experiment mit Affenbabys gegeben, die hat ein Wissenschaftler ihren Müttern weggenommen und jeden ganz allein in einem Käfig gehalten … und weißt du was, die sind gar nicht richtig groß geworden.«

»Warum sind sie nicht groß geworden?«

»Doch, größer geworden sind sie schon, aber sie waren ganz komisch, weil niemand sie gekuschelt hat.«

»Wie komisch?«

Ma beißt sich auf die Lippen. »Krank im Kopf.«

»Wie die Verrückten?«

Sie nickt. »Sie haben sich selbst gebissen und solche Sachen.«

Hugo schneidet sich die Arme auf, aber ich glaube nicht, dass er sich beißt. »Warum?«

Ma pustet die Luft aus den Backen. »Schau mal, wenn ihre Mütter da gewesen wären, dann hätten sie mit den Affenbabys geschmust, aber weil die Milch nur aus Leitungen kam … es hat sich eben herausgestellt, dass sie Liebe genauso brauchten wie die Milch.«

»Das ist eine schlimme Geschichte!«

»Ach, tut mir wirklich leid. Das hätte ich dir nicht erzählen sollen.«

»Doch, hättest du«, sage ich.

»Aber …«

»Ich will nicht, dass es schlimme Geschichten gibt und ich sie nicht weiß.«

Ma drückt mich ganz fest. »Ach, Jack, diese Woche komme ich dir bestimmt ein bisschen komisch vor, stimmt’s?«, sagt sie.

Ich weiß es nicht, weil alles komisch ist.

»Ich mache einen Fehler nach dem anderen. Dabei weiß ich ja, dass ich als Ma für dich da sein, aber gleichzeitig auch wieder lernen muss, ich selbst zu sein, und das ist …«

Aber ich dachte, sie und die Ma ist dasselbe.

Ich will noch mal ins Draußen, aber Ma ist zu müde.





»Was für ein Tag ist heute Morgen?«

»Donnerstag«, sagt Ma.

»Wann ist Sonntag?«

»Freitag, Samstag, Sonntag …«

»Noch drei, wie in Raum?«

»Ja, eine Woche hat überall sieben Tage.«

»Was wollen wir als Sonntagsgutti haben?«

Ma schüttelt den Kopf.

Am Nachmittag steigen wir in den Lieferwagen, auf dem Cumberland-Klinik steht. Wir fahren echt wahr aus den großen Toren raus in den Rest von der Welt. Eigentlich will ich gar nicht, aber wir müssen dem Zahnarzt Mas Zähne zeigen. Die von Mas Zähnen, die immer noch wehtun. »Sind da Personen, die keine Freunde von uns sind?«

»Nur der Zahnarzt und eine Helferin«, sagt Ma. »Alle anderen haben sie weggeschickt. Es ist ein Extratermin nur für uns.«

Wir haben unsere Mützen und unsere coolen Sonnenbrillen auf, aber nicht die Sonnencreme, weil die schlimmen Strahlen nämlich vom Glas abprallen. Ich darf meine biegsamen Schuhe anbehalten. Im Lieferwagen ist ein Fahrer mit einer Kappe, ich glaube, der ist auch stumm. Auf dem Sitz gibt es noch einen extra Kindersitz, der macht mich höher, damit der Gurt mir nicht die Kehle zerquetscht, wenn wir plötzlich bremsen. Ich gucke aus dem Fenster, und ich putze mir die Nase, heute ist es grüner.

Auf den Bürgersteigen sind jede Menge Ers und Sies, so viele habe ich noch nie gesehen. Ich frage mich, ob die alle echt in echt sind oder nur ein paar davon. »Ein paar von den Frauen haben so lange Haare wie wir«, sage ich Ma, »aber die Männer gar nicht.«

»Och, manche schon, Rockstars zum Beispiel. Es ist keine Regel, es ist nur eine Sitte.«

»Was ist eine … ?«

»Eine dumme Angewohnheit, die alle haben. Möchtest du dir die Haare schneiden lassen?«, fragt Ma.

»Nein.«

»Es tut gar nicht weh. Ich hatte auch kurze Haare, bevor … damals mit neunzehn.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich will doch mein Stark nicht verlieren.«

»Dein was?«

»Meine Muskeln, so wie Samson in der Geschichte.«

Da muss sie lachen.

»Guck, Ma, da zündet sich ein Mann an!«

»Er zündest sich nur eine Zigarette an«, sagt sie. »Ich habe früher auch geraucht.«

Ich starre sie an. »Warum?«

»Weiß ich auch nicht mehr.«

»Guck, guck!«

»Schrei doch nicht so.«

Ich strecke die Hand aus, da laufen lauter Kleine die Straße entlang. »Die Kinder sind ja aneinandergefesselt.«

»Das glaube ich nicht, dass die gefesselt sind.« Ma tut ihr Gesicht näher ans Fenster. »Aber nein, die halten sich nur an einer Schnur fest, damit sie nicht verloren gehen. Und guck mal, die ganz Kleinen fahren in den Bollerwagen da, in jedem sechs. Die gehen bestimmt in eine Kindertagesstätte, so wie Bronwyn.«

»Ich will Bronwyn sehen. Kannst du bitte machen, dass wir zu der Kinderstätte fahren, wo die Kinder sind und meine Cousine Bronwyn?«, frage ich den Fahrer.

Er hört mich nicht.

»Der Zahnarzt wartet aber schon auf uns«, sagt Ma.

Die Kinder sind weg, ich starre aus allen Fenstern.

Der Zahnarzt ist Dr. Lopez, als sie eine Sekunde lang ihre Maske hochhebt, hat sie lila Lippenstift. Zuerst guckt sie sich mich an, weil ich ja auch Zähne habe. Ich lege mich in den großen, beweglichen Stuhl. Ich starre mit weit offenem Mund hoch, und sie bittet mich, alles zu zählen, was ich an der Decke sehe. Es gibt drei Katzen und einen Hund und zwei Papageien und …

Ich spucke das Metallding aus.

»Das ist doch nur ein kleiner Spiegel, Jack. Siehst du? Ich zähle gerade deine Zähne.«

»Zwanzig«, sage ich ihr.

»Das stimmt.« Dr. Lopez grinst. »Mir ist noch nie ein Fünfjähriger begegnet, der seine eigenen Zähne zählen konnte.« Sie tut den Spiegel wieder rein.

»Hmm, schön große Zwischenräume, das gefällt mir.«

»Warum gefällt dir das?«

»Es bedeutet … viel Platz zum Rumfuhrwerken.«

Ma muss eine lange Zeit in dem Stuhl bleiben, während der Bohrer den Dreck aus ihren Zähnen holt. Ich will nicht im Warteraum warten, aber der Helfer Yang sagt: »Komm doch mal, und schau dir unsere coolen Spielsachen an.« Er zeigt mir einen Hai an einem Stock, der klacker klacker macht, und man kann auf so einem Stuhl sitzen, der hat die Form von einem Zahn, es ist ein Riesenzahn, aber nicht von einem Menschen und überall weiß, ohne Verfaultes. Ich gucke mir ein Buch über Transformer an und noch eins ohne Umschlag über Mutant Turtles, die sagen: Finger weg von Drogen. Dann höre ich ein komisches Geräusch.

Yang versperrt die Tür. »Ich glaube, deine Ma würde lieber …« Ich tauche unter seinem Arm durch, und da ist Dr. Lopez und tut gerade eine kreischende Maschine in Mas Mund. »Tu ihr nichts!«

»Es ist alles in Ordnung«, sagt Ma, aber so wie wenn ihr Mund kaputt ist, was hat die Zahnarzt bloß mit ihr gemacht?

»Wenn er lieber hierbleiben möchte, soll es mir recht sein«, sagt Dr. Lopez.

Yang stellt den Zahnstuhl in die Ecke, und ich gucke zu, es ist schrecklich, aber immer noch besser, als nicht zuzugucken. Einmal zuckt Ma in ihrem Stuhl zusammen und stöhnt. Ich stehe auf, aber da sagt Dr. Lopez: »Vielleicht noch ein bisschen mehr betäuben?«, und er sticht eine Nadel rein, und Ma ist wieder still. Es geht noch Hunderte von Stunden so weiter. Eigentlich muss ich mir die Nase putzen, aber die Haut geht schon ab, deshalb drücke ich nur das Papiertuch drauf.

Als Ma und ich wieder auf den Parkplatz kommen, donnert mir das ganze Licht doll gegen den Kopf. Der Fahrer ist wieder da und liest eine Zeitung, jetzt steigt er aus und macht die Türen für uns auf. »Hanke höön«, sagt Ma. Ich frage mich, ob sie von jetzt ab immer falsch spricht. Da hätte ich ja lieber Aua-Zähne, als wenn ich so reden müsste.

Den ganzen Weg zurück zur Klinik gucke ich, wie die Straße vorbeisaust, dabei singe ich Ribbon of Highway.





Schlimmerzahn ist immer noch unter dem Kopfkissen, ich gebe ihm einen Kuss. Ich hätte ihn mitnehmen sollen, dann hätte Dr. Lopez ihn ja vielleicht auch wieder heile gemacht.

Wir kriegen unser Abendessen auf einem Tablett, es heißt Boeuf Stroganoff, ein paar Stücke sind Fleisch, und ein paar andere Stücke sehen auch aus wie Fleisch, aber das sind Pilze, alles liegt auf ganz fluffigem Reis. Ma kann noch kein Fleisch essen, nur ein bisschen von dem Reis schmatzen, aber sprechen tut sie schon wieder fast normal. Noreen klopft und sagt, sie hat eine Überraschung für uns, nämlich Mas Dad aus Australien.

Ma weint, sie springt auf.

Ich frage: »Kann ich meinen Stroganoff mitnehmen?«

»Ich könnte Jack auch in ein paar Minuten runterbringen, wenn er aufgegessen hat«, sagt Noreen.

Ma sagt überhaupt nichts mehr, sie rennt einfach nur los.

»Er hat für uns eine Beerdigung gemacht«, erkläre ich Noreen, »aber wir sind nicht in dem Sarg.«

»Das beruhigt mich.«

Ich jage die Reisfusseln hin und her.

»Das hier ist doch bestimmt die anstrengendste Woche in deinem Leben«, sagt sie und setzt sich neben mich.

Ich blinzele sie an. »Warum?«

»Na ja, weil alles so anders ist, du musst dir doch vorkommen wie ein Besucher von einem anderen Stern.«

Ich schüttele den Kopf. »Wir sind nicht auf Besuch, Ma sagt, wir müssen für immer hierbleiben, bis wir tot sind.«

»Ähm, vielleicht hätte ich sagen sollen … ein Neuankömmling.«

Als ich fertig bin, findet Noreen den Raum, wo Ma sitzt und Händchen mit einer Mann-Person hält, der hat eine Kappe auf. Er springt auf und sagt zu Ma: »Ich hatte deiner Mutter doch extra gesagt, ich will nichts …«

Ma platzt dazwischen. »Dad, das ist Jack.«

Er schüttelt den Kopf.

Aber ich bin doch Jack, wen hat er denn erwartet, einen anderen?

Er guckt auf den Tisch und ist ganz schwitzig im Gesicht. »Nichts für ungut, aber …«

»Was soll das heißen, nichts für ungut?« Ma redet, aber beinahe ist es wie Schreien.

»Ich kann nicht mit dieser Kreatur in einem Raum sein. Da läuft es mir kalt den Rücken runter.«

»Diese Kreatur ist ein Junge. Er ist fünf Jahre alt«, brüllt sie.

»Ich weiß ja, dass es nicht richtig ist, ich bin nur … bestimmt ist es nur der Jetlag. Ich rufe dich dann später vom Hotel aus an, okay?« Der Mann, der der richtige Grandpa ist, rennt, ohne hinzugucken, an mir vorbei, er ist schon fast bei der Tür.

Dann ein Riesenbums, Ma hat mit ihrer Hand auf die Tisch gehauen. »Nichts ist okay.«

»Okay, okay.«

Er bewegt sich nicht mehr.

»Er ist mein kleiner Junge«, sagt sie.

Ihr Dad? Nein, ich glaube der Er bin ich.

»Selbstverständlich, das ist ja auch nur ganz natürlich.« Der Grandpa-Mann reibt sich die Haut unter seinen Augen. »Aber ich kann nun mal an nichts anderes denken als an diese Bestie und was sie …«

»Verstehe. Dann wäre es dir wohl lieber, ich wäre tot und begraben.«

Er schüttelt schon wieder den Kopf.

»Dann wirst du wohl damit leben müssen«, sagt Ma. »Ich bin wieder da.«

»Es ist ein Wunder«, sagt er.

»Ich bin wieder da und habe Jack mitgebracht. Das sind zwei Wunder.«

Er legt die Hand auf die Türklinke. »Im Moment kann ich einfach nicht …«

»Deine letzte Chance«, sagt Ma. »Setz dich wieder hin.«

Keiner sagt was.

Dann kommt der Grandpa wieder an den Tisch und setzt sich hin. Ma zeigt auf einen Stuhl neben ihm, also setze ich mich da drauf, trotzdem ich da nicht sein will. Ich gucke meine Schuhe an, an den Rändern sind sie ganz zerknautscht.

Grandpa nimmt seine Kappe ab und guckt mich an. »Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, Jack.«

Ich weiß nicht, welche Manieren jetzt dran sind, deshalb sage ich: »Bitte schön.«

Später sind Ma und ich auf dem Bett, und ich kriege im Dunkel was.

Ich frage: »Warum wollte er mich nicht sehen? War das schon wieder ein Irrtum, so wie mit dem Sarg?«

»Gewissermaßen.« Ma pustet die Luft aus den Backen. »Er glaubt … er hat geglaubt, dass ich ohne dich besser dran wäre.«

»Woanders?«

»Nein, wenn du gar nicht geboren wärst. Stell dir das mal vor.«

Das versuche ich, aber ich schaffe es nicht. »Wärst du dann immer noch Ma?«

»Ähm, nein, wäre ich wohl nicht. Das ist also wirklich eine dämliche Idee.«

»Ist das der richtige Grandpa?«

»Ich fürchte, ja.«

»Warum fürchtest du …«

»Ich meinte eigentlich, ja, ist er.«

»Dein Dad von damals, als du ein kleines Mädchen in der Hängematte warst?«

»Seit ich ein kleines Baby war, sechs Wochen alt«, sagt sie. »Da haben sie mich aus dem Krankenhaus zu sich nach Hause geholt.«

»Warum hat sie dich denn dagelassen, die Mama mit dem Bäuchlein? War das ein Irrtum?«

»Ich glaube, sie war einfach müde«, sagt Ma. »Sie war noch sehr jung.« Ma setzt sich auf und putzt sich ganz laut die Nase. »Ich bin sicher, Dad berappelt sich bald wieder.«

»Was rappelt er?«

Sie lacht ein bisschen. »Das soll heißen, bald benimmt er sich ordentlich. Wie ein richtiger Grandpa.«

So wie Stiefpa, nur ist der nicht der richtige.

Ich schlafe ganz leicht ein, aber dann wache ich wieder auf und bin am Weinen.

»Ist ja gut, alles gut.« Das ist Ma, sie küsst meinen Kopf.

»Warum kuscheln sie die Affen nicht?«

»Wer?«

»Die Wissenschaftler, warum kuscheln sie die Affenbabys nicht?«

»Ach so.« Nach einer Sekunde sagt Ma: »Vielleicht tun sie es doch. Und vielleicht mögen es die Affenbabys ja irgendwann sogar, wenn Menschen sie kuscheln.«

»Aber du hast gesagt, die sind ganz komisch und beißen sich selbst.«

Ma sagt nichts.

»Warum holen die Wissenschaftler nicht die Affenmütter wieder und sagen, tut uns leid?«

»Ich weiß gar nicht, warum ich dir diese Geschichte überhaupt erzählt habe. Das ist alles schon Ewigkeiten her, noch bevor ich geboren wurde.«

Ich huste, und dann gibt es nichts, womit ich mir die Nase putzen kann.

»Denk einfach nicht mehr an die Affenbabys, okay? Jetzt geht es ihnen gut.«

»Ich glaube nicht, dass es ihnen gut geht.«

Ma umarmt mich so fest, dass mir der Hals wehtut.

»Aua.«

Sie lässt los. »Jack, in der Welt gibt es unheimlich viele verschiedene Dinge.«

»Zillionen?«

»Aberzillionen. Und wenn du versuchst, die alle in deinen Kopf zu kriegen, dann platzt er irgendwann.«

»Aber die Affenbabys.«

Ich kann hören, wie sie komisch atmet. »Manche Dinge in der Welt sind eben auch einfach schlimm.«

»Wie die Affen.«

»Manche sogar noch schlimmer«, sagt Ma.

»Was ist denn noch schlimmer?« Ich versuche, an irgendwas Schlimmeres zu denken.

»Heute Abend nichts mehr.«

»Vielleicht, wenn ich sechs bin?«

»Vielleicht.«

Wir machen Löffelchen.

Ich höre ihre Atmer, ich zähle erst zehn von ihr und dann zehn von mir. »Ma?«

»Hmm?«

»Denkst du manchmal an die Sachen, die noch schlimmer sind?«

»Manchmal«, sagt sie. »Manchmal muss ich das.«

»Ich auch.«

»Aber dann verscheuche ich sie aus meinem Kopf und schlafe ein.«

Ich zähle wieder unsere Atmer. Ich versuche mich zu beißen, in meine Schulter, das tut weh. Anstatt an die Affen denke ich an die ganzen Kinder in der Welt und dass sie gar nicht Fernseher sind, sie sind in echt, sie essen und schlafen und machen Pipi und Kacka wie ich. Wenn ich was Spitzes hätte und sie damit stechen würde, dann würden sie bluten, und wenn ich sie kitzeln würde, dann würden sie lachen. Die würde ich gern mal sehen, aber es macht mich ganz schwindelig, dass sie so viele sind und ich nur einer.





»Also, alles kapiert?«, fragt Ma.

Ich liege in unserem Bett in Raum Nummer sieben, aber sie sitzt bloß auf dem Rand.

»Ich bin hier und mache Mittagsschläfchen, und du bist im Fernseher«, sage ich.

»Eigentlich bin ich nur unten in Dr. Clays Büro und spreche mit den Fernsehleuten«, sagt sie.

»Warum willst du mit den Geiern reden?«

»Lieber würde ich nicht, das kannst du mir glauben«, sagt sie. »Aber ich will einfach ein für alle Mal ihre Fragen beantworten, damit sie nicht immer weiter herumbohren. Ich bin in null Komma nichts wieder da, okay? Ganz bestimmt bevor du wieder aufwachst.«

»Okay.«

»Und morgen gehen wir dann auf ein Abenteuer. Weißt du noch, wohin Paul und Deana und Bronwyn uns mitnehmen?«

»Naturkundemuseum, da gucken wir die Dinosaurier an.«

»Genau.« Sie steht auf.

»Ein Lied noch.«

Ma setzt sich wieder hin und singt Swing Low, Sweet Chariot, aber sie macht es zu schnell und ist ganz heiser von unserem Schnupfen. Sie zieht an meinem Handgelenk, damit sie auf meine Uhr mit den Zahlen gucken kann.

»Noch eins.«

»Die warten bestimmt schon …«

»Ich will mitkommen.« Ich setze mich auf und tue meine Arme um Ma.

»Nein, ich will nicht, dass sie dich sehen«, sagt sie und drückt mich wieder runter auf das Kissen. »Schlaf jetzt.«

»Allein bin ich aber nicht müde.«

»Wenn du jetzt kein Mittagsschläfchen hältst, dann bist du nachher ganz erledigt. Lass mich bitte los.« Ma macht meine Hände von sich los. Ich knote sie noch fester zusammen, damit sie es nicht kann. »Jack!«

»Bleib da.«

Ich mache auch noch meine Beine um sie rum.

»Jetzt lass mich endlich los. Ich bin sowieso schon zu spät.« Ihre Hände drücken gegen meine Schultern, aber ich halte mich nur noch fester fest. »Du bist doch kein Baby mehr. Loslassen, hab ich gesagt!«

Ma schubst mich so fest, dass ich ganz plötzlich von ihr losgehe und wegen dem Schubser mit meinem Kopf gegen den kleinen Tisch bumse, wumms.

Sie hat ihre Hand vor dem Mund.

Ich schreie.

»Oh nein«, sagt sie. »Ach, Jack, Jack, es tut mir ja so …«

»Wie ist die Lage?« Der Kopf von Dr. Clay ist in der Tür. »Das Team hat schon alles aufgebaut und wartet auf Sie.«

Ich heule lauter, als ich jemals geheult habe, ich halte mir meinen kaputten Kopf.

»Ich glaube nicht, dass wir das hinkriegen«, sagt Ma, sie streichelt mein nasses Gesicht.

»Sie können immer noch einen Rückzieher machen«, sagt Dr. Clay und kommt näher.

»Nein, kann ich nicht, schließlich geht es hier um die Finanzierung von Jacks College.«

Er verzieht den Mund. »Wir haben ja schon darüber gesprochen, ob das wirklich ein ausreichender Grund ist, um …«

»Ich will nicht aufs College«, sage ich. »Ich will mit dir in den Fernseher.«

Ma pustet ganz lange die Luft aus den Backen. »Neuer Plan. Du kannst mit runterkommen, aber du darfst nur zuschauen und musst mucksmäuschenstill sein, verstanden?«

»Okay.«

»Keinen Mucks.«

Dr. Clay sagt zu Ma: »Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?«

Aber ich bin schon ganz schnell meine biegsamen Schuhe am Anziehen, mein Kopf ist immer noch labberig.

Sein Büro ist total anders, es gibt lauter Personen und Lichter und Maschinen. Ma setzt mich auf einen Stuhl in der Ecke, sie küsst mich auf den angebumsten Teil von meinem Kopf und flüstert was, was ich nicht hören kann. Dann geht sie zu einem größeren Stuhl, und eine Mann-Person klemmt ihr eine kleine Wanze an ihr Jackett. Eine Frau kommt mit einer Schachtel voller Farben und fängt an, Mas Gesicht zu bemalen.

Ich erkenne unseren Anwalt Morris wieder, der steht da und liest Blätter. »Wir wollen nicht nur den Rohschnitt sehen, sondern auch den endgültigen Schnitt«, sagt er jemandem. Er starrt mich an, dann winkt er mit den Fingern. »Herrschaften?« Das sagt er lauter. »Entschuldigen Sie? Der Junge ist zwar mit im Raum, aber darf nicht gefilmt werden. Auch keine Standbilder oder Schnappschüsse für zu Hause, haben wir uns verstanden?«

Danach gucken alle mich an, ich mache die Augen zu.

Als ich sie wieder aufmache, schüttelt noch eine andere Person Ma die Hand. Boah, das ist ja die Frau mit den plusterigen Haaren, die von dem roten Sofa. Das Sofa ist aber nicht da. Ich habe noch nie eine wirkliche Person aus dem Fernseher gesehen, lieber wäre mir, wenn es Dora wäre. »Als Einstieg sagen Sie was zu der Kontaktsperre-Verfügung, dazu zeigen wir Luftaufnahmen von dem Schuppen«, sagt ein Mann ihr. »Dann überblenden wir auf eine Nahaufnahme von ihr und dann auf die Halbtotale mit Ihnen beiden.« Die Frau mit den plusterigen Haaren grinst mich total breit an. Alle reden durcheinander und laufen hin und her, ich mache wieder die Augen zu und drücke auf die Löcher in meinen Ohren, Dr. Clay hat gesagt, das soll ich machen, wenn mir was zu viel wird. Jemand zählt: »Fünf, vier, drei zwei, eins …« Kommt jetzt eine Rakete?

Die Frau mit den plusterigen Haaren hat plötzlich eine Extrastimme und die Hände zusammen, bestimmt betet sie. »Darf ich Ihnen zunächst meine Dankbarkeit und die all unserer Zuschauer dafür zum Ausdruck bringen, dass Sie schon sechs Tage nach Ihrer Befreiung mit uns sprechen wollen. Dafür, dass Sie sich nicht länger zum Schweigen bringen lassen wollen.«

Ma lächelt ein bisschen.

»Könnten Sie uns zunächst erzählen, was Sie in diesen sieben langen Jahren Ihrer Gefangenschaft am meisten vermisst haben? Abgesehen von Ihrer Familie natürlich?«

»Ehrlich gesagt, einen Zahnarzt.« Mas Stimme ist ganz hoch und schnell. »Ein bisschen paradox, weil ich mir früher noch nicht mal gern die Zähne habe reinigen lassen.«

»Jetzt finden Sie sich in einer neuen Welt wieder. Mit einer Weltwirtschaftskrise, einer Umweltkrise, einem neuen Präsidenten …«

»Wir haben die Amtseinführung im TV gesehen«, sagt Ma.

»Schön und gut. Aber es muss sich doch so vieles verändert haben.«

Ma zuckt mit den Achseln. »Kommt mir alles nicht besonders anders vor. Aber ich war ja auch noch nicht wirklich vor der Tür, außer beim Zahnarzt.«

Die Frau grinst, als ob das ein Witz gewesen wäre.

»Nein, im Ernst, es kommt mir schon alles irgendwie anders vor, aber das liegt daran, dass ich selbst eine andere geworden bin.«

»Haben die Verletzungen Sie stärker gemacht?«

Ich reibe mir den Kopf, der ist immer noch verletzt von dem Tisch.

Ma verzieht das Gesicht. »Vorher war ich … vollkommen durchschnittlich. Ich war … ach, noch nicht mal Vegetarierin. Ich hatte noch nicht mal eine Gothic-Phase.«

»Und jetzt sind Sie eine ganz außergewöhnliche junge Frau mit einer ganz außergewöhnlichen Geschichte. Es ist uns eine Ehre, dass ausgerechnet unser Sender es ist, also wir …«

Die Frau guckt weg, sie sieht eine von den Personen mit den Maschinen an.

»Versuchen wir das noch mal.« Sie sieht wieder Ma an und macht ihre Extrastimme. »Und es ist uns eine Ehre, dass Sie uns gewählt haben, um diese Gesichte zu erzählen. Und ohne dass wir hier irgendwelche Parallelen etwa zum Stockholm-Syndrom andeuten wollen … nun ja, trotzdem sind unsere Zuschauer bestimmt neugierig darauf … ich meinte, beunruhigt … ob Sie möglicherweise in Bezug auf Ihren Kidnapper irgendeine Form von … emotionaler Abhängigkeit verspürt haben.«

Ma schüttelt den Kopf. »Ich habe ihn gehasst.«

Die Frau nickt.

»Ich habe um mich getreten und geschrien. Einmal habe ich ihm den Toilettendeckel auf den Kopf geschlagen. Ich habe mich nicht mehr gewaschen und mich lange Zeit geweigert, überhaupt zu sprechen.«

»War das vor oder nach dieser Tragödie mit der Totgeburt?«

Ma tut die Hand vor den Mund.

Morris platzt dazwischen, er blättert die Zettel durch. »Wir hatten eine Klausel … darüber möchte sie nicht sprechen.«

»Oh, wir werden ganz gewiss nicht ins Detail gehen«, sagt die Frau mit den plusterigen Haaren. »Aber es scheint mir doch ganz entscheidend für alles zu sein, was danach passiert ist.«

»Nein, entscheidend ist, dass Sie sich an den Vertrag halten«, sagt er.

Mas Hände sind ganz zitterig, sie tut sie unter ihre Beine. Sie sieht nicht in meine Richtung, hat sie vergesst, dass ich da bin? Ich spreche in meinem Kopf mit ihr, aber sie hört nichts.

»Glauben Sie mir«, sagt die Frau zu Ma, »wir versuchen doch nur, Ihnen zu helfen, damit Sie den Menschen auch wirklich Ihre Version der Geschichte erzählen können.« Sie guckt das Blatt auf ihrem Schoß an. »Also. Nachdem Sie zwei Jahre Ihrer Jugend in diesem Höllenschlund erduldet hatten, bemerkten Sie, dass Sie zum zweiten Mal schwanger waren. Gab es da auch Tage, an denen Sie empfanden, dass die Leibesfrucht dieses Mannes auszutragen … ähm …«

Ma platzt dazwischen. »Ehrlich gesagt, fühlte ich mich errettet.«

»Errettet. Das ist ja wunderbar.«

Ma verzieht ihren Mund. »Ich weiß nicht, wie andere das empfunden hätten. Aber ich hatte zum Beispiel mit achtzehn mal eine Abtreibung, und die habe ich nie bereut.«

Die Frau mit den plusterigen Haaren hat den Mund ein bisschen offen. Dann linst sie runter auf ihr Blatt und dann wieder hoch zu Ma. »An diesem kalten Märztag vor fünf Jahren haben Sie ganz allein unter vorsintflutlichen Umständen einem gesunden Jungen das Leben geschenkt. War das das Schwerste, was Sie jemals tun mussten?«

Ma schüttelt den Kopf. »Das Beste.«

»Nun, das selbstverständlich auch. Jede Mutter sagt …«

»Ja, aber verstehen Sie, für mich war Jack einfach alles. Ich lebte wieder, ich hatte eine Bedeutung. Deshalb war ich danach umgänglich.«

»Umgänglich? Sie meinen, mit …«

»Es ging nur noch darum, dass Jack nichts passierte.«

»Haben Sie es als Marter empfunden, umgänglich zu sein, wie Sie es ausdrücken?«

Ma schüttelt wieder den Kopf. »Ich war einfach auf Autopilot, verstehen Sie? Wie eine der Frauen von Stepford.«

Die Frau mit den plusterigen Haaren nickt ganz viel. »Und Sie mussten ihn ja auch ganz allein aufziehen, ohne irgendwelche Bücher oder Fachleute, nicht einmal Verwandte gab es. War das nicht fürchterlich schwierig?«

Ma zuckt mit den Achseln. »Ich glaube, am meisten wollen Babys eigentlich, dass ihre Mütter immer bei ihnen sind. Nein, meine einzige Angst war, Jack könnte krank werden … oder ich, er war ja darauf angewiesen, dass ich gesund blieb. Eigentlich habe ich nur das beherzigt, was wir in der Schule gelernt haben, Sachen wie die Hände zu waschen, alles gut abzukochen …«

Die Frau nickt. »Sie haben ihn gestillt. Ich höre sogar, und das mag einige unserer Zuschauer befremden, dass Sie es immer noch tun.«

Ma lacht.

Die Frau starrt sie an.

»Ist das etwa an der ganzen Geschichte wirklich das Schockierendste?«

Die Frau guckt wieder runter auf ihr Blatt. »Dort drinnen waren Sie und Ihr Baby ja zu Einzelhaft verdammt …«

Ma schüttelt den Kopf. »Keiner von uns beiden war je eine Minute allein.«

»Schön und gut, aber wie es in Afrika heißt, man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen.«

»Wenn man ein Dorf hat. Aber wenn nicht, dann reichen vielleicht auch zwei Menschen.«

»Zwei? Sie meinen sich und Ihren …«

Mas Gesicht ist ganz gefroren. »Ich meine mich und Jack.«

»Ah.«

»Wir haben das gemeinsam bewerkstelligt.«

»Das ist reizend. Darf ich fragen … ich weiß, Sie haben ihm beigebracht, zu Jesus zu beten. War Ihr Glaube sehr wichtig für Sie?«

»Er war … ein Teil von dem, was ich ihm weitergeben konnte.«

»Wie ich außerdem höre, hat Ihnen ein TV-Gerät dabei geholfen, dass die tagtägliche Langeweile ein wenig schneller vorbeiging.«

»Mit Jack hatte ich nie Langeweile«, sagt Ma. »Und ich glaube, umgekehrt war es auch nicht anders.«

»Wundervoll. Kommen wir nun zu einem Punkt, den einige Experten für eine seltsame Entscheidung halten. Dass Sie nämlich Jack in dem Glauben haben aufwachsen lassen, die Welt sei knapp vierzehn Quadratmeter groß, und alles andere – alles, was er im TV sah – sei nur eine Erfindung. Fühlten Sie sich schlecht bei dem Gedanken, ihn so zu täuschen?«

Ma macht kein freundliches Gesicht. »Was hätte ich ihm denn sagen sollen? ›Hör mal, da draußen gibt es eine ganze Welt voller Spaß, und du kannst nichts davon abhaben?‹«

Die Frau saugt ihre Lippen ein. »Nun, jedenfalls bin ich mir sicher, dass all unsere Zuschauer jedes Detail Ihrer spannenden Befreiung ganz genau kennen …«

»Flucht«, sagt Ma. Sie grinst nur mir zu.

»Richtig, Flucht, und auch über die Verhaftung des mutmaßlichen Kidnappers. Haben Sie im Verlauf der Jahre manchmal das Gefühl bekommen, dass diesem Mann … mit einem letzten Rest an Menschlichkeit … sein Sohn vielleicht irgendwie am Herzen lag?«

Mas Augen sind ganz schlitzig geworden. »Jack ist ganz allein mein Sohn.«

»In gewisser Weise haben Sie da absolut recht«, sagt die Frau. »Ich habe mich auch nur gefragt, ob Ihrer Ansicht nach die genetische, die biologische Beziehung …«

»Es gab keine Beziehung.« Ma spricht durch ihre Zähne.

»Und wenn Sie Jack anschauten, wurden Sie da niemals schmerzlich an seine Herkunft erinnert?«

Mas Augen sind jetzt sogar noch schlitziger. »Er erinnert mich einzig und allein an ihn selbst.«

»Mmm«, macht die Fernseher-Frau. »Wenn Sie jetzt an Ihren Kidnapper denken, zerfrisst Sie da nicht der Hass?« Sie wartet. »Wenn Sie ihm erst einmal im Gericht gegenübergestanden haben, glauben Sie, danach werden Sie jemals in der Lage sein, ihm zu vergeben?«

Mas Mund zuckt. »Das ist nicht gerade das Dringlichste in meinem Leben«, sagt sie. »Ich versuche, so wenig wie möglich an ihn zu denken.«

»Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein Leuchtfeuer Sie sind?«

»Ähm … wie bitte?«

»Ein Leuchtfeuer der Hoffnung«, sagt die Frau und lächelt. »Seit der Sekunde, wo wir angekündigt haben, dass wir dieses Interview führen würden, haben die Menschen bei uns angerufen oder E-Mails geschickt und gesimst, um uns wissen zu lassen, was für ein Engel Sie sind, was für ein Talisman der Güte …«

Ma verzieht das Gesicht. »Ich habe nichts weiter getan, als zu überleben. Und Jack großzuziehen habe ich ziemlich gut hinbekommen.«

»Sie sind sehr bescheiden.«

»Nein, ehrlich gesagt, bin ich eher irritiert.«

Die Frau mit den plusterigen Haaren blinzelt zweimal.

»Diese ganze Ehrfurcht … ich bin doch keine Heilige.« Mas Stimme wird wieder laut. »Ich wünschte, die Leute würden aufhören, uns zu behandeln, als wären wir die Einzigen, denen jemals etwas Schlimmes widerfahren ist. Im Internet habe ich Sachen entdeckt, die würden Sie gar nicht glauben.«

»Andere Fälle wie den Ihren?«

»Ja, aber nicht nur das … Zugegeben, als ich damals in dem Schuppen aufwachte, da habe ich gedacht, noch nie wäre jemandem jemals so etwas Schreckliches wie mir passiert. Aber tatsächlich ist die Sklaverei ja nichts Neues. Und zum Thema Isolation … wussten Sie, dass wir in Amerika über 25 000 Häftlinge in Einzelhaft haben? Manche schon über zwanzig Jahre.« Mas Hand zeigt auf die Frau mit den plusterigen Haaren. »Und was die Kinder betrifft … es gibt Waisenhäuser, da liegen die Babys zu fünft in Gitterbetten, die Schnuller sind mit Klebeband am Mund festgeklebt. Es gibt Kinder, die werden jede Nacht von Daddy vergewaltigt, Kinder, die in Gefängnissen oder wo auch immer hausen und so lange Teppiche knüpfen müssen, bis sie blind sind …«

Einen Moment lang ist es ganz still. Dann sagt die Frau: »Ihren eigenen Erfahrungen verdanken Sie also ein … ähm … enormes Mitgefühl mit den leidenden Kindern in unserer Welt.«

»Nicht nur mit den Kindern«, sagt Ma. »Menschen werden auf alle mögliche Weise eingesperrt.«

Die Frau räuspert sich und guckt auf das Blatt auf ihrem Schoß. »Sie haben eben in der Vergangenheit gesprochen. Sie sagten, Sie haben es ziemlich gut hinbekommen, Jack großzuziehen. Diese Aufgabe ist ja nun bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Aber jetzt bekommen Sie ja jede Menge Hilfe von Ihrer Familie und ebenso von zahlreichen engagierten Experten.«

»Ehrlich gesagt, ist es jetzt schwieriger.« Ma guckt nach unten. »Als unsere Welt nur vierzehn Quadratmeter groß war, da war sie auch leichter zu kontrollieren. Im Moment hat Jack vor allen möglichen Sachen eine Heidenangst. Aber ich finde es abscheulich, dass die Medien jetzt so tun, als sei er irgendeine Missgeburt oder ein Halbidiot oder Wilder. Allein schon das Wort …«

»Aber er ist schon ein ganz besonderer Junge.«

Ma zuckt mit den Achseln. »Er hat einfach nur seine ersten fünf Jahre an einem seltsamen Ort verbracht, mehr nicht.«

»Und Sie glauben nicht, dass dieses Martyrium ihn vielleicht geformt hat … geschädigt?«

»Für Jack war es kein Martyrium, es war einfach die Normalität. Und vielleicht ja, kann sein, aber jeder ist schließlich durch irgendwas geschädigt.«

»Ganz offenbar macht er in seiner Genesung ja auch bereits Riesenfortschritte«, sagt die Frau mit den plusterigen Haaren. »Eben sagten Sie, Jack sei einfacher zu ›kontrollieren‹ gewesen, als Sie in Gefangenschaft waren …«

»Nein, unsere Welt war einfacher zu kontrollieren.«

»Da müssen Sie ja jetzt – verständlicherweise – ein fast krankhaftes Bedürfnis haben, Jack vor der Welt zu beschützen.«

»Stimmt. Wie bei Müttern üblich.« Ma faucht beinahe.

»Vermissen Sie es vielleicht in mancher Hinsicht auch, dass Sie nicht mehr hinter einer verschlossenen Tür leben?«

Ma dreht sich zu Morris um. »Hat die das Recht, mir dermaßen bescheuerte Fragen zu stellen?«

Die Frau mit den plusterigen Haaren streckt ihre Hand aus, und eine andere Person gibt ihr eine Flasche Wasser, sie trinkt ein Schlückchen.

Dr. Clay hebt die Hände hoch. »Wenn Sie gestatten … ich glaube, wir können alle sehen, dass meine Patientin am Ende ihrer Kraft ist, eigentlich schon darüber hinaus.«

»Wenn Sie eine Pause benötigen, können wir später weiter aufzeichnen«, sagt die Frau zu Ma.

Ma schüttelt den Kopf. »Bringen wir es einfach hinter uns.«

»Nun gut«, sagt die Frau mit noch so einem breiten Grinsen, das so unecht ist wie das von einem Roboter. »Auf einen Punkt würde ich gern noch einmal zurückkommen, wenn Sie gestatten. Als Jack geboren wurde … ein paar unserer Zuschauer haben sich gefragt, ob es Ihnen eigentlich nie in den Sinn gekommen ist …«

»Was? Ihm ein Kissen aufs Gesicht zu drücken?«

Meint Ma etwa mich? Kissen gehören doch unters Gesicht!

»Nein, aber ihn vielleicht vor einem Krankenhaus ablegen zu lassen, damit jemand ihn adoptieren konnte. Das Glück hatten Sie selbst doch auch, wenn ich richtig informiert bin.«

Ich kann sehen, wie Ma schluckt. »Warum hätte ich das tun sollen?«

»Na ja, damit er frei gewesen wäre.«

»Frei und ohne mich?«

»Es wäre natürlich ein Opfer gewesen … das größtmögliche Opfer überhaupt … aber wenn Jack dadurch eine normale, glückliche Kindheit bei einer liebevollen Familie hätte haben können?«

»Er hatte mich.« Ma sagt das ganz abgehackt. »Er hatte eine Kindheit bei mir, ob Sie das nun normal nennen oder nicht.«

»Aber Sie wussten doch, was ihm alles entging«, sagt die Frau. »Von Tag zu Tag brauchte er eigentlich eine größer werdende Welt, und die, die Sie ihm bieten konnten, wurde stattdessen immer enger. Die Erinnerung an all die Dinge, von denen Jack noch nicht einmal wusste, dass man sie wollen konnte, muss Sie doch entsetzlich gequält haben. Freunde, die Schule, Schwimmen, zur Kirmes gehen …«

»Warum kommen eigentlich alle immer mit Kirmes?« Mas Stimme ist ganz heiser. »Als ich klein war, habe ich die Kirmes gehasst.«

Die Frau lacht ein bisschen.

Ma kommen Tränen am Gesicht runter, sie hebt ihre Hände hoch und will sie auffangen. Sofort bin ich vom Stuhl runter und renne zu ihr, etwas fällt um, krawumm, dann bin ich bei Ma und umarme sie ganz fest, und Morris ruft: »Der Junge darf nicht gefilmt werden.«





Als ich am Morgen aufwache, ist Ma Verschwunden.

Ich wusste nicht, dass sie in der Welt auch so Tage haben würde. Ich schüttele ihren Arm, aber sie stöhnt nur ein bisschen und tut ihren Kopf unter das Kissen. Dabei habe ich so viel Durst. Also krabbele ich ganz dicht bei sie bei und versuche was zu kriegen, aber sie dreht sich nicht um, und ich komme nicht dran. Hunderte von Stunden bleibe ich eingerollt neben ihr liegen.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn Ma in Raum Verschwunden war, dann konnte ich alleine aufstehen und was frühstücken und Fernseher gucken.

Ich schnüffele, aber in meiner Nase ist nichts. Ich glaube, ich habe meinem Schnupfen verloren.

Ich gehe rüber und ziehe an der Kordel, damit die Jalousie ein bisschen aufgeht. Es ist hell, das Licht prallt von den Autofenstern ab. Eine Krähe fliegt vorbei und erschreckt mich. Ich glaube nicht, dass das Licht Ma gefällt, deshalb mache ich die Kordel wieder wie vorher. Mein Bäuchlein macht mroaaaaar.

Dann fällt mir die Klingel neben dem Bett ein. Ich drücke drauf – nichts passiert. Aber nach einer Minute macht die Tür klopf klopf.

Ich mache sie nur ein kleines bisschen auf, es ist Noreen.

»Hallo, Schätzchen, wie geht’s dir heute?«

»Hungrig. Ma ist Verschwunden«, flüstere ich.

»Na, dann gehen wir sie mal suchen, oder? Ich bin sicher, sie ist nur für einen Moment rausgehuscht.«

»Nein, sie ist da, aber nicht wirklich.«

Noreens Gesicht ist ganz durcheinander.

»Guck, da.« Ich zeige aufs Bett. »Es ist so ein Tag, wo sie nicht aufsteht.«

Noreen ruft Ma, aber mit ihrem anderen Namen, und sie fragt, ob alles in Ordnung ist.

Ich flüstere: »Nicht mit ihr reden.«

Sie redet aber noch lauter mit ihr. »Kann ich Ihnen irgendwas bringen?«

»Lassen Sie mich schlafen.« Ich habe noch nie gehört, wie Ma was sagt, wenn sie Verschwunden ist, ihre Stimme ist wie von einem Monster.

Noreen geht rüber zur Kommode und holt Anziehsachen für mich. Im fast Dunkel ist es schwer, zuerst tue ich meine zwei Beine in ein Hosenbein und muss mich an sie lehnen. Leute selber zu berühren ist gar nicht so schlimm, schlimmer ist, wenn sie mich berühren, wie Elektroschocks. »Die Schuhe«, flüstert sie. Ich finde sie und quetsche mich rein und mache das mit dem Klettverschluss, es sind nicht die biegsamen, die ich so gern habe. »Guter Junge.« Noreen ist schon an der Tür, sie winkt mir mit der Hand, dass ich mitkommen soll. Ich mache meinen Pferdeschwanz wieder zusammen, der war lose geworden. Ich suche Schlimmerzahn und meinen Stein und meinen Ahornflügel, damit ich sie einstecken kann. »Deine Ma ist von dem Interview bestimmt noch ganz erledigt«, sagt Noreen im Flur. »Dein Onkel wartet schon seit einer halben Stunde in der Aufnahme darauf, dass ihr zwei endlich aufwacht.«

Das Abenteuer! Aber nein, wir können nicht weg, Ma ist ja Verschwunden.

Auf den Stufen ist Dr. Clay, er spricht mit Noreen. Ich halte mich mit zwei Händen am Geländer fest, erst tue ich einen Fuß runter und dann den anderen, dann schiebe ich die Hände runter, fallen tue ich nicht, da ist nur eine Sekunde, wo es sich fallig anfühlt, aber dann stehe ich auf dem anderen Fuß. »Noreen.«

»Nur eine Sekunde.«

»Nein, guck mal, ich kann die Stufen.«

»Gimme five«, sagt Dr. Clay.

Ich lasse eine Hand los und klatsche ihn ab.

»Und? Willst du immer noch die Dinosaurier sehen?«

»Ohne Ma?«

Dr. Clay nickt. »Aber du bist die ganze Zeit mit deinem Onkel und deiner Tante zusammen, es kann dir gar nichts passieren. Oder willst du es lieber auf einen anderen Tag verschieben?«

Ja, aber lieber doch nicht, weil dann sind die Dinosaurier vielleicht weg.

»Heute bitte.«

»Guter Junge«, sagt Noreen. »Dann kann deine Ma auch mal so richtig ausschlafen, und wenn du wiederkommst, kannst du ihr alles über die Dinosaurier erzählen.«

»He, Kumpel.« Da kommt mein Onkel Paul, ich wusste gar nicht, dass er in den Speisesaal darf, ich glaube, Kumpel ist das, was Männer für Süße sagen.

Ich frühstücke, Paul sitzt neben mir, das ist komisch. Er spricht in sein kleines Telefon, er sagt, am anderen Ende ist Deana. Das andere Ende ist das unsichtbare. Heute gibt es Saft ohne Stückchen, lecker. Noreen sagt, den haben sie extra für mich bestellt.

»Bist du bereit für deinen ersten Ausflug nach draußen?«, fragt Paul.

»Ich bin schon sechs Tage im Draußen«, erkläre ich ihm. »Dreimal war ich schon an der Luft, und ich habe Ameisen gesehen und Helikopter und Zahnärzte.«

»Boah.«

Nach meinem Muffin hole ich meine Jacke und meine Mütze und die Sonnencreme und meine coole Sonnenbrille. Noreen gibt mir eine braune Papiertüte, falls ich mal nicht atmen kann. Als wir durch die Drehtür gehen, sagt Paul: »Wahrscheinlich ist es sowieso das Beste für deine Ma, wenn sie heute nicht mitkommt. Nach der Sendung gestern Abend kennt nämlich alle Welt ihr Gesicht.«

»Die ganze Welt?«

»So ziemlich«, sagt Paul.

Auf dem Parkplatz hält er mir seine Hand hin, so als ob ich sie nehmen soll. Dann tut er sie wieder runter.

Mir fällt etwas auf den Kopf, und ich schreie.

»Nur ein Regentropfen«, sagt Paul.

Ich starre hoch in den Himmel, er ist grau. »Fällt der auf uns drauf?«

»Alles ist in Ordnung, Jack.«

Ich will lieber wieder bei Ma in Raum Nummer sieben sein, auch wenn sie Verschwunden ist.

»Da sind wir schon …«

Es ist ein grüner Lieferwagen, Deana sitzt auf dem Sitz mit dem Lenkrad. Sie winkt mit den Fingern durch das Fenster. In der Mitte sehe ich noch ein kleineres Gesicht. Der Lieferwagen geht nicht nach draußen auf, ein Teil von ihm schiebt sich nach der Seite weg, und ich steige ein.

»Na endlich«, sagt Deana. »Bronwyn, Schatz, willst du deinem Vetter Jack nicht Hi sagen?«

Es ist ein Mädchen, fast so groß wie ich, sie hat überall so Zöpfchen wie Deana, aber am Ende mit lauter glitzerigen Perlen, und einen ganz flauschigen Elefanten und eine Dose mit Deckel, die die Form von einem Frosch hat, da sind Cornflakes drin. »Hi, Jack«, sagt sie ganz piepsig.

Neben Bronwyn gibt es einen Kindersitz für mich. Paul zeigt mir, wie man den Gurt festklickt. Beim dritten Mal kann ich es ganz alleine, Deana klatscht und Bronwyn auch. Dann schiebt Paul mit einem lauten Wumms den Lieferwagen zu. Ich zucke zusammen, ich will zu meiner Ma, ich glaube schon, dass ich weinen muss, tue ich dann aber doch nicht.

Bronwyn sagt immer weiter: »Hi, Jack, hi, Jack.« Sie spricht noch nicht richtig, sie sagt so Sachen wie »Dada sing« und »Schöner Wauwau« und »Momma noch Brezeln bitte«, aber anstatt Brezeln sagt sie Gretzeln. Dada heißt Paul, und Momma heißt Deana, aber die Namen darf nur Bronwyn sagen, so wie ja auch niemand zu Ma Ma sagt außer ich.

Ich habe Mungst, aber ein bisschen mehr Mut als Angst, so schlimm, wie so zu tun, dass ich tot in Teppich bin, ist es nämlich nicht. Jedes Mal, wenn ein Auto auf uns zukommt, sage ich mir im Kopf, dass es ja auf seiner Seite von der Straße bleiben muss, sonst steckt Officer Oh es zu dem braunen Laster ins Gefängnis. Die Bilder im Fenster sind wie im Fernseher, nur verschwommener, ich sehe geparkte Autos, einen Zementmischer, ein Motorrad und einen Autoanhänger mit eins zwei drei vier fünf Autos drauf, das ist meine Lieblingszahl. Vor einem Haus schiebt ein Junge eine Schubkarre mit noch einem kleineren Kind drin, das ist lustig. Dann geht ein Hund mit einem Mensch an einem Seil über die Straße, und ich glaube, der ist sogar festgebunden, nicht wie bei der Kindertagesstätte, wo sie das Seil nur gehalten haben. Die Ampel geht auf Grün, eine Frau mit einer Krücke hoppelt los, und auf einem Müll steht ein riesiger Vogel, Deana sagt, das ist nur eine Möwe, die schlucken, was immer sie kriegen können.

»Das sind Allesfresser«, erkläre ich ihr.

»Meine Güte, kennst du aber ausgefallene Wörter.«

Wir machen eine Kurve, jetzt kommen große Bäume. »Ist das wieder die Klinik?«, frage ich.

»Nein, nein, wir machen nur einen kurzen Zwischenstopp in der Mall und kaufen ein Geschenk für eine Geburtstagsfeier, zu der Bronwyn heute Nachmittag geht.«

Mall, das sind Geschäfte so wie die, wo Old Nick unser Essen holt, aber jetzt nicht mehr.

Paul soll allein in die Mall, aber er sagt, er weiß nicht, was er kaufen soll, deshalb geht anstatt Deana, aber dann fängt Bronwyn an zu rufen: »Will mit Momma, will mit Momma.« Deshalb soll Deana Bronwyn in dem roten Wägelchen ziehen, und Paul und ich sollen im Auto warten.

Ich starre das rote Wägelchen an. »Kann ich auch mal?«

»Nachher, im Museum«, erklärt Deana mir.

»Hör mal, ich muss sowieso ganz dringend zur Toilette«, sagt Paul. »Vielleicht geht es schneller, wenn wir rasch alle zusammen reingehen.«

»Ich weiß nicht …«

»Unter der Woche ist bestimmt nicht so viel los.«

Deana sieht mich an, aber ohne zu lächeln. »Jack, würdest du gerne in dem Wägelchen mit in die Mall kommen, nur für ein paar Minuten?«

»Au ja.«

Ich fahre hinten und passe auf, dass Bronwyn nicht rausfällt, weil ich der große Vetter bin. »Wie Johannes der Täufer«, erkläre ich Bronwyn, aber die hört nicht zu. Als wir an die Türen kommen, machen sie so ein Plopp und gehen ganz von allein auf, ich falle beinahe aus dem Wägelchen, aber Paul sagt, das machen nur Minicomputer, die sich gegenseitig Botschaften schicken, kein Grund zur Sorge.

Alles ist total hell und gigantossal. Ich wusste gar nicht, dass es im Drinnen genauso riesig sein kann wie im Draußen, sogar mit Bäumen. Ich höre Musik, aber Musikanten mit Instrumenten sehe ich keine. Am Irrsten ist eine Dora-Tasche, ich steige aus und berühre ihr Gesicht, sie lächelt und tanzt vor mir. »Dora«, flüstere ich.

»Ach, stimmt«, sagt Paul. »Nach der war Bronwyn früher auch ganz verrückt, aber jetzt ist es Hannah Montana.«

»Hannah Montana«, singt Bronwyn, »Hannah Montana.«

Die Dora-Tasche hat Riemen, sie ist wie der Rucksack, aber mit Dora drauf anstatt dem Gesicht vom Rucksack. Sie hat auch einen Griff, als ich ihn ausprobiere, kommt er hoch, ich glaube, jetzt habe ich sie kaputt gemacht, aber dann rollt Dora, es ist ein Rucksack mit Rollen, Zauberei.

»Gefällt er dir?« Das ist Deana, die mit mir spricht. »Würdest du da gern deine Sachen reintun?«

»Vielleicht nicht grade in Rosa«, sagt Paul zu ihr. »Jack, ist die hier nicht cool?« Er hält eine Tasche mit Spider-Man hoch.

Ich umarme Dora ganz fest. Ich glaube, sie flüstert: »Hola, Jack.«

Deana versucht die Dora-Tasche zu nehmen, aber ich lasse sie nicht. »Ist ja schon gut, ich muss nur bei der Dame da bezahlen, in zwei Sekunden kriegst du sie wieder …«

Es sind aber keine zwei Sekunden, es sind 37.

»Da sind die Toiletten«, sagt Paul und läuft weg.

Die Dame wickelt die Tasche in Papier, deshalb kann ich Dora nicht mehr sehen, dann tut sie sie in einen großen Karton, und den lässt Deana dann vor mir an den Kordeln baumeln. Ich hole Dora raus und tue meine Arme in ihre Riemen und trage sie, ich trage Dora, ganz in echt.

»Wie sagt man?«, fragt Deana.

Ich weiß nicht, wie man sagt.

»Bronwyn schöne Tasche«, sagt Bronwyn, sie winkt mit einer gesprenkelten, an den Riemen hängen lauter Herzen.

»Ja, Schatz, aber du hast schon so viele schöne Taschen zu Hause.« Sie nimmt die glänzende Tasche, Bronwyn schreit, und eins von den Herzen fällt runter.

»Ob wir es irgendwann mal schaffen, mehr als zehn Meter weiterzukommen, bevor die nächste Katastrophe passiert?«, fragt Paul. Er ist wieder da.

»Wenn du da gewesen wärst, hättest du sie ablenken können«, erklärt Deana ihm. Bronwyn sagt: »Taaaasche!«

Deana hebt sie wieder in das Wägelchen. »Ab geht’s.«

Ich hebe das Herz auf und tue es zu meinen anderen Schätzen in meine Tasche, dann laufe ich neben dem Wägelchen her.

»Jack!« Das ist Paul, er ruft mich.

»Posaun doch nicht immer so seinen Namen durch die Gegend«, sagt Deana.

»Ach ja, stimmt.«

Ich sehe einen gigantossalen Apfel aus Holz. »Der gefällt mir.«

»Verrückt, oder?«, sagt Paul. »Wie wäre es mit der Trommel da für Shirelle?«, sagt er zu Deana.

Sie rollt die Augen. »Da kriegt man ja eine Gehirnerschütterung. Das vergiss mal lieber gleich.«

»Kann ich den Apfel haben, danke?«, frage ich.

»Ich glaube nicht, dass der in deine Tasche passen würde«, sagt Paul und grinst.

Als Nächstes finde ich ein silbernes und blaues Ding, wie eine Rakete. »Das will ich haben, danke.«

»Das ist eine Kaffeekanne«, sagt Deana und stellt sie wieder auf das Regal. »Wir haben dir schon eine Tasche gekauft, das ist für heute genug, okay? Jetzt suchen wir nur noch ein Geschenk für Bronwyns Freundin, und dann können wir hier verschwinden.«

»Verzeihen Sie, gehören die hier Ihrer älteren Tochter?« Es ist eine alte Frau, sie hält meine Schuhe hoch.

Deana starrt sie an.

»Jack, Kumpel, was soll das denn?«, sagt Paul und zeigt auf meine Socken.

»Ach, vielen Dank«, sagt Deana, nimmt der Frau die Schuhe weg und kniet sich hin. Sie schiebt meine Füße so, dass ich erst in den rechten und dann in den linken steige. »Du nennst ihn ständig beim Namen«, sagt sie durch ihre Zähne zu Paul.

Ich frage mich, was mit meinem Namen nicht stimmt.

»Ja doch, tut mir leid«, sagt Paul.

»Warum hat sie ältere Tochter gesagt?«, frage ich.

»Ähm, wegen deiner langen Haare und der Dora-Tasche«, sagt Deana.

Die alte Frau ist verschwunden. »War sie ein böser Bube.«

»Aber nein.«

»Aber wenn sie mitbekäme, dass du der Jack bist«, sagt Paul, »dann würde sie vielleicht mit ihrem Mobiltelefon oder was auch immer ein Bild von dir machen, und dann würde deine Mutter uns umbringen.«

Meine Brust fängt an zu wummern. »Warum würde Ma …«

»Ich meinte … tut mir leid …«

»Er wollte damit nur sagen, sie wäre ganz wütend«, sagt Deana.

Ich denke an Ma, wie sie im Dunkel liegt und Verschwunden ist. »Ich will nicht, dass sie wütend ist.«

»Nein, natürlich nicht.«

»Könnt ihr mich jetzt wieder in die Klinik zurücken, bitte?«

»Ganz bald.«

»Jetzt.«

»Willst du denn gar nicht mehr in das Museum? Wir fahren in einer Minute los. Webkinz«, sagt Deana zu Paul, »das sollte in Ordnung sein. Ich glaube, hinter dem Gastrobereich kam ein Spielzeugladen …«

Ich rolle die ganze Zeit meine Tasche, meine Schuhe sind zu fest geklettet. Bronwyn hat Hunger, deshalb essen wir Popcorn, es ist das Knusprigste, was ich jemals gegessen habe, aber es bleibt mir im Hals kleben, und ich muss husten. Paul holt für sich und Deana Lattes aus dem Coffeeshop. Als ein paar Popcornteile von meiner Tasche runterfallen, sagt Deana, ich soll sie liegen lassen, weil wir genug davon haben und nicht wissen, was auf dem Boden schon mal war. Ich mache mich ganz voll, bestimmt ist Ma wütend. Deana gibt mir ein nasses Wischding, mit dem kann ich meine Finger wieder unklebrig machen, das tue ich in meine Dora-Tasche. Es ist zu hell, und ich glaube, wir sind verirrt, ich wünschte, ich wäre in Raum Nummer sieben.

Ich muss Pipi, Paul bringt mich zu einem Klo, das ganz komische, labberige Becken an der Wand hat. Er zeigt mit der Hand drauf. »Auf geht’s.«

»Wo ist das Klo?«

»Das da sind ganz spezielle nur für uns Jungs.«

Ich schüttele den Kopf und gehe wieder raus.

Deana sagt, ich kann mit ihr und Bronwyn mitkommen, sie lässt mich die Kabine aussuchen. »Prima gemacht, Jack, du hast überhaupt nicht danebengespritzt.«

Warum soll ich denn danebenspritzen?

Als sie Bronwyns Unterhose runtermacht, ist da gar kein Peterchen oder sowas wie Mas Vagina, nur ein fettes kleines Stückchen mit einer Falte in der Mitte, aber ohne Fell. Ich tue meinen Finger drauf und drücke, es ist ganz matschig.

Deana haut meine Hand weg.

Ich kann überhaupt nicht aufhören zu weinen.

»Jetzt beruhig dich doch, Jack. Habe ich … ist deine Hand verletzt?«

Aus meinem Handgelenk kommt lauter Blut.

»Ach, das tut mir ja leid«, sagt Deana, »wirklich, das muss mein Ring gewesen sein.« Sie starrt auf ihren Ring mit den Goldstückchen. »Aber hör mal, man fasst andere Leute nicht an der Scham an, das ist nicht okay, okay?«

Ich weiß nicht, was eine Scham ist.

»Fertig, Bronwyn? Komm, Mama wischt dich ab.«

Sie reibt genau an dem Teil von Bronwyn, das ich gedrückt habe, aber schlagen tut sie sich danach nicht.

Als ich meine Hände wasche, tut das Blut noch mehr weh. Deana sucht die ganze Zeit in ihrer Tasche ein Pflaster. Sie faltet so ein braunes Papierhandtuch zusammen und sagt mir, ich soll es auf die Wunde drücken.

»Alles paletti?«, fragt Paul draußen.

»Frag lieber nicht«, sagt Deana. »Können wir jetzt endlich hier raus?«

»Und was ist mit dem Geschenk für Shirelle?«

»Wir packen einfach was von Bronwyn ein, das noch neu aussieht.«

»Nicht von mir«, ruft Bronwyn.

Sie zanken sich, ich will mit Ma im Bett sein, im Dunkel und an ihren weichen Stellen, ohne unsichtbare Musik und ohne dass breite Personen mit roten Gesichtern vorbeilaufen und lachende Mädchen, die ihre Arme verknotet haben, und man sieht lauter Teile von ihnen durch die Anziehsachen. Ich drücke auf die Wunde, damit nicht noch mehr Blut aus mir rausfällt. Beim Gehen mache ich die Augen zu, ich stoße gegen einen Pflanzentopf, aber eigentlich ist es gar keine Pflanze wie unser Pflanze, bevor er gestorben ist, es ist eine aus Plastik.

Dann sehe ich jemanden, der lächelt mich an. Dylan! Ich laufe hin und umarme ihn ganz feste.

»Ein Buch«, sagt Deana, »perfekt. Bin sofort wieder da.«

»Das ist Der Bagger Dylan, er ist mein Freund aus Raum«, erkläre ich Paul. »Hierrr kommt Dylan, der starke Bagger, er schaufelt und schaufelt und wird nicht schlapper. Der lange Arm löffelt kräftig und schnell …«

»Das ist toll, Kumpel. Und weißt du auch noch, wo es hingehört?«

Ich streichele den Vorderteil von Dylan, der ist ganz glatt und glänzend, wie ist Dylan hier in die Mall gekommen?

»Pass auf, dass du es nicht voll Blut machst.« Paul tut ein Papiertuch auf meine Hand, mein braunes Papier muss runtergefallen sein. »Such dir doch lieber ein anderes Buch aus, das du noch nicht gelesen hast.«

»Momma, Momma.« Bronwyn versucht, einen Schmuck aus dem Vorderteil von einem Buch zu holen.

»Geh zahlen«, sagt Deana. Sie tut das Buch in Pauls Hand und läuft rüber zu Bronwyn.

Ich mache meine Dora-Tasche auf, tue Dylan rein und mache schön den Reißverschluss zu.

Als Deana und Bronwyn wiederkommen, gehen wir so nah an den Brunnen, dass wir es spritzen hören, aber nicht gespritzt werden. Bronwyn sagt: »Geld, Geld«, Deana gibt ihr eine Münze, und Bronwyn wirft sie ins Wasser.

»Willst du auch eine?«, fragt Deana mich.

Das muss ein Extramüll für Geld sein, das zu schmutzig ist. Ich nehme die Münze und werfe sie rein, dann hole ich das nasse Wischding raus und mache meine Finger sauber.

»Hast du dir auch was gewünscht?«

Ich habe mir noch nie was mit Abfall gewünscht. »Was denn?«

»Das, was du am liebsten in der Welt hättest.«

Am liebsten wäre ich wieder in Raum, aber ich glaube nicht, dass der in der Welt ist.

Da ist ein Mann, der redet mit Paul und zeigt auf mich und meine Dora.

Paul kommt, macht den Reißverschluss auf und holt Dylan raus. »Also wirklich, Kumpel!«

»Es tut mir fürchterlich leid«, sagt Deana.

»Wissen Sie, er hat selbst eins davon zu Hause«, sagt Paul, »und er dachte, das hier wäre sein Buch.« Er hält Dylan dem Mann hin.

Ich renne zu ihm und schnappe ihn mir wieder, dann sage ich: »Hierrr kommt Dylan, der starke Bagger, er schaufelt und schaufelt und wird nicht schlapper.«

»Er begreift es nicht«, sagt Paul.

»Der lange Arm löffelt kräftig und schnell …«

»Jack, mein Schatz, das hier gehört dem Geschäft.« Deana zieht an dem Buch in meiner Hand.

Aber jetzt halte ich Dylan noch fester und schiebe ihn unter mein Hemd. »Ich komme von woanders her«, erkläre ich dem Mann. »Old Nick hat mich und Ma eingesperrt, und jetzt ist er mit seinem Laster im Gefängnis, aber der Engel will ihn nicht ausbrechen, weil er ein böser Bube ist. Wir sind berühmt, und wenn du ein Bild von uns machst, bringen wir dich um.«

Der Mann guckt nur.

»Ähm, was kostet das Buch?«, fragt Paul.

Der Mann sagt: »Ich muss es erst einscannen …«

Paul streckt seine Hand aus. Ich rolle mich um Dylan herum auf dem Boden zusammen.

»Ich hole Ihnen einfach ein anderes Exemplar, das können Sie dann einscannen«, sagt Paul und läuft zurück in das Geschäft.

Deana sieht sich nach allen Seiten um und ruft: »Bronwyn? Süße?« Sie rennt rüber zum Brunnen und guckt überall in ihn rein. »Bronwyn?«

Aber eigentlich ist Bronwyn hinter einem Fenster mit lauter Anziehsachen und tut ihre Zunge gegen das Glas.

»Bronwyn!«, schreit Deana.

Ich strecke auch meine Zunge raus. Bronwyn lacht hinter dem Glas.





Beinahe schlafe ich in dem grünen Lieferwagen ein, aber dann doch nicht.

Noreen sagt, meine Dora-Tasche ist spitze und auch das glänzende Herz, und Der Bagger Dylan hört sich nach einer tollen Geschichte an. »Wie waren die Dinosaurier?«

»Wir hatten keine Zeit, sie anzugucken.«

»Ach, wie schade.« Noreen gibt mir ein Pflaster für mein Handgelenk, aber es sind keine Bilder drauf. »Deine Ma hat den ganzen Tag ein Nickerchen gemacht, die freut sich bestimmt riesig, wenn sie dich sieht.« Sie klopft und macht die Tür Nummer sieben auf.

Ich ziehe meine Schuhe aus, meine Kleider aber nicht. Endlich kann ich zu Ma krabbeln. Sie ist ganz warm und weich, ich kuschele mich an sie, aber vorsichtig. Das Kissen riecht schlecht.

»Wir sehen uns dann zum Abendessen«, flüstert Noreen und macht die Tür zu.

Was schlecht riecht, das ist Kotze, das kenne ich noch von unserer spannenden Flucht. »Wach auf«, sage ich zu Ma, »du hast auf das Kissen gebrochen.«

Sie schaltet sich nicht an, sie stöhnt noch nicht mal oder rollt sich auf die andere Seite, sie bewegt sich überhaupt nicht, als ich an ihr ziehe. Sie ist so Verschwunden wie noch nie.

»Ma, Ma, Ma.«

Ich glaube, sie ist ein Zombie.

»Noreen?«, rufe ich, dann laufe ich zur Tür. Ich darf die anderen Personen nicht stören, aber … »Noreen!« Sie ist am Ende vom Flur, jetzt dreht sie sich rum. »Ma hat gebrochen.«

»Macht doch nichts, das haben wir in null Komma nichts wieder sauber. Lass mich nur schnell den Putzwagen …«

»Nein, aber du musst jetzt kommen.«

»Okay, okay.«

Als sie das Licht anschaltet und Ma sieht, sagt sie nicht okay, sie hält das Telefon hoch und sagt: »Code Blau, Zimmer sieben, Code Blau …«

Ich weiß nicht, was … Dann sehe ich Mas Tablettenfläschchen auf der Tisch liegen, sie sind auf und sehen fast leer aus. Nie mehr als zwei, das ist eine Regel, wieso sind sie dann jetzt fast leer, wo sind die Tabletten hin? Noreen drückt an die Seite von Mas Hals und sagt ihren anderen Namen und: »Können Sie mich hören? Können Sie mich hören?«

Aber ich glaube nicht, dass Ma hören kann und sehen auch nicht. Ich schreie: »Keine gute Idee, keine gute Idee!«

Ganz viele Personen laufen rein, eine zieht mich raus in den Flur. Ich brülle, so laut ich kann: »Ma!«, aber es ist nicht laut genug, damit sie wach wird.





LEBEN

Ich bin in dem Haus mit der Hängematte. Ich gucke aus dem Fenster und suche, aber Grandma sagt, wenn, dann wäre sie hinter dem Haus raus und nicht vorne, aber sie hängt sowieso noch nicht, weil erst der 10. April ist. Es gibt Büsche und Blumen und den Bürgersteig und die Straße und die anderen Vorgärten und die anderen Häuser, davon zähle ich elf Stück, da wohnen die Nachbarn, so wie bei Stibitzen beim Nachbarn. Ich lutsche, damit ich Schlimmerzahn fühlen kann, er ist mitten auf meine Zunge. Das weiße Auto ist draußen und steht einfach nur da. In dem bin ich von der Klinik weggefahren, trotzdem es keinen Kindersitz gab. Dr. Clay wollte, dass ich dableibe, wegen Kontinuität und therapeutischer Isolation, aber Grandma hat geschrien, dass er kein Recht hat, mich wie einen Gefangenen zu behandeln, ich habe nämlich sehr wohl eine Familie. Meine Familie ist Grandma, Stiefpa, Bronwyn, Onkel Paul, Deana und Grandpa, bloß den schüttelt es vor mir. Und dann noch Ma. Ich schiebe Schlimmerzahn in meine Backe. »Ist sie tot?«

»Nein, wie oft soll ich dir das noch sagen? Definitiv nicht.« Grandma legt ihren Kopf auf das Holz um das Glas.

Wenn Personen manchmal definitiv sagen, hört es sich eigentlich weniger wahr an. »Tust du nur so, als ob sie am Leben ist?«, frage ich Grandma. »Weil, wenn nämlich nicht, dann will ich auch nicht am Leben sein.«

Jetzt laufen schon wieder lauter Tränen ihre Backen runter. »Ich kann … ich kann dir doch nicht mehr sagen, als ich selbst weiß, mein Schatz. Sie haben versprochen, dass sie sofort anrufen, sobald das nächste Bulletin da ist.«

»Was ist ein Bulletin?«

»Wie es ihr geht, genau in diesem Augenblick.«

»Und wie geht es ihr?«

»Nun ja, nicht sehr gut, weil sie zu viel von dieser garstigen Medizin genommen hat, das habe ich dir ja schon erzählt. Aber inzwischen haben sie die bestimmt schon ganz aus ihrem Magen gepumpt oder jedenfalls das meiste.«

»Aber warum hat sie … ?«

»Weil es ihr nicht gut geht. Im Kopf. Aber sie ist in guten Händen«, sagt Grandma, »du musst dir keine Sorgen machen.«

»Warum?«

»Na ja, weil es sowieso nichts hilft.«

Das Gesicht von Gott ist ganz rot und hängt an einem Schornstein fest. Es wird dunkler. Schlimmerzahn drückt sich ganz fest in meinen Gaumen, er tut weh, ein schlimmer Schlimmerzahn.

»Du hast ja deine Lasagne gar nicht angerührt«, sagt Grandma. »Willst du vielleicht ein Glas Saft oder so etwas?«

Ich schüttele den Kopf.

»Bist du müde? Du musst doch ganz müde sein, Jack. Also, ich bin jedenfalls hundemüde. Komm mit runter, dann zeige ich dir das Gästezimmer.«

»Warum ist es für Gäste?«

»Das heißt, dass wir es nicht benutzen.«

»Warum habt ihr einen Raum, den ihr nicht benutzt?«

Grandma zuckt mit den Achseln. »Man weiß ja nie, ob man nicht doch mal einen Gast hat.« Sie wartet, bis ich auf meinem Popo die Stufen runter bin, weil es kein Geländer gibt, an dem man sich festhalten kann. Ich ziehe meine Dora-Tasche hinter mir her, wumpf wumpf. Wir gehen durch den Raum, der Wohnzimmer heißt, ich weiß nicht, warum, weil Grandma und Stiefpa wohnen nämlich in allen Räumen, bloß nicht in dem, der für Gäste ist.

Dann ein entsetzliches Waa waa, ich halte mir die Ohren zu. »Da gehe ich besser mal dran«, sagt Grandma.

Eine Minute später kommt sie wieder und bringt mich in einen Raum. »Bist du so weit?«

»Wofür?«

»Ins Bett zu gehen, mein Schatz.«

»Nicht hier.«

Sie drückt an ihrem Mund herum, da, wo die kleinen Risse sind. »Ich weiß ja, dass du deine Ma vermisst, aber fürs Erste musst du mal allein schlafen. Keine Sorge, Stiefpa und ich sind gleich oben. Du hast doch keine Angst vor Monstern, oder?«

Kommt auf das Monster an, ob es in echt ist oder nicht und ob es da ist, wo ich bin.

»Hmm. Das alte Schlafzimmer deiner Ma ist gleich neben unserem«, sagt Grandma, »aber das haben wir in einen Fitnessraum umgebaut, ich weiß nicht, ob da Platz für eine Luftmatratze …«

Ich klettere die Stufen rauf, diesmal mit meinen Füßen, ich drücke mich einfach gegen die Wände, und Grandma trägt meine Dora-Tasche. Es gibt labberige blaue Matten und Hanteln und Bauchquetscher, die habe ich alle schon im Fernseher gesehen. »Ihr Bett war an dieser Stelle und ihr Kinderbettchen auch, als sie noch ein Baby war«, sagt Grandma und zeigt auf ein Fahrrad, das am Boden festgemacht ist. »Die ganzen Wände waren voller Poster, du weißt schon, von ihren Lieblingsbands, da war ein Riesenventilator, ein Traumfänger.«

»Warum hat er ihre Träume gefangen?«

»Wie bitte?«

»Der Ventilator.«

»Ach, nein, das war doch nur zur Dekoration. Ich komme mir jetzt ganz schlecht vor, dass ich alles für wohltätige Zwecke gespendet habe. Ein Betreuer in der Trauergruppe hat uns damals dazu geraten …«

Ich gähne ganz lange. Beinahe fällt mir Schlimmerzahn runter, aber ich fange ihn mit der Hand auf.

»Was ist das denn?«, fragt Grandma. »Eine Perle oder so was? Nie an kleinen Gegenständen lutschen, hat deine …?«

Sie versucht meine Finger umzubiegen, damit sie ihn kriegt. Meine Hand schlägt sie fest auf ihr Bäuchlein.

Sie guckt mich an.

Ich tue Schlimmerzahn wieder in meinen Mund, verstecke ihn unter meiner Zunge, dann kneife ich die Zähne ganz fest zusammen.

»Weißt du was, ich glaube, wir legen einfach eine Luftmatratze neben unser Bett, nur für heute Nacht, bis du dich an alles gewöhnt hast.«

Ich ziehe meine Dora-Tasche hinter mir her. Die nächste Tür ist da, wo Grandma und Stiefpa schlafen. Die Luftmatratze ist so was wie eine große Tüte, die Pumpe ploppt immer wieder aus dem Loch, und Grandma muss Stiefpa rufen, damit der hilft. Irgendwann ist sie dann ganz voll wie ein Ballon, bloß viereckig, und Grandma zieht Laken drüber. Wer hat eigentlich Mas Bäuchlein aufgepumpt? Und wo stöpselt man bei ihr die Pumpe ein? Kann Ma nicht platzen?

»Ich habe gefragt, wo deine Zahnbürste ist, Jack.«

Ich finde sie in meiner Dora-Tasche, in der ist alles, was mir gehört. Grandma sagt mir, ich soll den Pyjama anziehen, damit meint sie meinen Astronautenschlafanzug. Sie zeigt auf die Luftmatratze und sagt: »Hops, rein da.« Personen sagen immer Hops oder Hopp, wenn sie so tun wollen, als ob etwas Spaß macht. Grandma beugt sich runter und hat ihren Mund spitz nach vorne, so wie bei einem Kuss, aber ich tue meinen Kopf unter die Decke. »Entschuldigung«, sagt sie. »Dann vielleicht eine Geschichte?«

»Nein.«

»Sogar für eine Geschichte bist du zu müde. Na, dann mal gute Nacht.«

Alles wird ganz dunkel. Ich setze mich auf. »Was ist mit den Läusen?«

»Die Laken sind frisch gewaschen.«

Ich kann Grandma nicht sehen, aber ich erkenne ihre Stimme. »Nein, die Läuse.«

»Jack, ich schwöre Stein und Bein …«

»Die Läuse, die nicht beißen.«

»Ach so«, sagt Grandma, »das mit Äuglein zumachen … Stimmt, das habe ich früher immer gesagt, als deine Ma noch …«

»Sag alles.«

»Machst du schnell die Äuglein zu, geben alle Läuse Ruh.«

Ein bisschen Licht kommt rein, das ist von der Tür, die aufgeht. »Wo gehst du hin?«

Ich kann in dem Loch ganz schwarz die Umrisse von Grandma sehen. »Nur nach unten.«

Ich rolle mich von der Luftmatratze, sie schwabbelt. »Ich auch.«

»Nein, jetzt gucke ich meine Sendungen, die sind nichts für Kinder.«

»Du hast gesagt, du und Stiefpa im Bett und ich daneben auf der Luftmatratze.«

»Das kommt erst später, wir sind noch nicht müde.«

»Du hast gesagt, du bist hundemüde.«

»Ich bin es müde, dass …« Grandma schreit beinahe. »Ich bin noch nicht bettreif, ich muss noch ein bisschen fernsehen und an nichts denken.«

»Du kannst doch hier an nichts denken.«

»Versuch jetzt einfach, dich hinzulegen und die Äuglein zuzumachen.«

»Kann ich nicht. Nicht ganz allein.«

»Oh«, sagt Grandma. »Ach, du Ärmster.«

Warum bin ich der Ärmste?

Sie bückt sich neben der Matratze und berührt mein Gesicht.

Ich zucke zurück.

»Ich wollte dir doch nur die Äuglein zumachen.«

»Du im Bett. Ich auf der Luftmatratze.«

Ich höre, wie sie die Luft aus den Backen pustet. »Na gut. Ich lege mich hin, aber nur eine Minute …«

Ich sehe ihre Umrisse auf der Decke. Etwas fällt hin, bumm, es ist ihr Schuh.

»Willst du ein Schlummerliedchen?«

»Häh?«

»Soll ich dir was vorsingen?«

Ma singt mir Lieder vor, aber die gibt es jetzt nicht mehr. Sie hat meinen Kopf gegen den Tisch in Raum Nummer sieben gebumst. Sie hat die schlimme Medizin genommen. Ich glaube, sie war zu müde zum Weiterspielen, sie wollte ganz schnell in den Himmel, deshalb hat sie nicht gewartet, warum hat sie nicht auf mich gewartet?

»Weinst du etwa?«

Ich sage nichts.

»Ach, mein Schatz. Aber besser, es kommt raus, als dass es drin bleibt.«

Ich würde so gern was kriegen, unbedingt, ohne kann ich nicht einschlafen. Ich lutsche an Schlimmerzahn, das ist Ma, jedenfalls ein Teil von ihr, seine Zellen sind ganz braun und verfault und hart. Schlimmerzahn hat ihr wehgetan oder vielleicht auch sich selbst, aber jetzt nicht mehr. Warum ist es besser, es kommt raus, als dass es drin bleibt? Ma hat gesagt, wir würden frei sein, aber das hier fühlt sich nicht an wie frei.

Grandma singt ganz leise, ich kenne das Lied, aber es hört sich ganz falsch an. »The wheels on the bus go …«

»Nein danke«, sage ich und sie hört auf.





Ich und Ma sind im Meer, ich habe mich in ihren Haaren verfangen. Ich bin ganz verknotet und ertrinke …

Nur ein böser Traum. Das würde Ma sagen, wenn sie hier wäre, ist sie aber nicht.

Ich liege da und zähle fünf Finger, noch fünf Finger, fünf Zehen, noch fünf Zehen. Einen nach dem anderen lasse ich sie winken. Ich versuche in meinem Kopf zu sprechen. Ma? Ma? Ma? Ich höre nicht, dass sie antwortet.

Als es anfängt, heller zu werden, tue ich die Decke über mein Gesicht, damit es wieder dunkel ist. Ich glaube, so muss es sich anfühlen, wenn man Verschwunden ist.

Personen laufen herum und flüstern. »Jack?« Das ist Grandma neben meinem Gesicht, deshalb rolle ich mich weg. »Wie geht es dir?«

Die Manieren fallen mir wieder ein. »Heute nicht so hundertprozentig, danke.« Ich bin nuschelig, weil Schlimmerzahn an meiner Zunge klebt.

Als sie weg ist, setze ich mich auf und zähle meine Sachen in der Dora-Tasche, meine Kleider und Schuhe und Ahornflügel und Eisenbahn und Zeichenviereck und Rassel und Glitzerherz und Krokodil und Stein und Affe und Auto und sechs Bücher, das sechste ist Der Bagger Dylan aus dem Geschäft.

Einen Haufen Stunden später wieder Waa waa, das heißt Telefon. Grandma kommt zu mir. »Das war Dr. Clay. Deine Ma ist stabil. Das hört sich doch gut an, oder?«

Es hört sich an wie Stall.

»Und außerdem gibt es zum Frühstück Blaubeerpfannkuchen.«

Ich bleibe so still liegen, als ob ich ein Skelett bin. Die Decke riecht staubig.

Bimm-bamm, bimm-bamm, Grandma geht wieder runter.

Unter mir Stimmen, ich zähle meine Zehen, dann meine Finger und dann immer wieder neu meine Zähne. Jedes Mal komme ich auf die richtige Zahl, aber ich bin mir trotzdem unsicher.

Grandma kommt wieder rauf, sie ist ganz außer Atem und sagt, dass Grandpa da ist und Auf Wiedersehen sagen will.

»Mir?«

»Uns allen, er fliegt zurück nach Australien. Jetzt steh mal auf, Jack, davon, dass du dich nur im Bett fläzt, wird es auch nicht besser.«

Ich weiß nicht, was das ist. »Er will, dass ich nicht geboren bin.«

»Er will was?«

»Er sagt, ich hätte nicht geboren sein sollen, dann müsste Ma auch nicht Ma sein.«

Grandma sagt gar nichts mehr, deshalb denke ich, dass sie nach unten gegangen ist. Ich stecke meinen Kopf raus und will nachgucken. Sie ist immer noch da und hat ganz feste die Arme um sich. »Kümmer dich nicht um dieses A…«

»Was ist ein A…?«

»Komm jetzt runter, und iss einen Pfannkuchen.«

»Ich kann nicht.«

»Schau dich doch mal an.«

Wie soll das gehen?

»Du atmest und läufst und redest und schläfst doch ohne deine Ma, oder? Dann kannst du garantiert auch ohne sie essen.«

Ich lasse Schlimmerzahn in meiner Backe, damit ihm nichts passiert. Auf den Stufen mache ich extra langsam.

In der Küche hat Grandpa, der richtige, was Lilanes an seinem Mund. Sein ganzer Pfannkuchen ist in einer Siruppfütze mit noch mehr lila Dingern, das sind Blaubeeren.

Die Teller sind normal weiß, aber die Form von den Gläsern ist falsch, sie haben Ecken. Es gibt eine große Schüssel mit Würstchen. Ich wusste gar nicht, dass ich Hunger hatte. Ich esse ein Würstchen und dann noch zwei.

Grandma sagt, sie hat keinen Saft ohne Fruchtfleisch, aber trinken muss ich was, sonst ersticke ich an meinen Würstchen. Also trinke ich den mit Stückchen, und die Bazillen krabbeln meinen Hals runter. Der Kühlschrank ist riesig und voll mit Schachteln und Flaschen. Die Schränkchen haben so viel Essen in sich drin, dass Grandma auf Stufen klettern muss, wenn sie in alle gucken will.

Sie sagt, ich soll jetzt duschen, aber ich tue so, als ob ich es nicht höre.

»Was ist stabil?«, frage ich Grandpa.

»Stabil?« Eine Träne kommt ihm aus dem Auge, und er wischt sie weg. »Nicht besser und nicht schlechter, schätze ich.« Er tut auf dem Teller sein Messer und seine Gabel zusammen.

Nicht besser und nicht schlechter als was?

Schlimmerzahn schmeckt vom Saft ganz sauer. Ich gehe wieder nach oben und schlafe.





»Schätzchen«, sagt Grandma. »Du wirst nicht noch einen ganzen Tag vor der Flimmerkiste verbringen.«

»Häh?«

Sie schaltet den Fernseher aus. »Dr. Clay hat gerade angerufen, weil er sich Sorgen um deine entwicklungspsychologischen Bedürfnisse macht. Ich musste ihm weismachen, dass wir gerade Dame spielen.«

Ich blinzele und reibe mir die Augen. Warum hat sie ihm eine Lüge gesagt? »Ist Ma … ?«

»Sie ist immer noch stabil, sagt er. Hast du vielleicht wirklich Lust, Dame zu spielen?«

»Deine Steine sind doch für Riesen und fallen immer runter.«

Sie seufzt. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das hier die richtigen sind, genau wie beim Schach und bei den Karten. Das kleine Magnetset, mit dem du und deine Ma gespielt habt, ist nur für Reisen.«

»Aber wir haben doch gar keine Reisen gemacht.«

»Komm, wir gehen zum Spielplatz.«

Ich schüttele den Kopf. Ma hat gesagt, wenn wir frei wären, würden wir zusammen da hingehen.

»Du bist doch schon draußen gewesen, sogar ganz oft.«

»Das war in der Klinik.«

»Aber die Luft ist doch dieselbe, oder? Jetzt komm schon, deine Ma hat mir erzählt, dass du gerne kletterst.«

»Ja, ich klettere tausendmal auf Tisch und auf unsere Stühle und auf Bett.«

»Nicht auf meinen Tisch, Freundchen.«

Ich meinte ja auch in Raum.

Grandma macht mir einen ganz engen Pferdeschwanz und steckt ihn in meine Jacke, ich ziehe ihn wieder raus. Sie sagt nichts von dem klebrigen Zeug und meiner Mütze, vielleicht verbrennt in dem Teil von der Welt hier die Haut ja gar nicht. »Setz deine Sonnenbrille auf, ach ja, und deine vernünftigen Schuhe, in den Latschen da hast du doch überhaupt keinen Halt.«

Beim Laufen werden meine Füße zerquetscht, sogar noch, als ich das Klettband locker mache. Solange wir auf dem Bürgersteig bleiben, kann uns nichts passieren, aber wenn wir aus Versehen auf die Straße gehen, dann sterben wir. Ma ist nicht tot, Grandma sagt, sie würde mich nicht belügen, aber Dr. Clay hat sie wegen Dame belogen. Der Bürgersteig hört immer wieder auf, dann müssen wir über die Straße gehen, solange wir uns an den Händen halten, kann uns nichts passieren. Ich berühre sie nicht gerne, aber Grandma sagt bloß, Pech gehabt. Die Luft bläst ganz hart in meine Augen, und um die Ränder von meiner Sonnenbrille rum ist die Sonne total blendend. Ich sehe ein rosa Ding, das ist ein Haargummi, und einen Flaschendeckel und ein Rad, aber nicht von einem richtigen Auto, von einem zum Spielen, und eine Tüte Nüsse, aber die Nüsse sind weg, und einen Saftkarton, in dem kann ich immer noch ein bisschen Saft schwappen hören, und gelbe Kacka. Grandma sagt, die ist nicht von einem Menschen, sie ist von einem ekelhaften Hund, sie zieht mich weiter und sagt: »Komm da weg.« Der ganze Dreck darf hier eigentlich gar nicht hin, außer die Blätter, die Bäume können nämlich nichts dafür, dass sie runterfallen. In Frankreich lassen sie die Hunde überall ihr Geschäft machen, irgendwann kann ich da mal hin.

»Damit ich die Kacka sehe?«

»Aber nein«, sagt Grandma, »den Eiffelturm. Irgendwann, wenn du richtig gut Treppenstufen steigen kannst.«

»Ist Frankreich im Draußen?«

Sie guckt mich komisch an.

»In der Welt?«

»Alles ist in der Welt. Wir sind mittendrin.«

Ich kann nicht auf den Spielplatz, weil die Kinder da drauf keine Freunde von mir sind.

Grandma verdreht ihre Augen. »Du spielst einfach gleichzeitig, so machen Kinder das.«

Ich kann durch die Drahtdiamanten durch den Zaun sehen. Er ist wie der geheime Zaun in den Wänden, durch den Ma nicht durchgekommen ist, aber wir sind trotzdem rausgekommen, ich habe sie gerettet, bloß wollte sie dann nicht mehr leben. Ein großes Mädchen hängt verkehrt rum an einer Schaukel. Zwei Jungen sind auf einem anderen Ding, ich weiß nicht mehr, wie das heißt. Es geht rauf und runter, sie lassen es bumsen und lachen und fallen runter, ich glaube, extra. Ich zähle meine Zähne bis zwanzig und dann noch mal. Wenn ich den Zaun festhalte, kriege ich weiße Streifen auf den Fingern. Ich gucke zu, wie eine Frau ein Baby zu dem Klettergerüst trägt, und dann krabbelt es durch den Tunnel, sie macht ihm durch die Löcher an der Seite lustige Gesichter und tut so, als ob sie nicht weiß, wo es ist. Ich gucke zu dem großen Mädchen, aber es schaukelt nur, manchmal mit den Haaren beinahe im Matsch, manchmal richtig rum. Die Jungen jagen sich und machen mit den Händen peng wie mit Pistolen, einer fällt hin und schreit. Er läuft durch das Tor und in ein Haus, Grandma sagt, der wohnt da bestimmt, woher weiß sie das? Sie flüstert: »Spiel du doch jetzt einfach mit dem anderen Jungen.« Dann ruft sie: »Hallo, du da!« Der Junge guckt zu uns rüber, ich gehe in einen Busch, der sticht mich am Kopf.

Nach einer Weile sagt sie, es ist kühler als es aussieht, und vielleicht sollen wir lieber wieder nach Hause und zu Mittag essen.

Es dauert Hunderte von Stunden, und mir brechen die Beine.

»Vielleicht macht es dir ja beim nächsten Mal schon mehr Spaß«, sagt Grandma.

»Es war interessant.«

»Hat dir deine Ma etwa beigebracht, das zu sagen, wenn dir etwas nicht gefällt?« Sie lächelt ein bisschen. »Das hat sie von mir gelernt.«

»Ist sie am Sterben?«

»Nein!« Sie schreit beinahe. »Wenn es irgendwas Neues gäbe, hätte Leo angerufen.«

Leo ist Stiefpa, die ganzen Namen können einen wirklich durcheinanderbringen. Ich will jedenfalls nur meinen einen Namen haben, Jack.

In ihrem Haus zeigt Grandma mir Frankreich auf einem Globus, das ist so eine Statue von der Welt, die sich dreht. Die ganze, komplette Stadt, wo wir wohnen, ist nur ein Punkt, und die Klinik ist auch in dem Punkt. Und Raum auch, aber Grandma sagt, an den Ort brauche ich nicht mehr zu denken, ich soll ihn einfach vergessen.

Zum Mittagesen esse ich ganz viel Brot und Butter, es ist französisches Brot, aber Kacka ist keine drauf, glaube ich. Meine Nase ist rot und heiß und auch meine Backen und der oberste Teil von meiner Brust und meine Arme und hinten auf meinen Händen und meine Fußgelenke über den Socken.

Stiefpa sagt Grandma, sie soll sich nicht so aufregen.

»Dabei war es doch nicht mal besonders sonnig«, sagt sie und wischt sich die Augen.

Ich frage: »Fällt mir jetzt die Haut ab?«

»Nur ein paar Stückchen«, sagt Stiefpa.

»Mach dem Jungen keine Angst«, sagt Grandma. »Du bist bald wieder in Ordnung, Jack, mach dir keine Sorgen. Reib dich noch mal mit der Feuchtigkeitscreme ein …«

Es ist schwer, hinter mich zu greifen, aber ich will nicht die Finger von anderen Personen auf mir, deshalb schaffe ich es.

Grandma sagt, eigentlich sollte sie noch mal in der Klinik anrufen, aber im Moment bringt sie es nicht über sich.

Weil ich verbrannt bin, darf ich auf dem Sofa liegen und Zeichentrickfilme gucken, Stiefpa sitzt mit seiner Weltenbummler-Zeitschrift im Sessel.





In der Nacht will mich Schlimmerzahn holen, er hüpft über die Straße, boing boing boing, drei Meter groß und ganz verfault, und spitze Splitter fallen runter, er haut die Wände ein. Dann treibe ich in einem Boot, das zugenagelt ist, the worms crawl in, the worms crawl out …

Da zischt was im Dunkel, ich weiß nicht, was das ist, aber dann ist es Grandma. »Jack, es ist alles in Ordnung.«

»Nein.«

»Schlaf wieder ein.«

Lieber nicht.

Beim Frühstück nimmt Grandma eine Tablette. Ich frage sie, ob das ihre Vitamine sind. Stiefpa lacht. Sie sagt zu ihm: »Du musst gerade reden.« Dann sagt sie zu mir: »Jeder hat so seine Mittelchen.«

Das Haus ist schwer zu kapieren. Die Türen, in die ich immer rein darf, sind die Küche und das Wohnzimmer und der Fitnessraum und das Gästezimmer und der Keller und das Stück vorm Schlafzimmer, das heißt Treppenabsatz. Ins Schlafzimmer kann ich auch gehen, außer die Tür ist zu, dann muss ich klopfen und warten. Ich kann ins Badezimmer, außer die Tür geht nicht auf, das heißt, es ist sonst jemand drin, und ich muss warten. Die Wanne und das Becken und das Klo sind grün, aber es heißt Avocado, nur die Brille ist aus Holz, und auf der kann ich sitzen. Ich soll die Brille hochmachen und danach wieder runter, aus Höflichkeit den Damen gegenüber, das ist Grandma. Das Klo hat einen Deckel auf der Schüssel, so wie der, den Ma auf Old Nick gehauen hat. Die Seife ist ein harter Ball, und ich muss reiben und reiben und reiben, bis sie klappt. Die von Draußen sind nicht wie wir, sie haben Millionen von Sachen und von jeder Sache verschiedene Sorten, zum Beispiel ganz verschiedene Schokolädchen und Maschinen und Schuhe. Die Sachen sind alle für was anderes da, zum Beispiel Nagelbürste und Zahnbürste und Wurzelbürste und Klobürste und Kleiderbürste und Schuhbürste und Haarbürste. Ich lasse ein bisschen Puder fallen, das heißt Talkum, ich wische es auf, aber dann kommt Grandma rein und sagt, das ist die Klobürste, und sie ist sauer, weil ich Bazillen verteile.

Es ist auch das Haus von Stiefpa, aber der hat nichts zu sagen. Meistens ist er in seiner Höhle, das ist ein Extraraum nur für ihn.

»Man will ja nicht ständig mit den anderen zusammen sein«, sagt er mir. »Auf die Dauer geht einem das auf die Nerven.«

»Warum?«

»Glaub’s mir einfach, ich war zweimal verheiratet.«

Durch die Haustür darf ich nicht raus, ohne vorher Grandma Bescheid zu sagen, würde ich aber sowieso nicht. Ich sitze auf den Stufen und lutsche ganz feste an Schlimmerzahn.

»Spiel doch mal irgendwas«, sagt Grandma und drückt sich an mir vorbei.

Es gibt ganz viel. Ich weiß nicht, was ich aussuchen soll. Da sind meine Spielsachen von den verrückten Gratulanten, Ma hat gedacht, es wären nur fünf, dabei waren es in Wahrheit sechs. Dann gibt es Kreide in ganz verschiedenen Farben, die hat Deana vorbeigebringt, aber gesehen habe ich sie nicht, die Kreide ist zu schmierig auf meinen Fingern. Es gibt eine riesige Papierrolle und 48 Filzstifte in einem langen, unsichtbaren Plastikkästchen. Dann eine Schachtel mit lauter Schachteln, die Bronwyn nicht mehr braucht, ich weiß nicht, warum, man kann sie zu einem Turm zusammenbauen, höher als mein Kopf.

Aber anstatt starre ich auf meine Schuhe, es sind die weichen. Wenn ich mit den Zehen wackele, kann ich sie ein bisschen unter dem Leder sehen. Ma! Ich schreie das ganz laut in meinem Kopf. Ich glaube nicht, dass sie da ist. Nicht besser und nicht schlechter. Außer, alle lügen.

Es gibt ein klitzekleines braunes Ding unter dem Teppich, wo das Holz von den Stufen anfängt. Ich lese es auf, es ist ein Metall. Eine Münze mit einem Gesicht drauf und Wörtern, IN GOD WE TRUST LIBERTY 2004. Als ich sie umdrehe, ist da ein Mann, vielleicht derselbe, aber jetzt winkt er zu einem kleinen Haus und sagt UNITED STATES OF AMERICA E PLURIBUS UNUM ONE CENT.

Grandma steht in der Schlafzimmertür und sieht mich an.

Ich zucke zusammen. Ich schiebe Schlimmerzahn wieder hinten an meinen Gaumen. »Da steht was auf Spanisch«, sage ich ihr.

»Wirklich?« Sie runzelt die Stirn.

Ich zeige mit meinem Finger drauf.

»Das ist Latein. E PLURIBUS UNUM. Hmm, ich glaube, das heißt ›Wir stehen zusammen‹. Möchtest du noch ein paar mehr haben?«

»Was?«

»Lass mich mal in meinem Portemonnaie nachschauen …«

Sie kommt mit einem runden, flachen Ding wieder, wenn man es zusammendrückt, geht es plötzlich auf wie ein Mund, und da sind lauter verschiedene Gelder drin. Auf einem silbernen ist ein Mann mit einem Pferdeschwanz wie meiner und ONE CENT, aber Grandma sagt, alle sagen Nickel dazu. Und das kleine silberne ist ein Dime, das heißt zehn.

»Warum ist die Fünf größer als die Zehn, wenn es nur fünf sind?«

»Es ist eben, wie es ist.«

Sogar ein Cent ist größer als zehn, ich finde, so wie es ist, ist es dämlich.

Auf dem größten silbernen Geld ist ein trauriger Mann, hinten drauf steht NEW HAMPSHIRE 1788 LIVE FREE OR DIE. Grandma sagt, New Hampshire ist ein anderer Teil von Amerika, nicht der hier.

»Heißt live free, dass es nichts kostet?«

»Ähm, nein, nein. Es heißt … dass niemand dir was zu sagen hat.«

Es gibt noch eins, das sieht vorne genauso aus, aber als ich es umdrehe, sind da Bilder von einem Segelboot mit einer winzigen Person drin und ein Fernglas und noch mehr Spanisch, GUAM E PLURIBUS UNUM 2009 und Guahan ITano’ ManChamorro.

Grandma kneift die Augen zusammen und geht ihre Brille holen.

»Ist das noch ein Teil von Amerika?«

»Guam? Nein, ich glaube, das ist woanders.«

Vielleicht ist das ja, wie die Personen vom Draußen Raum schreiben.

In der Diele fängt das Telefon an zu schreien, ich renne weg und nach oben.

Grandma kommt, sie weint wieder. »Sie ist über den Berg.«

Ich starre sie an.

»Deine Ma.«

»Was für ein Berg?«

»Sie ist auf dem Weg der Besserung. Wahrscheinlich wird sie wieder ganz gesund.«

Ich mache die Augen zu.





Grandma schüttelt mich wach, weil sie sagt, es sind schon drei Stunden, und sie hat Angst, dass ich heute Nacht nicht schlafen kann.

Es ist schwer, mit Schlimmerzahn im Mund zu reden, deshalb stecke ich ihn anstatt in meine Hosentasche. Unter meinen Nägeln ist immer noch Seife. Ich brauche was Spitzes, damit ich sie rausholen kann, so was wie Fernsteuerung.

»Vermisst du deine Ma?«

Ich schüttele den Kopf. »Fernsteuerung.«

»Du vermisst was?«

»Fernsteuerung.«

»Die Fernbedienung?«

»Nein, meine Fernsteuerung, mit der habe ich gemacht, dass Jeep zoomt, wrumm wrumm, aber dann ist sie an Schrank kaputtgegangen.«

»Oh«, sagt Grandma. »Na, ich bin mir sicher, dass wir die Sachen zurückbekommen können.«

Ich schüttele meinen Kopf. »Sie sind in Raum.«

»Machen wir doch einfach eine kleine Liste.«

»Und die spülen wir dann durchs Klo runter?«

Grandma guckt mich ganz durcheinander an. »Nein, ich rufe bei der Polizei an.«

»Ist es ein Notfall?«

Sie schüttelt den Kopf. »Die bringen deine Spielsachen hierher, wenn sie damit fertig sind.«

Ich starre sie an. »Die Polizisten können in Raum gehen?«

»Vermutlich sind sie sogar jetzt gerade dort«, erklärt sie mir, »um Spuren zu sichern.«

»Was sind Spuren?«

»Der Beweis, dass etwas passiert ist, damit man es dem Richter zeigen kann. Bilder, Fingerabdrücke …«

Während ich meine Liste schreibe, denke ich an das Schwarze von Laufbahn und das Loch unter Tisch und die ganzen Striche, die ich und Ma gemacht haben. Und wie der Richter mein Bild von dem blauen Tintenfisch anguckt.

Grandma sagt, es ist eine Schande, so einen schönen Frühlingstag zu verplempern, und wenn ich mein langes Hemd und meine vernünftigen Schuhe und die Kappe und die Sonnenbrille anziehe und ganz viel Sonnencreme drauftue, kann ich raus in den Garten kommen.

Sie spritzt sich Sonnencreme in die Hände. »Du kannst jederzeit los und stopp sagen. Wie bei der Fernsteuerung.«

Das ist irgendwie lustig.

Sie fängt an, mich oben auf den Händen einzuschmieren.

»Stopp!« Nach einer Minute sage ich: »Los«, und sie fängt wieder an. »Los.« Sie stoppt. »Heißt das, ich soll weitermachen?«

»Ja.«

Sie schmiert mein Gesicht. Ganz dicht bei meinen Augen habe ich es nicht gern, aber sie ist ganz vorsichtig.

»Los.«

»Eigentlich sind wir schon fertig, Jack. Bist du so weit?«

Grandma geht als Erste durch die zwei Türen, erst eine aus Glas und dann eine aus Netz, dann winkt sie mich raus, und das Licht wird zickzackig. Wir stehen auf der Veranda, die ist ganz aus Holz wie das Deck von einem Schiff. Da sind so Fussel drauf, kleine Knäuel. Grandma sagt, das ist irgendein Pollen von einem Baum.

»Welchem?« Ich starre zu all den verschiedenen hoch.

»Da bin ich überfragt, fürchte ich.«

In Raum wussten wir immer, wie alles hieß, aber in der Welt gibt es so viel, dass die Personen noch nicht mal die Namen wissen.

Grandma ist über einem von den Holzstühlen und wackelt ihren Popo rein. Es gibt Stöckchen, die durchbrechen, wenn ich drauftrete, und ein paar klitzekleine gelbe Blätter und ein paar matschige braune, sie sagt, sie hat Leo schon im November gebeten, dass er sich um die kümmern soll.

»Hat Stiefpa eine Arbeit?«

»Nein, wir sind früh in Rente, aber jetzt haben unsere Aktien natürlich an Wert verloren …«

»Was heißt das?«

Sie lehnt ihren Kopf zurück an das Obere vom Stuhl, ihre Augen sind zu. »Nichts, mach dir keine Gedanken darüber.«

»Stirbt er bald?«

Grandma macht die Augen wieder auf und guckt mich an.

»Oder bist du die Erste?«

»Ich möchte dir mitteilen, dass ich erst neunundfünfzig bin, junger Mann.«

Ma ist erst 26. Sie ist über den Berg gegangen, heißt das, sie kommt jetzt zurück?

»Niemand stirbt hier«, sagt Grandma. »Mach dir da mal keine Sorgen.«

»Ma sagt, wir müssen alle irgendwann sterben.«

Sie quetscht ihren Mund zusammen, er hat drum rum Linien wie Sonnenstrahlen. »Die meisten von uns hast du doch gerade erst kennengelernt, Freundchen, da musst du es nicht so eilig mit dem Verabschieden haben.«

Ich gucke runter auf den grünen Teil vom Garten. »Wo ist die Hängematte?«

»Wo du so wild darauf bist, die müssten wir wohl noch irgendwo im Keller ausgraben können.« Sie steht mit einem Grunzer auf.

»Ich komm mit.«

»Bleib schön da sitzen und genieß die Sonne. Ich bin in null Komma nichts wieder da.«

Aber ich sitze doch gar nicht. Ich stehe.

Als sie weg ist, ist es ganz still, nur so ein Quieken in den Bäumen. Ich glaube, das sind Vögel, aber ich sehe keine. Der Wind schüttelt die Blätter, raschel raschel. Ich höre einen Jungen rufen, vielleicht in einem anderen Garten hinter der großen Hecke, oder vielleicht ist er auch unsichtbar. Das gelbe Gesicht von Gott hat eine Wolke auf. Plötzlich kälter. Die Welt ändert andauernd ihr Helles und ihr Heißes und ihr Lautes, ich weiß nie, wie es in der nächsten Minute ist. Die Wolke sieht irgendwie grau und blau aus. Ich frage mich, ob sie Regen in sich drin hat. Wenn gleich Regen auf mich drauffällt, dann renne ich auf jeden Fall ins Haus, bevor er meine Haut ertrinkt.

Irgendwas macht tssss, ich gucke in die Blumen, und da ist das Allerirrste, eine lebendige Biene, riesig, mit gelben und schwarzen Teilen, sie tanzt mitten in der Blume. »Hi«, sage ich. Ich strecke meinen Finger aus, weil ich sie streicheln will, und …

Auaaaaaaaaaa!

Meine Hand explodiert, so weh hat mir noch nie was getan. »Ma«, brülle ich und Ma! in meinem Kopf, aber sie ist nicht im Garten, und sie ist auch nicht in meinem Kopf, sie ist nirgends. Ich bin ganz allein und habe Aua Aua Aua Aua Aua …

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?« Grandma kommt über die Veranda gelaufen.

»Gar nichts, es war die Biene.«

Als sie die Spezialsalbe draufmacht, tut es nicht mehr so doll weh, aber immer noch ziemlich.

Also helfe ich ihr dann mit meiner anderen Hand. Die Hängematte hängt an Haken an zwei Bäumen ganz hinten im Garten, einer ist ziemlich kurz, nur zweimal so groß wie ich, und der biegt sich, aber der andere ist millionenmal größer und hat ganz silberne Blätter. Die Seilstücke sind irgendwie zusammengequetscht, weil sie die ganze Zeit im Keller waren, wir müssen ziehen und ziehen, bis die Löcher das richtige Groß haben. Außerdem sind zwei Seile kaputt, deshalb gibt es noch mehr Löcher, in denen dürfen wir nicht sitzen.

»Wahrscheinlich Motten«, sagt Grandma.

Ich wusste gar nicht, dass Motten so groß werden können, dass sie Seile zerreißen.

»Ehrlich gesagt, haben wir sie schon seit Jahren nicht mehr aufgehängt.« Grandma sagt, sie riskiert es nicht reinzuklettern, außerdem hat sie sowieso lieber was mit Rückenlehne.

Ich strecke mich lang aus und mache die Hängematte ganz allein voll. Ich wackele mit meinen Füßen in den Schuhen. Ich stecke sie durch die Löcher und auch meine Hände, bloß nicht die rechte, weil die noch so doll wehtut von der Biene. Ich denke an die kleine Ma und den kleinen Paul, wie sie in der Hängematte geschaukelt haben, komische Vorstellung. Wo sind sie jetzt? Der große Paul ist vielleicht bei Deana und Bronwyn, sie haben gesagt, wir würden ein andermal die Dinosaurier gucken gehen, aber ich glaube, sie haben gelogen. Die große Ma ist in der Klinik und geht über den Berg.

Ich ziehe an den Seilen, ich bin eine Fliege in einem Netz. Oder ein Räuber, den Spider-Man gefangen hat. Grandma schiebt mich an, und ich schaukle, bis mir schwindlig wird, aber es ist cool schwindlig.

»Telefon.« Das ist Stiefpa, er steht auf der Veranda und ruft.

Grandma läuft über das Gras, sie lässt mich ganz allein im Draußen vom Draußen. Ich springe runter und falle beinahe hin, weil mein Schuh hängen bleibt. Ich ziehe den Fuß raus, der Schuh geht ab. Ich renne hinterher, fast genauso schnell wie sie.

In der Küche spricht Grandma am Telefon. »Aber natürlich, das Wichtigste zuerst, er steht direkt neben mir. Hier ist jemand, der mit dir reden möchte.«

Ich bin das, zu dem sie das sagt, sie hält mir das Telefon hin, aber ich nehme es nicht. »Rate mal, wer das ist.«

Ich gucke sie an.

»Das ist deine Ma.«

Es stimmt, da ist Mas Stimme im Telefon. »Jack?«

»Hi.«

Sonst höre ich nichts mehr, deshalb gebe ich es Grandma zurück.

»Ich bin’s wieder, wie geht es dir, ganz ehrlich?«, fragt Grandma. Sie nickt und nickt, und dann sagt sie: »Er hält sich wacker.«

Sie gibt mir noch mal das Telefon, und ich höre zu, wie Ma ganz oft »es tut mir leid« sagt.

»Bist du nicht mehr von der schlimmen Medizin vergiftet?«, frage ich.

»Nein, nein, es geht mir schon wieder besser.«

»Du bist nicht im Himmel?«

Grandma hält sich die Hand vor den Mund.

Ma macht einen Ton, ich weiß nicht, ob es Weinen oder Lachen ist. »Ich wünschte.«

»Du wünschtest, dass du im Himmel bist?«

»Eigentlich nicht, das war nur ein Witz.«

»Aber kein witziger Witz.«

»Nein.«

»Wünsch dir das nicht.«

»Okay. Ich bin in der Klinik.«

»Hattest du keine Lust mehr zu spielen?«

Ich höre gar nichts, ich glaube, sie ist weg. »Ma?«

»Ich war müde«, sagt sie. »Ich habe einen Fehler gemacht.«

»Bist du jetzt nicht mehr müde?«

Sie sagt nichts. Dann sagt sie: »Doch. Aber es geht mir besser.«

»Kannst du hierherkommen und in der Hängematte schaukeln?«

»Ganz bald«, sagt sie.

»Wann?«

»Weiß ich noch nicht, es kommt drauf an. Und bei euch, läuft es gut mit Grandma?«

»Und Stiefpa.«

»Ähm, ja. Was gibt es Neues?«

»Alles gibt es neu«, sage ich.

Da muss sie lachen, ich weiß nicht, warum. »Hast du Spaß?«

»Die Sonne hat meine Haut abgebrannt, und eine Biene hat mich gesticht.«

Grandma verdreht die Augen.

Ma sagt was, was ich nicht hören kann. »Ich muss jetzt Schluss machen, Jack, ich muss noch mal schlafen.«

»Wachst du danach wieder auf?«

»Versprochen. Ich bin so …« Ihr Atem hört sich ganz abgehackt an. »Wir sprechen uns ganz bald wieder, okay?«

»Okay.«

Es kommt kein Sprechen mehr, deshalb lege ich das Telefon hin. Grandma sagt: »Wo ist dein zweiter Schuh?«





Ich gucke die Flammen an, die ganz orange unter dem Nudeltopf tanzen. Das Streichholz liegt auf der Theke, an einem Ende ist es ganz schwarz und verbogen. Ich halte es ans Feuer, es macht ein Zischen und kriegt wieder eine große Flamme, deshalb lasse ich es auf den Ofen fallen. Die kleine Flamme wird beinahe unsichtbar, sie knabbert an dem Streichholz entlang, bis es ganz schwarz ist, und dann geht ein kleiner Rauch hoch wie ein silbriges Bändchen. Der Geruch ist wie Zauberei. Ich nehme noch ein Streichholz aus der Schachtel, zünde das Ende in der Flamme an, und diesmal halte ich es fest, trotzdem es zischt. Das ist meine eigene kleine Flamme, und ich kann sie mitnehmen, wohin ich will. Ich wedele sie im Kreis. Ich glaube schon, dass sie ausgegangen ist, aber da kommt sie wieder. Die Flamme wird am Streichholz entlang immer größer und durcheinanderer, eigentlich sind es zwei Flammen, und das Holz dazwischen ist eine kleine rote Linie …

»He!«

Ich zucke zusammen, es ist Stiefpa. Ich habe das Streichholz nicht mehr.

Er tritt mir auf den Fuß.

Ich jaule.

»Es war auf deiner Socke.« Er zeigt mir das Streichholz, es ist ganz verbogen, dann reibt er auf meiner Socke, wo ein Stück schwarz ist. »Hat dir deine Ma denn nie beigebracht, dass man nicht mit Feuer spielt?«

»Gab es nicht.«

»Was gab es nicht?«

»Feuer.«

Er starrt mich an. »Euer Herd war wohl elektrisch. Hätte ich auch selbst drauf kommen können.«

»Was ist los?« Grandma kommt rein.

»Ich bring Jack nur gerade ein bisschen die Küchengeräte bei«, sagt Stiefpa und rührt in den Nudeln. Er hält ein Ding hoch und guckt mich an.

»Reibe«, fällt mir wieder ein.

»Und das hier?«

»Knoblauchquetsche.«

»Knoblauchpresse. Viel brutaler als quetschen.« Er grinst mich an. Er hat Grandma nichts von dem Streichholz gesagt, irgendwie ist das lügen, aber dass ich keinen Ärger kriege, ist ein guter Grund. Er hält noch was hoch.

»Noch eine Reibe?«

»Zestenreißer. Und das hier?«

»Ähm … ein Quirl.«

Stiefpa lässt eine lange Nudel in der Luft baumeln und schlürft an ihr. »Mein älterer Bruder hat mit drei Jahren aus Versehen mal einen Topf Reis über sich geschüttet, danach war sein Arm so knusprig wie ein Kartoffelchip.«

»Au ja, die habe ich schon mal im Fernseher gesehen.«

Grandma starrt mich an. »Soll das heißen, du hast noch nie Kartoffelchips gegessen?« Dann steht sie auf und steigt auf die kleinen Stufen und schiebt Sachen in einem Schränkchen hin und her.

»Essen fertig in zwei Minuten«, sagt Stiefpa.

»Ach komm, eine Handvoll schadet doch nichts.« Grandma klettert mit einer verbeulten Tüte wieder runter und macht sie auf.

Die Chips haben überall Linien drauf, ich nehme einen raus und beiße die Ecke ab. Dann sage ich: »Nein danke«, und tue ihn wieder in die Tüte.

Stiefpa lacht. Ich weiß nicht, was so witzig ist. »Der Bursche hebt sich seinen Appetit eben für meine Tagliatelle Carbonara auf.«

»Kann ich lieber die Haut sehen?«

»Was für Haut?«, fragt Grandma.

»Die von dem Bruder.

»Ach, der wohnt aber in Mexiko. Das ist sozusagen dein Großonkel.«

Stiefpa wirft das Wasser ins Becken, und es macht eine große Wolke aus nasser Luft.

»Warum ist er groß?«

»Es bedeutet einfach nur, dass er Leos Bruder ist. Mit unseren ganzen Verwandten bist du jetzt auch verwandt«, sagt Grandma. »Alles, was uns gehört, gehört auch dir.«

»Wie Lego«, sagt Stiefpa.

»Häh?«, sagt sie.

»So wie Lego. Aus lauter Teilen, die man zusammensteckt, baut man eine Familie.«

»Das habe ich auch im Fernseher gesehen«, erkläre ich.

Grandma starrt mich schon wieder an. »Ein Kind, das ohne Lego groß wird«, sagt sie zu Stiefpa. »Das kann ich mir noch nicht mal vorstellen.«

»Ich wette, es gibt viele Milliarden Kinder auf der Welt, die irgendwie ohne klarkommen«, sagt Stiefpa.

»Da hast du wahrscheinlich recht.« Sie sieht ganz durcheinander aus. »Aber bestimmt haben wir unten im Keller noch eine Kiste herumstehen …«

Stiefpa macht mit einer Hand ein Ei auf und flutscht es über die Nudeln.

»Essen ist fertig.«





Ich fahre ganz lange auf dem Fahrrad, das nicht wegfährt, wenn ich mich ganz lang mache, komme ich mit den Zehen an die Pedale. Ich zoome Tausende von Stunden darauf, damit meine Beine superstark werden und ich zu Ma zurücklaufen und sie noch mal retten kann. Ich lege mich auf die blauen Matten, meine Beine sind müde. Ich hebe die Hanteln. Ich lege eine auf mein Bäuchlein, es gefällt mir, wie sie mich runterdrückt, damit ich nicht von der Welt runterfalle, die dreht sich nämlich.

Bimm-bamm. Grandma ruft, weil Besuch für mich da ist, es ist Dr. Clay.

Wir setzen uns auf die Veranda, er verspricht, mich zu warnen, wenn Bienen kommen. Menschen und Bienen sollten sich lieber nur zuwinken, aber nicht berühren. Und man soll keine Hunde streicheln, außer der Mensch von dem Hund sagt, es ist in Ordnung, nicht über die Straße laufen und niemand an die Scham fassen außer sich selbst, aber nur, wenn man allein ist. Dann gibt es Sonderfälle, zum Beispiel darf die Polizei mit Pistolen schießen, aber nur auf böse Buben. Es gibt so viele Regeln, dass sie gar nicht alle in meinen Kopf passen, deshalb machen wir eine Liste mit Dr. Clays ganz schwerem goldenen Stift. Und dann noch eine Liste mit den ganzen neuen Sachen, zum Beispiel Hanteln und Kartoffelchips und Vögel. »Ist das nicht aufregend, dass du die jetzt alle in echt sehen kannst und nicht nur im Fernsehen?«, fragt er.

»Ja, bloß hat mich im Fernseher nie was gestochen.«

»Da ist was dran«, sagt Dr. Clay und nickt. »Das Menschengeschlecht erträgt nicht sehr viel Wirklichkeit.«

»Ist das wieder ein Gedicht?«

»Wie hast du das denn erraten?«

»Du machst dann immer so eine komische Stimme«, erkläre ich ihm. »Was ist das Menschengeschlecht?«

»Die menschliche Rasse, wir alle.«

»Ich auch?«

»Aber natürlich, du bist auch einer von uns.«

»Und Ma.«

Dr. Clay nickt. »Die auch.«

Aber was ich eigentlich gemeint habe, war, vielleicht bin ich ja ein Mensch, aber gleichzeitig bin ich auch ein Ich-und-Ma. Ich weiß kein Wort für uns beide. Raumer vielleicht? »Holt sie mich bald ab?«

»Sobald sie nur kann«, sagt er. »Würdest du lieber in der Klinik wohnen statt hier bei deiner Großmutter?«

»Zusammen mit Ma in Raum Nummer sieben?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, sie ist in dem anderen Flügel, sie muss mal ein Weilchen für sich sein.«

Ich glaube, da vertut er sich. Wenn ich krank wäre, dann bräuchte ich Ma sogar noch dringender.

»Aber sie arbeitet ganz hart an sich, damit sie wieder gesund wird«, sagt er mir.

Ich dachte, Leute sind einfach nur krank oder gesund, ich wusste nicht, dass das Arbeit ist.

Zum Abschied klatschen ich und Dr. Clay uns ab, high five, low five und back five.

Als ich auf dem Klo bin, höre ich ihn mit Grandma auf der Veranda. Ihre Stimme ist doppelt so hoch wie seine. »Du lieber Himmel, es war doch weiter nichts als ein leichter Sonnenbrand und ein Bienenstich«, sagt sie. »Ich habe zwei Kinder großgezogen, also kommen Sie mir bitte nicht mit Ihrem Mindestmaß an Fürsorge.«





Nachts reden eine Million winziger Computer miteinander über mich. Ma ist den Bohnenstängel rauf, und ich bin unten auf der Erde und schüttele und schüttele ihn, damit sie runterfällt …

Nein. Das war nur geträumt.

»Ich hatte gerade einen Geistesblitz«, sagt Grandma in mein Ohr, sie lehnt sich runter, ihre untere Hälfte ist noch in ihrem Bett. »Wir können doch vor dem Frühstück zum Spielplatz fahren, dann sind da noch gar keine anderen Kinder.«

Unsere Schatten sind ganz lang, wie auseinandergezogen. Ich wedele mit meinen Riesenfäusten. Grandma setzt sich beinahe auf eine Bank, aber da ist Nass drauf, deshalb lehnt sie sich anstatt gegen den Zaun. Auf allem ist ein bisschen Nass, sie sagt, das ist Tau, der sieht aus wie Regen, aber er kommt nicht aus dem Himmel, es ist so was wie Schweiß, und der passiert in der Nacht. Ich male ein Gesicht auf die Rutsche. »Es macht nichts, wenn deine Sachen nass werden. Nur zu.«

»Mir ist aber kalt.«

Es gibt ein Teil, da ist lauter Sand drin, Grandma sagt, ich soll mich da reinsetzen und damit spielen.

»Was denn?«

»Häh?«

»Was spielen?«

»Keine Ahnung, buddeln oder schaufeln oder so.«

Ich berühre ihn, aber er ist kratzig, den will ich nicht überall auf mir haben.

»Und was ist mit dem Klettergerüst oder den Schaukeln?«, fragt Grandma.

»Machst du auch mit?«

Sie lacht ein bisschen und sagt, sie würde wahrscheinlich was kaputt machen.

»Warum würdest du …«

»Oh, nicht mit Absicht, nur weil ich so schwer bin.«

Ich klettere ein paar Stufen rauf, wie ein Junge und gar nicht wie ein Affe, sie sind aus Eisen und haben so raue orangene Teile, die heißen Rost, und die Geländer erfrieren meine Hände. Am Ende kommt ein kleines Haus wie für Elfen, ich sitze am Tisch, und das Dach ist direkt über meinem Kopf, es ist rot, und der Tisch ist blau.

»Huhuuu.«

Ich zucke zusammen, das ist Grandma, sie winkt durch das Fenster. Dann geht sie auf die andere Seite und winkt noch mal. Ich winke zurück, das gefällt ihr.

An der Ecke vom Tisch sehe ich etwas, was sich bewegt, es ist eine kleine Spinne. Ich frage mich, ob unsere Spinne noch in Raum ist und ob ihr Netz immer größer wird. Ich trommele Lieder, das ist so wie Summen, aber nur getrommelt, und Ma ist in meinem Kopf und muss raten, die meisten rät sie richtig. Als ich das Trommeln mit meinem Schuh auf dem Boden mache, ist es ein anderer Ton, weil der aus Eisen ist. Auf der Wand steht was, was ich nicht lesen kann, es ist nur gekrakelt, und daneben ist eine Zeichnung, ich glaube, das ist ein Penis, aber der ist so groß wie die ganze Person.

»Probier doch mal die Rutsche aus, Jack, das macht bestimmt Spaß.«

Das ist Grandma, die mich da ruft. Ich klettere aus dem kleinen Haus und gucke runter, die Rutsche ist silbern mit ein paar kleinen Steinen drauf.

»Hui! Komm schon, ich fange dich unten auf.«

»Nein danke.«

Es gibt eine Leiter aus Seilen, wie bei der Hängematte, nur hängt die hier runter, und sie tut meinen Fingern zu weh. Außerdem gibt es eine Menge Stangen, von denen ich runterhängen könnte, wenn ich stärkere Arme hätte oder wirklich ein Affe wäre. Und dann ist da noch so ein Teil, ich zeige es Grandma, da müssen Räuber die Stufen gestohlen haben.

»Nein, sieh doch mal, dafür gibt es doch eine Stange wie bei den Feuerwehrmännern.«

»Au ja, das habe ich schon mal im Fernsehen gesehen. Aber warum wohnen die hier oben?«

»Wer?«

»Die Feuerwehrmänner.«

»Ach so. Nein, das ist keine echte Stange, die da ist nur zum Spielen da.«

Als ich vier war, dachte ich noch, alles im Fernseher ist nur Fernsehen. Dann bin ich fünf geworden, und Ma hat angefangen zu entlügen und gesagt, dass viel davon in Wahrheit Bilder von Sachen sind, die es in echt gibt, und das Draußen ist sogar total in echt. Aber jetzt, wo ich im Draußen bin, merke ich, dass ganz viel davon überhaupt nicht in echt ist.

Ich klettere wieder in das Elfenhaus. Die Spinne ist irgendwo anders hingegangen. Unter der Tisch ziehe ich meine Schuhe aus und bewege meine Füße.

Grandma ist bei den Schaukeln. Zwei sind flach, aber die dritte hat so einen Gummieimer mit Löchern für die Beine. »Da kannst du unmöglich rausfallen«, sagt sie. »Willst du mal?«

Sie muss mich hochheben, es fühlt sich komisch an, wie ihre Hände in meine Achseln drücken. Sie schiebt mich von hinter dem Eimer an, aber das gefällt mir nicht, ich drehe mich immer wieder um und gucke, deshalb schiebt sie mich anstatt von vorne an. Ich schaukele immer schneller und schneller und höher und höher, es ist das Irrste, was ich jemals gemacht habe.

»Leg deinen Kopf zurück.«

»Warum?«

»Vertrau mir einfach.«

Ich tue meinen Kopf zurück, und alles dreht sich verkehrt rum, der Himmel und die Bäume und die Häuser und Grandma und überhaupt alles, unglaublich.

Auf der anderen Schaukel ist ein Mädchen, ich habe gar nicht gesehen, wie sie gekommen ist. Sie schaukelt nicht gleichzeitig mit mir, wenn ich vorne bin, ist sie hinten. »Wie heißt du?«, fragt sie.

Ich tue so, als ob ich nichts höre.

»Das ist Ja … Jason«, sagt Grandma.

Warum nennt sie mich so?

»Ich bin Cora, und ich bin viereinhalb«, sagt das Mädchen. »Ist sie noch ein Baby?«

»Das da ist ein Junge, und der ist sogar schon fünf«, sagt Grandma.

»Und warum sitzt er dann auf der Babyschaukel?«

Ich will jetzt raus, aber meine Beine hängen in dem Gummi fest. Ich trete und ziehe an den Ketten.

»Ruhig, ruhig«, sagt Grandma.

»Hat er einen Wutanfall?«, fragt das Cora-Mädchen.

Mein Fuß tritt aus Versehen Grandma.

»Lass das.«

»Der kleine Bruder von meiner Freundin kriegt immer Wutanfälle.«

Grandma packt mich unter den Armen, mein Fuß wird ganz verdreht, aber dann bin ich draußen.

Am Tor bleibt sie stehen und sagt: »Die Schuhe, Jack.«

Ich denke ganz feste nach, und dann fällt es mir wieder ein. »Die sind in dem kleinen Haus.«

»Dann flitz schnell zurück und hol sie.« Sie wartet. »Das kleine Mädchen tut dir schon nichts.«

Aber ich kann nicht klettern, wenn sie vielleicht zuguckt.

Deshalb macht Grandma es, und ihr Popo bleibt in dem Elfenhaus hängen, sie ist böse. Sie klettet meinen linken Schuh viel zu feste, deshalb reiße ich ihn wieder auf und den anderen auch. Ich gehe auf meinen Socken zu dem weißen Auto. Sie sagt, bestimmt kriege ich Glasscherben in meinen Fuß, tue ich aber nicht.

Meine Hose ist nass von dem Tau und meine Socken auch. Stiefpa sitzt mit einem riesigen Becher in seinem Sessel. »Wie ist es gelaufen?«, fragt er.

»Kleine Schritte«, sagt Grandma und geht nach oben.

Er lässt mich seinen Kaffee probieren, ganz fürchterlich.

»Warum heißt es Coffeeshop, wenn es da überall was zu essen gibt?«, frage ich ihn.

»Na ja, das Wichtigste, was sie verkaufen, ist eben der Kaffee, weil die meisten von uns den brauchen, damit sie auf Touren bleiben, so wie ein Auto Benzin.«

Ma trinkt nur Wasser und Milch und Saft, so wie ich. Ich frage mich, wie die auf Touren bleibt. »Und was trinken Kinder?«

»Ach, Kinder sind doch immer so putzmunter, als hätten sie lauter Bohnen im Hintern.«

Baked Beans, meinetwegen, aber grüne Bohnen sind mein Feindessen. Es ist ein paar Abendessen her, da hat Grandma die gemacht, und ich habe einfach so getan, als würde ich sie auf meinem Teller nicht sehen. Jetzt, wo ich in der Welt bin, esse ich nie, nie mehr grüne Bohnen.





Ich sitze auf den Stufen und höre den Damen zu.

»Mmm. Kann besser rechnen als ich, aber traut sich auf keine Rutsche«, sagt Grandma.

Ich glaube, es geht um mich.

Die Damen sind ihr Lesezirkel, ich weiß aber nicht, warum, Bücher lesen tun die nämlich gar nicht. Sie hat vergesst, die Damen abzusagen, deshalb sind sie alle um 03:30 gekommen, mit lauter Tellern voll Kuchen und so Sachen. Ich kriege drei Stücke Kuchen auf einen kleinen Teller, aber dann soll ich mich verdünnisieren. Außerdem hat Grandma mir fünf Schlüssel an einem Schlüsselring gegeben, auf dem steht: POZZO’S HOUSE OF PIZZA, ich frage mich, wie man ein Haus aus Pizza bauen kann, sackt das denn nicht zusammen? Die Schlüssel sind eigentlich nicht für irgendwo rein, aber sie klimpern, und ich habe sie gekriegt, weil ich versprochen habe, nicht mehr den Schlüssel aus der Vitrine mit dem ganzen Hochprozentigen zu ziehen. Der erste Kuchen heißt Kokos, ekelhaft. Der zweite ist Zitrone, der dritte ist weiß ich nicht, aber der schmeckt mir am besten.

»Du musst doch vollkommen erledigt sein«, sagt die Dame mit der höchsten Stimme.

»Ich bewundere dich grenzenlos«, sagt eine andere.

Außerdem habe ich die Kamera ausgeliehen gekriegt, nicht die von Stiefpa mit allen Schikanen und dem riesengroßen Kreis, aber eine andere, die ist in dem Auge von Grandmas Mobiltelefon versteckt. Wenn es klingelt, soll ich sie rufen und bloß nicht drangehen. Bis jetzt habe ich zehn Bilder, erstens meine weichen Schuhe, zweitens das Helle an der Decke im Fitnessraum, drittens das Dunkel im Keller (nur ist das Bild zu hell geworden), viertens meine Hand innen mit den ganzen Linien, fünftens ein Loch neben dem Kühlschrank, ich dachte, vielleicht ist es ja ein Mauseloch, sechstens mein Knie in der Hose, siebtens der Teppich im Wohnzimmer von ganz nah, achtens sollte Dora sein, als sie heute Morgen im Fernseher kam, aber man sieht nur lauter Zickzacke, neuntens Stiefpa, wo er nicht lacht, und zehntens eins aus dem Fenster, wo gerade eine Möwe vorbeifliegt, nur sieht man die Möwe auf dem Foto nicht. Eigentlich wollte ich auch noch eins von mir im Spiegel machen, aber dann wäre ich ja ein Paparazzi.

»Also, auf den Fotos sieht er ja aus wie ein richtiger kleiner Engel«, sagt eine von den Damen gerade.

Wie hat sie meine zehn Fotos gesehen? Und außerdem sehe ich kein bisschen aus wie ein Engel, die sind doch gigantossal und mit Flügeln.

»Meinst du etwa diesen unscharfen Filmbeitrag vor dem Polizeirevier?«, sagt Grandma.

»Aber nein, die Nahaufnahmen, als sie das Interview mit …«

»Meiner Tochter, ja. Aber Nahaufnahmen von Jack?« Sie hört sich unheimlich wütend an.

»Ach, Liebes, das Internet ist doch voll davon«, sagt noch eine Stimme.

Dann reden alle möglichen Stimmen durcheinander.

»Hast du das denn nicht gewusst?«

»Heutzutage sickert doch alles durch.«

»Die Welt ist wirklich ein Dorf.«

»Schrecklich.«

»Die ganzen fürchterlichen Sachen, die jeden Tag in den Nachrichten kommen, manchmal würde ich am liebsten den ganzen Tag bei zugezogenen Vorhängen im Bett bleiben.«

»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagt eine tiefe Stimme. »Ich weiß noch, wie ich Bill vor sieben Jahren gesagt habe, wie konnte das nur einem Mädchen passieren, das wir kennen?«

»Wir haben alle gedacht, sie ist tot. Natürlich wollten wir nie sagen, dass …«

»Und du hast nie die Hoffnung aufgegeben.«

»Wer hätte sich denn vorstellen können …«

»Möchte noch jemand Tee?« Das ist Grandma.

»Ach, ich weiß nicht. Ich habe einmal eine Woche in einem Kloster in Schottland verbracht. Diese himmlische Ruhe.«

Meine Kuchen sind weg außer der mit dem Kokos. Ich lasse den Teller auf der Stufe, gehe hoch ins Schlafzimmer und gucke meine Schätze an. Ich tue Schlimmerzahn wieder in den Mund und lutsche ein bisschen. Wie Ma schmeckt er nicht.





Grandma hat im Keller eine große Kiste mit Legos gefunden, die gehört Paul und Ma. »Was willst du gerne bauen?«, fragt sie mich. »Ein Haus? Einen Wolkenkratzer? Vielleicht sogar eine Stadt?«

»Mach mal halblang«, sagt Stiefpa hinter seiner Zeitung.

Es gibt so viele klitzekleine Teile in allen Farben, dass es aussieht wie eine Suppe. »Also«, sagt Grandma, »tob dich einfach aus. Ich muss bügeln.«

Ich gucke die Legos an, aber anfassen tue ich sie nicht, nachher gehen sie noch kaputt.

Nach einer Minute legt Stiefpa seine Zeitung hin. »Das habe ich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht.« Er fängt an, sich einfach irgendwelche Teile zu nehmen und sie so zusammenzudrücken, dass sie aneinander kleben bleiben.

»Warum hast du das schon seit …«

»Gute Frage, Jack.«

»Hast du mit deinen Kindern Lego gespielt?«

»Ich habe keine Kinder.«

»Wieso?«

Stiefpa zuckt mit den Achseln. »Hat eben einfach nicht sein sollen.«

Ich gucke auf seine Hände, sie sind klumpig, aber schlau. »Gibt es ein Wort für Erwachsene, wenn sie keine Eltern sind?«

Stiefpa lacht. »Leute, die was anderes zu tun haben.«

»Was für anderes?«

»Ihre Arbeit, schätze ich. Freunde. Reisen. Hobbys.«

»Was sind Hobbys?«

»Wochenendbeschäftigungen. Ich habe zum Beispiel früher Münzen gesammelt, alte aus der ganzen Welt, die habe ich in Samtkästchen verwahrt.«

»Warum?«

»Na ja, die waren eben weniger anstrengend als Kinder, keine stinkenden Windeln.«

Da muss ich lachen.

Er hält mir die Lego-Teile hin, sie haben sich in ein Auto verzaubert. Es hat eins zwei drei vier Räder, die sich drehen, und ein Dach und einen Fahrer und alles sonst.

»Wie hast du das gemacht?«

»Ein Teil nach dem anderen. Jetzt suchst du eins aus«, sagt er.

»Welches?«

»Ganz egal.«

Ich suche mir ein großes rotes Viereck aus.

Stiefpa gibt mir ein kleines Teil mit einem Rad. »Drück das mal dran.«

Ich halte es so, dass die Beule über dem Loch von der anderen Beule ist, dann drücke ich ganz feste.

Er gibt mir noch so ein Radteil, das mache ich auch dran.

»Schönes Motorrad. Wrumm!«

Er sagt das so laut, dass ich die Legos auf den Boden fallen lasse und ein Rad abgeht. »Tut mir leid.«

»Das braucht dir gar nicht leidzutun. Komm, ich zeig dir mal was.« Er stellt sein Auto auf den Boden und tritt drauf, kracks. Es ist total kaputt. »Siehst du?«, sagt Stiefpa. »No problemo. Jetzt fangen wir wieder von vorne an.«





Grandma sagt, ich rieche.

»Dann wasche ich mich mit dem Lappen.«

»Aber der Dreck versteckt sich auch in den Ritzen. Deshalb lasse ich jetzt die Badewanne ein, und da steigst du rein.«

Sie macht das Wasser ganz hoch und dampfend und gießt so Blasenzeugs rein, das macht ganz glitzernde Berge. Das Grün von der Wanne ist fast ganz versteckt, aber ich weiß, es ist noch da. »Ausziehen, Schätzchen.« Sie steht mit den Händen an den Hüften da. »Willst du nicht, dass ich zugucke? Soll ich lieber vor der Tür warten?«

»Nein!«

»Was ist denn los?« Sie wartet. »Denkst du vielleicht, ohne deine Ma in der Wanne ertrinkst du, oder was?«

Ich wusste gar nicht, dass Personen in der Wanne ertrinken können.

»Ich bleibe die ganze Zeit hier sitzen«, sagt sie und tippt auf den Deckel vom Klo.

Ich schüttele den Kopf. »Du musst auch in die Wanne.«

»Ich? Ach, Jack, ich dusche doch jeden Morgen. Und wie wäre es, wenn ich mich direkt auf den Rand setze, ungefähr so?«

»Nein, in die Wanne.«

Grandma starrt mich an. Dann stöhnt sie und sagt: »Na schön, wenn es unbedingt sein muss, aber nur dieses eine Mal … und ich ziehe mein Schwimmzeug an.«

»Ich will aber nicht schwimmen.«

»Wir schwimmen ja auch nicht wirklich, ich will nur … ich wäre lieber nicht nackt, falls du nichts dagegen hast.«

»Macht dir das Angst?«

»Nein«, sagt sie. »Ich will nur … andersrum wäre es mir lieber, wenn’s recht ist.«

»Kann ich denn nackt sein?«

»Natürlich, du bist ja ein Kind.«

In Raum waren wir manchmal nackt und manchmal angezogen, das hat uns nie was ausgemacht.

»Jack, können wir jetzt einfach in die Wanne, bevor es kalt wird?«

Es ist kein bisschen kalt, es fliegt immer noch Dampf hoch. Ich fange an, meine Sachen auszuziehen. Grandma sagt, sie ist in einer Sekunde wieder da.

Statuen können nackt sein, auch wenn sie schon erwachsen sind, vielleicht müssen sie das ja sogar. Stiefpa sagt, das ist, weil sie versuchen, wie alte Statuen auszusehen, die waren immer nackt, weil die Römer gedacht haben, dass Körper das Schönste sind. Ich lehne mich gegen die Wanne, aber das Harte draußen ist kalt auf meinem Bäuchlein. Es gibt da was in Alice:



Ich höre ja, du warst bei ihr,

Und dass er mir es gönnt;

Sie sprach, sie hielte viel von mir,

Wenn ich nur schwimmen könnt’!

Meine Finger sind Taucher. Die Seife fällt ins Wasser, und ich spiele, dass sie ein Hai ist. Grandma kommt mit so einem gestreiften Ding rein, es sieht aus wie eine Unterhose und ein T-Shirt, die mit Perlen zusammengemacht sind, und auf dem Kopf hat sie so eine Plastiktüte, sie sagt, das heißt Duschhaube, trotzdem wir ja eigentlich baden. Aber auslachen tue ich sie nicht, nur in mir drin ein bisschen.

Als sie in die Wanne geht, wird das Wasser höher, ich klettere auch rein, und da läuft es fast über. Sie ist an dem glatten Ende, Ma hat immer an dem mit dem Wasserhahn gesessen. Ich passe auf, dass ich mit meinen Beinen nicht die Beine von Grandma berühre. Dann stoße ich mir den Kopf am Wasserhahn.

»Vorsicht.«

Warum sagen Personen das immer erst, wenn es schon wehtut?

Grandma kann keine Wannenspiele, außer Row, Row, Row Your Boat, und als wir das probieren, gibt es einen Platscher auf dem Boden.

Sie hat keine Spielzeuge. Ich spiele, dass die Nagelbürste ein U-Boot ist, das den Meeresgrund bürstet, es findet die Seife, die ist eine eklige Qualle.

Als wir uns abgetrocknet haben, kratze ich meine Nase, und ein bisschen davon geht ab und ist unter meinem Fingernagel. Im Spiegel sehe ich kleine schuppige Kreise, wo ich abpelle.

Stiefpa kommt rein und sucht seine Pantoffeln. »Ich fand das früher immer toll …« Er berührt meine Schulter, und plötzlich ist da so ein ganz dünner weißer Streifen, ich habe gar nicht gemerkt, wie er abgegangen ist. Er hält ihn mir hin. »Spitzenmäßig.«

»Hör auf damit«, sagt Grandma.

Ich reibe über das weiße Ding, und es rollt sich auf, ein klitzekleiner getrockneter Ball von mir.

»Noch mal«, sage ich.

»Warte mal, jetzt suche ich mal ein richtig langes Stück an deinem Arm …«

»Männer«, sagt Grandma und verzieht das Gesicht.





Heute Morgen ist die Küche leer. Ich hole die Schere aus der Schublade und schneide meinen Pferdeschwanz ab.

Grandma kommt rein und starrt mich an. Dann sagt sie: »Also, wenn ich darf, bringe ich dich erst mal ein bisschen in Ordnung. Und danach kannst du dann den Handfeger und die Kehrschaufel holen. Außerdem sollten wir wirklich ein Stück aufbewahren, immerhin war das dein erster Haarschnitt …«

Das meiste kommt in den Müll, aber drei lange Stücke nimmt Grandma und macht daraus einen Zopf als Armband für mich, mit einem grünen Faden am Ende.

Sie sagt, ich soll mich mal im Spiegel ansehen, aber als Erstes gucke ich nach meinen Muskeln, ich habe immer noch mein Stark.





Oben auf der Zeitung steht Samstag, 17. April, das heißt, ich bin schon eine ganze Woche im Haus von Grandma und Stiefpa. Davor war ich eine Woche in der Klinik, das macht zusammen zwei Wochen, die ich jetzt in der Welt bin. Ich rechne immer wieder neu nach, weil es mir vorkommt wie eine Million Jahre und Ma mich immer noch nicht abgeholt hat.

Grandma sagt, wir müssen mal aus dem Haus. Keiner erkennt mich mehr, weil meine Haare jetzt ganz kurz sind und Locken kriegen. Sie sagt mir, ich soll meine Sonnenbrille ablassen, weil meine Augen sich jetzt bestimmt schon an das Draußen gewöhnt haben, außerdem fällt man mit einer Sonnenbrille nur auf.

Wir gehen über ganz viele Straßen, dabei halten wir Händchen, damit uns die Autos nicht zerquetschen. Händchenhalten mache ich nicht so gerne, ich tue so, als ob sie die Hand von einem anderen Jungen hält. Dann hat Grandma eine gute Idee, ich kann mich anstatt an der Kette von ihrer Handtasche festhalten.

In der Welt gibt es von allen Sachen unheimlich viel, aber das kostet alles Geld, sogar Sachen, die man wegwirft, zum Beispiel kauft in einem Geschäft an einer Ecke der Mann vor uns in der Schlange etwas in einer Schachtel, dann reißt er die Schachtel kaputt und wirft sie sofort in den Müll. Die kleinen Karten mit lauter Zahlen drauf sind eine Lotterie, das kaufen Idioten, die hoffen, dass sie in Millionäre verzaubert werden.

In der Post kaufen wir Briefmarken, wir schicken Ma ein Bild, das ich von mir mit einem Raumschiff gemalt habe.

Dann gehen wir in einen Wolkenkratzer, da ist Pauls Büro, er sagt, er hat wie verrückt zu tun, aber er macht eine Fotokopie von meinen Händen und kauft mir aus dem Automaten einen Schokoriegel. Dann fahren wir mit dem Aufzug nach unten, ich drücke auf die Knöpfe und spiele, dass ich in Wahrheit auch in einem Automaten bin.

Wir gehen in einen Teil von der Regierung, damit Grandma einen neuen Sozialversicherungsausweis kriegt, weil sie ihren alten verloren hat, wir müssen jahrelang warten. Danach nimmt sie mich in einen Coffeeshop mit, wo es bestimmt keine grünen Bohnen gibt, und ich suche mir einen Keks aus, der größer ist als mein Gesicht.

Da ist ein Baby, das was kriegt, so was habe ich noch nie gesehen. »Ich hab die Linke am liebsten«, sage ich und zeige drauf. »Hast du auch die Linke am liebsten?« Aber das Baby hört mir nicht zu.

Grandma zerrt mich weg. »Bitte verzeihen Sie.«

Die Frau zieht ihren Schal über sich, damit ich das Gesicht von dem Baby nicht mehr sehen kann.

»Sie wollte ihre Ruhe haben«, flüstert Grandma.

Ich wusste gar nicht, dass Personen in der Welt ihre Ruhe haben können.

Wir gehen in einen Waschsalon, nur mal gucken. Ich will in so einen Automaten klettern, der sich ganz schnell dreht, aber Grandma sagt, da wäre ich tot.

Wir laufen zum Park, damit wir mit Deana und Bronwyn die Enten füttern können. Bronwyn wirft ihre ganzen Brotstücke auf einmal rein und die Plastiktüte auch, Grandma muss sie mit einem Stock rausholen. Bronwyn will meine Brotstücke, und Grandma sagt, ich muss ihr die Hälfte abgeben, weil sie noch klein ist. Deana sagt, das mit den Dinosauriern tut ihr leid, irgendwann demnächst schaffen wir es aber ganz bestimmt mal ins Naturkundemuseum.

Es gibt ein Geschäft, das hat draußen bloß Schuhe, ganz bunte knautschige mit lauter Löchern. Grandma lässt mich ein Paar anprobieren, ich suche mir gelb aus. Es gibt keine Schnürsenkel und noch nicht mal einen Klettverschluss, ich stecke einfach nur meinen Fuß rein. Sie sind so leicht, als wenn man gar keine anhätte. Wir gehen rein, und Grandma bezahlt fünf Dollarzettel für die Schuhe, das ist genauso viel wie zwanzig Vierteldollarmünzen, und ich sage ihr, dass ich die Schuhe ganz toll finde.

Als wir rauskommen, sitzt eine Frau auf dem Boden und hat ihren Hut ab. Grandma gibt mir zwei Vierteldollarmünzen und zeigt auf den Hut.

Ich tue eine in den Hut rein, dann renne ich hinter Grandma her.

Als sie mich anschnallt, fragt sie: »Was hast du da in der Hand?«

Ich halte die zweite Münze hoch. »Die ist NEBRASKA, die behalte ich für meine Schatzsammlung.«

Sie schnalzt mit der Zunge und nimmt sie mir wieder ab. »Hatte ich dir nicht gesagt, dass du die der Frau, die auf der Straße lebt, geben solltest?«

»Okay, ich …«

»Jetzt ist es zu spät.«

Sie macht das Auto an. Alles, was ich von ihr sehen kann, sind ihre gelben Haare von hinten. »Warum lebt die Frau auf der Straße?«

»Weil sie arm ist. Sie hat nicht mal ein Bett.«

Jetzt fühle ich mich schlecht, weil ich ihr den zweiten Vierteldollar nicht gegeben habe.

Grandma sagt, das nennt man ein Gewissen haben.

In dem Fenster von einem Geschäft sehe ich lauter Vierecke, die aussehen wie Raum, Korkfliesen. Grandma lässt mich reingehen, damit ich eine streicheln und riechen kann, aber kaufen will sie sie nicht.

Wir fahren in eine Autowaschanlage, die Bürsten quatschen die ganze Zeit über uns drüber, trotzdem kommt das Wasser nicht durch unsere dichten Fenster, total lustig.

Mir fällt auf, dass die Personen in der Welt fast immer gestresst sind und nie Zeit haben. Sogar Grandma sagt das ganz oft, dabei müssen sie und Stiefpa überhaupt auf keine Arbeit, deshalb weiß ich gar nicht, wie die Personen mit Arbeit ihre ganze Arbeit schaffen und das Leben auch noch. In Raum hatten Ma und ich Zeit für alles. Ich glaube, in der Welt verteilt sich die Zeit ganz dünn überall hin, über die ganzen Straßen und die Häuser und die Spielplätze und die Geschäfte, deshalb gibt es an jedem Ort nur einen kleinen Klecks davon, und alle müssen schnell weiter zum nächsten.

Und wenn ich Kinder angucke, sieht es meistens so aus, als ob die Erwachsenen sie gar nicht richtig leiden können, nicht mal die Eltern. Sagen tun sie zu den Kindern immer hinreißend und wie süß, und dann müssen die Kinder alles noch mal machen, damit die Erwachsenen ein Foto machen können, aber mit den Kindern spielen wollen sie eigentlich gar nicht, sie trinken lieber Kaffee und sprechen mit anderen Erwachsenen. Manchmal weint ein kleines Kind sogar, und die Ma von dem hört es gar nicht.

In der Bibliothek wohnen Millionen von Büchern, für die wir überhaupt kein Geld bezahlen müssen. Riesige Insekten hängen in der Luft, aber nicht in echt, die sind aus Papier. Grandma sucht unter C nach Alice, und da ist sie auch, die Form stimmt überhaupt nicht, aber die Wörter und die Bilder sind dieselben, irre. Ich zeige Grandma das gruseligste Bild, das ist das mit der Herzogin. Wir sitzen auf dem Sofa, damit sie mir Der Rattenfänger vorlesen kann, ich wusste gar nicht, dass der auch ein Buch ist und nicht nur eine Geschichte. Meine Lieblingsstelle ist die, wo die Eltern das Lachen in dem Fels hören. Sie rufen die ganze Zeit, dass die Kinder zurückkommen sollen, aber die Kinder sind in einem wunderschönen Land, ich glaube, vielleicht ist das der Himmel. Der Berg geht nie mehr auf, damit die Eltern reinkönnen.

Es gibt einen großen Jungen, der macht Harry Potter mit Computer, Grandma sagt, ich soll nicht so nah dabeistehen, ich bin nicht dran.

Dann gibt es eine klitzekleine Welt auf einem Tisch, mit Eisenbahnschienen und Gebäuden, ein kleiner Junge spielt mit einem grünen Laster. Ich gehe hin und nehme mir ein rotes Feuerwehrauto. Ich lasse es ein bisschen in den Laster von dem Jungen bumsen, der Junge kichert. Ich mache es noch fester, und der Laster fällt vom Gleis, der Junge kichert noch mehr.

»Wie schön ihr zusammen spielt, Walker.« Das sagt ein Mann, der sitzt in einem Sessel und guckt auf ein Ding, das so aussieht wie Onkel Pauls BlackBerry.

Ich glaube, der Junge heißt Walker. »Noch mal«, sagt er.

Diesmal stelle ich mein Feuerwehrauto auf den kleinen Laster, dann nehme ich mir einen orangenen Bus und lasse den auf alle beide draufkrachen.

»Sachte«, sagt Grandma, aber Walker sagt: »Noch mal«, und hopst ein paarmal hoch.

Dann kommt noch ein Mann und küsst den ersten Mann und dann Walker. »Jetzt sag deinem Freund bye-bye.«

Bin ich das?

»Bye-bye.« Walker klappt seine Hand rauf und runter.

Ich will ihn gern umarmen. Aber ich mache es zu fest und werfe ihn um, er bumst gegen den Eisenbahntisch und weint.

»Tut mir wirklich entsetzlich leid«, sagt Grandma immer wieder. »Mein Enkel weiß noch nicht … er kennt seine Grenzen noch nicht …«

»Ist ja nichts passiert«, sagt der erste Mann. Sie gehen mit dem kleinen Jungen weg und machen Alle Vögel fliegen hoooooch, dabei schaukeln sie ihn zwischen sich, jetzt weint er nicht mehr. Grandma guckt ihnen hinterher, sie sieht durcheinander aus.

»Merk dir das«, sagt sie auf dem Weg zu dem wei-

ßen Auto, »fremde Leute umarmt man nicht. Auch nette nicht.«

»Warum nicht?«

»Das macht man einfach nicht, wir umarmen nur die Menschen, die wir lieben.«

»Aber den Walker-Jungen lieb ich doch.«

»Jack, den hast du heute zum ersten Mal in deinem Leben gesehen.«





Heute Morgen schmiere ich ein kleines bisschen Sirup auf meinen Pfannkuchen. Und eigentlich schmecken die zwei zusammen sogar ziemlich gut.

Grandma malt eine Linie um mich rum, sie sagt, man kann ruhig auf die Veranda malen, weil die Kreide beim nächsten Regen ja wieder weggewaschen wird. Ich gucke zu den Wolken hoch, wenn die zu regnen anfangen, dann laufe ich mit Überschallgeschwindigkeit rein, bevor mich ein Tropfen trifft. »Mach mich nicht voll Kreide«, sage ich ihr.

»Ach, jetzt stell dich doch nicht so an.«

Sie zieht mich hoch, bis ich stehe, und jetzt ist auf der Veranda die Form von einem Jungen, das bin ich. Ich habe einen riesigen Kopf, kein Gesicht und nichts in mir drin, aber dafür klumpige Hände.

»Paket für dich, Jack.« Das ist Stiefpa, der das ruft, was meint er damit?

Als ich ins Haus gehe, schneidet er gerade einen großen Karton auf. Da holt er was Riesiges raus und sagt: »Also, das kann schon mal sofort in den Müll.«

Dann rollt sie sich auf. »Teppich!« Ich umarme sie ganz feste. »Das ist doch unsere Teppich, die von mir und Ma!«

Er hebt die Hände hoch und sagt: »Wie du willst.«

Grandmas Gesicht wird ganz schief. »Vielleicht solltest du den lieber erst mal rausbringen und ordentlich ausklopfen, Leo.«

»Nein!«, schreie ich.

»Na schön, dann eben mit dem Staubsauger. Aber ich will mir gar nicht vorstellen was da drin alles …« Sie reibt Teppich zwischen ihren Fingern.

Ich muss Teppich auf meiner Luftmatratze im Schlafzimmer lassen, ich darf sie nicht im ganzen Haus herumzerren. Deshalb sitze ich da und habe sie über dem Kopf wie ein Zelt. Ihr Geruch ist genau der, den ich kenne, und anfühlen tut sie sich auch noch so. Drunter habe ich noch andere Sachen, die die Polizei gebringt hat. Jeep und Fernsteuerung gebe ich ganz besonders dicke Küsse und Weichlöffel auch. Ich wünschte, Fernsteuerung wäre nicht kaputt, dann könnte ich Jeep fahren lassen. Wörterball ist flacher, als ich mich erinnere, und der rote Ballon ist fast überhaupt nicht mehr da. Raumschiff gibt es noch, aber die Kanone fehlt, das sieht nicht besonders gut aus. Kein Fort und kein Labyrinth, vielleicht waren die zu groß und haben nicht in die Kartons gepasst. Aber ich habe meine fünf Bücher, sogar Dylan. Ich hole den anderen Dylan raus, den neuen, den ich aus der Mall habe, weil ich dachte, das wäre meiner, aber der neue glänzt viel doller. Grandma sagt, von jedem Buch gibt es in der Welt Tausende, damit Tausende von Personen dasselbe Buch in der gleichen Minute lesen können, das macht mich ganz schwindelig. Der neue Dylan sagt: »Hallo, Dylan, freut mich, dich kennenzulernen.«

»Ich bin Jacks Dylan«, sagt der alte Dylan.

»Aber ich bin auch einer von Jack«, sagt der neue.

»Kann ja sein, aber ich war der erste von Jack.«

Dann hauen sich der alte und der neue Dylan mit ihren Ecken, bis dem neuen eine Seite reißt, da höre ich auf, weil ich ein Buch zerrissen habe, und wenn Ma das sieht, wird sie bestimmt böse. Jetzt ist sie nicht da und kann nicht böse sein, sie weiß noch nicht mal, dass ich weine und weine und die ganzen Bücher in meine Dora-Tasche tue und den Reißverschluss zumache, damit sie nicht vollgeweint werden. Die zwei Dylans kuscheln sich da drinnen zusammen und sagen, tut uns leid.

Ich finde Schlimmerzahn unter der Luftmatratze und lutsche an ihm, bis er sich anfühlt, als ob er einer von meinen wäre.

Die Fenster machen komische Töne, das sind Regentropfen. Ich gehe ganz dicht dran, solange das Glas dazwischen ist, habe ich keine besondere Angst. Ich drücke meine Nase drauf, es ist ganz verschwommen vom Regen, die Tropfen schmelzen zusammen und verwandeln sich in lange Flüsse, und die laufen alle immer weiter am Glas runter.





Ich und Grandma und Stiefpa fahren alle in dem weißen Auto auf einen Überraschungsausflug. »Aber wie weißt du dann, wo lang?«, frage ich Grandma, als sie losfährt.

Sie zwinkert mir in dem Spiegel zu. »Eine Überraschung ist es nur für dich.«

Ich gucke aus dem Fenster, ob es neue Sachen gibt. Da ist ein Mädchen in einem Rollstuhl, die hat den Kopf zwischen so zwei Polsterdingern. Ein Hund schnüffelt am Popo von einem anderen Hund, das ist lustig. Dann eine Eisenkiste, in die man Post tun kann. Und eine fliegende Plastiktüte.

Ich glaube, ich schlafe irgendwann ein bisschen ein, aber genau weiß ich es nicht.

Wir halten auf einem Parkplatz, bei dem überall, sogar auf den Linien, lauter so staubiges Zeug ist.

»Rate mal, was das ist?«, fragt Stiefpa und zeigt raus.

»Zucker?«

»Sand«, sagt er. »Und, wird es schon wärmer?«

»Nein, mir ist kalt.«

»Er meint, ob du rauskriegst, wo wir sind? Wohin sind ich und dein Grandpa immer mit deiner Ma und Paul gefahren, als sie klein waren? Na?«

Ich gucke ganz lange. »Berge?«

»Das sind Sanddünen. Und zwischen den beiden da, das Blaue?«

»Himmel.«

»Nein, da drunter. Das Dunkelblau ganz unten.«

Meine Augen tun mir weh, trotz der Sonnenbrille.

»Das Meer!«, sagt Grandma.

Ich gehe hinter ihnen über den Holzweg. Ich trage den Eimer. Es ist nicht so, wie ich dachte, die ganze Zeit bläst mir der Wind kleine Steine in die Augen. Grandma breitet einen großen Teppich mit Blumen drauf aus, der wird bestimmt ganz voller Sand, aber Grandma sagt, macht nichts, es ist eine Picknickdecke.

»Wo ist das Picknick?«

»Dafür ist es noch ein bisschen früh im Jahr.«

Stiefpa sagt, wir können doch mal runter ans Wasser gehen.

Ich habe Sand in meinen Schuhen, und einen verliere ich. »Prima Idee«, sagt Stiefpa. Er zieht alle beide von seinen aus und tut da die Socken rein, dann schaukelt er sie an den Schnürsenkeln.

Ich tue auch meine Socken in meine Schuhe. Der Sand ist ganz feucht und komisch unter meinen Füßen, manchmal kitzelt es. Ma hat mir nie erzählt, dass so der Strand ist.

»Auf geht’s«, sagt Stiefpa und fängt an, auf das Meer zuzulaufen.

Ich bleibe weit weg, weil es da so riesige Teile gibt, die wachsen und haben oben drauf so weißes Zeug, sie rauschen und krachen. Das Meer hört nie auf zu grummeln, und es ist zu groß, wir gehören da nicht hin.

Ich gehe wieder zu Grandma auf die Picknickdecke. Sie wackelt mit ihren nackten Zehen, die sind ganz faltig.

Wir versuchen, eine Sandburg zu bauen, aber der Sand ist nicht der richtige, er fällt immer wieder runter.

Stiefpa kommt wieder, er hat die Hosenbeine aufgerollt, sie tropfen. »Hattest du keine Lust zum Planschen?«

»Da ist überall Kacka drin.«

»Wo?«

»Im Meer. Unsere Kacka geht durch die Rohre bis ins Meer. Da will ich nicht drin laufen.«

Stiefpa lacht. »Von Kanalisation hat deine Ma wohl nicht besonders viel Ahnung, was?«

Am liebsten würde ich ihn hauen. »Ma weiß alles.«

»Es gibt eine große Fabrik, da gehen die ganzen Abflussrohre von allen Klos hin.« Er setzt sich auf die Decke, seine Füße sind ganz voll Sand. »Die Männer da schöpfen die ganze Kacka raus und schrubben jeden einzelnen Tropfen Wasser so lange, bis man es trinken kann, und dann kommt es wieder in die Leitungen und von da in unsere Wasserhähne.«

»Und wann läuft es ins Meer?«

Er schüttelt den Kopf. »Ich glaube, das Meer ist nur Regen und Salz.«

»Hast du schon mal eine Träne geleckt?«, fragt Grandma.

»Ja.«

»Das Meer ist genau dasselbe.«

Wenn es Tränen sind, will ich da aber trotzdem nicht rein.

Trotzdem gehe ich mit Stiefpa doch noch nahe ans Wasser, damit wir nach Schätzen suchen können. Wir finden eine weiße Schale, so wie von einer Schnecke, aber als ich meinen Finger reindrehe, ist die Schnecke weg. »Behalt sie«, sagt Stiefpa.

»Aber was ist, wenn sie nach Hause kommt?«

»Weißt du, ich glaube nicht, dass sie ihr Haus einfach hier rumliegen lassen würde, wenn sie es noch bräuchte«, sagt Stiefpa.

Vielleicht hat sie ja ein Vogel gefressen. Oder ein Löwe. Ich tue das Haus in meine Hosentasche und dann noch eine rosa Muschel und eine schwarze und eine ganz lange, die sieht gefährlich aus und heißt Schwertmuschel. Die darf ich alle mit nach Hause nehmen. Gefunden ist gefunden.

Zum Mittagessen gehen wir in ein Diner, da kann man den ganzen Tag was essen, nicht nur zu den Mahlzeiten. Ich kriege einen BLT, das ist ein heißes Sandwich mit Salat und Tomate, und da drin versteckt Frühstücksspeck.

Als wir nach Hause fahren, sehe ich den Spielplatz, aber jetzt ist er ganz falsch, die Schaukeln sind auf der anderen Seite.

»Ach, Jack, das ist doch ein anderer«, sagt Grandma. »Es gibt in jeder Stadt Spielplätze.«

Vieles in der Welt sind bloß Wiederholungen, glaube ich.





»Noreen hat mir erzählt, dass du dir die Haare geschnitten hast.« Mas Stimme im Telefon ist ganz winzig.

»Ja. Aber mein Stark habe ich trotzdem noch.« Ich sitze mit dem Telefon unter Teppich, ganz im Dunkel, und tue so, als ob Ma da ist. »Ich bade jetzt schon ganz alleine«, erzähle ich ihr. »Ich war schon auf Schaukeln, und ich weiß, was Geld ist, und ich habe zwei Der Bagger Dylans und ein Gewissen und knautschige Schuhe.«

»Mensch.«

»Ach ja, und ich habe das Meer gesehen, da ist gar keine Kacka drin, du hast mich reingelegt.«

»Du hattest einfach so viele Fragen«, sagt Ma. »Und ich wusste nicht auf alle eine Antwort, deshalb musste ich ein paar erfinden.«

Ich höre, wie ihr Atem weint.

»Ma, kannst du mich heute Abend abholen?«

»Heute Abend noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie probieren immer noch an der richtigen Dosis für mich herum und versuchen herauszufinden, was ich brauche.«

Mich, sie braucht mich.





Ich will mein Pad Thai mit Weichlöffel essen, aber Grandma sagt, das ist unhygienisch.

Später bin ich im Wohnzimmer und surfe durch die Kanäle, das heißt, man guckt alle Planeten so schnell an wie ein Surfer. Da höre ich meinen Namen, aber nicht in echt, sondern im Fernseher.

»… müssen auf Jack hören.«

»In gewisser Weise sind wir doch alle Jack«, sagt ein anderer Mann, der an dem großen Tisch sitzt.

»Zweifellos«, sagt noch einer.

Heißen die auch Jack, sind die ein paar von der Million?

»Das Kind in uns, das in unserem ganz ureigenen Raum, Orwells Zimmer hunderteins, eingesperrt ist«, sagt noch einer von den Männern und nickt.

Ich glaube, in dem Raum war ich noch nie.

»Und wenn wir dann befreit werden, finden wir uns perverserweise allein in der Masse wieder …«

»Und der sensorische Dauerbeschuss lässt uns taumeln«, sagt der Erste.

»Post-Moderne.«

Eine Frau ist auch dabei. »Aber symbolisch betrachtet, ist Jack doch nichts anderes als ein Kindsopfer«, sagt sie, »das in das Fundament einzementiert wird, um die bösen Geister zu besänftigen.«

Häh?

»Ich würde eigentlich eher meinen, dass der entscheidende Archetypus hier Perseus ist – von einer eingemauerten Jungfrau geboren und in einem Holzkistchen auf dem Meer ausgesetzt, das Opfer, das als Held zurückkehrt«, sagt einer von den Männern.

»Es ist ja allgemein bekannt, dass Kaspar Hauser behauptete, er sei in seinem Verlies glücklich gewesen, aber vielleicht wollte er damit eigentlich nur sagen, dass das Deutschland des 19. Jahrhunderts ein noch größeres Verlies war.«

»Jack hatte immerhin einen Fernseher.«

Ein anderer Mann lacht. »Kultur als Schatten an der Wand von Platos Höhle.«

Grandma kommt rein und schaltet sofort aus, sie knurrt.

»Das war über mich«, erkläre ich ihr.

»Die Typen da waren eindeutig zu lange auf dem College.«

»Ma sagt, ich muss auch aufs College.«

Grandma verdreht die Augen. »Alles zu seiner Zeit. Jetzt erst mal den Pyjama an und Zähne putzen.«

Sie liest mir Das Häschen, das weglief vor, aber das mag ich heute Abend nicht. Die ganze Zeit denke ich, dass ja vielleicht in Wahrheit die Hasenmutter weggelaufen ist und sich versteckt hat und das Häschen sie nicht mehr wiederfinden kann.





Grandma will mir einen Fußball kaufen, das ist spannend. Ich gucke mir einen Plastikmann mit einem schwarzen Gummianzug und Flossen an, dann sehe ich einen großen Stapel Koffer in allen Farben, rosa und grün und blau zum Beispiel, und dann eine Rolltreppe. Ich trete wirklich nur eine Sekunde auf die erste Stufe, aber dann komme ich nicht mehr hoch, die Rolltreppe zoomt mich immer weiter runter, unheimlich cool und gleichzeitig auch gruselig, groolig, das ist ein Wörtersandwich, Ma würde das gefallen. Am Ende muss ich runterspringen, ich weiß nicht, wie es wieder hoch zu Grandma geht. Ich zähle fünfmal meine Zähne, einmal kriege ich neunzehn statt zwanzig raus. Überall sind Schilder und auf allen steht dasselbe: Nur noch drei Wochen bis Muttertag, hat sie nicht das Beste verdient? Ich gucke Teller an und Herde und Stühle, dann bin ich ganz labberig, deshalb lege ich mich auf ein Bett.

Eine Frau sagt, das darf ich nicht, also setze ich mich wieder auf. »Wo ist denn deine Mom, Kleiner?«

»Die ist in der Klinik, weil sie versucht hat, jetzt schon in den Himmel zu kommen.« Die Frau glotzt mich an. »Ich bin ein Bonsai.«

»Was bist du?«

»Wir waren eingesperrt und jetzt sind wir Rap-Stars.«

»Oh mein Go… der Junge bist du? Der aus dem … Lorana!«, ruft sie. »Komm schnell her. Das glaubst du einfach nicht. Das ist dieser Junge, Jack, der vom Fernsehen, der aus dem Schuppen.«

Eine andere Person kommt herbei, sie schüttelt den Kopf. »Der aus dem Schuppen war kleiner und hatte lange Haare in einem Pferdeschwanz, und er war ganz verhuscht.«

»Das ist er«, sagt die andere. »Ich schwöre, das ist er.«

»Nie im Leben«, sagt die andere.

»Kommt nicht in die Tüte«, sage ich.

Sie lacht und lacht. »Das ist ja krass. Kann ich ein Autogramm haben?«

»Der kann doch noch gar nicht seinen Namen schreiben, Lorana.«

»Kann ich doch«, sage ich. »Ich kann alles schreiben, was es gibt.«

»Du bist mir ja einer«, sagt sie zu mir. »Stimmt’s?«, sagt sie zu der anderen.

Das einzige Papier sind alte Etiketten von den Kleidern. Ich schreibe gerade auf ganz viele JACK, damit die Frauen die ihren Freunden schenken können, da kommt Grandma angelaufen, sie hat einen Ball unter dem Arm, und ich habe sie noch nie so böse gesehen. Sie schreit die Frauen an, irgendwas mit ausrufen lassen, und zerreißt meine Autogramme in kleine Stücke. Sie zerrt an meiner Hand. Als wir aus dem Geschäft laufen, macht das Tor aiiii aiiii, Grandma lässt den Fußball auf den Teppich fallen.

Im Auto will sie mich nicht durch den Spiegel angucken, ich frage: »Warum hast du meinen Ball weggeworfen?«

»Der hat den Alarm ausgelöst«, sagt Grandma, »weil ich nicht bezahlt hatte.«

»Wolltest du ihn stehlen?«

»Nein, Jack«, schreit sie, »ich bin wie eine Verrückte durch den ganzen Laden gerannt und habe dich gesucht.« Dann sagt sie leiser: »Es hätte doch alles Mögliche passieren können.«

»So was wie ein Erdbeben?«

Grandma starrt mich durch den kleinen Spiegel an. »Irgendein Fremder hätte sich dich schnappen können, Jack, das meine ich damit.«

Ein Fremder ist ein Nicht-Freund, aber die Frauen waren doch meine Freunde. »Warum?«

»Weil er vielleicht einen kleinen Jungen haben wollte, alles klar?«

Es hört sich nicht alles klar an.

»Oder dir sogar was antun.«

»Meinst du ihn?« Das ist Old Nick, aber das kann ich nicht sagen.

»Nein, der kann nicht aus dem Gefängnis raus, aber vielleicht ein anderer von seiner Sorte«, sagt Grandma.

Ich wusste gar nicht, dass es auf der Welt noch einen von seiner Sorte gibt.

»Kannst du jetzt zurückfahren und meinen Ball kaufen?«, frage ich.

Sie macht den Motor an und fährt so schnell vom Parkplatz weg, dass die Reifen quietschen.

Im Auto werde ich immer böser.

Als wir wieder beim Haus sind, tue ich alles in meine Dora-Tasche, bloß meine Schuhe passen nicht rein, deshalb werfe ich sie in den Müll, dann rolle ich Teppich auf und ziehe sie hinter mir her die Stufen runter.

Grandma kommt in die Diele. »Hast du dir die Hände gewaschen?«

»Ich gehe wieder in die Klinik«, schreie ich sie an, »und du kannst mich nicht aufhalten, du bist nämlich eine … eine Fremde.«

»Jack«, sagt sie, »bring diesen stinkigen Teppich wieder zurück.«

»Du bist die Stinkige«, brülle ich.

Sie drückt sich die Hand auf die Brust. »Leo«, sagt sie über die Schulter, »jetzt habe ich aber wirklich langsam die …«

Stiefpa kommt und hebt mich hoch.

Ich lasse Teppich fallen. Stiefpa tritt meine Dora-Tasche aus dem Weg. Er trägt mich, ich schreie und schlage ihn, weil er das nicht darf, es ist ein Sonderfall, ich kann ihn sogar töten, ich töte ihn und töte ihn …

»Leo«, heult Grandma unten an den Stufen, »Leo …«

Ich rieche Menschenfleisch, bestimmt reißt er mich in Stücke, er wickelt mich in Teppich und begräbt mich, the worms crawl in, the worms crawl out …

Stiefpa lässt mich auf die Luftmatratze fallen, aber es tut gar nicht weh.

Er setzt sich am Rand drauf, und sie geht hoch wie eine Welle. Ich weine immer noch und zittere, und mein Rotz kommt auf das Laken.

Ich höre auf zu weinen. Ich suche unter der Luftmatratze nach Schlimmerzahn, dann tue ich ihn in meinen Mund und lutsche ganz fest. Er schmeckt nach gar nichts mehr.

Die Hand von Stiefpa ist direkt neben mir auf dem Laken, da sind Haare auf seinen Fingern.

Seine Augen warten auf meine Augen. »Alles wieder gut? Vergeben und vergessen?«

Ich schiebe Schlimmerzahn in meine Backe. »Was?«

»Sollen wir auf dem Sofa ein Stück Kuchen essen und das Spiel angucken?«

»Okay.«





Ich hebe Äste auf, die von den Bäumen runtergefallen sind, sogar ganz riesige schwere. Ich und Grandma binden sie mit Schnur zu Paketen zusammen, damit die Stadt sie mitnehmen kann. »Wie kann denn die Stadt … ?«

»Ich meine die Leute von der Stadt, diejenigen, deren Job das ist.«

Wenn ich groß bin, ist mein Job Riese sein, nicht so einer, der Leute frisst, aber vielleicht einer von der Sorte, die Kinder auffangen, wenn sie ins Meer fallen, und sie wieder an Land bringen.

Ich rufe: »Löwenzahn-Alarm.« Grandma gräbt die mit ihrer Kelle aus, damit das Gras wachsen kann, weil nicht für alles auf einmal Platz ist.

Als wir müde sind, setzen wir uns in die Hängematte, sogar Grandma. »Früher habe ich immer so mit deiner Ma hier gesessen, als sie noch ein Baby war.«

»Hat sie was von dir gekriegt?«

»Was?«

»Aus deiner Brust?«

Grandma schüttelt den Kopf. »Sie hat immer meine Finger zurückgedrückt, wenn sie ihr Fläschchen bekam.«

»Wo ist die Bäuchlein-Mama?«

»Die … ach, darüber weißt du Bescheid? Keine Ahnung, fürchte ich.«

»Hat sie noch ein Baby gekriegt?«

Grandma sagt erst nichts. Dann sagt sie: »Das ist eigentlich eine schöne Vorstellung.«





Ich male auf der Küchentisch und habe Grandmas alte Schürze an, auf der steht: I Ate Gator on the Bayou. Ich male keine richtigen Bilder, nur Klekse und Streifen und Spiralen, ich nehme alle Farben, ich mische sie sogar in kleinen Pfützen zusammen. Es macht mir Spaß, wenn ich zuerst alles nass mache und dann das Papier zusammenfalte, wie Grandma es mir gezeigt hat, wenn ich es dann nämlich wieder auseinanderfalte, ist es ein Schmetterling.

Da ist Ma im Fenster.

Das Rot verschüttet. Ich versuche es aufzuwischen, aber mein ganzer Fuß ist voll und der Boden. Mas Gesicht ist nicht mehr da. Ich laufe zum Fenster, aber sie ist weg. Habe ich nur gesponnen? Ich habe Rot auf das Fenster gemacht und auf den Becken und die Theke. »Grandma?«, rufe ich. »Grandma?«

Und dann ist Ma direkt hinter mir.

Ich renne beinahe auf sie drauf. Sie will mich umarmen, aber ich sage: »Nein, ich bin doch ganz voll Farbe.«

Sie lacht, dann zieht sie meine Schürze aus und wirft sie auf den Tisch. Sie drückt mich überall ganz feste, nur meine klebrigen Hände und den Fuß halte ich weg. »Ich hab dich ja gar nicht mehr wiedererkannt«, sagt sie zu meinem Kopf.

»Warum hast du … ?«

»Na, wegen deiner Haare.«

»Guck mal hier, ein paar ganz lange habe ich als Armband, aber es bleibt immer an Sachen hängen.«

»Darf ich es haben?«

»Klar.«

Als ich das Armband von meinem Handgelenk streife, kommt ein bisschen Farbe drauf. Ma tut es sich an. Sie sieht anders aus, ich weiß bloß nicht, wie anders. »Tut mir leid, dass ich Rot auf deinen Arm gemacht habe.«

»Alles abwaschbar«, sagt Grandma und kommt rein.

»Hast du ihm gar nicht gesagt, dass ich komme?«, fragt Ma und gibt ihr einen Kuss.

»Ich dachte, lieber nicht, falls es doch noch ein Problem gegeben hätte.«

»Es gibt keine Probleme mehr.«

»Wie schön.« Grandma wischt sich die Augen und fängt an, die Farbe sauber zu machen. »Also, bis jetzt hat Jack auf einer Luftmatratze bei uns im Zimmer geschlafen, aber ich kann euch ja ein Bett auf dem Sofa bauen …«

»Ehrlich gesagt, wir sollten lieber los.«

Grandma bleibt eine Minute ganz still stehen. »Aber ihr bleibt doch wenigstens noch zum Abendessen, oder?«

»Klar«, sagt Ma.

Stiefpa macht Schweinekoteletts mit Risotto, die Teile mit den Knochen mag ich nicht, aber ich esse den ganzen Reis und löffele mit meiner Gabel die Soße auf. Stiefpa stiehlt ein Stück von meinem Fleisch.

»Swiper, nicht stehlen.«

»Ach, Mensch«, grummelt er.

Grandma zeigt mir ein ganz schweres Buch mit Kindern, sie sagt, das sind Ma und Paul, als sie noch klein waren. Ich versuche ganz feste, das zu glauben, dann sehe ich eins von dem Mädchen am Strand, demselben, wo Grandma und Stiefpa mich mit hingenommen haben, und das Gesicht ist genau das Gesicht von Ma. Ich zeige es ihr.

»Tja, das bin wirklich ich«, sagt sie und blättert um. Es gibt eins mit Paul drauf, wie er aus dem Fenster von einer riesigen Banane winkt, die ist eigentlich eine Statue, und eins von den Kindern isst mit Grandpa Eis in der Waffel, aber er sieht anders aus und Grandma auch, auf dem Bild hat sie dunkle Haare.

»Wo ist eins mit der Hängematte?«

»Da waren wir immer alle gleichzeitig drin, wahrscheinlich hat nie einer daran gedacht, davon ein Bild zu machen«, sagt Ma.

»Es muss doch schrecklich sein, dass du gar keine hast«, sagt Grandma zu ihr.

»Keine was?«

»Bilder von Jack, als er ein Baby war und herumgekrabbelt ist. Ich meine, nur zur Erinnerung.«

Mas Gesicht ist ganz leer. »Ich werde auch so keinen einzigen Tag vergessen.« Sie guckt auf ihre Uhr, ich wusste gar nicht, dass sie eine hat, es ist eine mit spitzen Zeigern.

»Um wie viel Uhr erwarten sie euch in der Klinik?«, fragt Stiefpa.

Ma schüttelt den Kopf. »Das habe ich hinter mir.« Sie holt etwas aus ihrer Tasche und schüttelt es, es ist ein Schlüssel an einem Ring. »Stell dir vor, Jack, du und ich, wir haben unsere eigene Wohnung.«

Grandma sagt Mas anderen Namen. »Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«

»Es war meine Idee. Alles ist in Ordnung, Mom. Es gibt rund um die Uhr Betreuer.«

»Aber du hast doch noch nie von zu Hause weg gewohnt …«

Ma starrt Grandma an und Stiefpa auch. Dann brüllt er vor lauter Lachen.

»Das ist nicht lustig«, sagt Grandma und haut ihn auf die Brust. »Sie weiß, wie ich das meine.«

Ma bringt mich nach oben, damit wir meine Sachen packen.

»Mach die Augen zu«, sage ich ihr, »es gibt Überraschungen.« Ich führe sie ins Schlafzimmer. »Tataa.« Ich warte. »Das ist Teppich und ganz viele von unseren Sachen, die Polizei hat sie wiedergebringt.«

»Das sehe ich«, sagt Ma.

»Guck doch mal, Jeep und Fernsteuerung …«

»Lass uns nicht irgendwelches kaputtes Zeug mitschleppen«, sagt sie, »nimm nur das, was du wirklich brauchst, und pack es in deine neue Dora-Tasche.«

»Ich brauche aber alles.«

Ma atmet aus. »Tu, was du nicht lassen kannst.«

Warum soll ich es tun und nicht lassen?

»Es gibt Kartons, da waren die ganzen Sachen drin.«

»Ich habe doch schon gesagt, ist in Ordnung.«

Stiefpa tut unsere ganzen Sachen hinten in das weiße Auto.

»Ich muss meinen Führerschein erneuern lassen«, sagt Ma, als Grandma fährt.

»Könnte sein, dass du ein bisschen aus der Übung bist.«

»Ach, ich bin doch bei allem so aus der Übung, dass es quietscht«, sagt Ma.

Ich frage: »Warum quietscht es … ?«

»Wie beim Blechmann«, sagt Ma über die Schulter. Sie hebt ihren Ellbogen und quietscht. »Was meinst du, Jack, sollen wir uns irgendwann mal unser eigenes Auto kaufen?«

»Au ja. Oder noch lieber einen Helikopter. Ein Superzoomer-Helikopter-Zugauto-U-Boot.«

»Das wird ja eine Sause.«

Es dauert Stunden und Stunden im Auto. »Warum dauert es so lange?«, frage ich. »Weil wir durch die ganze Stadt müssen«, sagt Grandma. »Das ist ja beinahe schon im Nachbarstaat.«

»Mom …«

Der Himmel wird dunkel.

Grandma hält, wo Ma es ihr sagt. Es gibt ein großes Schild: HEIM FÜR SELBSTBESTIMMTES WOHNEN. Sie hilft uns, die ganzen Kartons und Taschen in das braune Ziegelhaus zu tragen, nur meine Dora rolle ich auf ihren Rädern. Wir gehen durch eine große Tür mit einem Mann, der heißt Pförtner und lächelt. »Sperrt der uns jetzt ein?«, flüstere ich zu Ma.

»Nein, der sperrt nur andere Leute aus.«

Es gibt drei Frauen und einen Mann, die heißen Betreuerstab, wir sind herzlich eingeladen, jederzeit zu klingeln, wenn wir Hilfe brauchen, egal, bei was, klingeln ist so ähnlich wie telefonieren. Es gibt ganz viele Flure und in jedem Wohnungen, die von mir und Ma ist auf sechs. Ich zupfe sie am Arm und flüstere: »Fünf.«

»Noch mal?«

»Können wir nicht lieber auf fünf sein?«

»Tut mir leid, das können wir uns nicht aussuchen«, sagt sie.

Als der Aufzug zuknallt, fängt Ma an zu zittern.

»Alles in Ordnung?«, fragt Grandma.

»Daran muss ich mich eben auch erst wieder gewöhnen.«

Ma muss den geheimen Code eintippen, damit der Aufzug anfängt zu wackeln. Beim Hochfahren fühlt sich mein Bäuchlein komisch an. Dann gehen die Türen auf, und da sind wir schon auf sechs, wir sind geflogen und wussten es überhaupt nicht. Es gibt eine kleine Luke da steht MÜLLVERBRENNUNG drauf, wenn wir da unseren Abfall reintun, fällt er immer weiter runter und geht in Rauch auf. Auf den Türen gibt es keine Zahlen, es sind Buchstaben, unserer ist B, das heißt, wir wohnen in Sechs B. Sechs ist nicht so eine schlimme Zahl wie neun, sie ist sogar das umgedrehte Gegenteil. Ma steckt den Schlüssel in das Loch, beim Umdrehen verzieht sie das Gesicht, wegen ihrem schlimmen Handgelenk. Ganz repariert ist sie noch nicht. »Hier kommt unser Zuhause«, sagt sie und schiebt die Tür auf.

Wie kann das unser Zuhause sein, wenn ich noch nie hier war?

Eine Wohnung ist wie ein Haus, das zusammengequetscht worden ist. Es gibt fünf Räume, und wir haben Glück, einer ist nämlich das Badezimmer mit einer Wanne, wir können also baden und müssen nicht duschen. »Können wir jetzt gleich in die Wanne?«

»Lass uns erst mal richtig ankommen«, sagt Ma.

Der Herd macht Flammen so wie bei Grandma. Neben der Küche ist das Wohnzimmer, da steht ein Sofa drin und ein niedriger Tisch und ein riesengroßer Fernseher.

Grandma ist in der Küche und packt einen Karton aus. »Milch, Bagel, ich weiß nicht, ob du schon wieder Kaffee trinkst … Er mag diese Cerealien mit Buchstaben, neulich hat er damit Vulkan gelegt.«

Ma tut ihre Arme um Grandma und drückt sie einen Moment lang so feste, dass sie sich nicht mehr bewegen kann. »Danke.«

»Soll ich noch schnell irgendwas besorgen?«

»Nein, ich glaube, du hast an alles gedacht. Gute Nacht, Mom.«

Grandmas Gesicht ist ganz verzogen. »Weißt du …«

»Was?« Ma wartet. »Was denn?«

»Ich habe auch keinen einzigen Tag mit dir vergessen.«

Sie sagen nichts mehr, deshalb probiere ich bei den Betten aus, welches schaukeliger ist. Als ich Purzelbäume schlage, höre ich sie ganz viel reden. Ich gehe herum und mache alles auf und wieder zu.

Als Grandma wieder zu ihrem Haus gefahren ist, zeigt Ma mir, wie man den Riegel vorschiebt, das ist wie ein Schlüssel, mit dem nur wir von innen aufmachen und zumachen können.

Im Bett fällt es mir wieder ein, ich ziehe ihr T-Shirt hoch.

»Ähm«, sagt Ma, »ich glaube nicht, dass da was drin ist.«

»Klar, muss doch.«

»Tja, bei Brüsten ist es so, wenn keiner aus ihnen trinkt, dann denken sie: Na gut, wenn keiner mehr unsere Milch braucht, dann machen wir eben auch keine mehr.«

»Die Schafsköpfe. Ich wette, ich finde noch welche …«

»Nein«, sagt Ma und hält ihre Hand dazwischen, »tut mir leid, aber das ist jetzt vorbei. Komm her.«

Wir knuddeln ganz feste. Ihr Brustkorb macht bumm bumm in meinem Ohr, das ist ihr Herz.

Ich schiebe ihr T-Shirt hoch.

»Jack …«

Ich küsse die Rechte und sage: »Mach’s gut.« Die Linke küsse ich zweimal, weil sie immer sahniger war. Ma drückt meinen Kopf so feste, dass ich sage: »Ich kriege keine Luft mehr«, da lässt sie mich los.





Das Gesicht von Gott steigt hoch, es ist ganz hellrot in meinen Augen. Ich blinzele und mache, dass das Licht kommt und wieder verschwindet. Ich warte, bis Mas Atem angegangen ist. »Wie lange müssen wir hier im Selbstbestimmtes Wohnen bleiben?«

Sie gähnt. »Solange wir wollen.«

»Ich würde gern eine Woche bleiben.«

Sie streckt alle ihre Teile von sich. »Dann bleiben wir mal für eine Woche, und danach sehen wir weiter.«

Ich rolle ihre Haare auf wie ein Seil. »Ich könnte deine ja auch abschneiden, dann wären wir wieder dieselben.«

Ma schüttelt den Kopf. »Ich glaube, meine lasse ich lang.«

Als wir auspacken, gibt es ein großes Problem, ich kann nämlich Schlimmerzahn nicht finden.

Ich suche in meinen ganzen Sachen und dann überall, vielleicht habe ich ihn ja gestern Abend fallen gelassen. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal in meiner Hand oder in meinem Mund hatte. Gestern Abend nicht, aber ich glaube, vorgestern Abend habe ich bei Grandma zu Hause noch an ihm gelutscht. Etwas Schreckliches fällt mir ein. Vielleicht habe ich ihn ja beim Schlafen aus Versehen runtergeschluckt?

»Was passiert mit Sachen, die kein Essen sind, und wir essen sie trotzdem?«

Ma tut gerade meine Socken in ihre Schublade. »Was zum Beispiel?«

Ich kann ihr doch nicht sagen, dass ich vielleicht einen Teil von ihr verloren habe. »Zum Beispiel einen kleinen Stein oder so.«

»Ach so, der kommt einfach unten wieder raus.«

Heute fahren wir nicht mit dem Aufzug nach unten, wir ziehen uns noch nicht mal an. Wir bleiben in unserem Selbstbestimmtes Wohnen und lernen alle Teile davon kennen.

»Wir könnten ja in dem Zimmer hier schlafen«, sagt Ma, »aber spielen könntest du in dem anderen, da kommt mehr Sonne rein.«

»Mit dir.«

»Ähm, ja klar, aber manchmal mache ich dann auch andere Sachen, deshalb könnte doch auch vielleicht tagsüber unser Schlafzimmer mein Zimmer sein.«

Was für andere Sachen?

Ma schüttet uns die Buchstaben-Cornflakes in die Teller, sie zählt sie gar nicht. Ich danke dem Jesuskind.

»Im College habe ich mal ein Buch gelesen, in dem stand, dass jeder ein Zimmer für sich allein haben sollte«, sagt Ma.

»Warum?«

»Damit man nachdenken kann.«

»Ich kann auch in einem Raum mit dir zusammen nachdenken.« Ich warte. »Warum kannst du nicht mit mir in einem Raum nachdenken?«

Ma verzieht das Gesicht. »Meistens kann ich das ja, aber trotzdem wäre es schön, wenn ich schon mal an einen Ort gehen könnte, der nur mir gehört.«

»Finde ich nicht.«

Sie pustet ganz lange die Luft raus. »Wir können es doch mal probieren, nur für heute. Wir basteln Namensschilder und kleben sie an unsere Türen …«

»Cool.«

Wir malen alle möglichen bunten Buchstaben auf Blätter, und dann steht da: JACKS RAUM und MAS RAUM. Wir kleben sie mit Klebeband fest, und wir nehmen so viel, wie wir Lust haben.

Ich muss Kacka machen, danach gucke ich, aber Schlimmerzahn ist nicht drin.

Wir sitzen auf dem Sofa und sehen uns die Vase auf dem Tisch an, die ist aus Glas, aber nicht unsichtbar, es gibt lauter Blau und Grün. »Ich mag die Wände nicht«, sage ich Ma.

»Was hast du gegen die?«

»Sie sind zu weiß. Ich habe eine Idee. Wir könnten doch im Geschäft Korkfliesen kaufen und über alles drüberkleben.«

»Kommt nicht in die Tüte.« Nach einer Minute sagt sie: »Erinnerst du dich nicht mehr? Wir wollten doch noch mal ganz neu anfangen.«

Sie redet immer von erinnern, dabei will sie sich an Raum überhaupt nicht erinnern.

Teppich fällt mir wieder ein. Ich laufe, hole sie aus ihrem Karton und ziehe sie hinter mir her. »Wo soll Teppich hin, neben das Sofa oder neben unser Bett?«

Ma schüttelt den Kopf.

»Aber …«

»Jack, der ist ganz zerschlissen nach sieben Jahren … er stinkt bis hierhin. Ich musste zusehen, wie du auf dem Läufer da krabbeln gelernt hast und dann gehen, immer wieder bist du darauf gestolpert. Einmal hast du Kacka drauf gemacht, ein andermal haben wir Suppe verschüttet, und ich habe ihn nie richtig sauber gekriegt.« Ihre Augen sind ganz glänzend und zu groß.

»Stimmt, und ich wurde auf ihr geboren und war auch in ihr tot.«

»Und genau deshalb würde ich ihn auch am liebsten in die Müllverbrennung schmeißen.«

»Nein!«

»Wenn du nur ein einziges Mal in deinem Leben auch an mich denken könntest anstatt immer nur …«

»Tue ich ja«, schreie ich. »Ich habe immer an dich gedacht, wenn du Verschwunden warst.«

Ma macht ihre Augen zu, nur für eine Sekunde. »Vorschlag: Du kannst ihn behalten, aber in deinem Zimmer und aufgerollt im Schrank. Okay? Ich will ihn nicht sehen müssen.«

Sie geht raus in die Küche. Ich höre sie mit dem Wasser spritzen. Ich nehme die Vase, werfe sie gegen die Wand und sie splittert in eine Zillion Stücke.

»Jack …« Ma steht einfach nur da.

Ich brülle: »Ich will nicht dein kleines Häschen sein.«

Ich renne in JACKS RAUM und ziehe Teppich hinter mir her, sie verfängt sich an der Tür, ich zerre sie in den Schrank und tue sie ganz um mich rum, dann sitze ich Stunden und Stunden da, und Ma kommt nicht.

An den Stellen, wo die Tränen getrocknet sind, ist mein Gesicht ganz steif. Stiefpa sagt, so wird Salz gemacht, da fangen sie Wellen in kleinen Pfützen auf, und die trocknet die Sonne dann aus.

Es kommt ein gruseliger Ton, bsss bsss bsss, dann höre ich Ma reden. »Warum nicht, mir ist alles recht.« Eine Minute später höre ich sie draußen vor dem Schrank, sie sagt: »Wir haben Besuch.«

Es ist Dr. Clay, und Noreen ist auch dabei. Sie haben was zu essen mitgebringt, das heißt Take-away, es sind Nudeln und Reis und lautscher glitschige gelbe Sachen, aber lecker. Die splitterigen Teile von der Vase sind alle weg, bestimmt hat Ma sie in die Verbrennungsanlage verschwindet.

Es gibt einen Computer für uns, Dr. Clay baut ihn für uns auf, damit wir Spiele machen und E-Mails schicken können. Noreen zeigt mir, wie ich direkt auf dem Bildschirm mit dem Pfeil Bilder malen kann, der hat sich jetzt in einen Pinsel verwandelt. Ich male eins von mir und Ma im Selbstbestimmtes Wohnen.

»Was ist denn das ganze weiße Gekrickel da?«, fragt Noreen.

»Das ist der Raum.«

»Der Weltraum?«

»Nein, der Raum hier im Raum, die Luft.«

»Tja, dass Sie jetzt so berühmt sind, wirkt sich natürlich als ein Sekundärtrauma aus«, sagt Dr. Clay gerade zu Ma. »Haben Sie noch mal über neue Identitäten nachgedacht?«

Ma schüttelt ihren Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen … Ich bin doch ich, und Jack ist Jack, oder? Ich kann doch nicht plötzlich anfangen, ihn Michael oder Zane oder was weiß ich zu nennen.«

Warum soll sie Michael oder Zane zu mir sagen?

»Dann vielleicht wenigstens einen neuen Nachnamen«, sagt Dr. Clay. »Damit er weniger auffällt, wenn er in die Schule kommt.«

»Wann komme ich in die Schule?«

»Erst, wenn du so weit bist«, sagt Ma, »mach dir keine Gedanken.«

Ich glaube, dafür bin ich nie so weit.

Am Abend gehen wir in die Wanne, und ich lege im Wasser meinen Kopf auf Mas Bäuchlein, beinahe schlafe ich ein.

Wir üben, wie es ist, in zwei Räumen zu sein und sich was zuzurufen, aber nicht zu laut, weil nämlich in im Rest vom Selbstbestimmtes Wohnen auch noch Personen wohnen, die nicht in Sechs B sind. Als ich in JACKS RAUM bin, und Ma ist in MAS RAUM, ist das gar nicht mal so schlimm, aber wenn sie in noch anderen Räumen ist, und ich weiß nicht, in welchen, das mag ich nicht.

»Keine Sorge«, sagt sie, »ich kann dich von überall hören.«

Wir essen noch mehr von dem Take-away, wir haben es in unserer Mikrowelle heiß gemacht, das ist ein kleiner Herd, der ganz schnell funktioniert, mit unsichtbaren tödlichen Strahlen.

»Ich kann Schlimmerzahn nicht finden«, sage ich Ma.

»Meinen Zahn?«

»Ja, den, der rausgefallen ist. Den habe ich behalten, die ganze Zeit hatte ich ihn, aber ich glaube, jetzt habe ich ihn verloren. Außer ich habe ihn vielleicht verschluckt, aber er ist noch nicht wieder unten rausgekommen.«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagt Ma.

»Aber …«

»Man kommt so viel in der Weltgeschichte herum, dass man am laufenden Band Sachen verliert.«

»Schlimmerzahn ist nicht bloß eine Sache, ich brauch ihn unbedingt.«

»Brauchst du nicht, glaub mir.«

»Aber …«

Sie packt meine Schultern. »Tschüs, du alter, verfaulter Zahn. Und fertig.«

Sie lacht beinahe, aber ich nicht.

Ich glaube, vielleicht habe ich ihn ja aus Versehen verschluckt. Vielleicht kommt er ja auch gar nicht mit meiner Kacka raus, vielleicht versteckt er sich für immer irgendwo in einer Ecke von mir drin.





In der Nacht flüstere ich: »Ich bin noch immer angeschaltet.«

»Weiß ich«, sagt Ma. »Ich auch.«

Der Raum, in dem wir schlafen, ist MAS RAUM, der ist im Selbstbestimmtes Wohnen, und das ist in Amerika, und das klebt an der Welt, die ist ein blauer und grüner Ball, der eine Million Kilometer dick ist und sich die ganze Zeit dreht. Das Draußen von der Welt heißt Weltraum. Ich weiß auch nicht, warum wir nicht runterfallen. Ma sagt, es ist die Schwerkraft, das ist so eine unsichtbare Macht, die uns am Boden hält, aber spüren kann ich sie nicht.

Das gelbe Gesicht von Gott kommt rauf, wir gucken aus dem Fenster zu.

»Hast du schon gemerkt?«, fragt Ma. »Jeden Morgen kommt es ein bisschen früher.«

Es gibt sechs Fenster in unserem Selbstbestimmtes Wohnen, in jedem ist ein anderes Bild, aber manchmal von denselben Sachen. Mein Lieblingsbild ist das im Badezimmer, weil das ist nämlich eine Baustelle. Ich kann runtergucken und die ganzen Kräne und Bagger sehen. Ich sage ihnen die Dylan-Wörter auf, das gefällt ihnen.

Ich mache im Wohnzimmer meinen Klettverschluss zu, wir gehen nämlich raus. Ich sehe den Platz, wo die Vase war, bis ich sie geworfen habe. »Wir könnten doch nach einer neuen fragen, als Sonntagsgutti«, sage ich zu Ma, aber dann fällt es mir wieder ein.

Ihre Schuhe haben Schnürsenkel, die bindet sie jetzt zu. Sie guckt mich an, aber nicht sauer. »Weißt du, den brauchst du nie mehr wiederzusehen.«

»Old Nick.« Ich sage den Namen, weil ich wissen will, ob er sich gruselig anhört, und das tut er auch, aber nicht besonders.

»Ich muss, aber nur noch ein einziges Mal«, sagt Ma. »Wenn ich ins Gericht gehe. Aber das dauert noch Monate und Monate.«

»Warum musst du denn?«

»Morris sagt zwar, ich könnte es auch über eine Videoschaltung machen, aber ehrlich gesagt, will ich ihm in die dreckigen kleinen Augen schauen.«

Dreckig? Ich versuche, mich an seine Augen zu erinnern. »Vielleicht fragt er dann ja uns nach einem Sonntagsgutti, das wäre lustig.«

Ma lacht, aber nicht nett. Sie guckt in den Spiegel und macht sich schwarze Linien um die Augen und tut Knallrot auf ihren Mund.

»Du siehst aus wie ein Clown.«

»Das ist nur Make-up«, sagt sie. »Damit ich besser aussehe.«

»Du siehst doch immer besser aus«, sage ich ihr.

Sie grinst mich im Spiegel an. Ich tue meine Nase an den Rand und meine Finger in die Ohren, und dann wackele ich damit.

Wir halten uns an der Hand, aber die Luft ist heute ganz warm, davon werden sie glitschig. Wir gucken in die Fenster von den Geschäften, aber rein gehen wir nicht, nur vorbei. Die ganze Zeit sagt Ma, dass alles haarsträubend teuer ist, und wenn nicht, dann ist es Schrott. »Da drin verkaufen sie Herren und Damen und Kinder«, sage ich ihr.

»Was?« Sie dreht sich schnell um. »Aber nein. Weißt du, das ist ein Bekleidungsgeschäft, und wenn da steht: Herren, Damen, Kinder, dann heißt das bloß, dass es für die alle Anziehsachen gibt.«

Als wir über eine Straße rübermüssen, drücken wir auf den Knopf und warten auf den kleinen silbernen Mann, der passt auf, dass uns nichts passiert. Dann gibt es was, das sieht aus wie Beton, aber da quieken und springen alle möglichen Kinder, weil sie nass werden wollen, so was heißt Splashpad. Wir gucken ein bisschen zu, aber nicht zu lange, weil Ma sagt, sonst halten die uns noch für verrückt.

Wir spielen Ich sehe was, was du nicht siehst. Dann kaufen wir uns Eis, das ist das Allerbeste auf der Welt, meins ist Vanille, und das von Ma ist Erdbeere. Beim nächsten Mal können wir auch andere Sorten nehmen, es gibt Hunderte. Ein großer Klumpen ist auf dem ganzen Weg nach unten kalt, und mein Gesicht tut davon weh. Ma zeigt mir, wie ich meine Hand über meine Nase lege und die warme Luft einschnaufe. Ich bin jetzt seit dreieinhalb Wochen in der Welt und weiß immer noch nicht, was alles wehtun kann.

Ich habe ein paar Münzen, die hat Stiefpa mir gegeben, ich kaufe Ma eine Spange für ihre Haare, da ist ein Marienkäfer drauf, aber nicht in echt.

Sie sagt immer wieder Danke und Danke und Danke.

»Du kannst ihn für immer behalten, sogar wenn du tot bist«, erkläre ich ihr. »Bist du vor mir tot?«

»Das ist der Plan.«

»Warum ist das der Plan?«

»Na ja, wenn du erst mal hundert bist, bin ich ja schon hunderteinundzwanzig, ich glaube, bis dahin ist mein Körper ziemlich abgenutzt.« Sie grinst. »Ich bin dann schon im Himmel und richte deinen Raum ein.«

»Unseren Raum.«

»Okay, unseren Raum.«

Dann sehe ich eine Telefonzelle, da gehe ich rein und spiele, dass ich Supermann bin und mir gerade mein Kostüm anziehe, ich winke Ma durch das Glas zu. Es gibt lauter kleine Karten mit Smileys, auf denen steht Üppige Blondine 18 und Philippinische Transe, die gehören jetzt uns, gefunden ist gefunden, aber als ich sie Ma zeige, sagt sie, das ist Dreckszeug, und ich muss sie in den Müll werfen.

Eine Zeit lang sind wir verirrt, dann sieht sie den Namen von der Straße, wo das Selbstbestimmtes Wohnen ist, wir sind also gar nicht richtig verirrt. Meine Füße sind müde. Ich glaube, die Leute in der Welt müssen die ganze Zeit müde sein.

Im Selbstbestimmtes Wohnen gehe ich barfuß, Schuhe gefallen mir bestimmt überhaupt nie. Die Personen in Sechs C sind eine Frau und zwei große Mädchen, größer als ich, aber noch nicht fertig groß. Die Frau hat die ganze Zeit eine Sonnenbrille auf, sogar im Aufzug, und sie hat eine Krücke, mit der kann sie hüpfen. Die Mädchen können nicht sprechen, glaube ich, aber einem habe ich mit den Fingern zugewinkt, da hat es gelächelt.





Wirklich jeden Tag gibt es was Neues.

Grandma hat mir einen Malkasten mitgebringt, das sind zehn ovale Farben in einem Kästchen mit einem unsichtbaren Deckel. Nach jeder spüle ich den kleinen Pinsel aus, damit sie sich nicht vermischen, und wenn das Wasser schmutzig wird, hole ich einfach neues. Als ich zum ersten Mal mein Bild hochhalte, damit Ma es sehen kann, tropft es, deshalb trocknen wir sie danach flach auf dem Tisch.

Wir fahren in das Haus mit der Hängematte und machen mit Stiefpa aus Lego super Sachen, diesmal ein Schloss und ein Zoomermobil.

Grandma kann uns nur noch an den Nachmittagen besuchen kommen, weil sie morgens eine Arbeit in einem Geschäft hat, wo sich Leute neue Haare und Brüste kaufen, wenn ihre eigenen abgefallen sind. Ma und ich gehen hin und linsen durch die Türen. Grandma kommt mir überhaupt nicht vor wie Grandma. Ma sagt, jeder hat ein paar verschiedene Ichs.

Paul kommt in unser Selbstbestimmtes Wohnen und hat eine Überraschung für mich, einen Fußball genau wie der, den Grandma in dem Geschäft weggeworfen hat. Ich gehe mit ihm runter in den Park, und wir spielen, Ma aber nicht, die geht nämlich in ein Café und trifft eine von ihren alten Freundinnen.

»Klasse«, sagt er. »Noch mal.«

»Nein, jetzt du«, sage ich.

Paul bumst einen enormen Schuss, der Ball prallt von dem Gebäude ab und dann in ein paar Büsche. »Hol ihn«, ruft er.

Als ich schieße, fliegt der Ball in einen Teich, und ich weine.

Paul holt ihn mit einem Ast raus. Er schießt ihn ganz weit weg. »Willst du mir mal zeigen, wie schnell du rennen kannst?«

»Wir hatten eine Laufbahn um Bett«, erzähle ich ihm. »Ich kann ganz schnell laufen, ich bin mit sechzehn Schritten hin und zurück.«

»Boah. Ich wette, jetzt bist du sogar noch schneller.«

Ich schüttele den Kopf. »Bestimmt falle ich hin.«

»Glaube ich nicht«, sagt Paul.

»Tue ich in letzter Zeit aber immer, die ganze Welt ist so stolperig.«

»Vielleicht, aber das Gras hier ist ganz weich, und selbst wenn du hinfällst, tust du dir nicht weh.«

Da kommen Bronwyn und Deana, ich entdecke sie sofort mit meinen scharfen Augen.





Jeden Tag ist es ein bisschen heißer. Ma sagt, das ist unglaublich für April.

Dann regnet es. Sie sagt, bestimmt macht es Spaß, wenn wir uns zwei Regenschirme kaufen und rausgehen, der Regen prallt nämlich von den Schirmen ab und macht uns überhaupt nicht nass, trotzdem lieber nein danke.

Am nächsten Tag ist es wieder trocken, deshalb können wir jetzt raus, es gibt zwar Pfützen, aber die machen mir keine Angst. Ich gehe in meinen knautschigen Schuhen, und meine Füße werden durch die Löcher vollgespritzt, macht aber nichts.

Ich und Ma haben eine Abmachung. Wir probieren alles einmal aus, damit wir wissen, was uns gefällt. Mir gefällt jetzt schon, mit meinem Fußball in den Park gehen und die Enten füttern. Der Spielplatz gefällt mir jetzt sogar ganz viel, außer einmal, als der Junge direkt nach mir die Rutsche runterkam und mich in den Rücken getreten hat. Und das Naturkundemuseum gefällt mir, bloß sind die Dinosaurier alle schon tot und nur mit Knochen.

In dem Klo höre ich Leute Spanisch reden, aber Ma sagt, das Wort dafür ist Chinesisch. Es gibt Hunderte von verschiedenen Arten, wie man fremd sprechen kann, das macht mich ganz schwindelig.

Wir gucken uns noch ein Museum an, da sind lauter Gemälde, ein bisschen wie unsere Meisterwerke aus den Haferflocken, aber viel, viel größer, und außerdem kann man das Klebrige von der Farbe sehen. Es gefällt mir, durch den ganzen Raum zu gehen, wo sie drin sind, aber dann kommen noch mal ganz viele Räume. Ich lege mich auf die Bank, da kommt ein Mann in Uniform und macht kein freundliches Gesicht, deshalb laufe ich weg.

Stiefpa kommt mit einem super Ding ins Selbstbestimmtes Wohnen, es ist ein Fahrrad, das sie eigentlich für Bronwyn aufgehoben haben, aber ich kriege es zuerst, weil ich größer bin. In den Speichen von den Rädern hat es so glänzende Gesichter. Ich muss einen Helm und Knieschoner und Armpolster anziehen, wenn ich damit im Park fahre, die sind für wenn ich runterfalle, aber ich falle nicht runter, ich habe nämlich Gleichgewicht, Stiefpa sagt, ich bin ein Naturtalent.

Als wir das dritte Mal Fahrrad fahren, sagt Ma, ich brauch die Schoner nicht mehr anziehen, und in ein paar Wochen, macht sie auch die Stützräder ab, weil dann brauche ich die auch nicht mehr.

Ma findet ein Konzert, das ist in einem Park, aber nicht in unserem nahen Park, es ist ein anderer, wir müssen in einem Bus fahren. Busfahren gefällt mir supergut. Wir können auf die Haarköpfe von allen möglichen Leuten unten auf der Straße runtergucken. Bei dem Konzert ist die Regel, dass die Musikpersonen den ganzen Krach machen, und wir dürfen keinen einzigen Mucks machen, außer Klatschen am Ende.

Grandma sagt, Ma soll mich doch mal in den Zoo mitnehmen, aber Ma sagt, sie würde die Käfige nicht aushalten.

Wir gehen in zwei verschiedene Kirchen. Mir gefällt die mit den ganz bunten Fenstern, aber die Orgel ist zu laut.

Und außerdem gehen wir zu einem Stück, das ist, wenn Erwachsene sich verkleiden und wie Kinder spielen, und alle anderen gucken zu. Das ist in noch einem anderen Park und heißt Mittsommernachtstraum. Ich sitze auf dem Gras und habe die Finger vor dem Mund, damit er nicht vergisst, dass er zubleiben muss. Ein paar Feen zanken sich um einen kleinen Jungen, sie sagen so viele Wörter, dass alle zusammenpappen. Manchmal verschwinden die Feen und Personen mit nur schwarzen Sachen an tragen die Möbel hin und her. »Genau wie wir in Raum«, flüstere ich zu Ma, beinahe lacht sie.

Aber da fangen die Personen, die neben uns sitzen, an zu rufen: »Wie nun, Geist« und »Heil dir, Titania«, ich werde wütend und sage Psst!. Und dann schreie ich sie sogar an, sie sollen still sein. Ma zieht mich an der Hand bis ganz zurück, wo ein Teil mit Bäumen kommt, und erklärt mir, das war Zuschauerbeteiligung, so was darf man, es ist ein Sonderfall.

Als wir nach Hause ins Selbstbestimmtes Wohnen kommen, schreiben wir alles auf, was wir schon ausprobiert haben, es wird eine lange Liste. Und dann gibt es noch Sachen, die wir vielleicht mal ausprobieren, wenn wir mutiger sind:



In einem Flugzeug fliegen

Ein paar von Mas alten Freunden zum Essen einladen

Ein Auto lenken

Zum Nordpol fahren

In die Schule (ich) und aufs College (Ma) gehen

Eine Wohnung finden, die wirklich uns gehört und nicht im Selbstbestimmtes Wohnen ist

Eine Erfindung machen

Neue Freunde finden

In einem anderen Land wohnen, was nicht Amerika ist

Sich mit einem andern Kind in dessen Haus zum Spielen verabreden, zum Beispiel mit dem Jesuskind oder Johannes dem Täufer

Schwimmen lernen

Am Abend Tanzen gehen (Ma) und ich bleibe dann bei Stiefpa und Grandma auf der Luftmatratze

Eine Arbeit haben

Zum Mond fliegen



Am wichtigsten ist: Einen Hund kriegen, der Lucky heißt, jeden Tag will ich los, aber Ma sagt, sie hat schon genug um die Ohren, vielleicht wenn ich sechs bin.

»Wo ich dann einen Kuchen mit Kerzen kriege?«

»Mit sechs Kerzen«, sagt sie. »Ich schwöre.«

In der Nacht reibe ich in dem Bett, das gar nicht unser Bett ist, über die Decke, sie ist geschwollener als unser Zudeck. Als ich vier war, wusste ich noch gar nichts von der Welt, oder ich dachte, das sind nur Geschichten. Dann hat Ma mir in echt davon erzählt und danach wusste ich alles. Aber jetzt, wo ich die ganze Zeit in der Welt bin, weiß ich überhaupt nicht mehr viel, immer bin ich durcheinander.

»Ma?«

»Ja?«

Sie riecht immer noch wie Ma, nur nicht ihre Brüste, die sind jetzt bloß noch Brüste.

»Wünschst du dir manchmal, wir wären nicht geflohen?«

Ich höre nichts. Dann sagt sie: »Nein, das wünsche ich mir nie.«





»Es ist geradezu pervers«, sagt Ma zu Dr. Clay, »all die Jahre habe ich mich nach ein bisschen Gesellschaft gesehnt, und jetzt ist mir das einfach zu viel.«

Er nickt, sie trinken ein Schlückchen dampfigen Kaffee. Ma trinkt den jetzt auch, so wie alle Erwachsenen, damit sie auf Touren bleiben. Ich trinke immer noch Milch, aber manchmal ist es Schokoladenmilch, schmeckt wie Schokolade, aber die hier darf man. Ich bin auf dem Boden und mache mit Noreen ein Puzzle, superschwierig, mit 24 Bildern von einem Zug.

»An den meisten Tagen … reicht mir einfach nur Jack.«

»›Die Seele wählt den eig’nen Umgang sich – und – schließt die Tür.‹« Das ist seine Gedichtestimme.

Ma nickt. »Mag sein, aber so kenne ich mich von früher gar nicht.«

»Sie mussten sich verändern, um überleben zu können.«

Noreen sieht auf. »Und Sie müssen bedenken, sonst hätten Sie sich auch verändert. Wenn man erst mal über die zwanzig ist, ein Kind hat … Sie wären nicht dieselbe geblieben.«

Ma trinkt bloß weiter ihren Kaffee.





Einen Tag frage ich mich, ob die Fenster aufgehen. Ich probiere es mit dem im Bad, kriege raus, wie der Griff funktioniert, und schieb das Glas auf. Die Luft macht mir Angst, aber eigentlich ist es Mungst, ich lehne mich vor und strecke die Arme raus. Ich bin halb im Drinnen und halb im Draußen, total irre.

»Jack!« Ma zieht mich an meinem T-Shirt wieder ganz rein.

»Aua.«

»Da geht’s sechs Stockwerke tief. Wenn du runterfällst, zerschmetterst du dir den Kopf.«

»Aber ich bin doch gar nicht runtergefallen«, sage ich ihr, »ich war gleichzeitig im Drinnen und im Draußen.«

»Und gleichzeitig warst du total durchgeknallt«, sagt sie, aber sie lächelt schon beinahe.

Ich geh ihr in die Küche hinterher. In einer Schüssel verquirlt sie Eier für Arme Ritter. Die Schalen sind ganz kaputt, wir werfen sie einfach in den Müll, und tschüs. Ich frage mich, ob daraus wieder neue Eier werden. »Nach dem Himmel, kommen wir da wieder?«

Ich glaube, Ma hört mich gar nicht.

»Wachsen wir dann noch mal im Bäuchlein?«

»Das nennt man Reinkarnation.« Sie schneidet Brotscheiben ab. »Manche Leute glauben, dass wir als Esel oder Schnecken wiederkommen.«

»Nein, als Menschen in demselben Bäuchlein. Wenn ich wieder in dir wachse …«

Ma macht den Herd an. »Was willst du eigentlich genau wissen?«

»Nennst du mich dann wieder Jack?«

Sie guckt mich an. »Okay.«

»Versprochen?«

»Ich würde dich immer Jack nennen.«





Morgen ist Erster Mai, das heißt, der Sommer kommt, und es gibt einen Umzug. Vielleicht gehen wir hin und gucken zu. »Ist nur in der Welt Erster Mai?«, frage ich.

Wir essen auf dem Sofa Müsli in Schüsseln und passen gut auf, dass wir nichts verschütten. »Wie meinst du das?«, fragt Ma.

»Ist in Raum auch Erster Mai?«

»Ich denke schon, nur feiert ihn da keiner.«

»Wir könnten doch hingehen.«

Sie klirrt den Löffel in ihre Schüssel. »Jack.«

»Können wir?«

»Willst du wirklich ganz unbedingt?«

»Ja.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht«, sage ich ihr.

»Gefällt es dir hier draußen nicht?«

»Doch. Bloß nicht alles.«

»Na schön, aber meistens? Gefällt es dir besser als Raum?«

»Meistens.« Ich esse den Rest von meinem Müsli auf und dann das bisschen, was noch in Mas Schüssel ist. »Können wir da irgendwann noch mal wieder hin?«

»Nicht zum Wohnen.«

Ich schüttele meinen Kopf. »Nur auf Besuch, für eine Minute.«

Ma lehnt ihren Mund auf ihre Hand. »Ich glaube nicht, dass ich das aushalte.«

»Doch, tust du.« Ich warte. »Ist es gefährlich?«

»Nein, aber schon allein bei der Vorstellung kriege ich ein Gefühl, als ob …«

Sie sagt nicht, als ob was. »Ich könnte doch deine Hand festhalten.«

Ma starrt mich an. »Und wie wäre es, wenn du vielleicht allein hingehst?«

»Nein.«

»Mit jemand zusammen natürlich. Mit Noreen?«

»Nein.«

»Oder mit Grandma?«

»Mit dir.«

»Ich kann nicht …«

»Ich entscheide für uns beide«, sage ich.

Sie steht auf, ich glaube, sie ist böse. Sie nimmt in MAS RAUM das Telefon und spricht mit jemandem.

Später am Morgen klingelt der Pförtner und sagt, für uns ist ein Polizeiauto da.

»Bist du immer noch Officer Oh?«

»Aber klar bin ich das«, sagt Officer Oh. »Lange nicht gesehen.«

Es gibt klitzekleine Punkte auf den Fenstern von dem Polizeiauto, ich glaube, das ist Regen. Ma kaut auf ihrem Daumen. »Keine gute Idee«, sage ich ihr und ziehe ihre Hand weg.

»Stimmt.« Sie holt sich ihren Daumen wieder und knabbert weiter auf ihm. »Ich wünschte, er wäre tot.« Das flüstert sie beinahe.

Ich weiß, wen sie meint. »Aber nicht im Himmel.«

»Nein, der bleibt draußen.«

»Klopf klopf klopf, aber er kommt nicht rein.«

»Genau.«

»Haha.«

Zwei Feuerwehrautos mit Sirenen fahren an uns vorbei. »Grandma sagt, es gibt noch mehr von seiner Sorte.«

»Was?«

»Es gibt noch andere Personen wie ihn in der Welt.«

»Ach so«, sagt Ma.

»Ist das wahr?«

»Ja, aber das Gemeine ist, es gibt viel mehr Leute, die sind halb und halb.«

»Wie?«

Ma starrt aus dem Fenster, aber ich weiß nicht, worauf. »Halb gut und halb böse«, sagt sie. »Von beidem ein bisschen.«

Die Punkte auf den Fenstern laufen zu Flüssen zusammen.

Als wir anhalten, merke ich das nur, weil Officer Oh sagt: »Da sind wir.« Ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welchem Haus Ma an dem Abend gekommen ist, als wir unsere spannende Flucht gemacht haben, alle Häuser haben nämlich Garagen. Und keins sieht besonders nach einem Geheimnis aus.

Officer Oh sagt: »Ich hätte ein paar Regenschirme mitbringen sollen.«

»Es nieselt doch nur«, sagt Ma. Sie steigt aus und hält mir ihre Hand hin.

Ich mache meinen Gurt nicht los. »Aber der Regen fällt auf uns drauf …«

»Bringen wir die Sache endlich hinter uns, Jack. Ich komme nämlich bestimmt nicht noch mal hierher.«

Ich klicke ihn auf. Ich tue meinen Kopf runter und kneife meine Augen halb zu, Ma führt mich. Der Regen ist auf mir, mein Gesicht wird nass und meine Jacke und meine Hände ein bisschen. Weh tut es gar nicht, es ist nur komisch.

Als wir ganz nah an die Tür von dem Haus kommen, weiß ich, dass es das von Old Nick ist, weil da ist ein gelbes Band, auf dem steht mit schwarzen Buchstaben: POLIZEIABSPERRUNG. Und auf einem großen Aufkleber mit einem Wolfsgesicht steht: ACHTUNG, BISSIGER HUND. Ich zeige darauf, aber Ma sagt: »Der hat nur so getan.«

Ach ja, der Trickhund, der an dem Tag, als Ma neunzehn war, einen Anfall hatte.

Ein Polizeimann, den ich nicht kenne, macht die Tür nach drinnen auf, Ma und Officer Oh bücken sich unter dem gelben Band durch, ich muss nur ein Stückchen auf die Seite gehen. Das Haus hat ganz viele Räume und alles mögliche Zeug, zum Beispiel ganz große Sessel und den allergrößten Fernseher, den ich jemals gesehen habe. Aber wir gehen einfach weiter, hinten ist noch eine Tür, und dann kommt Gras. Der Regen fällt immer noch runter, aber meine Augen bleiben auf.

»Eine fünf Meter hohe Hecke um das ganze Grundstück«, sagt Officer Oh gerade zu Ma. »Die Nachbarn fanden nichts dabei. ›Jeder hat doch ein Recht auf seine Privatsphäre‹ und so weiter.«

Es gibt Büsche und ein Loch und rundrum noch mehr gelbes Band auf Stöcken. Da fällt mir wieder was ein. »Ma. War es hier, wo … ?«

Sie steht nur da und starrt. »Ich glaube nicht, dass ich das aushalte.«

Aber ich gehe rüber zu dem Loch. Da sind so braune Dinger im Schlamm. »Sind das Würmer?«, frage ich Officer Oh, in meiner Brust macht es bumm bumm bumm.

»Das sind nur Baumwurzeln.«

»Wo ist das Baby?«

Ma steht neben mir, sie macht ein Geräusch.

»Wir haben sie ausgegraben«, sagt Officer Oh.

»Ich wollte nicht, dass sie hierbleibt«, sagt Ma, ihre Stimme ist ganz kratzig. Dann räuspert sie sich und fragt Officer Oh: »Wie haben Sie die Stelle gefunden, wo … ?«

»Wir haben Bodenproben genommen.«

»Wir bringen sie an einen schöneren Ort«, sagt Ma mir.

»In Grandmas Garten?«

»Weißt du, was wir machen könnten? Wir könnten ihre Knochen in Asche verwandeln und die dann unter die Hängematte streuen.«

»Wächst sie dann wieder und ist meine Schwester?«

Ma schüttelt den Kopf. Ihr Gesicht ist voll mit nassen Bächen. Es kommt noch mehr Regen auf mich drauf. Aber nicht wie eine Dusche, weicher.

Ma hat sich umgedreht, sie guckt einen grauen Schuppen in der Ecke von dem Garten an. »Das ist er«, sagt sie.

»Was?«

»Raum.«

»Quatsch.«

»Ganz bestimmt, Jack, wir haben ihn eben nur nie von außen gesehen.«

Wir gehen hinter Officer Oh her und klettern über noch mehr gelbes Band. »Sehen Sie hier, die Klimaanlage war im Gebüsch versteckt«, sagt sie zu Ma. »Und der Eingang liegt hinten, von draußen nicht einsehbar.«

Ich sehe silbernes Metall, das ist Türe, aber von der Seite habe ich ihn noch nie gesehen, er ist schon halb auf.

»Soll ich mit reinkommen?«, fragt Officer Oh.

»Nein«, schreie ich.

»Okay.«

»Nur ich und Ma.«

Aber Ma hat meine Hand losgelassen und beugt sich nach vorn, sie macht einen komischen Ton. Da ist irgendein Zeug auf dem Gras und auch auf ihrem Gesicht, das ist Kotze, ich kann es riechen. Ist sie wieder vergiftet? »Ma, Ma … !«

»Alles in Ordnung.« Sie wischt sich mit einem Papiertuch, das Officer Oh ihr gegeben hat, den Mund ab.

»Sollen wir lieber … ?«, sagt Officer Oh.

»Nein«, sagt Ma und nimmt wieder meine Hand. »Komm.«

Wir gehen durch Türe rein, und alles ist falsch. Viel kleiner als Raum und leerer, und komisch riechen tut es auch. Boden ist ganz leer, das ist, weil Teppich nicht da ist, die ist ja in meinem Schrank im Selbstbestimmtes Wohnen, ich habe ganz vergesst, dass sie nicht zur selben Zeit auch hier sein kann. Bett ist da, aber keine Laken und kein Zudeck drauf. Stuhlschaukel ist da und Tisch und Becken und Wanne und Schränkchen, bloß ohne Teller und Besteck drauf, und Kommode und Fernseher und Häschen mit der roten Schleife dran und Regal, aber ohne was drauf, und unsere Stühle sind zusammengefaltet, die sehen ganz anders aus. Gar nichts davon spricht irgendwas mit mir. »Ich glaube nicht, dass wir hier richtig sind«, flüstere ich zu Ma.

»Doch, sind wir.«

Unsere Stimmen klingen gar nicht wie wir. »Ist er eingeschrumpft?«

»Nein, er war schon immer so.«

Der Spaghetti-Mobile ist weg und mein Tintenfisch-Bild auch und die Meisterwerke und die ganzen Spielsachen und Fort und Labyrinth. Ich gucke unter Tisch, aber kein Netz. »Er ist dunkler geworden.«

»Na ja, heute regnet es auch. Du könntest ja das Licht anschalten.« Ma zeigt auf Lampe.

Aber ich will ihn nicht berühren. Ich gehe näher ran und versuche alles zu sehen, wie es früher war. Ich finde meine Geburtstagszahlen neben Türe, ich stelle mich dagegen und tue meine Hand flach auf meinen Kopf, ich bin größer als die schwarze Fünf. Auf allem ist so ein dünnes Dunkel. »Ist das der Staub von unserer Haut?«, frage ich.

»Das Puder für die Fingerabdrücke«, sagt Officer Oh.

Ich bücke mich und gucke unter Bett, ob da Eierschlange so eingerollt liegt, als ob er schläft. Ich kann seine Zunge nicht sehen. Ich strecke ganz vorsichtig die Hand aus, bis ich spüre, wie die Nadel ein bisschen piekst.

Dann stelle ich mich wieder gerade hin. »Wo ist Pflanze gewesen?«

»Hast du das schon vergessen? Genau hier«, sagt Ma und tippt auf die Mitte von Kommode, und jetzt sehe ich auch den Kreis, der hat mehr Farbe als der Rest.

Auf der Laufbahn rund um Bett ist was. Das kleine Loch in Boden, wo wir unsere Füße unter Tisch geschubbert haben. Wahrscheinlich war das wirklich irgendwann mal Raum. »Jetzt aber nicht mehr«, sage ich Ma.

»Was?«

»Das ist nicht mehr unser Raum.«

»Findest du nicht?« Sie schnuppert. »Früher hat es hier sogar noch abgestandener gerochen. Jetzt steht ja auch die Tür auf.«

Vielleicht liegt es daran. »Vielleicht ist es ja gar nicht Raum, wenn Türe offen ist.«

Ma lächelt ein klitzekleines bisschen. »Willst du …« Sie räuspert sich. »Sollen wir die Tür noch mal für einen Augenblick zumachen?«

»Nein.«

»Okay. Ich muss jetzt hier raus.«

Ich gehe zu Bettwand und berühre ihn mit einem Finger, der Kork fühlt sich nach gar nichts an. »Geht › Gute Nacht ‹ auch am Tag?«

»Häh?«

»Können wir › Gute Nacht ‹ sagen, auch wenn es gar nicht Nacht ist?«

»Ich glaube, da würde man eher ›Mach’s gut‹ sagen.«

»Mach’s gut, Wand.« Danach sage ich das auch noch den anderen drei Wänden und dann: »Mach’s gut, Boden.« Ich tätschele Bett. »Mach’s gut, Bett.« Dann schiebe ich meine Hand unter Bett und sage: »Mach’s gut, Eierschlange.« In Schrank flüstere ich: »Mach’s gut, Schrank.« Da im Dunkel ist das Bild von mir, das Ma für meinen Geburtstag gemacht hat, ich sehe ganz klein aus. Ich winke sie zu mir und zeige drauf.

Ich küsse ihr Gesicht überall, wo Tränen sind, so schmeckt das Meer.

Ich reiße mein Bild ab und tu es in den Reißverschluss von meiner Jacke. Ma ist schon beinahe an Türe, ich gehe zu ihr hin. »Heb mich hoch.«

»Jack …«

»Bitte.«

Ma tut mich auf ihre Hüfte, ich strecke meine Arme aus.

»Noch höher.«

Sie packt mich um die Rippen und hält mich ganz hoch, und ich berühre den Anfang von Dach. »Mach’s gut, Dach.«

Ma stellt mich wieder hin, wumms.

»Mach’s gut, Raum.« Ich winke hoch zu Oberlicht. »Sag Auf Wiedersehen«, sage ich Ma. »Mach’s gut, Raum.«

Ma sagt es, aber auf stumm.

Ich gucke mich noch einmal um. Es ist wie ein Krater, ein Loch, wo mal was passiert ist. Dann gehen wir zu Türe raus.