Für Anna und Thomas, meine ganze Familie und all meine Freunde Prolog Eine Kette gewaltiger Berge bildete im äußersten Westen die Grenze des Großen Labyrinths. In sechzehntausend Fuß Höhe verschmolz das Gebirgsmassiv mit der Decke des Hauses, und da war kein Tal, keine Schlucht, keine Gletscherspalte, die auf die andere Seite geführt hätte. Denn hinter der mächtigen Barriere aus Stein und Eis war Nichts. Die Berge waren eine Mauer des Hauses, ein Damm und Bollwerk gegen seine zersetzende Wirkung und gegen die Angriffe von Nichtlingen – den Kreaturen, die dem Nichts entsprangen. Es existierte nur eine Stelle, an der die Nichtlinge ins Große Labyrinth gelangen konnten. Vor langer Zeit, als die Berge geschaffen wurden, war auch ein Tunnel gebaut worden, ein gewölbter Tunnel von sieben Meilen Länge, zwei Meilen Breite, der mit vier riesigen Toren verschlossen war. Das äußerste Tor auf Hausseite war zwei Fingerbreit mit Gold überzogen, welches das Metall darunter mit immateriellen Kräften versiegelte, die von Rohnichts oder Zauberei nicht leicht zu durchbrechen waren. Das nächste Tor, eine halbe Meile hinter dem ersten, bestand aus vergoldetem Silber; das dritte, wiederum eine halbe Meile entfernt, war aus Bronze. Das vierte und letzte Tor, dasjenige, welches ins Nichts hinausführte, wurde das Klartor genannt. Es war rein immateriell und völlig durchsichtig, bis auf ein Schimmern, das selbst unsterbliche Augen schmerzte. Dessen ungeachtet schauten die Bürger, die das Klartor bewachten, in einem fort hindurch auf das seltsame, sich ständig verändernde Gebiet dahinter, auf die flüchtige Region, wo einige Kräfte des Hauses sich noch immer formend auswirkten und ihr einen Anschein von Festigkeit verliehen. Dies war der Grenzstreifen, doch das Nichts war nie weit entfernt. Manchmal kam es bis fast ans Klartor heran, und manchmal lag es so weit weg, dass es nicht mehr zu sehen war. Der Zweck des Tunnels war, zu bestimmten Zeiten eine kontrollierte Anzahl von Nichtlingen ins Große Labyrinth zu schleusen, damit sie der Glorreichen Armee der Architektin, die dort stationiert war, als Kurzweil und zum Training dienten. Die Prozedur für solche Einlasse war immer dieselbe. Wenn eine kleine Anzahl Nichtlinge – nur ein- oder zweitausend – benötigt wurde, öffnete man das Klartor nur so lange, um diese Menge passieren zu lassen. Dann wurde es geschlossen, und die Nichtlinge wurden durch das Bronzetor gelassen, welches wiederum hinter ihnen verriegelt wurde. Der Vorgang wiederholte sich beim Silbertor und schließlich beim Goldtor, durch das die Nichtlinge dann ins eigentliche Haus gelangten. Es war ein eherner Grundsatz, dass niemals alle vier Tore gleichzeitig geöffnet sein durften, und nur zweimal in der gesamten Geschichte des Hauses waren drei Tore zur selben Zeit entriegelt worden, um mehr als hunderttausend Nichtlinge einzulassen. Die Tore wurden mittels riesiger Räderwerke geöffnet und geschlossen, die von unterirdischen Flüssen getrieben wurden. Sie konnten jeweils mit einem einzigen Hebel bedient werden, und alle vier Hebel befanden sich im Schaltraum der Grenzfeste, die oberhalb des Tunnels in den Berg gebaut war. Zur Feste gelangte man über eine Reihe von Rampen, die in Serpentinen den Berghang hinaufführten und mit Bastionen und Vorschanzen versehen waren. Die Grenzfeste wurde entweder von einer Abteilung der Legion, der Horde, des Regiments oder der Mäßig Ehrenwerten Artillerie-Kompanie verteidigt. Die Wachablösung fand einmal pro Jahrhundert nach Hauszeit statt. Gegenwärtig, gut zehntausend Jahre nach dem Verschwinden der Architektin, lag eine Kohorte der Legion in der Grenzfeste in Garnison. Sie stand unter dem Kommando von Oberst Trabizond Nage, 13338ster der Rangordnung im Haus. Oberst Nage hielt sich in seinem Büro auf und zog gerade den silbernen Zeremonienkürass und den gefiederten Helm seines Ranges an, als eine Ordonnanz an die Tür klopfte. »Was gibt es?«, fragte Nage. Er war nicht ganz bei der Sache, denn noch in dieser Stunde würde er die Öffnung des Klartors befehlen und bis zu zehntausend Nichtlinge durchschleusen – die beschlossene Feindmenge für den 108217sten Feldzug der Armee. »Besuch vom GHQ, Sir!«, erwiderte die Ordonnanz schneidig. »Und Leutnant Krähe will eine dringende Meldung machen.« Nage runzelte die Stirn. Wie alle höheren Bürger war er sehr groß und sah sehr gut aus, und das Stirnrunzeln veränderte seine Gesichtszüge kaum. Er runzelte sie deshalb, weil er keine Nachricht über einen Besucher aus dem Großen Hauptquartier der Armee erhalten hatte, und auch keiner seiner alten Freunde oder seiner alten Kameraden dort hatte ihm eine Warnung zukommen lassen. Der Oberst zog den Kinnriemen fest und ergriff sein Exemplar der Ephemeride des 108217sten Feldzuges. Es war magisch auf seine Hände abgestimmt und würde explodieren, wenn jemand anders es auch nur berührte, weshalb sein Name auch in drei Zoll hohen Großbuchstaben auf den roten Ledereinband geprägt war. Die Ephemeride listete nicht nur auf, wann und in welcher Reihenfolge die Tore geöffnet werden mussten, sie war auch das Handbuch für die Bewegung der einzelnen Platten des Großen Labyrinths. Abgesehen von ein paar festen Plätzen stand das Große Labyrinth auf einem Gitternetz mit einer Million beweglicher Platten von der Größe einer Quadratmeile. Sämtliche Platten schoben sich bei Sonnenuntergang an eine neue Position und folgten dabei einem Plan, der von Sir Donnerstag ein Jahr oder mehr im Voraus festgelegt wurde. Um im Großen Labyrinth irgendwohin zu gelangen, musste man wissen, wohin die meilengroße Platte, auf der man sich befand, wanderte – beziehungsweise wohin sie nicht wanderte. Die Ephemeride enthielt auch Wissenswertes über Terrain und andere Besonderheiten der einzelnen Platten, zum Beispiel wo man Wasser und Nahrungsvorräte oder Munition und spezielle Informationen finden konnte. Nachdem er die Ephemeride in einer Beuteltasche an der Vorderseite seines langen Lederuniformrockes verstaut hatte, nahm Oberst Nage sein Barbarenschwert und schob es in die bronzene Scheide an seiner Hüfte. Es war eine Militärwaffe, eine der Standardwaffen der Legion und einem römischen Gladius der Welt Erde in den Sekundären Reichen nachempfunden, stammte aber aus den Werkstätten des Grimmigen Dienstags. Die Klinge war geronnenes Sternenlicht, das Heft gravitationsgehärteter Bernstein. Ein Körnchen bezaubertes Nichts, im Knauf eingeschlossen, verlieh dem Schwert einige nützliche Fähigkeiten, unter anderem seine rotierende Klinge. Nage öffnete die Tür und rief der Ordonnanz zu: »Lass den Besucher eintreten. Krähe werde ich in ein oder zwei Minuten empfangen.« Bei dem Besucher handelte es sich um einen Stabsoffizier, der die Paradeuniform der Zitadelle trug. Diese war der Sitz von Sir Donnerstags Großem Hauptquartier (oder GHQ) und einer der Bereiche des Großen Labyrinths, der nicht wanderte. Sein roter Uniformrock mit den vergoldeten Knöpfen und der schwarz lackierte Hut auf seinem Kopf waren der Ära des neunzehnten Jahrhunderts der Erde abgeguckt, jenem Lieblingsreich der Bürger des Hauses, das ihnen so viele Anregungen zum Nachahmen lieferte. Der Neuankömmling trug ein kurzes, biegsames Offiziersstöckchen unter der linken Achselhöhle, das wahrscheinlich irgendeine verzauberte Waffe war. »Hallo, Oberst«, begrüßte er Nage. Er nahm Haltung an und salutierte ausgesprochen elegant; Nage antwortete mit einem klirrenden Schlag der rechten Armschiene gegen seinen Kürass, die Panzerplatte, die seine Brust beschützte. »Ich bin Major Pravuil. Führe Eilbotschaft vom GHQ mit mir. Abänderung Eurer Ephemeride.« »Abänderung? Das hat es noch nie gegeben!« »Planänderung für den Feldzug«, erklärte Pravuil gelassen. »Sir Donnerstag will die Burschen diesmal richtig prüfen. Voilà. Wenn Ihr bitte rechts unten unterschreiben möchtet, Sir, und dann das Blatt auf Eure Ephemeride legen würdet.« Nage unterzeichnete das Papier rasch, nahm seine Ephemeride heraus und legte es sorgfältig darauf ab. Einen Moment lang geschah nichts, dann erzitterte es, als ob eine Brise durch den Raum geweht sei. Während die beiden Bürger zusahen, versank die Seite im Buch und verschwand durch den Einband wie Wasser in einem Schwamm. Nach kurzem Warten schlug Nage die Ephemeride beim aktuellen Tag auf. Er las zweimal, was dort stand, und sein Stirnrunzeln kehrte zurück. »Aber was ist das? Alle vier Tore öffnen? Das widerspricht den Dauerbefehlen!« »Die durch direkte Instruktion Sir Donnerstags aufgehoben werden.« »Ich habe aber keine volle Garnison hier, müsst Ihr wissen«, gab Nage zu bedenken. »Wir sind unterbesetzt. Mir steht nur eine Kohorte der Legion und eine Truppe Grenzer zur Verfügung. Wenn die Feste nun attackiert wird, während die Tore noch geöffnet sind?« »Ihr werdet sie verteidigen«, meinte Pravuil. »Es wird nichts weiter als der übliche Nichtlingspöbel sein. Nur mehr als gewöhnlich.« »Aber darum geht es ja«, argumentierte Nage. »Die Grenzer haben berichtet, dass merkwürdige Dinge in der flüchtigen Region vor sich gehen. In den letzten paar Monaten hat es dort eine solide Landschaft gegeben, und man kann sogar das Nichts vom Klartor aus nicht mehr sehen. Laut dem jüngsten Bericht marschieren von irgendwoher Kolonnen von Nichtlingen in diese Gegend. Organisierte Nichtlinge.« »Organisierte Nichtlinge?«, schnaubte Pravuil verächtlich. »Die Nichtlinge sind gar nicht fähig, sich zu organisieren. Sie tauchen aus dem Nichts auf, sie kämpfen stumpfsinnig – auch gegeneinander, wenn sie nicht ins eigentliche Haus kommen können – und gehen zurück ins Nichts, wenn wir sie töten. So war es schon immer, und so wird es immer sein.« »Bei allem Respekt, Major, aber so ist es im Moment eben nicht«, schaltete sich eine neue Stimme ins Gespräch ein. Ein Bürger im sandfarbenen Uniformrock eines Grenzers stand an der Tür stramm, den Langbogen auf den Rücken geschnallt. An Gesicht und Händen trug er die Narben alter Wunden, die ihm die Nichtlinge zugefügt hatten, was typisch für jene Bürger war, die in den Regionen patrouillierten, wo das Haus ans Nichts angrenzte, nicht nur im Großen Labyrinth, sondern auch in anderen Gebieten. »Darf ich meine Meldung machen, Oberst?« »Jawohl, tut das, Krähe«, erteilte Nage seine Zustimmung. Er griff unter seinen Kürass und förderte eine Taschenuhr zu Tage, die er mit einer Hand aufschnappen ließ. »Wir haben noch vierzig Minuten.« Krähe stand weiterhin stramm und sprach zu einem Punkt knapp oberhalb von Nages Kopf, als ob dort eine unsichtbare Zuhörerschaft säße. »Am siebzehnten dieses Monats verließ ich das Haus durch die Ausfallpforte des Klartors mit vier Feldwebeln und sechs gewöhnlichen Grenzern. Die Sichter zeigten für die Gegend ein sehr niedriges Niveau an freiem Nichts an, und das eigentliche Nichts lag in mindestens vierzehn Meilen Entfernung, gemessen bei Vakanzuntergang. Wir konnten sie nicht sehen, auch sonst nicht viel, denn unmittelbar vor dem Klartor war alles von einem äußerst ungewöhnlichen Dunstschleier eingehüllt. Wir marschierten direkt hinein und stellten fest, dass er durch unbekannte Mittel erzeugt wurde, die vermutlich zauberischer Natur waren. Er quoll aus bronzenen Schloten hervor, die auf eine Meile verteilt gegenüber dem Klartor standen. Als wir weiter durch den Nebel vordrangen, entdeckten wir, dass sich eine riesige, grasbewachsene Ebene aus dem Nichts geformt hatte, durch die ganz in der Nähe ein breiter Fluss strömte. Auf der anderen Seite des Flusses standen Tausende von Zelten, alle von einheitlicher Farbe und in Hunderterreihen angeordnet; am Kopf jeder Reihe war ein Banner in den Boden gepflanzt. Das war etwas völlig anderes als das normale, primitive Nichtlingscamp, zumal jenseits der Zelte ein Truppenübungsplatz mit festgetrampeltem Untergrund lag, auf dem eine Streitmacht von schätzungsweise zwei- bis dreihunderttausend Nichtlingen in Gefechtsformation exerzierte. Exerzierte, Sir! Wir gingen näher heran, und durch mein Perspektiv konnte ich erkennen, dass die Nichtlinge nicht nur Uniformen trugen, sondern auch mit bemerkenswert regelmäßigen körperlichen Attributen ausgestattet waren und nur kleinere Unregelmäßigkeiten der Gestalt aufwiesen, etwa das ein oder andere Tentakel oder einen verlängerten Kiefer. In diesem Augenblick löste eine Nichtlingwache, die im Gras verborgen gewesen war, Alarm aus. Ich muss zugeben, dass wir sowohl von der Anwesenheit einer Wache als auch von der schnellen Reaktion auf deren Warnruf überrascht wurden; eine versteckte Streitmacht tauchte sofort an den Flussufern auf. Wir wurden bis ans Klartor verfolgt, und es gelang uns nur um Haaresbreite, wieder durch die Ausfallpforte zu kommen, ohne Verluste zu erleiden. Ende der Meldung, Sir!« Nage starrte ihn an, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Schließlich blinzelte er ein paarmal und fand die Sprache wieder. »Das ist äußerst beunruhigend! Und die Sachlage ändert sich dadurch offensichtlich. Wir können nicht alle vier Tore öffnen, wenn ein solches Heer von Nichtlingen angriffsbereit davorliegt!« »Beabsichtigt Ihr, direkte Befehle von Sir Donnerstag zu missachten?«, erkundigte sich Pravuil lässig. Er ließ sein Offiziersstöckchen auf der Innenseite der linken Hand auftippen; kleine, violette Funken krochen aus dem Stab und verteilten sich über seine Finger. »Ihr solltet wissen, dass ich Euch in diesem Falle Eures Kommandos entheben muss.« »Nein … nein«, stammelte Nage. Er sah auf seine Uhr. »Uns bleibt immer noch Zeit. Ich werde General Lepter rufen.« Der Oberst zog sich hinter seinen Schreibtisch zurück und öffnete eine Schublade. Darin befanden sich ein halbes Dutzend kleiner Bleifiguren, Modellsoldaten, denen je eine andere Uniform der Armee der Architektin aufgemalt war. Nage wählte eine Figur aus, die den langfiedrigen Helm und den vergoldeten Kürass einer Legatin der Legion trug, welche in den anderen Befehlsbereichen der Glorreichen Armee dem Rang eines Generals gleichkam. Diese Modellsoldatin stellte Nage in einen kleinen Elfenbeinständer, der wie ein ausgetrocknetes Tintenfass aussah. Sobald die Figur den Ständer berührte, verschwamm sie für einen Moment und wurde zu einem winzigen Duplikat der wirklichen, lebendigen und atmenden Legatin. Sie sah zu Nage hoch und sprach mit so scharfer, durchdringender Stimme, als ob sie in Lebensgröße und nicht nur als vier Zoll hohes Wesen im Zimmer stünde. »Was gibt es, Nage?« Nage schlug mit der Armschiene scheppernd auf seinen Kürass, bevor er antwortete. »Ich habe eine Abänderung meiner Ephemeride vom GHQ erhalten; Major Pravuil hat sie mir zugestellt. Sie sieht vor, dass alle vier Tore zwölf Stunden lang geöffnet werden. Wir haben jedoch eine organisierte Streitmacht disziplinierter Nichtlinge gesichtet, die in der flüchtigen Region wartet. Sie hat eine Stärke von mindestens zweihunderttausend.« »Und Eure Frage lautet?« »Ich möchte völlig sicher sein, dass die Abänderung meiner Ephemeride authentisch ist und nicht ein außergewöhnlicher Nichtlingstrick.« »Major Pravuil ist mir bekannt«, sagte Lepter. »Er gehört zu einer Gruppe von Offizieren, die Abänderungen zu den Ephemeriden-Offizieren bringen. Sir Donnerstag wünscht, die Armee in einer Weise zu prüfen, wie es seit Jahrtausenden nicht mehr getan worden ist.« »In diesem Fall ersuche ich dringlichst um Verstärkung«, erklärte Nage. »Ich bin nicht überzeugt, die Feste mit dieser unterbesetzten Garnison halten zu können, wenn die Nichtlingsstreitmacht einen Angriff versucht.« »Macht Euch nicht lächerlich, Nage«, erwiderte Lepter. »Diese Nichtlinge mögen organisiert aussehen, aber sobald sie durch den Tunnel sind, werden sie undiszipliniert. Vorige Nacht sind ein Dutzend Platten mit reichem Wildbestand vor das Goldtor geschoben worden. Die Nichtlinge werden jagen gehen, wie sie es immer tun, und die Platten werden sie bei Einbruch der Nacht fortschaffen und ihre Kräfte spalten. Tektonische Strategie, Nage! Ich werde später mit Euch sprechen.« Die kleine Legatin erstarrte wieder zur Bleifigur. Nage nahm sie aus dem Ständer und legte sie zurück in die Schublade. »Die Angelegenheit scheint unkompliziert zu sein, Oberst«, ergriff Pravuil das Wort. »Solltet Ihr nicht lieber Eure Befehle erteilen, um die Öffnung aller vier Tore in die Wege zu leiten?« Nage ignorierte ihn. Er ging zu einer schmalen Nussbaumvitrine an der Wand, öffnete die Glastür und zog ein Fach heraus, auf dem ein Telefon thronte. Er hob die Hörmuschel ab und sprach ins Mundstück. »Eine Verbindung mit Donnerstags Mittag. Dringende Militärangelegenheit.« Ein knisterndes Flüstern kam aus dem Telefon. »Oberst Nage von der Grenzfeste.« Wieder ein knisterndes Flüstern, dann schallte eine donnernde Stimme durch den Raum. »Marschall Mittag hier! Nage, seid Ihr das? Was gibt’s denn?« Nage wiederholte schnell, was er zu General Lepter gesagt hatte. Bevor er zu Ende sprechen konnte, fiel ihm Mittag schneidend ins Wort. »Ihr habt Eure Befehle, Nage! Befolgt sie und umgeht nicht noch einmal die Befehlskette! Gebt mir Pravuil!« Nage trat zurück und ließ die Hörmuschel herunterhängen. Pravuil schlüpfte an ihm vorbei und nahm sie auf. Diesmal war Mittags Stimme nicht im Zimmer zu hören. Er sprach eine Minute lang leise zu Pravuil; Pravuil flüsterte eine Antwort, dann gab es ein sehr lautes Knacken, als der Major auflegte. »Ich muss unverzüglich zur Zitadelle zurück«, erklärte Pravuil. »Ihr seid bereit, Eure Befehle auszuführen, Oberst?« »Jawohl«, bestätigte Nage. Er sah erneut auf die Uhr. »Die Nichtlinge werden nicht lange brauchen, um durch den Tunnel zu kommen, Major. Ihr werdet ein Zusammentreffen vielleicht nicht vermeiden können.« »Zwei Pferde stehen für mich bereit«, antwortete Pravuil. Er klopfte auf die Ephemeride, die er in einem Segeltuchbeutel an der Hüfte verstaut hatte. »Und sechs Meilen weiter ist eine Platte, mit der ich bei Einbruch der Abenddämmerung die Hälfte der Strecke bis zur Zitadelle zurücklegen werde.« »Dann geht jetzt«, sagte Nage und gab sich keine Mühe, seine Verachtung für einen Offizier zu verbergen, der einer dicht bevorstehenden Schlacht aus dem Weg ging. Er wartete, bis Pravuil sein Büro verlassen hatte, dann bellte er Leutnant Krähe und der Ordonnanz, die den Raum wieder betreten hatte, eine Reihe von Befehlen zu. »Krähe! Sammelt Eure Männer und verlasst sofort die Feste! Ihr werdet den Feind stören und in Scharmützel verwickeln, sobald er das Goldtor passiert. Lockt sie auf diese wildreichen Platten, weg von der Feste. Habt Ihr Kommunikationsfiguren für irgendjemand außerhalb der Festung?« »Ich habe nur meinen unmittelbaren Vorgesetzten, Hauptmann Ferouk. Er ist in der Weißen Burg, nicht im GHQ.« Nage wühlte in seiner Schreibtischschublade und reichte ihm zwei Bleisoldaten, einen in leuchtend scharlachroter Uniform und einen in dezentem Blau. Die rote Figur trug einen hohen, mit Federn geschmückten Hut, die blaue eine flache Ledermütze. »Freunde von mir. Oberst Repton vom Regiment und Major Scaratt von der Artillerie. Beide sind im GHQ und können Euch vielleicht helfen, wenn die Dinge so schlecht laufen, wie ich befürchte. Nun setzt Euch in Marsch!« Krähe salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Sogleich trat die Ordonnanz vor. Sie trug eine Trompete bei sich, ein Bronzeinstrument, das mindestens vier Fuß lang war. »Blast Alarm«, sagte Nage. »Und Offiziersversammlung.« Der Soldat hob die Trompete an die Lippen und richtete sie auf die Wand. Seine Backen blähten sich auf, und er stieß in das Instrument, doch kein Ton entrang sich dem Schallstück. Stattdessen drang ein klarer Schall von außen ins Zimmer und hallte in allen Teilen der Feste, ganz gleich wie weit sie entfernt lagen. Der Trompeter blies zweimal zwei verschiedene Signale. Als der letzte Ton verklungen war, senkte er sein Instrument und nahm Habtachtstellung ein. »Wie lange dienen wir jetzt schon zusammen, Hopell?«, fragte Nage. »Achttausendvierhundertsechsundzwanzig Jahre, Sir«, antwortete Hopell. »Das ist die Zeit in der Legion, die Rekrutenschule nicht mitgerechnet.« »Wie viele aus unserer Rekrutenklasse leben noch?« »Alle bis auf sechs, glaube ich. Ropresh hat sich letzten Endes wieder von dieser Nichtswunde erholt, er zählt also nicht. Nur leichter Dienst natürlich, mit dem weggeschmolzenen Bein –« »Glaubt Ihr, dass wir ebenso gut kämpfen werden, wenn wir wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, den Tod zu finden, viel größer ist als sonst?« »Was meint Ihr damit, Sir?«, fragte Hopell. »Wir sind Legionäre der Glorreichen Armee des Hauses. Wir sind darauf vorbereitet zu sterben, wenn es sein muss.« »Sind wir das?« In Nages Stimme schwang wenig Zuversicht mit. »Wir sind darauf vorbereitet, verwundet zu werden, sicher, aber nur wenige sterben – und wir siegen immer. Ich fürchte, das wird sich bald ändern. Wenn die vier Tore sich öffnen, wird es eine Schlacht um die Feste geben, und zum ersten Mal werden wir gegen organisierte, disziplinierte Nichtlinge kämpfen. Gegen Nichtlinge, die offenbar von jemandem mit Verstand geführt werden.« »Wir sind Legionäre«, wiederholte Hopell unerschütterlich. »Wir werden bis zum Ende kämpfen.« »Ja«, meinte Nage, »das werden wir. Aber es wird vielleicht kein Ende sein, das uns gefällt.« Auf dem Gang hörte man die schweren Schritte von einem Dutzend Offizieren, die das Trompetensignal zum Oberst gerufen hatte. »Lasst meine Zweifel unerwähnt«, sagte Nage hastig. »Es war nur ein Moment der Unsicherheit, mehr nicht. Wir werden kämpfen und wir werden siegen. Die Nichtlinge werden vor der Feste untergehen und von unserer Glorreichen Armee sonst wo im Großen Labyrinth geschlagen werden.« »Jawohl, Sir!«, rief Hopell. Er salutierte, als die Offiziere in Nages Büro marschiert kamen. »Stellt Euch um mich«, forderte Nage sie auf. »Wir haben nicht viel Zeit, und wir müssen eine Verteidigung auf die Beine stellen. Ich habe den bestätigten Befehl, alle vier Tore zu öffnen – ja, alle vier Tore. Kurz darauf wird die Feste, wie ich erwarte, von mehreren Hunderttausend Nichtlingen organisiert angegriffen werden. Wir müssen zwölf Stunden standhalten, danach haben wir Order, die Tore wieder zu schließen. Ganz gleich was sonst noch geschieht und welche Verluste wir erleiden – der Schaltraum muss gehalten und die Tore müssen rechtzeitig geschlossen werden.« »So schlimm wird es sicher nicht werden, Sir«, ergriff ein Zenturio verhalten kichernd das Wort. Er war ein erst kürzlich eingetroffener Ersatz, der die letzten tausend Jahre im GHQ verbracht hatte. Sein Kürass war mit keiner Tapferkeitsmedaille behängt, protzte aber mit mehreren Sternen, die ihm für Effizienz im Umgang mit Papierkram im Haus verliehen worden waren. »Sobald sie aus dem Goldtor kommen, werden sie unter einer Flut von Energiespeeren und einem wahren Feuerregen die Rampen erklimmen und dann die Festungstore überwinden müssen … Wir werden sie mühelos aufhalten. Sie werden ohnehin nicht organisiert bleiben. Nichtlinge laufen immer unkontrolliert –« »Ich freue mich, dass Ihr so zuversichtlich seid, Zenturio«, unterbrach ihn Nage. »Dann habt Ihr die Ehre, den Verlorenen Haufen zu kommandieren, den ich an der Rampenbasis postieren werde.« Der Armschienenschlag, mit dem der Zenturio diesen Befehl entgegennahm, fiel nicht so schneidig aus, wie er hätte sein sollen; er war so leise, dass das Glockenspiel der Uhr des Obersts ihn übertönte. »Zwanzig Minuten noch. In den nächsten fünf werde ich meine Pläne umreißen; anschließend werdet Ihr zu Euren Einheiten zurückkehren. Ich selbst werde das Kommando vom Schaltraum aus übernehmen. Unser Schlachtruf wird lauten –« Der Oberst zögerte einen Moment, dann fuhr er fort: »Tod und die Legion!« Die versammelten Offiziere wiederholten seine Worte, dass die Teetassen auf dem Sideboard klirrten. »Tod und die Legion!« Kapitel Eins »Beeil dich!«, rief Arthur Penhaligon. »Wir müssen zum Vordereingang, bevor Dame Primus auftaucht und mir ausreden will, nach Hause zu gehen.« »Okay, okay«, grummelte Blatt. »Ich bin ja nur kurz stehen geblieben, um die Aussicht zu betrachten.« »Keine Zeit«, sagte Arthur. Er ging weiter den Türstopper-Hügel hinauf und bewegte sich so schnell, wie das mit dem Krabbenpanzer am Bein möglich war. Der Bruch war noch immer nicht vollständig verheilt. Blatt kam ihm nachgelaufen und warf einen letzten Blick über die Schulter. Sie waren sofort aus dem Aufzug gelaufen, der sie von Mittwochshafen an den überfluteten Ufern der Grenzsee nach unten … oder oben … oder quer hinüber … befördert hatte. Sie hatten keine Zeit gehabt, sich irgendetwas im Unteren Haus anzusehen. »Da ist der Vordereingang!« Arthur zeigte nach oben auf eine gewaltige, freistehende Tür auf der Hügelkuppe, die in zwei weißen Steinpfosten hing und ungefähr zehn Meter breit und fast fünfzehn Meter hoch war. »Das ist eine Tür?«, fragte Blatt. »Muss ein hartes Stück Arbeit sein, sie zu öffnen.« »Man braucht sie nicht zu öffnen«, erklärte Arthur. »Man geht einfach hinein. Aber schau nicht zu lange auf die Muster darauf.« »Warum nicht?« »Weil du sonst wahnsinnig wirst«, antwortete Arthur. »Oder dich nicht mehr loslösen kannst.« »Du weißt, dass ich jetzt einen Blick darauf werfen muss«, sagte Blatt. »Wenn du es nicht erwähnt hättest, hätte ich mich wahrscheinlich nicht darum gekümmert.« Arthur schüttelte den Kopf. »Von mir aus. Aber sieh nicht zu lange hin.« »Auf welche Seite gehen wir?«, wollte Blatt wissen, als sie nur noch ein paar Meter entfernt waren. »Und klopfen wir an?« »Die Seite spielt keine Rolle«, erklärte Arthur. Er versuchte, von den schmiedeeisernen Schnörkeln und Mustern auf der Tür wegzusehen, aber es gelang ihm nicht völlig. Schon nach einem Moment des Betrachtens erzitterten sie und begannen sich zu verändern; jedes Bild brannte sich in seinen Kopf ein, bevor es sich weiter verwandelte. Arthur schloss die Augen und griff blindlings nach Blatt, um sie wegzuzerren. Aber sie stand viel dichter bei ihm, als er gedacht hatte, und seine Finger landeten in ihrem Gesicht. »Autsch! Ah … danke!« Arthur drehte den Kopf von der Tür weg und machte die Augen wieder auf. »Ich schätze, ich bin der Tür auf den Leim gegangen«, meinte Blatt und rieb sich die Nase. Auch sie hielt jetzt die Augen abgewandt und sah zu der gewölbten Decke empor, deren Scheitelpunkt direkt über ihnen lag. Es war Nacht im Unteren Haus; das einzige Licht stammte von den seltsamen Wolken, die violett oder orange leuchtend unter der silbernen Kuppel trieben. Während Blatt nach oben sah, schoss ein Lichtstrahl herab, der den Weg eines Aufzuges aus einem anderen Teil des Hauses markierte. Zwei weitere Strahlen fuhren unmittelbar darauf nach unten. »Klopfen wir jetzt?«, fragte Blatt noch einmal. »Noch nicht«, erwiderte Arthur und schaute zu den verblassenden Spuren der Aufzugstrahlen hinüber. Ihm war unangenehm bewusst, dass sie wahrscheinlich Dame Primus und ihr Gefolge befördert hatten, die gekommen waren, um seinen Heimweg zu verhindern – es wunderte ihn sowieso, dass sie ihm nicht mit einer Transferplatte zuvorgekommen waren. »Wir warten zuerst auf den Leutnant Hüter der Vorderen Tür.« Dame Primus würde zumindest verlangen, dass er den Dritten Schlüssel daließ, der voraussichtlich gebraucht wurde, um die Grenzsee in Schach zu halten. Doch Arthur wollte sich nicht von der einzigen Waffe trennen, die er besaß. Er hatte mittlerweile akzeptiert, dass er sich den Morgigen Tagen stellen musste, dass es keine Option war, dem Konflikt auszuweichen. Sir Donnerstag, Lady Freitag, Erhabene Samstag und Lord Sonntag würden ihn nicht in Ruhe lassen. Sie würden sich mit zerstörerischen Folgen in seine oder eine beliebige andere Welt einmischen, sie würden wahllos verletzen und töten, sie würden tun, was immer ihnen nötig erschien, um ihre Schlüssel und ihre Macht über das Haus zu behalten. Der einzige Weg, die Morgigen Tage aufzuhalten, war, sie zu besiegen. Doch Arthur wollte den Kampf nach seinen Regeln führen und sich vorher vergewissern, dass es seiner Familie gut ging und zu Hause in seiner Welt alles in Ordnung war. Dann würde er ins Haus zurückkehren und unternehmen, was immer nötig war, um Teil Vier des Vermächtnisses von Sir Donnerstag zu befreien und den Vierten Schlüssel für sich zu beanspruchen. Sie warteten einige Minuten vor der Tür und betrachteten die Türme und Dächer der Stadt unter ihnen. Als Arthur sie zum ersten Mal gesehen hatte, war die Stadt in Nebel eingehüllt gewesen, aber heute war die Sicht ungetrübt; er konnte undeutlich einige Bürger ausmachen, die auf den Straßen unterwegs waren. Während er hinsah, kam eine große Gruppe aus einem der näher gelegenen Gebäude, lief einige Augenblicke planlos umher und schlug dann die Richtung auf die frisch gemähten Hänge des Türstopper-Hügels ein. »Vielleicht sollten wir doch klopfen«, sagte Arthur. »Da kommt Dame Primus mit der versammelten Mannschaft.« Er machte einen Schritt auf die Tür zu und klopfte, ohne hinzusehen, entschlossen auf ihre eigenartige Oberfläche. Sie fühlte sich nicht wie Holz oder Eisen an; genau genommen fühlte sie sich überhaupt nicht nach etwas Festem an. Sie gab nach wie Gelee, und Arthur spürte ein Kribbeln in den Fingerknöcheln, das durchs Handgelenk bis in den Ellbogen wanderte. Aber er hatte ein Klopfgeräusch hervorgerufen – einen hohlen, anhaltenden Ton, den Arthur im Inneren der Tür mit einigen Sekunden Verzögerung widerhallen hörte, so als habe dieser eine weite Strecke hinter sich gebracht. Dem Echo auf den Fersen folgte eine Stimme, die Arthur mittlerweile gut kannte. Die Sprechweise des Leutnant Hüters war tief und langsam und gemessen, doch diesmal klang sie merkwürdig entfernt. »Einen Moment, einen Moment. Es gibt Schwierigkeiten an der Kreuzung.« Arthur konnte Dame Primus jetzt deutlich erkennen; sie führte einen Haufen Bürger an und hatte den Fuß des Hügels bereits erreicht. Sie war auch schwerlich zu übersehen: Sie maß nahezu zwei Meter zwanzig und trug ein blassgrünes Kleid mit langer Schleppe, das bläulich schimmerte. Bei ihr waren Montags Mittag (der früher einmal Abenddämmerung gewesen war) und ein schwarz gewandeter Bürger, den er zuerst nicht erkannte, bis ihm klar wurde, dass es Montags Abenddämmerung war (der früher Mittag gewesen war). Ihnen folgte eine ganze Heerschar von Beamten, Portiersfeldwebeln, Mitternächtlichen Besuchern und anderen Bürgern. »Arthur!«, rief Dame Primus, während sie ihr Kleid raffte und den Hügel zu erklimmen begann. »Warte! Da gibt es etwas, was du wissen musst!« »Nun mach schon, mach schon!«, murmelte Arthur zur Tür. Er hatte wirklich keine Lust, mit Dame Primus zu diskutieren. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass sie auf deiner Seite sind«, meinte Blatt. »Wer ist die große Frau in den coolen Klamotten?« »Sie sind auf meiner Seite«, erwiderte Arthur. »Das ist Dame Primus. Sie ist das Vermächtnis. Jedenfalls die ersten beiden Teile. Inzwischen wahrscheinlich drei Teile, denn der Karpfen wird sich ihr angeschlossen haben. Das würde auch das grüne Kleid erklären. Und sie ist größer geworden, und ihre Augen sind irgendwie glupschig –« »Arthur! Du solltest nicht hier sein!« Arthur fuhr erschrocken herum. Der Leutnant Hüter war aus dem Vordereingang getreten. Er wirkte nicht so ruhig und gesammelt wie sonst. Sein langes, weißes Haar war ein einziges Durcheinander, sein blauer Frack war mit Schmutz und einem dunkleren Blau befleckt, das Bürgerblut sein konnte. Statt seinen üblichen, glänzenden, bis zu den Knien reichenden Stiefeln trug er klitschnasse, hüfthohe Wasserstiefel. Er hielt das blanke Schwert in der Hand, und die Klinge schimmerte in einem eisigen, blassblauen Licht, das Arthur in den Augen wehtat und Blatt zum Wegsehen zwang. »Ich sollte nicht hier sein?«, empörte sich Arthur. »Ich will ja auch gar nicht hier sein! Blatt und ich müssen schnellstens nach Hause!« Der Leutnant Hüter schüttelte den Kopf und steckte sein Schwert in eine Scheide, die aus der Luft auftauchte. »Du kannst nicht in deine Welt zurückkehren, Arthur.« »Was?!« »Du bist bereits dort. Oder vielmehr, eine Kopie von dir ist dort. Ein Geistfresser. Ich habe mich schon gewundert, als ich dich so schnell, ohne einen Gruß, durch die Tür gehen spürte. Aber wer immer den Hastorkra geschickt hat, hat dessen Überquerung sorgfältig geplant, denn ich war abgelenkt, sowohl durch einen plötzlichen Zufluss aus der Grenzsee als auch durch mehrere ungesetzliche Öffnungen.« »Ich verstehe nicht«, sagte Arthur. »Eine Kopie von mir ist zu Hause in meiner Welt? Wie haben Sie ihn genannt?« »Einen Hastorkra, auch Geistfresser.« »Das hört sich nicht gut an«, stellte Blatt fest. »Was macht so ein Ding?« »Ich kann nicht bleiben, um zu plaudern«, entgegnete der Leutnant Hüter. »Es sind noch mehr ungesetzliche Reisende innerhalb der Tür. Viel Glück, Arthur!« Bevor Arthur protestieren konnte, hatte der Bürger sich weggedreht und war in der Tür verschwunden; Arthur sah ihn nur noch das Schwert ziehen. Dessen Umrisse wurden von den schmiedeeisernen Verzierungen nachgebildet, dann lösten sie sich in einem komplexen Flechtwerk von Kletterrosen auf. Arthur zerrte an Blatts Arm, die schon wieder von den Mustern der Tür in den Bann gezogen wurde. »Hoppla! Tut mir leid, Arthur. Schätze, du wirst jetzt mit der großen, langen, grünen Frau sprechen müssen.« »Schätze ich auch«, erwiderte Arthur grimmig. »Und das sollte besser kein Trick sein, den sie sich ausgedacht hat, um mich hier zu behalten.« Er drehte sich zu Dame Primus um, und stieß mit jemandem zusammen, der direkt vor ihm materialisierte und von einer feinen, gelbweiß gemusterten Porzellanplatte trat. Er stürzte mit dem Neuankömmling zu Boden und schlug instinktiv um sich, bis er erkannte, dass es seine Freundin Susi war. »Autsch! Pass doch auf!« »Entschuldigung«, sagte Arthur. »Bin so schnell gekommen, wie ich konnte.« Susi stand scheppernd auf und enthüllte damit, dass die Taschen ihres langen, schmutzigen Mantels mit gelbweißen Transferplatten vollgestopft waren. »Ich habe alle Transferplatten zum Türstopper-Hügel geklaut, aber die alte Primel ist auf dem Weg, du solltest also am besten schnell durch –« Arthur zeigte schweigend den Hügel hinunter. Susi warf einen Blick über die Schulter. Dame Primus und ihr Gefolge waren nur noch ein Stückchen entfernt; das Vermächtnis in Damengestalt warf Susi finstere Blicke zu. »Dame Primus!«, rief Arthur, bevor sie Susi tadeln oder ihr eine Standpauke halten konnte. »Ich will nur rasch auf einen kurzen Besuch nach Hause, dann komme ich sofort wieder zurück. Aber da scheint es ein Problem zu geben.« Dame Primus blieb vor Arthur stehen und machte einen Knicks. Als sie sprach, hörte sie sich anfangs wie eine normale Frau an. Dann wurde ihre Stimme tief und rau, und auch etwas von dem selbstzufrieden dröhnenden Tonfall des Karpfens schwang darin mit. »Es gibt in der Tat ein Problem. Es gibt viele Probleme. Ich muss dich bitten, Lord Arthur, mit uns zu Montags Tagraum zurückzukommen. Wir müssen Kriegsrat halten.« »Das ist doch nicht irgendein Trick, oder?«, fragte Arthur misstrauisch. »Sie haben nicht zufällig selbst eine Kopie von mir zu Hause abgesetzt?« Dame Primus sog schockiert die Luft ein. »Niemals! Solch einen Geistfresser zu erschaffen ist strengstens verboten! Und davon abgesehen besitze ich weder das Wissen noch das handwerkliche Geschick dazu. Das ist eindeutig der neueste Schachzug der Morgigen Tage gegen dich, Arthur, und gegen uns. Eine von mehreren Aktionen, die wir dringend besprechen müssen.« Arthur ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. »Kann ich dann mit den Sieben Zifferblättern nach Hause zurück?« Er war schon einmal in seine Welt heimgekehrt, indem er in diesem seltsamen Raum die Zauberei der Standuhren benutzt hatte. Denn dort befand sich das andere Hauptportal für Bürger, die das Untere Haus verlassen und in die Sekundären Reiche gelangen wollten. »Nein«, entgegnete Dame Primus. »So wie ich es sehe, hat der Geistfresser durch Zauberei den Platz eingenommen, den du in deiner Sekundären Welt haben solltest. Wenn du ebenfalls zurückkehrst, würde deine Interaktion mit diesem Nichtling eine Nichtseruption auslösen, die dich wahrscheinlich vernichten würde. Und deine Welt vermutlich auch.« »Dann ist dieser Geistfresser also eine Art Antimaterie-Arthur?«, fragte Blatt. Dame Primus neigte den Kopf und sah Blatt an. Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Ich glaube nicht, dass wir einander bereits vorgestellt wurden, junge Dame.« »Das ist meine Freundin Blatt«, sagte Arthur. »Blatt, Dame Primus.« Blatt nickte widerstrebend. Dame Primus senkte das Kinn um einen halben Zentimeter. »Was wird dieser Geistfresser tun?«, wollte Arthur wissen. »Außer mich daran zu hindern, nach Hause zurückzukehren?« »Hier ist nicht der rechte Ort, um solche Dinge zu bereden«, wich Dame Primus aus. »Wir sollten zu Montags Tagraum zurückgehen.« »In Ordnung«, meinte Arthur. Er sah noch einmal auf den Vordereingang, dann wandte er den Blick wieder ab. »Dann lasst uns gehen.« »Moment mal!«, widersprach Blatt. »Was ist mit mir? Ich will nach Hause. Nichts gegen dich, Arthur, aber ich brauche etwas Zeit daheim, um … ich weiß nicht … einfach normal zu sein.« »Blatt darf doch nach Hause, nicht wahr?«, fragte Arthur matt. »Sie darf und sie sollte nach Hause zurück«, bekräftigte Dame Primus. »Aber am besten mit Hilfe der Sieben Zifferblätter. Der Leutnant Hüter hält die Tür verschlossen, bis er sich um die Eindringlinge gekümmert hat. Kommt, lasst uns alle zu Montags Tagraum gehen. Damit bist auch du gemeint, Susi. Ich hoffe, du hast keine von diesen Platten zerbrochen.« Susi murmelte etwas von ein paar unbedeutenden Sprüngen und angeschlagenen Stellen, aber nicht so laut, dass Dame Primus es gehört hätte. Während sie den Türstopper-Hügel hinabstiegen, bemerkte Arthur, dass sie von einem Kordon Metallportiers und Portiersfeldwebeln umringt waren, die teils vom Boden aus, teils in der Luft Ausschau hielten. Außerdem flogen Mitternächtliche Besucher – die schwarz gekleideten Diener von Montags Abenddämmerung – über ihnen her. Die langen Peitschen baumelten von ihren Hüften herab. Auch sie schauten ununterbrochen in alle Richtungen. »Wonach suchen sie?«, fragte Arthur Dame Primus. »Assassinen«, erwiderte sie knapp. »Eine der besagten Entwicklungen. Der ehemalige Herr Montag und der frühere Grimmige Dienstag sind ermordet worden – durch Zauberei.« Kapitel Zwei »Ermordet durch Zauberei?«, vergewisserte sich Arthur, während sie in den Aufzug eilten. Er wollte sichergehen, dass er richtig gehört hatte, denn es war sehr schwer, einen Bürger umzubringen. »Sie meinen getötet? Sie sind richtig tot?« Dame Primus gab Montags Mittag ein Zeichen, der sich daraufhin an Arthurs Seite begab und ihn mit einer ziemlich knapp und ungelenk ausfallenden Verbeugung bedachte. Sie standen in einem sehr großen Aufzug, einem Würfel von vielleicht zwanzig Meter Seitenlänge, aber darin wäre kaum Platz für eine weitere Person gewesen. Eine Vielzahl von Wachen, Schreibern und Gefolgsleuten drängten sich bereits eng zusammen, und in einer Ecke saß ein Streichquartett und spielte eine leise Melodie, die Arthur bekannt vorkam. »Richtig tot«, bestätigte Montags Mittag, wobei seine silberne Zunge aufblitzte. Abgesehen von dieser Zunge hatte er sich nicht sehr verändert, seit Arthur ihn zum Mittag befördert hatte. Er trug zwar nicht mehr Schwarz, schien aber in seiner Rede und den gemessenen Bewegungen immer noch das sanfte, schwindende Licht des Abends zu verkörpern. »Dem früheren Herrn Montag wurden Kopf und Herz von einer verzauberten Klinge durchbohrt, und man hat ihn nicht schnell genug gefunden, um den Schaden beheben zu können. Der frühere Grimmige Dienstag wurde von ganz oben in die Grube gestoßen oder geworfen.« »Sind Sie sicher, dass er tot ist? Ich meine, wirklich sicher?«, fragte Arthur. Es fiel ihm schwer, diese Neuigkeit zu akzeptieren. »Hat man seine Leiche gefunden?« »Teile davon«, sagte Mittag. »Er ist in einem Nichtspfuhl gelandet. Mehr als zwanzig Handwerker, die dabei waren, die Grube aufzufüllen, beobachteten den Aufprall. Es ist anzunehmen, dass auch er mit irgendeiner Zauberei angegriffen wurde, sodass er weder schreien noch einen Rettungsversuch unternehmen konnte.« »Weiß man, wer die beiden umgebracht hat?« »Wir wissen es nicht«, schaltete sich Dame Primus ein. »Wir können nur vermuten, dass die Täter etwas über die Morgigen Tage und deren Pläne gewusst haben, etwas, was die Morgigen Tage vor uns geheim gehalten haben. Es ist allerdings verwirrend, dass sie die zwei ehemaligen Treuhänder gerade jetzt beseitigt haben, wo ich sie doch bereits ausführlich verhört habe, ohne etwas Bemerkenswertes in Erfahrung zu bringen. Möglicherweise handelt es sich um einen Versuch, ein paar sehr beunruhigende Neuigkeiten zu verschleiern, die aus anderen Quellen ans Licht gekommen sind. Wir werden das in unserer Ratsversammlung besprechen.« »Ich will mehr über den Geistfresser erfahren«, sagte Arthur besorgt. »Ich meine, er hindert mich daran, nach Hause zu gehen, aber was wird er sonst noch tun? Wird er meiner Familie etwas antun?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete Dame Primus. »Wir … das heißt, ich bin an sich kein Hauszauberer. Ich habe den von dir zu Mittwochs Abenddämmerung ernannten Doktor Scamandros zum Tagraum bestellt, damit er uns etwas über Geistfresser erzählt. Es sieht so aus, als wäre er im Moment der einzige im Oberen Haus ausgebildete Zauberer, den man im Unteren Haus, den fernen Weiten oder der Grenzsee finden kann.« Ein Glöckchen bimmelte, und die Saiten des Streichquartetts kamen zitternd zur Ruhe. Doch die Aufzugstür blieb geschlossen. »Sichert den Tagraum«, wies Dame Primus Mittag an. Er verbeugte sich und berührte die Tür, die sich gerade so weit öffnete, dass er ein Dutzend Portiersfeldwebel und gewöhnliche Feldwebel hinausführen konnte. Ein weiteres Dutzend blieb um Arthur, Blatt, Susi und Dame Primus postiert. »Wir müssen wachsam sein«, erklärte Letztere. »Wir dürfen nicht zulassen, dass du ermordet wirst, Arthur.« »Ich?« Arthur legte die Hand auf den kleinen Dreizack, der in seinem Gürtel steckte. »Sollte der Dritte Schlüssel mich nicht vor Unheil bewahren?« »Das sollte er«, stimmte Dame Primus ihm zu. »Aber was die zwei ehemaligen Treuhänder getötet hat, war Hauszauberei von sehr hohem Rang. Insbesondere Grimmiger Dienstag war, wenngleich er seine Macht großenteils verloren hatte, sicherlich nicht leicht zu überwältigen. Vielleicht sind der oder die Assassinen in der Lage, den Schutz des Schlüssels zu umgehen oder zu neutralisieren. Und ihr Sterbliche seid ohnehin äußerst zerbrechlich.« »Zerbrechlich.« Arthur dachte unwillkürlich an Eierschalen, und sogleich erschien vor seinem geistigen Auge das schreckliche Bild des eigenen Kopfes, der Sprünge bekam wie ein aufgeschlagenes Ei, nachdem sich ein zaubernder Assassine von hinten an ihn herangeschlichen hatte.- Unter Aufbietung all seiner Willenskraft drängte Arthur die grausige Vorstellung beiseite, aber er konnte nicht anders, als einen Blick über die Schulter zu werfen. Dort sah er nur seine eigenen Wachen; dennoch schlug die Angst ihm auf den Magen. Nach außen hin nahm er die Sache auf die leichte Schulter. »Großartig«, sagte er. »Die Dinge entwickeln sich immer besser, nicht wahr?« »Es gibt noch mehr zu fürchten«, sagte Dame Primus. »Wir werden bald darüber reden.« »Alles sauber«, meldete Mittag von draußen, und die Aufzugstür glitt geräuschlos auf und enthüllte die Empfangshalle von Montags Tagraum. Baulich sah sie fast genauso aus wie bei Arthurs vorigem Besuch, nachdem sich die dampfenden Schlammlöcher und Eisenplattformen in altmodische Zimmer verwandelt hatten, die ihn an ein Museum erinnerten. Aber es gab einen großen Unterschied: Jetzt stapelten sich entlang der Wände vom Boden bis zur Decke Tausende von Papierbündeln, die von roten Bändern zusammengehalten wurden. Etwa alle drei Meter war zwischen den Stapeln eine Lücke gelassen, in der ein Portiersfeldwebel strammstand. »Was hat es mit dem ganzen Papier auf sich?«, wollte Blatt wissen, während sie die Halle durchquerten. Niemand antwortete, bis Arthur die Frage noch einmal stellte. »Das Mittlere und das Obere Haus bombardieren uns mit Verwaltungskram«, erklärte Dame Primus. »Das stellt einen wirkungsvollen Versuch dar, Kräfte zu binden und unsere Neuorganisation zu behindern. Nimm die nächste Tür links, Arthur. Nieser müsste alles für unsere Ratssitzung vorbereitet haben.« Die nächste Tür links war ebenfalls komplett von Papierbündeln umgeben. Sie sah ganz gewöhnlich aus, schlichtes Holz mit einem soliden Knauf aus Bronze. Arthur drehte ihn um und öffnete sie. Vor ihm lag ein gewaltiger Raum, vier- oder fünfmal so groß wie die Turnhalle in seiner Schule und zehnmal so hoch. Boden, Wände und Decke waren mit weißem Marmorverkleidet, der golden gemasert war, sodass sich Arthur der Eindruck aufdrängte, das protzige Badezimmer eines Riesen betreten zu haben. Im Zentrum dieses gigantischen Raumes befand sich ein runder Tisch, der zirka fünfunddreißig Meter im Durchmesser maß. Er schien aus Gusseisen gefertigt zu sein und war dunkelrot gestrichen. Seine Mitte war ausgespart, und um ihn herum standen hundert oder mehr gusseiserne Stühle mit hohen Rückenlehnen, die weiß gestrichen waren. Einer jedoch überragte die anderen um ein beträchtliches Stück und war aus massivem Gold oder vergoldetem Eisen gearbeitet. Der Stuhl daneben war ebenfalls größer, wenn auch nicht ganz so viel, und wechselte langsam die Farbe von Rot über Weiß zu Golden und wieder zurück. Nieser stand in der freien Mitte des Tisches, ein weißes Tuch über einem Ärmel seines jetzt makellos sauberen Fracks. Sein sonst so unordentliches Haar war zurückgekämmt und weiß gepudert; ein goldenes Band hielt es zusammen. Er balancierte ein silbernes Tablett mit drei Kristallbechern, in denen ein orangefarbenes Getränk schimmerte (wahrscheinlich Saft), und einem langstieligen Weinglas, das mit einer blutroten Flüssigkeit gefüllt war, von der Arthur hoffte, dass es sich bloß um Wein handelte. Auf den Stühlen saß niemand, aber hinter dem Tisch stand eine große Menge von Bürgern, die alle ruhig warteten. Arthur erkannte Doktor Scamandros und winkte, und dann winkte er noch einmal, als er ein Stück weiter hinten Sonnenstich in Admiralsuniform entdeckte, die er nunmehr als Mittwochs Mittag zu tragen berechtigt war und die ihm hervorragend stand, wenngleich er sich darin etwas unwohl zu fühlen schien. Bald winkte Arthur in einem fort, denn da sah er auch Japeth, den Thesaurus, und Matthias, den Versorgungsbeamten, daneben Montags Morgengrauen und Mittwochs Morgengrauen und noch einige andere von seinen vorangegangenen Abenteuern -wie Blatt sie wohl nennen würde. »Nehmt Eure Plätze ein«, brüllte Dame Primus, und ihre raue, tiefe Stimme ließ Blatt erschrocken zusammenfahren. »Die Sitzung soll beginnen. Susanne, du stellst bitte die Transferplatten wieder in die Porzellanvitrine zurück, bevor du dich zu uns gesellst.« Susi verzog das Gesicht, bedachte das Vermächtnis mit einem scheppernden Knicks und lief hinaus, wobei sie einmal kurz stehen blieb, um Dame Primus die Zunge herauszustrecken, als diese sich herumdrehte und auf den goldenen Stuhl wies. »Das ist dein Thron, Lord Arthur. Alle anderen werden sich entsprechend ihrem Platz in der Rangordnung setzen.« »Und wo sitze ich dann?«, erkundigte sich Blatt. »Du darfst dich hinter Arthur stellen«, erwiderte Dame Primus kühl. »Eigentlich finde ich, dass Blatt einen Stuhl neben mir bekommen sollte«, widersprach Arthur bestimmt. »Als Ehrengast.« »Sehr wohl, Sir«, sagte Nieser, und Arthur zuckte erschrocken zusammen, denn plötzlich stand der Butler hinter ihm und bot ihm einen Orangensaft an. »Ich werde einen Stuhl für Fräulein Blatt aufstellen.« »Ich habe eine Tagesordnung für dieses Treffen vorbereitet«, verkündete Dame Primus, während sie sich niederließ. Rot, Weiß und Gold wirbelten über ihren Stuhl, und Arthur fiel auf, dass die Rückenlehne ein paar Zentimeter wuchs, bis sie fast so hoch wie seine eigene war. Dame Primus klopfte mit dem Zeigefinger auf ein großes, fest eingebundenes Buch von mindestens drei- bis vierhundert Seiten, das vor ihr auf dem Tisch lag. An Arthurs Platz lag genauso ein Exemplar. Er setzte sich, zog es zu sich heran, klappte es auf und las: Agenda für eine Ratsversammlung zur Erörterung verschiedener lästiger Angelegenheiten betreffend das Haus, die Befreiung des Vermächtnisses der Architektin, die Machtergreifung des Rechtmäßigen Erben und diverse andere Themen. Auf der nächsten Seite waren die Tagesordnungspunkte aufgelistet, von eins bis dreißig durchnummeriert. Die folgende Seite enthielt die Punkte einunddreißig bis sechzig. Arthur schlug die letzte Seite auf und sah, dass es über sechstausend Tagesordnungspunkte gab. »Ich schlage vor, dass wir bei Punkt eins beginnen«, sagte Dame Primus, »und uns dann durcharbeiten.« Arthur las sich Punkt eins durch. Schlichtung zwischen Domänen, Artikel eins: Die Kontroverse betreffend Aufzeichnungsablage und Transport von Aufzeichnungen zwischen dem Mittleren und dem Unteren Haus. »Die Agenda ist alphabetisch angeordnet«, erklärte Dame Primus hilfsbereit. »Alle Schlichtungsangelegenheiten kommen zuerst.« »Dafür habe ich keine Zeit«, sagte Arthur und ließ das Buch mit einem lauten Knall zuschlagen. »Ich will wissen, was dieser Geistfresser ist, was er mit meiner Familie vorhat und wie man ihn wieder loswird. Doktor Scamandros, können Sie mir das sagen?« »Das ist ausgesprochen unschicklich«, beklagte sich Dame Primus. »Ich muss protestieren, Lord Arthur! Wie sollen wir zu angemessenen Schlussfolgerungen gelangen und effektiv handeln, wenn wir unserer Agenda nicht folgen?« »Ordnen Sie doch die Punkte Ihrer Agenda nach Wichtigkeit, und während Sie damit beschäftigt sind, unterhalten wir uns über den Geistfresser«, schlug Arthur vor, wagte dabei allerdings nicht, Dame Primus ins Gesicht zu sehen. Sie hatte etwas an sich, das in ihm das dringende Bedürfnis weckte, ruhig sitzen zu bleiben und zu tun, was ihm gesagt wurde. Sie erinnerte ihn an den Furcht einflößenden Lehrer, den er einmal gehabt hatte; sein bloßes Erscheinen in der Tür hatte genügt, um ein ganzes Klassenzimmer in Totenstille zu versetzen. Auch damals war es Arthur leichter gefallen, ihm mutig zu begegnen, wenn er seinem Blick dabei auswich. »Doktor Scamandros?« »Ah, nun, ich hatte nicht viel Zeit, mich damit zu befassen«, meinte Scamandros und schielte nervös zu Dame Primus hinüber. Die tätowierten Palmen auf seinen Wangen schüttelten sich plötzlich, und ein halbes Dutzend aufgeregter Affen fielen heraus und rutschten bis zu seinem Kinn hinab, bevor die Bäume verschwanden und Zifferblättern mit rasch kreisenden Zeigern Platz machten. »Ich meine, mir blieb kaum Zeit für ein Glas belebendes Tonikum in Mittwochshafen, da hat man mich auch schon in aller Eile hierher geschafft. Aber nichtsdestoweniger habe ich einige Informationen, die ich mit Hilfe von Montags Mittag sammeln konnte, der zwar nicht im Oberen Haus ausgebildet wurde, aber dennoch ein fähiger Zauberer ist …« Er hielt einen Moment inne, um sich vor Montags Mittag zu verbeugen, der dies auf gleiche Weise erwiderte. Arthur griff nach seinem Orangensaft und versuchte, nicht zu ungeduldig zu wirken. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Susi sich wieder in den Saal schlich und auf den Boden setzte, verborgen hinter dem Stuhl von Montags Mittag. »Soweit wir es feststellen konnten«, fuhr Scamandros fort, »sind Geistfresser in der gesamten Geschichte des Hauses nur bei einer Handvoll Gelegenheiten beschworen worden. Der Geistfresser ist ein mächtiger und unangenehmer Typ des Nichtlings, der erschaffen wird, um jemandes Identität anzunehmen, sei es die eines Bürgers oder eines Sterblichen. Seine größte Stärke liegt darin, als getreues Ebenbild zu erscheinen und außerdem sein Wesen in die Leute seiner Umgebung auszustrecken, gleich ob sie Sterbliche oder Bürger sind –« »Was?«, unterbrach ihn Arthur. »Was bedeutet ›sein Wesen ausstreckend« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen … Anscheinend ist aber der Geistfresser, sobald er das einmal getan hat, in der Lage, den Geist seiner Opfer zu beherrschen und ihre jüngsten Gedanken und Erinnerungen zu lesen. Das tut er, um seine Täuschung zu perfektionieren. Anfangs besitzt er nur die übliche, äußerliche Kenntnis der Originalperson, daher versucht er, über dessen Bekannte und Vertraute mehr in Erfahrung zu bringen.« »Wollen Sie damit sagen, dass er meine Familie geistig steuern wird?« Arthur verschüttete seinen Orangensaft, als er erregt aufsprang. »Wie lange wird er brauchen, um das zu schaffen?« »Ja, das ist … ich nehme an, das ist genau das, was er tun wird«, bestätigte Scamandros. »Obwohl ich nicht weiß, wie.« »Wie lange wird er dafür brauchen?«, fragte Arthur noch einmal. Der schlimmste Fall war eingetreten – seine Familie war in Gefahr. Die beiden Grotesken des Grimmigen Dienstags fielen ihm wieder ein, die ihren fauligen Atem des Vergessens bei seinem Vater ausgehaucht hatten, und er erinnerte sich nur zu gut an den schrecklichen Moment, als der graue Nebel über seinen Vater waberte. Und jetzt war seine Familie erneut bedroht, und er steckte im Haus fest, sodass sie der Bedrohung wehrlos ausgeliefert waren. Ich muss ihnen helfen, dachte Arthur verzweifelt. Es muss doch etwas geben … jemanden … »Ein paar Tage, denke ich. Aber mit Gewissheit kann ich es nicht sagen«, unterbrach Scamandros seine düsteren Gedanken. Arthur sah zu Blatt hinüber, die seinen Blick erwiderte. »Ich schätze, wir denken beide dasselbe«, sagte sie. »Du kannst nicht zurück, oder die ganze Welt geht hops. Aber ich könnte gehen und versuchen, diesen Geistfresser loszuwerden.« »Ich weiß nicht so recht«, meinte Arthur. »Das hört sich sehr gefährlich an. Vielleicht könnte Montags Mittag –« »Keine Einmischung!«, donnerte Dame Primus. »Du kennst das Ursprüngliche Gesetz! Die Sterbliche darf dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen ist, aber niemand darf das Werk der Architektin besudeln.« »Es ist schon mehr als nur ein bisschen besudelt worden, würde ich sagen«, erwiderte Arthur gereizt. »Wie kommt es, dass die Bösen tun und lassen können, was sie wollen, aber immer, wenn ich etwas unternehmen will, heißt es ›ich darf nicht‹? Was bringt es dann überhaupt, Rechtmäßiger Erbe zu sein? Ich habe dadurch nichts als Schwierigkeiten!« Niemand antwortete auf Arthurs Frage, und ihm fiel auf, dass alle seinem Blick auswichen – und keiner sagte, er solle sich benehmen. Er kam sich plötzlich eigenartig vor und wünschte, jemand würde einfach sagen: »Halt die Klappe, Arthur, es gibt Arbeit für uns!« »Ist es überhaupt möglich?«, durchbrach Blatt die Stille. »Sich den Geistfresser vom Hals zu schaffen, meine ich?« Arthur und Blatt sahen Scamandros fragend an. Die Tätowierungen auf seinem Gesicht spiegelten Besorgnis wider und zeigten wacklige Türme, die Stein um Stein errichtet wurden und einstürzten, sobald die letzte Reihe gelegt war. »Ich glaube schon. Aber dazu müsste man den Gegenstand finden, der zur Erschaffung des Geistfressers verwendet wurde. Das wird ein persönliches Besitzstück der Zielperson sein, das mit Zaubersprüchen überzogen ist. In diesem Fall etwas von dir, Arthur, das du ziemlich lange dicht bei dir gehabt und dann vielleicht verloren hast. Ein Lieblingsbuch oder ein Löffel oder vielleicht ein Kleidungsstück. Etwas in dieser Art.« Arthur runzelte ratlos die Stirn. Was konnte er verloren haben, das diesem Erfordernis entsprach? »Wann soll das gewesen sein?«, fragte er. »Nun, es hat sicher länger als ein Jahr nach Hauszeit gedauert, den Geistfresser aus Nichts wachsen zu lassen«, antwortete Doktor Scamandros. »Ein Jahr … Wie lange ist es her, seit mir Herr Montag den Minutenzeiger gegeben hat?«, wollte Arthur wissen. Für ihn war es erst diese Woche gewesen, doch im Haus war es viel länger her. »In Hauszeit, meine ich?« »Anderthalb Jahre«, erwiderte Dame Primus steif. Sie hatte die Agenda aufgeschlagen vor sich liegen und tippte mit einem goldenen Stift darauf herum. Bei jeder Berührung bewegte sich einer der Tagesordnungspunkte nach oben oder unten oder auf eine Seite weiter hinten im Buch. »Es müssen Herrn Montags Bringer gewesen sein«, sagte Arthur nachdenklich. »Oder vielleicht einer der Grotesken des Grimmigen Dienstags. Aber mir fällt nichts wirklich Persönliches ein, was ich verloren haben könnte oder vermisse.« »Du könntest den Atlas danach fragen«, schlug Dame Primus vor. »Du trägst den Dritten Schlüssel bei dir, also wird der Atlas antworten.« Arthur zog den Atlas aus seiner Tasche, legte ihn auf den Tisch und nahm den kleinen Dreizack, der der Dritte Schlüssel war, in die rechte Hand. Jedoch begann er nicht, sich auf eine Frage zu konzentrieren, um sie dem Atlas zu stellen. Stattdessen legte er den Dreizack nach kurzem Zögern wieder nieder; die Zinken zeigten auf die ausgesparte Mitte des Tisches. »Ich muss Acht geben, wie oft ich den Schlüssel einsetze«, sagte er langsam. »Diesen hier habe ich schon ziemlich oft in der Grenzsee benutzt, und ich will mich nicht in einen Bürger verwandeln. Dann könnte ich nie mehr nach Hause zurück.« »Wie dicht bist du denn an der Verwandlung dran?«, fragte Blatt neugierig. »Ist das so, dass du den Schlüssel hundertmal oder so benutzen kannst und dann, zack, bist du plötzlich zwei Meter groß und siehst viel besser aus?« »Ich weiß es nicht«, meinte Arthur. »Das ist ein Teil des Problems.« Doktor Scamandros hüstelte leise und ziemlich gekünstelt und hob die Hand. Dame Primus unterbrach einen Moment lang ihre Tipperei und starrte ihn an, dann fuhr sie mit ihrer Neuanordnung fort. »Es interessiert dich vielleicht zu erfahren, Lord Arthur«, ergriff der Zauberer erneut das Wort, »dass es ein kleines Studienprojekt von mir gibt, das von Nutzen für dich sein könnte. Es misst die zauberische Kontaminierung von Dingen, einschließlich Personen natürlich.« Scamandros begann in den unergründlichen Innentaschen seines gelben Kapuzenmantels zu kramen und förderte einen Fächer aus Pfauenfedern, mehrere lackierte Schnupftabakdosen, einen fein geschnitzten Brieföffner und eine Pikkoloflöte aus Messing zu Tage, die er zerstreut auf den Tisch legte. »Es muss doch hier irgendwo sein«, murmelte er und suchte weiter, bis er schließlich triumphierend eine quadratische, fünf Zentimeter lange Schachtel hervorzog, die um die Ecken herum sehr abgenutzt war. Er öffnete sie und gab sie Sonnenstich, der sie an Blatt weiterreichte, die einen neugierigen Blick hineinwarf, bevor sie sie Arthur aushändigte. Darin lag ein schlankes Silberkrokodil, das zu einem Ring zusammengerollt war und sein Schwanzende zwischen den Zähnen hielt. Die Augen bestanden aus Diamanten von hellem Rosa, und der Körper war durch Einkerbungen in zehn Abschnitte unterteilt, in die jeweils eine winzige römische Ziffer eingraviert war. »Ist das von Wichtigkeit?«, erkundigte sich Dame Primus ungeduldig. »Ich bin bereit, mit der umgeschriebenen Agenda fortzufahren.« Arthur ignorierte sie und nahm den Ring aus der Schachtel. »Wofür ist der?«, wollte er wissen. »Soll ich ihn anziehen?« »Jawohl, zieh ihn an«, antwortete Doktor Scamandros. »Im Wesentlichen wird er dir das Ausmaß mitteilen, in dem du mit Zauberei … äh … verseucht bist. Er ist natürlich nicht exakt, und im Falle eines Sterblichen ist die Kalibrierung ein Unsicherheitsfaktor. Ich würde sagen, wenn der Ring sich zu mehr als sechs Teilen in Gold verwandelt, dann ist deine Transformation in einen Bürger –« »Können wir fortfahren?«, schnitt ihm Dame Primus barsch das Wort ab, doch Doktor Scamandros beendete seinen Satz noch. »– irreversibel.« Arthur streifte den Ring über und beobachtete fasziniert und mit wachsendem Entsetzen, wie die Segmente des Krokodils langsam nacheinander von Silber zu Gold übergingen. Eins … zwei … drei - Wenn er erst mal ein Bürger war, konnte er nie mehr nach Hause zurückkehren. Aber er musste die Schlüssel und den Atlas gegen die Morgigen Tage einsetzen, und das bedeutete weitere magische Kontamination. Wenn nicht sowieso schon alles zu spät war. Arthur starrte gebannt auf den Ring, während der goldene Glanz sich weiter ausbreitete und auch das vierte Segment überzog, ohne eine Spur langsamer zu werden. Kapitel Drei Eine schreckliche Faszination bannte Arthurs Blick. Nach dem vierten Segment stoppte das Gold und zog sich sogar ein wenig zurück. »Es hat fast die vierte Linie erreicht«, berichtete Arthur. »Die Messung ist nicht genau«, betonte Doktor Scamandros noch einmal. »Aber sie würde sich mit meiner früheren Untersuchung decken. Dein Fleisch, dein Blut und deine Knochen sind zu ungefähr vier Zehnteln mit Zauberei kontaminiert.« »Und bei über sechs Zehnteln werde ich ein Bürger?« »Unwiderruflich.« »Kann ich die Kontaminierung irgendwie loswerden?« Arthur bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Verliert sie sich irgendwann?« »Sie wird mit der Zeit abnehmen«, bestätigte Scamandros. »Vorausgesetzt, du fügst nichts hinzu. Ich würde erwarten, dass dieser Grad der Vergiftung in etwa einem Jahrhundert zurückgegangen sein wird.« »Ein Jahrhundert! Da könnte er genauso gut bleibend sein. Aber um wie viel würde es das Ausmaß der Kontaminierung erhöhen, wenn ich den Atlas benutze?« »Ohne sorgfältige Experimente und Beobachtungen möchte ich mich dazu nicht abschließend äußern. Beträchtlich weniger jedenfalls als das Eingreifen, um deine Gebrechen zu heilen oder die fehlgerichtete Anwendung der Schlüsselkräfte zu neutralisieren. Alles, was sich nicht auf deinen eigenen Körper richtet, wird weniger schädlich sein.« »Es ist kein Schaden, ein Bürger zu werden«, warf Dame Primus ein. »Es bedeutet, einer höheren Ordnung von Wesen beizutreten. Ich kann dein Zögern, der Sterblichkeit zu entsagen, nicht begreifen, Arthur. Schließlich bist du der Rechtmäßige Erbe der Architektin von Allem. Können wir uns jetzt bitte wieder der Agenda zuwenden?« »Ich bin nur ausgewählt worden, weil ich dem Tod nahe und gerade leicht zu entführen war«, rief ihr Arthur ins Gedächtnis zurück. »Ich wette, Sie haben sich irgendwo noch einen ganzen Haufen von Rechtmäßigen Erben notiert, für den Fall, dass mir etwas zustößt.« In dem gewaltigen Saal war einige Augenblicke lang kein Laut zu hören, bis Dame Primus sich räusperte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, erhob Arthur seine Stimme. »Wir werden uns der Agenda zuwenden! Aber nachdem wir einen Plan ausgearbeitet haben, wie wir mit dem Geistfresser verfahren! Ich wünschte, ich käme darauf, was mir gestohlen worden sein könnte.« »Versuche, alles zurückzuverfolgen, was du getan hast«, riet Blatt ihm. »Hast du deinen Inhalator auf dem Sportplatz fallen lassen? Vielleicht haben sie den aufgehoben? Oder hast du etwas in der Schule bei dir gehabt, als sie die Bücherei angesteckt haben?« Arthur schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht … He, Moment mal!« Er sah zu Montags Abenddämmerung hinüber. Der war etwas kleiner als früher, wo er noch Mittag gewesen war, und sah heiterer aus, aber deshalb nicht weniger gut. Er trug die nachtschwarze, bestatterartige Tracht der Abenddämmerungen; allerdings hatte er seinen Zylinder mit dem um die Hutkrone gewundenen schwarzen Seidenschal abgenommen. »Sie haben doch die Bringer geschickt, als Sie noch Mittag waren. Hat Ihnen einer etwas gebracht, oder wurden sie geradewegs ins Nichts vertrieben?« »Sie sind nicht zu mir zurückgekehrt«, sagte Abenddämmerung, dessen einst silberne Zunge jetzt schwarz glänzte; auch seine Stimme klang viel weicher. »Aber ich hatte sie ja auch nicht beschworen. Herr Montag hat sie mir zugeteilt. Ich vermute, er hat sie von Dienstag gekauft, denn er hätte niemals die Energie aufgebracht, sie selbst zu erschaffen. Ihr werdet Euch erinnern, dass ich gezwungen war, ins Haus zurückzukehren, als die Bringer und ich Euch in der Schule in die Enge getrieben hatten.« »In der Schule«, wiederholte Arthur langsam und rief sich diese Begebenheit ins Gedächtnis. »Sie haben den Atlas gestohlen! Das hatte ich ganz vergessen, weil ich ihn inzwischen wiederhabe. Ein Bringer hat die Tasche an meinem Hemd abgerissen, und da war der Atlas drin –« »Eine Tasche!«, unterbrach ihn Scamandros und fegte die Dinge, die vor ihm auf dem Tisch lagen, mit einer aufgeregten Handbewegung zur Seite, während die Turmtätowierungen auf seinen Wangen stabilere Formen annahmen und fantastische Zinnen trieben. »Das muss es sein! Das muss die Quelle dieses Geistfressers sein. Ein Fetzen Stoff, der dicht an deinem Herzen gelegen hat, überzogen mit Zaubern und in Nichts gepflanzt, damit lässt sich ein Hastorkra züchten! Finde diese Tasche, und wir werden vielleicht in der Lage sein, etwas gegen ihn zu unternehmen!« »In Ordnung«, meinte Blatt. »Das hört sich wirklich simpel an.« »Du musst es nicht versuchen«, sagte Arthur. »Ich … ich verstehe, wenn du mit alldem nichts zu tun haben willst.« »Ich glaube nicht, dass ich die große Wahl habe«, entgegnete Blatt. »Ich kann doch nicht einfach einen bösartigen Klon von dir herumlaufen und den Verstand der Leute übernehmen lassen, oder?« »Du könntest schon«, sagte Arthur. Obwohl Blatt die Sache verharmloste, konnte er sehen, dass sie sich fürchtete. »Ich kenne Leute, die keinen Finger rühren würden, solange es sie nicht selbst betrifft.« »Na gut, aber zu denen will ich nicht gehören. Und wenn Ed nicht mehr in Quarantäne ist, kann er mir helfen … aber ich nehme an, falls immer noch Mittwoch ist, wenn ich zurückkomme, dann steckt er wohl im Krankenhaus …« Blatt verzog das Gesicht bei dem Gedanken. Ihre Eltern, ihre Tante und ihr Bruder waren alle an der Schlafseuche erkrankt und unter Quarantäne gestellt worden. »Wie dem auch sei, Doc, gibt es irgendetwas Besonderes, womit ich diesen Geistfresser ärgern kann? Sie wissen schon, so wie Salz die Bringer vertreibt und das Silber den Nihilmorph zersetzt hat?« Doktor Scamandros schürzte die Lippen; um die Turmtätowierungen auf seinen Wangen bildeten sich Baugerüste. »Ich weiß es nicht. Ein Speer oder ein Schwert aus Silber würden ihm nicht bekommen, nehme ich an, und wie alle Nichtlinge wird er nicht freiwillig Salz essen, aber nur niedere Nichtlinge erleiden durch Silber ernsthafte Wunden oder können mit Salz vertrieben werden.« »Braucht er Schlaf?«, fragte Blatt weiter. »Und wird er Arthurs Tasche bei sich haben, oder wird er sie sonst wo aufbewahren?« »Gute Fragen, hervorragende Fragen«, murmelte Scamandros. »Ich fürchte, meine Quellen geben keine Auskunft darüber, ob er schläft, aber es ist durchaus möglich. Ich vermute, er wird die Tasche in der Nähe seines Unterschlupfes verstecken – aber auch in diesem Punkt sind meine Informationen bedauernswert lückenhaft.« »Und haben Sie eine Idee, wo dieser Unterschlupf sein wird?«, wollte Blatt wissen. »In Arthurs Haus?« Zwei kleine Staubwolken auf Scamandros’ Wangen wuchsen zu Miniaturwirbelstürmen an und bedrohten ein Haus, das quer über seinen Nasenrücken tätowiert war. »Meine Quellen sind unvollständig. Nur eine erwähnt den ›Unterschlupf des Geistfressers‹, ohne sich allerdings näher darüber auszulassen.« »Ich schätze, wenn er Arthur imitiert, dann muss er irgendwann das Haus verlassen«, folgerte Blatt. »Ich kann mich zur Hintertür hineinschleichen. Gibt es eine Hintertür?« »Am besten wäre der Weg durch die Garage«, überlegte Arthur. »Es gibt einen Fernbedienungsschalter für das Tor, unter einem blauen Stein in der Einfahrt. Ich nehme an, der Geistfresser wird sich, wenn er meinen Platz einnimmt, wahrscheinlich in meinem Zimmer im obersten Stockwerk aufhalten. Aber wir sollten mehr Informationen sammeln, bevor wir uns darauf verlassen.« Er nahm den Dritten Schlüssel in die eine Hand und legte die andere auf den Atlas, dessen grüner Ledereinband unter seiner Berührung erbebte. »Warte einen Moment!«, forderte Blatt ihn auf. »Du brauchst nicht –« »Ich kann dich nicht gegen einen Geistfresser antreten lassen, ohne dass du vorbereitet bist«, schnitt ihr Arthur das Wort ab. »Außerdem ist das ein guter Test, um festzustellen, wie weit die Kontaminierung fortschreitet.« »Arthur –«, setzte Blatt erneut an, doch der konzentrierte sich schon auf die Fragen, die er dem Atlas stellen wollte. Was ist ein Geistfresser? Wie kann mein Doppelgänger besiegt werden? Wo liegt sein Unterschlupf? Kaum hatte er dies gedacht, als der Atlas auch schon explosionsartig aufklappte und sich auszudehnen begann, während die Seiten wie in einer Windbö flatterten. Als er zu voller Größe angewachsen war, legten sich die Blätter, und eine unsichtbare Hand begann zu schreiben. Die ersten paar Schriftzeichen erschienen in einem seltsamen Alphabet aus Strichen und Punkten, doch unter Arthurs aufmerksamen Blicken fingen sie an zu flimmern und verwandelten sich in die feinen lateinischen Buchstaben eines geübten Kalligraphen. Sämtliche Augen waren auf Arthur gerichtet, während er auf den Atlas starrte. Sogar Susi sah Dame Primus gespannt über die Schulter. Im Interesse der Übrigen las Arthur den Eintrag laut vor; nicht ohne Schwierigkeiten, denn er war die altertümliche Schrift nicht gewöhnt, und viele Wörter waren ihm nicht geläufig. Der Begriff ›Geistfresser‹ wird häufig benutzt, um einen Typus von Nichtlingen zu bezeichnen, die der Bürgerklasse verwandt sind, bekannt auch als Nahe Schöpfungen, denn sie setzen eine Art der technischen Zauberei ein, die von der Architektin angewandt wurde, um Leben aus dem Nichts zu erschaffen. Ihre Kunstfertigkeit erreichen sie dabei jedoch nicht. Ein Geistfresser greift immer auf eine Schöpfung der Architektin zurück, entweder direkt, indem er einen Bürger kopiert, oder indirekt durch Kopie eines Sterblichen, des gegenwärtigen Endprodukts der uralten Experimente der Architektin mit der Evolution des Lebens. Die Bestimmung eines Geistfressers ist es in jedem Fall, ein Original zu ersetzen, gewöhnlich zum Zweck der Spionage, des Verrats oder anderer Übeltaten. Er wird also für die meisten Betrachter das äußere Erscheinungsbild des von ihm ausgewählten Geschöpfes haben. Sein wahres Gesicht und seine wirkliche Gestalt können gesehen werden, indem man ihn an einem sonnigen Tag durch einen Schleier von Regentropfen betrachtet; auch die Anwendung gewisser Zauber erfüllt diesen Zweck. Anfänglich wird der Geistfresser nur begrenztes Wissen über sein Opfer besitzen, nämlich nur so viel, wie ihm von seinem Erschaffer mitgeteilt worden ist. Jedoch entwickeln sich durch den Zauberspruch, mit dem ein Geistfresser in Nichts aufgezogen wird, auch andere Kräfte in dem Nichtling. Er hat die Fähigkeit, sein Wesen in jeden empfindungsfähigen Verstand auszustrecken, mit dem er körperlichen Kontakt hat, und zwar indem er einen mental leitfähigen Schimmelpilz benutzt, der mit dem Geistfresser symbiotisch verbunden ist. Der Pilz wird von einer semiintelligenten Lebensform gewonnen, die auf einer Welt in den Sekundären Reichen heimisch ist (Hausname: Avraxyn; lokaler Name: »Ich kann den lokalen Namen nicht lesen –« Blatt schüttelte den Kopf, aber nicht wegen Arthurs Unfähigkeit, die außerirdische Schrift zu entziffern. »Ein mental leitfähiger was? Was hast du gesagt? Er lässt Schimmel auf Leuten wachsen?« »So … so steht es hier«, bestätigte Arthur, dem selbst gerade erst klar wurde, was in dem Atlas stand, so sehr hatte er sich darauf konzentriert, alles fehlerfrei vorzulesen. »Die Vorstellung gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Blatt erschaudernd. »Wie kann man ihn davon abhalten?« »Ich … ich werde sehen, was der Atlas meint«, sagte Arthur. Er las weiter. Der Schimmelpilz dringt in sein Opfer durch Haut, Schuppen oder Fell ein, sobald der Geistfresser Körperkontakt hergestellt hat, beispielsweise durch einen Händedruck, ein Schulterklopfen oder dergleichen. Seine Sporen sind von grauer Farbe, aber sie verweilen nur wenige Minuten auf der Haut, sodass dem Betroffenen für gewöhnlich nicht bewusst wird, dass er kolonisiert worden ist. Der Pilz wandert durch die Blutbahn und nistet sich schließlich im Gehirn oder einem anderen wichtigen Teil des Sinnesapparates ein. Von dort aus breitet er sich rapide aus und fertigt ein Duplikat des Nervengewebes an, bis er in der Lage ist, Gedanken und Erinnerungen des Befallenen zu durchdringen, die er telepathisch mit seiner Hauptkolonie teilt, welche sich im Nebenhirn des Geistfressers, üblicherweise in dessen mittlerer Sektion, befindet. Der Geistfresser benutzt diese Erinnerungen und Gedanken, um das Geschöpf, das er ersetzt hat, besser nachahmen zu können. Er ist auch fähig, den Verstand derer, in denen der Schimmelpilz sich weit genug eingenistet hat, zu lenken, jedoch nicht mit großer Präzision. Der Einfluss des Schimmelpilzes macht sich auch im Verhalten des Geistfressers bemerkbar. In seinem natürlichen Lebensraum auf Avraxyn erschafft der Pilz immer einen Unterschlupf, in dem er seinen primären Wirt sicher vor Schaden platziert. Im Geistfresser nimmt der Pilz die untergeordnete Stellung ein und muss gehen, wohin dieser es will, aber er wird den Nichtling immer bewegen, einen Unterschlupf zu errichten. Dieser wird dunkel sein und sich so tief im Boden befinden, dass er dem Geistfresser gerade noch bequemen Zugang bietet. Er wird mit weichen Materialien ausgekleidet sein, und irgendwo in seinem Inneren wird sich der ursprüngliche Saatgegenstand befinden, aus dem der Geistfresser gezogen worden ist. Dabei handelt es sich für gewöhnlich um einen Knochen, ein Stück Haut, einen Bekleidungsgegenstand, ein hochgeschätztes persönliches Besitzstück oder ein Haustier oder um einen Gefährten des Befallenen, den dieser schon lange kennt. »Das ist echt krank«, bemerkte Blatt angewidert. »Ich hab schon Schlimmeres gesehen«, murmelte eine Stimme irgendwo unter dem Tisch. Doktor Scamandros schaute um sich, aber entweder hatte sonst niemand Susis Kommentar gehört, oder die anderen waren schon darin geübt, sie zu ignorieren. »Es kommt noch mehr«, sagte Arthur. Die Seite leerte sich, und die unsichtbare Hand schrieb weiter. Der spezielle Geistfresser, der Lord Arthur kopiert hat, hat für sich den Namen ›Skelettjunge‹ gewählt, vielleicht weil er in seiner natürlichen Erscheinungsform nicht sehr viel Haut aufweist und stattdessen bloßliegende Knochen hat. Er kann besiegt werden, indem man ihm den Saatgegenstand wegnimmt, die Tasche von Lord Arthurs Schulhemd. Lord Arthur muss diese Tasche im Nichts versenken. Im Augenblick, 10:20 Donnerstagvormittag arthursche Erdzeit, hat der Skelettjunge sich seinen zeitweiligen Unterschlupf im Wäschelager des Ostbezirkskrankenhauses im dritten Untergeschoss eingerichtet. Sollte der Geistfresser in Arthurs Haus Stellung beziehen, so wird er sehr wahrscheinlich die Senkgrube darunter als Unterschlupf wählen, zu der man Zugang erhält, indem man eine Betonplatte im Garten, in der Nähe des hinteren Zauns, anhebt. »Was war das mit Donnerstag?«, fragte Blatt nach. »Und was ist arthursche Erdzeit?« Arthur las den Abschnitt noch einmal. »Zu Hause sollte aber nicht Donnerstag sein! Wir müssen Mittwochnachmittag zurückkommen! Wie kann es schon Donnerstag sein?« »Die Zeit zwischen dem Haus und den Sekundären Reichen ist verformbar«, erklärte Doktor Scamandros. »Mächtige Individuen wie du selbst, Lord Arthur, beeinflussen und lenken ihren relativen Fluss. Ich kann nur mutmaßen, dass der Geistfresser, der etwas von deinen Eigenschaften besitzt, deinen Platz für chronometrische Zwecke eingenommen hat. Anders gesagt … äh … du bist zurück.« »Aber was ist mit Blatt? Kann sie zum Mittwoch zurück?« »Ich würde sagen, nein«, antwortete Doktor Scamandros. »Aber ich bin kein Experte in diesen Relativitäten. Vielleicht weiß Nieser mehr von den Sieben Zifferblättern.« »Ohne es zu erproben, Sir, kann ich nichts sagen«, entgegnete Nieser. »Als allgemeine Regel gilt jedoch, dass die temporale Relation zwischen einer Sekundären Welt und dem Haus vom Vordereingang festgesetzt wird und sich jedem Erklärungsversuch entzieht. Die Tür hat vermutlich gedacht, Ihr wärt auf Eure Erde zurückgekehrt, und hat, wenn Ihr mir diese Bemerkung gütigst nachsehen wollt, Fräulein Blatt nicht vermisst. Daher ist der früheste Zeitpunkt, zu dem Fräulein Blatt zurückkehren kann, zwanzig Minuten nach zehn am Donnerstag. Falls das noch die Uhrzeit ist. Noch etwas Orangensaft?« »Aber das bedeutet ja, dass ich die ganze Nacht über weg war!« Blatt konnte es nicht fassen. »Meine Eltern werden mich umbringen!« Kapitel Vier »Tatsächlich?«, fragte Doktor Scamandros. »Das scheint mir ein wenig überzogen.« »Naja, sie werden mich nicht wirklich umbringen.« Blatt seufzte. »Selbst wenn sie es wollten – sie sind ja in Quarantäne; sie können mich also höchstens durch die Sprechanlage anschreien und ans Besucherfenster schlagen. Es wird mein Leben nur etwas komplizieren.« Arthur schaute auf den Atlas. Irgendeine Veränderung im Text der aufgeschlagenen Seite hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, um was es sich handelte. »He! Die Uhrzeit zu Hause ist jetzt 10:21!« »Ich muss zurückgehen«, sagte Blatt. »Ich verspreche dir, dass ich versuchen werde, etwas gegen den Skelettjungen zu unternehmen, aber vorher muss ich wirklich wenigstens kurz meine Eltern besuchen und ihnen zuwinken. Also – wie komme ich nach Hause? Und wie komme ich hierher zurück, falls … sobald ich diese Tasche habe?« »Nieser kann die Sieben Zifferblätter benutzen, um dich ins Krankenhaus zurückzuschicken, denke ich«, sagte Arthur. »In der Tat, Sir«, bestätigte Nieser mit einer tiefen Verbeugung. »Aber wie du zurückkommst, hm, ich weiß nicht …« »Der Skelettjunge hat den Vordereingang genommen, also wird sich das Haus in deiner Welt manifestiert haben«, führte Dame Primus mit einer graziösen Handbewegung aus. »Du musst es nur noch finden, an den Vordereingang klopfen, und alles andere wird sich von selbst ergeben. Und jetzt muss ich darauf bestehen, dass wir uns wieder der Agenda zuwenden!« »Okay, okay«, lenkte Arthur ein. Er wandte sich an Blatt, und plötzlich fehlten ihm die Worte. Er kannte sie noch nicht lange, trotzdem war sie für ihn schon wie eine vertraute Freundin, und er bat sie gerade um einen wirklich großen Gefallen. Er wusste nicht, wie er seine Dankbarkeit ausdrücken sollte. »Es … es tut mir leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe, Blatt. Ich meine, ich weiß es wirklich zu schätzen … du … äh … nicht einmal meine alten Freunde von früher wären so … auf jeden Fall … ich wünschte, es gäbe etwas … oh!« Er griff sich mit der Hand an den Nacken und löste die Schnur mit dem Medaillon des Mariners. Es war das Einzige, was er besaß und weggeben konnte. »Ich weiß nicht, ob es etwas nutzt, aber wenn es wirklich schlecht läuft, versuch, den Mariner zu rufen. Vielleicht … letztes Mal war er zwar nicht besonders schnell, aber … na ja, viel Glück!« Blatt band sich die Scheibe um, nickte entschlossen und drehte sich um. »Mir hat er noch nie was gegeben«, murmelte eine unsichtbare Stimme. Arthur sah zu dem Stuhl hinab, von dem Blatt gerade aufgestanden war, und entdeckte Susi, die dort unter dem Tisch hockte. Sie hielt eine lange Stopfnadel in der Hand und musterte Dame Primus’ Fuß. Mit einem Grinsen in Arthurs Richtung stieß sie die Nadel hinein, aber das rief nicht die erwartete Wirkung hervor. Winzige Buchstaben bewegten sich voneinander weg und ermöglichten der Nadel das Eindringen, dann schoss ein roter Funken daran entlang. Susi ließ die Nadel hastig fallen und lutschte sich die Finger. Von ihrer Waffe zeugte nur noch eine kleine Pfütze geschmolzenen Stahls auf dem Fußboden. Arthur seufzte und bedeutete Susi, unter dem Tisch hervorzukommen und sich neben ihn zu setzen, doch sie schüttelte den Kopf und blieb, wo sie war. Obwohl Blatt nicht aufgefallen war, dass Nieser sich bewegt hatte, stand er schon an der Tür, als sie dort ankam. Sie wollte sie gerade öffnen, als Doktor Scamandros zu ihr gehastet kam und ihr etwas in die Hand drückte. »Das wirst du brauchen«, flüsterte er. »Ohne es wirst du weder das Haus sehen noch den Vordereingang finden können. Dame Primus ist ein wenig ungeduldig, aber sie meint es nicht so.« Blatt schaute sich an, was er ihr gegeben hatte: ein geöffnetes Lederetui, in dem eine Brille mit Golddrahtfassung lag, deren dünne Gläser von feinen Rissen überzogen waren. Sie ließ das Etui zuschnappen und schob es in den eng anliegenden Bund ihrer Hose. »Hier entlang, bitte, Fräulein Blatt«, forderte Nieser sie auf, während Scamandros zu seinem Platz am Tisch zurückeilte. »Benötigt Ihr eventuell Kleidung, die Eurem eigenen Sekundären Reich und der derzeitig dort herrschenden Ära angemessener ist?« »Es wäre großartig, wenn Sie etwas dahätten«, sagte Blatt, die ein Baumwollhemd mit weiten Ärmeln und blaue Segeltuchhosen trug, die Standarduniform eines Schiffsjungen auf der Fliegenden Gottesanbeterin. Sie hatte bislang gar nicht daran gedacht, was sie zur Herkunft dieser Kleider sagen sollte. Zu erklären, warum sie ihre Familie so lange nicht in der Quarantäne besucht hatte, würde schon kompliziert genug werden. Als sie den Raum verließ, hörte Blatt noch, wie Dame Primus etwas zu Doktor Scamandros sagte und dann zu einer Rede ansetzte. Sie klang wie eine Politikerin in einer Fernsehdebatte, die sich vor der Verzögerungstaktik ihres Gegenspielers in Acht nahm. »Ich hoffe zuversichtlich, Lord Arthur, dass wir jetzt mit der auf deinen Wunsch neu geordneten Agenda fortfahren können.« »Sicher«, sagte Arthur matt, aber er konnte seine Gedanken nicht von diesem ›Skelettjungen‹ lösen, der sich für ihn ausgab. Was hatte diese Kreatur vor? Seine Eltern waren völlig ahnungslos; sie würden ihm hilflos ausgeliefert sein, genau wie seine Geschwister. Das Ding würde ihren Verstand übernehmen und dann … selbst wenn der Geistfresser vernichtet werden und Arthur zurückkehren würde, hätte er vielleicht keine Familie mehr. Etwas bahnte sich einen Weg in Arthurs düstere Gedanken. Dame Primus hatte gerade etwas gesagt. Etwas sehr Wichtiges. »Wie war das?«, fragte er. »Was haben Sie gerade gesagt?« »Ich sagte, wir hegen mittlerweile den Verdacht, Lord Arthur, dass die schlechte Regierung der Morgigen Tage kein Zufall ist. Sie sind beeinflusst oder veranlasst worden, sich so zu verhalten, und das letztendliche Ziel dürfte die völlige und endgültige Zerstörung des Hauses sein – und damit der gesamten Schöpfung.« »Was!?« Arthur sprang von seinem Stuhl auf. Als sich alle Augen auf ihn richteten, ließ er sich langsam niedersinken, holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen, denn sein Herz klopfte plötzlich wie verrückt. »Also wirklich, Lord Arthur, muss ich mich tatsächlich erneut wiederholen? Wenn den Morgigen Tagen gestattet wird, mit ihrem Tun fortzufahren, dann besteht das große Risiko, dass das ganze Haus zerstört wird.« »Sind Sie sicher?«, fragte Arthur nervös. »Ich meine, Herr Montag war wirklich faul, und Grimmiger Dienstag wollte jede Menge Zeugs machen und besitzen, und Mittwoch … sie war schon eine richtige Sau, wenn sie auch vielleicht nichts dafür konnte. Das heißt aber nicht, dass sie das Haus zerstören wollten.« »Jedenfalls haben die Treuhänder das Haus gefährdet«, erklärte Dame Primus steif. »Herrn Montags Faulheit hat dazu geführt, dass das Untere Haus Aufzeichnungen nicht richtig transportiert und gelagert hat, sodass es auch jetzt noch unmöglich ist, mit Sicherheit festzustellen, was mit zahlreichen Bürgern, Teilen des Hauses, wichtigen Gegenständen, Millionen oder möglicherweise Milliarden vernunftbegabter Sterblicher, ja selbst ganzen Welten in den Sekundären Reichen passiert ist. Es hat auch ein nicht unbeträchtliches Maß an Einmischung in den Sekundären Reichen gegeben, größtenteils über das Untere Haus. Bei Grimmigem Dienstag liegt der Fall sogar noch schlimmer, denn in seiner Habgier hat er so viel Nichts geschürft, dass er die Fernen Weiten des Hauses der Gefahr der Nichtsüberschwemmung ausgesetzt hat. Wären sie dem Nichts anheimgefallen, dann wäre ziemlich wahrscheinlich auch der Rest des Hauses kollabiert. Lady Mittwoch hat ebenfalls versagt, und die Grenzsee nicht daran gehindert, ihre Fesseln zu sprengen und sich so weit auszudehnen, dass jeder, der imstande ist, das Band der Stürme zu durchqueren, nach Belieben ins Haus hinein- und wieder hinausgelangen kann, und außerdem brandet die See gegen Regionen des Nichts und schwächt damit wiederum das Gefüge des Hauses.« Sie legte eine Pause ein, um an ihrem blutroten Wein zu nippen. »All dies zusammen legt nahe, dass die Treuhänder, wissentlich oder unwissentlich, Teil eines Planes sind, das Haus zu vernichten und alles, was die Architektin erschaffen hat, ins Nichts zurückzuführen.« »Das ganze Universum?«, fragte Arthur. »Das ganze Universum!«, bekräftigte Dame Primus. »Allerdings wissen wir momentan noch nicht, wer hinter diesem Komplott steht oder was die Drahtzieher damit zu gewinnen hoffen. Lord Sonntag oder Erhabene Samstag sind die offensichtlichen Kandidaten … aber andererseits würden sie ebenfalls dabei umkommen. Es sei denn, sie haben einen Weg gefunden, sich eine Zuflucht zu sichern … es ist ein merkwürdiges Rätsel. Da ich nur aus drei Teilen des Vermächtnisses bestehe, fehlt mir beträchtliches Wissen. Wie dem auch sei, es spielt keine Rolle, denn unsere Strategie ändert sich nicht, egal ob unsere Gegner die Treuhänder sind oder irgendeine Macht hinter ihnen.« »Wie sieht ›unsere‹ Strategie aus?«, wollte Arthur wissen. »So wie bisher«, erwiderte Dame Primus. »Du wirst Sir Donnerstag den Vierten Schlüssel entreißen, Lady Freitag den Fünften, Erhabener Samstag den Sechsten und Lord Sonntag den Siebten.« »Das ist alles?«, fragte Arthur. »Und das nennen Sie eine Strategie?« »Was hast du von einem Frosch-Bär-Fisch erwartet?«, sagte Susi unter dem Tisch, gerade so laut, dass nur Arthur sie hören konnte. »Das ist die grobe Strategie«, antwortete Dame Primus pikiert. »Natürlich gibt es Einzelheiten, auf die noch eingegangen werden muss. Eines der ersten Dinge, die erledigt werden müssen, ist, die Schranken der Grenzsee wiederherzustellen, bevor sie noch mehr Probleme verursacht. Da du beschlossen hast, den Dritten Schlüssel zurückzubehalten, Arthur, sollte das deine nächste Aufgabe sein.« »Was muss ich tun?« »Mittwochs Morgengrauen hat siebenunddreißigtausendvierhundertzweiundsechzig Stellen ausfindig gemacht, wo die Grenzsee gegen die Sekundären Reiche und gegen das Nichts brandet. In jedem einzelnen Fall musst du die Macht des Schlüssels benutzen, um die See an ihren ursprünglichen Platz zurückzuzwingen. Glücklicherweise musst du nicht zu jeder Stelle reisen, denn die Macht des Dritten Schlüssels kann von Mittwochshafen aus dirigiert werden.« »Aber ich müsste den Schlüssel siebenunddreißigtausendmal benutzen«, sagte Arthur. Er betrachtete den Krokodilring an seinem Finger. Er schien sich überhaupt nicht verändert zu haben, seit er den Atlas benutzt hatte. Dann hielt er ihn dicht ans Auge und sah, dass das Gold sich um die Breite eines Haares weiter ausgebreitet hatte und jetzt genau auf der vierten Markierung war. »Ich würde in null Komma nichts zum Bürger werden. Und ich könnte nie mehr heimkehren.« »Diese sentimentale Anhänglichkeit an deine ursprüngliche Welt und deine Sterblichkeit ist eine ernsthafte Schwäche, Arthur«, bemerkte Dame Primus und beugte sich dabei nach vorn. Arthur spürte, wie sie seinen Blick anzog. Ihre Augen wurden heller und füllten sich mit einem goldenen Glanz, und obwohl sie ihre Flügel nicht trug, meinte Arthur zu sehen, wie sie sich hinter ihr aufbäumten und ihre majestätische Erscheinung unterstrichen. Er empfand einen nahezu unwiderstehlichen Drang, sich vor ihr zu verbeugen, so schön und mächtig war sie. »Die Grenzsee muss in ihre Schranken verwiesen werden, und das vermag nur der Dritte Schlüssel.« Arthur versuchte, das Kinn nach oben zu zwingen, um sich nicht vor dem Vermächtnis zu verneigen. Es wäre so leicht, nachzugeben, sich mit allem einverstanden zu erklären, was Dame Primus wollte. Doch wenn er das täte, würde es das Ende eines Jungen namens Arthur Penhaligon bedeuten. Dann wäre er jemand anders, jedenfalls kein Mensch mehr. Aber es wäre so einfach … Arthur öffnete schon den Mund, als etwas Spitzes ihn ins Knie pikste. Der momentane Schmerz unterbrach den Blickkontakt, und Arthur sah schnell woandershin. »Lassen Sie mich darüber nachdenken«, meinte Arthur. Selbst diese paar Worte kosteten ihn beträchtliche Mühe, aber sie erfüllten ihren Zweck. Dame Primus lehnte sich zurück, und die halb sichtbare Aura ihrer Flügel wurde schwächer; ihr Gesicht wirkte nicht mehr so unerträglich schön. Arthur nahm einen Schluck Orangensaft zu sich und warf einen Blick unter den Tisch. Susi schob gerade eine weitere lange Nadel ins Futter ihres obersten Rocks, wo sie sich zu einem halben Dutzend anderer gesellte. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Wie sehen Ihre Pläne für mich aus, nachdem ich mich um die Grenzsee gekümmert habe?« »Sir Donnerstag hat den Vierten Schlüssel inne«, antwortete Dame Primus. »Da er die Glorreiche Armee der Architektin befehligt und ein sehr mächtiger, launischer und überaus gewalttätiger Bürger ist, wäre es nicht klug, ihm offen gegenüberzutreten. Stattdessen halten wir es für das Beste, Agenten einzusetzen, um festzustellen, wo er Teil Vier des Vermächtnisses eingesperrt hat. Sobald wir Teil Vier gefunden und befreit haben, können wir uns Gedanken über unseren nächsten Schritt machen. In der Zwischenzeit wäre es – in Anbetracht der Gefahr, die dir möglicherweise von Assassinen droht am besten, wenn du dich unter Bewachung nach Mittwochshafen begibst und anfängst, mit Hilfe des Dritten Schlüssels an der Eindämmung der Grenzsee zu arbeiten.« »Verstehe …«, sagte Arthur. Stirnrunzelnd trank er seinen Orangensaft und versuchte, sich darüber klar zu werden, was er tun sollte. Er wusste nur eines mit Sicherheit: Wenn er auch nur die geringste Chance haben wollte, wieder zu einem normalen Leben zurückzufinden, dann durfte er die Schlüssel nicht benutzen. Offensichtlich war der Einsatz des Dritten Schlüssels aber gerade jetzt unvermeidlich, um die Grenzsee wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch das konnte ja auch Dame Primus übernehmen! Und ich werde mich einfach hier verkriechen, dachte Arthur bitter. Er kam sich machtlos vor, wie ein in der Falle sitzendes Tier, aber ihm fiel auch nichts anderes ein, was er hätte tun können. »Wenn ich den Dritten Schlüssel so viel benutze, werde ich mich in einen Bürger verwandeln, das steht fest«, sagte Arthur schließlich. »Aber ich sehe ein, dass die Grenzsee eingedämmt werden muss. Deshalb werde ich Ihnen den Dritten Schlüssel übergeben.« »Gut«, entgegnete Dame Primus. Sie lächelte und tippte ein paarmal zufrieden auf ihrer Agenda herum, dann hörte sie unvermittelt auf, als ob ihr plötzlich etwas Wichtiges eingefallen sei. »Allerdings bist du der Rechtmäßige Erbe. Du solltest kein schwacher Sterblicher bleiben. Es wäre wahrscheinlich am besten für dich, wenn du alle drei Schlüssel behieltest und so rasch wie möglich zum Bürger würdest.« Arthur beugte sich vor; er war jetzt wirklich verärgert. »Ich habe es Ihnen ein Dutzend Mal erklärt: Ich weiß, dass ich im Augenblick nicht nach Hause kann, aber es besteht zumindest eine Chance … eine kleine Chance, dass ich eines Tages, falls ich nicht zu einem Bürger werde … ach, vergessen Sie’s!« Er ließ sich wieder zurücksinken und schlug aufgebracht mit der Faust auf den Tisch, verdarb allerdings den Effekt dieser Geste, weil er sich an seiner eigenen Spucke verschluckte und husten musste. Um sich Erleichterung zu verschaffen, griff er nach seinem Glas und nahm einen tiefen Zug – bis etwas Hartes aus dem Becher in seinen Mund rollte und er beinahe tatsächlich erstickte. Arthur spuckte das Ding prustend auf den Tisch. Beim Aufschlag tönte es wie eine Glocke und rollte in immer kleiner werdenden Kreisen herum, bis es schließlich zitternd zur Ruhe kam. Es war eine Silbermünze von knapp fünf Zentimetern Durchmesser. »Was zum –«, rief Arthur. »Da war eine Münze in meinem Getränk!« »Nein«, sagte Dame Primus. Sie legte ihren goldenen Stift beiseite, und in ihrer Hand erschien ein Schildpattfächer, mit dem sie sich aufgeregt Luft zufächelte. »Dafür kannst du doch nicht in Frage kommen!?« »Wovon reden Sie?« Arthur hob die Münze auf und betrachtete sie. Die eine Seite zeigte den Kopf eines Ritters; wallende Straußenfedern schmückten seinen Helm, das Visier war hochgeklappt. Die Buchstaben am Rand waren für Arthur anfangs nichts als Kauderwelsch, aber unter seinen Augen veränderten sie sich, sodass er Sir Donnerstag, Verteidiger des Hauses lesen konnte. Die andere Seite zeigte das obere Drittel eines großen, altertümlichen Schwertes, um dessen Heft sich eine Schlange wand. Vielleicht war aber auch die Schlange das Heft – Arthur konnte es nicht genau sagen. Auch hier schimmerten die Worte am Rand und veränderten sich, bis Ein Schilling dort stand. »Es ist nur eine Münze«, meinte Arthur. Er sah sich in der Runde um. Sie starrten ihn alle an und wirkten beunruhigt. »Oder etwa nicht?« »Es ist Sir Donnerstags Schilling«, erklärte Dame Primus. »Du bist mit einem Trick veranlasst worden, ihn anzunehmen. Einer der ältesten Tricks, damit jemand etwas tut, was er nicht will oder wovon er nichts weiß.« »Was bedeutet das?« »Es bedeutet, dass du eingezogen worden bist«, sagte Dame Primus. »In die Glorreiche Armee der Architektin. Ich nehme an, dass die Papiere jeden Moment hier eintreffen werden.« »Eingezogen!? In die Armee? Aber wie –« »Ich vermute, dass du formaljuristisch eine Stellung im Haus bekleidest«, führte Dame Primus aus. »Was Sir Donnerstag erlaubt, dich einzuziehen. Jeder Bürger muss irgendwann sein Jahrhundert Militärdienst leisten –« »Jahrhundert! Ich kann doch keine hundert Jahre in der Armee verbringen!« »Die Frage ist, ob es sich hierbei um einen Plan seitens Sir Donnerstags handelt, dich in seine Gewalt zu bringen, oder ob es nur die Folge irgendeines Missgeschicks im Verwaltungsprozess ist. In letzterem Falle wirst du einigermaßen sicher sein, bis es uns gelingt herauszufinden, wo Teil Vier des Vermächtnisses ist, sodass wir dann mit dessen Hilfe –« »Sicher? Ich werde in der Armee sein! Was ist, wenn ich in eine Schlacht oder so was geschickt werde? Was ist, wenn Sir Donnerstag mich einfach umbringt!?« Dame Primus schüttelte den Kopf. »Er kann dich nicht einfach umbringen. Sobald du rekrutiert bist, muss er seine Militärgesetze befolgen. Ich nehme an, dass er dir viele Unannehmlichkeiten bereiten wird. Aber damit müssen Neue ohnehin leben.« »Na prima! Und was ist mit den Assassinen, die Herrn Montag und Grimmigen Dienstag ermordet haben? Was, wenn sie auch mich umbringen?« »Hmmm. Wenn ich es mir recht überlege, könnte diese Sache dir sogar zum Vorteil gereichen, Arthur. Kein Assassine aus dem Mittleren oder Oberen Haus würde es wagen, dich inmitten deiner Kameraden im Großen Labyrinth anzugreifen, und ein Bürger aus den Unvergleichlichen Gärten wäre sehr auffällig, sodass dir genug Zeit bliebe, zu entkommen oder Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In der Armee bist du aus der Schusslinie und vergleichsweise sicher, während wir unterdessen hier weiterarbeiten können.« »Ich bitte um Vergebung, Dame Primus, aber da ist eine Sache, die Sir Donnerstag tun könnte und wahrscheinlich auch tun wird, wenn er erfährt, dass Arthur zu seinen Rekruten zählt«, ergriff Montags Mittag das Wort. »Meine eigene Dienstzeit liegt schon lange zurück, aber ich habe sie nicht vergessen. Während des ersten Jahres seiner Ausbildung wird Arthur vermutlich nichts geschehen. Aber danach könnte er zu den Grenzern oder in die Bergfeste versetzt werden, wo es ständig Kämpfe mit den Nichtlingen gibt. Als Sterblicher wäre er in einer Schlacht viel größerer Gefahr ausgesetzt als jeder Bürger.« »Wie wäre es denn, wenn ich einfach nicht gehe?«, schlug Arthur vor. Das schien ihm die klügste Entscheidung zu sein. »Ich meine, mal ehrlich! Irgendetwas Gutes muss es doch haben, Herrscher des Unteren Hauses und Herzog der Grenzsee und was sonst noch zu sein. Ich meine, Sir Donnerstag könnte doch auch nicht Herrn Montag oder Grimmigen Dienstag oder Lady Mittwoch einziehen, oder?« »Doch, das könnte er«, belehrte ihn Montags Mittag eines Besseren. »Wenn sie ihren Dienst nicht schon abgeleistet hätten.« »Ich weigere mich aber zu –«, setzte Arthur an, doch er wurde von einem lauten Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Portiersfeldwebel streckte den Kopf herein und räusperte sich. »Bitte um Entschuldigung, Gnädigste«, sagte er zu Dame Primus gewandt. »Lord Arthur, draußen ist ein Rekrutierungsoffizier. Sagt, er sei dienstlich hier, und er hat die richtigen Papiere. Er führt keine Waffen mit sich. Was sollen wir tun?« »Wir haben keine Wahl«, sagte Dame Primus. »Sir Donnerstag hat die Macht, dies zu tun. Haltet ihn ein paar Minuten hin, dann führt ihn herein. Arthur, du solltest mir am besten jetzt den Dritten Schlüssel geben.« »Sie liefern mich einfach aus?«, fragte Arthur aufgebracht. »Wir haben keine Wahl«, sagte Dame Primus noch einmal. Die Agenda blätterte sich ein paarmal um, und das Vermächtnis tippte etwas mit seinem Stift auf eine Seite, worauf Arthur nur noch wütender wurde. Er konnte es nicht erkennen, doch er wusste, da stand ein Tagesordnungspunkt wie ›Arthur aus der Gefahrenzone und in Sicherheit bringen ‹. »Ich werde den Dritten Schlüssel behalten«, sagte er laut. »Wahrscheinlich werde ich ihn brauchen.« »Wenn Ihr ihn mitnehmt, dann wird er Sir Donnerstag in die Hände fallen«, gab Montags Mittag zu bedenken. »Rekruten sind keine persönlichen Besitztümer gestattet. Alles, was Ihr braucht, wird Euch zugeteilt.« Arthur starrte Mittag an. Er traute seinen Ohren nicht. Sie nahmen alle einfach so hin, dass er mal eben für hundert Jahre in den Dienst der Armee des Hauses eintrat. »Ich werde nicht gehen«, sagte er und hielt den Dritten Schlüssel drohend hoch. Als dieser seine Laune spürte, wurde er länger und spitzer, bis Arthur eine Waffe in Händen hielt, die so groß wie er selbst war und deren Zacken die Länge seiner Unterarme erreichten. »Und jeder, der mich zwingen will, wird dafür büßen.« »Zweifach«, fügte eine Stimme unter dem Tisch hinzu. Kapitel Fünf »Ich fürchte, das wird nicht funktionieren, Lord Arthur«, meinte Dame Primus. Sie bearbeitete weiterhin mit aufreizender Gelassenheit ihre Agenda und sah Arthur nicht einmal an. »Die Schlüssel sind nur in ihrer eigenen Domäne souverän, wenn sie auch in den Sekundären Reichen gleichwertig sind.« »Was bedeutet das?«, wollte Arthur wissen. »Der Dritte Schlüssel besitzt seine volle Macht in der Grenzsee, der Zweite in den Fernen Weiten und der Erste im Unteren Haus«, erklärte Doktor Scamandros. »Sie funktionieren auch alle in den Sekundären Reichen, wo sie gleich mächtig sind. Bis auf den Siebten Schlüssel, glaube ich, der eine übergeordnete Stellung –« »Die Zeit drängt, Lord Arthur«, unterbrach Dame Primus. Sie klappte die Agenda geschäftsmäßig zu. »Wenn du mir den Dritten Schlüssel abtreten willst, dann muss es jetzt passieren.« »Ich will aber nicht zur Armee«, widersprach Arthur schwach. Sein Ärger war verebbt, und er fühlte sich nur noch traurig und allein, wie ein Junge, dessen einzige Verbündete sich unter dem Tisch versteckt. »Und schon gar nicht für hundert Jahre! Es muss doch einen Weg geben, das zu vermeiden.« »Wenn Ihr den Vierten Teil des Vermächtnisses finden könnt und den Vierten Schlüssel gewinnt, dann könnt Ihr Sir Donnerstags Platz als Kommandeur einnehmen und Euch selbst entlassen«, sagte Montags Mittag. »Wir werden unterdessen selbstverständlich fortfahren, selbst nach dem Vierten Teil des Vermächtnisses zu suchen«, erklärte Dame Primus. »Sobald wir ihn gefunden haben, können wir dir vielleicht helfen.« »Ich werde mit dir kommen, Arthur«, sagte Susi. Sie kroch unter dem Tisch hervor, setzte sich auf Blatts Stuhl und trank deren Orangensaft aus, bevor sie hinzufügte: »So schlimm kann es ja nicht sein.« »Du wirst nichts dergleichen tun«, widersprach Dame Primus. »Du hast hier Arbeit zu erledigen in deiner Eigenschaft als Montags Terz.« »Niemand meldet sich freiwillig für die Armee«, sagte Montags Mittag. »Man wird immer eingezogen. Abgesehen von den Bürgern, die schon als Soldaten erschaffen werden, meine ich. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt möglich ist, sich freiwillig zu melden.« »Ich schätze, wenn Arthur will, dass ich ihn begleite, dann ist das meine Arbeit«, wandte Susi hartnäckig ein. »Irgendwie habe ich auch das Gefühl, dass ich schon einmal in der Armee gewesen sein könnte. Wahrscheinlich bin ich vor Jahrhunderten eingezogen worden und habe meine Zeit abgedient und kann mich nur deshalb nicht richtig daran erinnern, weil es zwischen meinen Ohren weggewaschen worden ist. Vielleicht kehrt die Erinnerung ja zurück. Jedenfalls kann ich Arthur helfen, Teil Vier des Vermächtnisses zu finden.« »Danke, Susi!«, rief Arthur aus. Jetzt fühlte ersieh schon sehr viel besser. Mit Susi an seiner Seite sah die Sache schon ganz anders aus. »Ja, ich will, dass du mich begleitest. Du heiterst mich immer auf, ganz zu schweigen von deiner Hilfe … ich schätze … wenn ich wirklich gehen muss, dann sollte ich es jetzt tun.« Er stand auf, nahm den Dritten Schlüssel und ging zu Dame Primus. Sie glitt von ihrem Stuhl und verbeugte sich vor ihm. Als sie sich wieder aufrichtete, stellte Arthur verblüfft fest, wie sehr sie gewachsen war, seit sie drei Teile des Vermächtnisses enthielt. Sie war gut und gerne zwei Meter dreißig, vielleicht sogar zwei vierzig groß; aus der Nähe waren die winzigen Wörter zu erkennen, die über Haut und Kleider krochen. Da waren Tausende von kleinsten, altmodischen Druckbuchstaben in ständiger Bewegung und wechselten die Farbe, wenn sie zu Haut oder Kleidung wurden. Hier und da konnte Arthur ein Wort oder ein Satzfragment entziffern, Dinge wie: »Das Vermächtnis ist das Wort und das Wort ist …«. Das war wie bei einer Banknote, an der man auch nur alle Details erkennt, wenn man sie dicht vors Auge hält. »Weißt du noch die Worte, Lord Arthur, mit denen du mich zum Verwalter eines Schlüssels ernennst?« »Nein«, sagte Arthur. »Fangen Sie an, und ich spreche Ihnen nach.« »Na schön. ›Ich, Arthur, Herzog der Grenzsee, Lord der Fernen Weiten, Herrscher des Unteren Hauses, Träger des Ersten, Zweiten und Dritten Schlüssels zum Königreich, übertrage meiner treuen Dienerin, den vereinten Ersten, Zweiten und Dritten Teilen des Großen Vermächtnisses der Architektin, all meine Befugnisse …‹« Arthur wiederholte die Worte mechanisch; seine Gedanken waren anderswo. Der Skelettjunge machte ihm Angst, und er befürchtete, dass Blatt sich in Gefahr begab, ohne die geringste Aussicht auf Erfolg zu haben. Er hatte auch Angst um sich selbst. Schließlich war er nur ein Junge. Er sollte kein Rekrut in irgendeiner Armee sein, schon gar nicht wenn die aus unsterblichen Bürgern bestand, die viel zäher und stärker als er selbst waren. Dame Primus nahm den Dreizack, und zum ersten Mal fiel Arthur auf, dass die Handschuhe, die sie trug, in Wirklichkeit die Panzerhandschuhe des Zweiten Schlüssels waren, die nur etwas damenhafter als vorher aussahen. Und das Schwert, das aus den Uhrzeigern bestand, die den Ersten Schlüssel bildeten, steckte in ihrem Gürtel, größtenteils verborgen durch die Schleppe ihres langen Kleides, die sie wie ein Mantel umhüllte. »Danke, Arthur«, sagte Dame Primus. »Es ist wohl am besten, wenn ich den Atlas auch an mich nehme.« »Vermutlich wird er mir ohne den Schlüssel nicht viel nützen«, meinte Arthur. Er schloss den Atlas, der daraufhin wieder zu einem kleinen grünen Buch wurde, und gab ihn zögerlich her. Ihm war, als hätte er gerade alles verloren, was ihm überhaupt noch helfen konnte. »Ausgezeichnet! Ich werde unverzüglich mit der Arbeit an der Grenzsee beginnen«, kündigte Dame Primus an. »Wir werden auch keine Mühe scheuen, um den Vierten Teil ausfindig zu machen, und werden dich über unsere Fortschritte auf dem Laufenden halten.« »An der Rekrutenschule wird nur zweimal im Jahr Post zugestellt«, gab Montags Mittag zu bedenken. »Und den Rekruten ist es nicht gestattet, zu telegrafieren oder zu telefonieren.« »Wir werden Mittel und Wege finden«, sagte Dame Primus. »Und jetzt sollten wir den Rekrutierungsoffizier hereinbitten. Viel Glück, Arthur.« »Mir gefällt das Ganze immer noch nicht«, sagte Arthur. »Ich will, dass Sie herausfinden, wie ich von der Armee freigestellt werden kann.« »Wie du befiehlst, Lord Arthur.« Sie neigte den Kopf, doch verbeugte sie sich nicht, und Arthur beschlich einmal mehr das Gefühl, dass es dem Vermächtnis ganz recht wäre, ihn jahrhundertelang im Haus festsitzen zu sehen. Und wenn der Skelettjunge erst einmal seinen Platz zu Hause eingenommen hatte … nach seiner Entlassung aus der Armee würde Arthur vielleicht nichts anderes übrig bleiben, als ein Bürger zu werden. »Ich werde zurückkehren«, erklärte Arthur mit grimmiger Entschlossenheit. »Und zwar als ich selbst, nicht als Bürger. Und wenn ich Teil Vier des Vermächtnisses selbst finden und Sir Donnerstag den Vierten Schlüssel selbst entreißen muss, so werde ich auch das tun. Und ich erwarte von allen hier, dass sie Blatt helfen, wo immer sie können, insbesondere, falls … wenn … sie mit der Tasche hier ankommt.« »Ah, Lord Arthur«, meldete sich Scamandros nervös mit einem Seitenblick auf Dame Primus zu Wort, »erwarten ist ein so … wie soll ich sagen … ungenaues Wort –« »Da ist der Rekrutierungsoffizier«, unterbrach ihn Dame Primus. »Willkommen in Montags Tagraum, Leutnant!« Der Offizier nahm noch auf der Türschwelle Haltung an und salutierte zackig. Auf Arthur wirkte er wie aus den Seiten eines Geschichtsbuchs entsprungen. Er trug einen scharlachroten Waffenrock mit weißen Besätzen und einer Vielzahl goldener Knöpfe. Seine Beine steckten in einer schwarzen Hose mit zwei breiten, goldenen Längsstreifen, seine Füße in schwarzen Stiefeln mit Sporen, und ein hoch aufragender schwarzer Pelzhut mit blauen und weißen Federn machte ihn fast einen halben Meter größer. Dazu hatte er einen handgroßen Halbmond aus Bronze um den Hals hängen, in den Schnörkel und Zahlen eingraviert waren. Er blickte in die Runde und entdeckte Dame Primus, die unverkennbar die größte und wichtigste der Anwesenden war. »Ich bitte um Vergebung, Gnädigste«, ergriff der Leutnant das Wort. »Crosshaw ist mein Name, Rekrutierungsoffizier. Ich habe hier einen Einberufungsbescheid für einen gewissen Arthur Penhaligon, aber ich schätze, da muss ein Fehler vorliegen, denn darin hat dieser Arthur innerhalb des Hauses die Rangnummer … nun … sechs. Ich dachte, vielleicht fehlen da eine ganze Menge Nullen … Vielleicht gibt es jemand in Herrn Montags Stab, der Arthur Penhaligon heißt, damit ich das Einberufungsdokument auf seine Korrektheit prüfen kann?« »Es liegt kein Fehler vor«, erklärte Dame Primus und deutete mit einer pathetischen Handbewegung auf Arthur. »Bei der fraglichen Person handelt es sich um Lord Arthur Penhaligon, Herrscher des Unteren Hauses, Lord der Fernen Weiten, Herzog der Grenzsee, Sechster der Rangordnung innerhalb des Hauses. Ich bin Dame Primus, Teil Eins, Zwei und Drei des Vermächtnisses der Architektin.« Crosshaw schluckte vernehmlich, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und blickte dann in seine Papiere. Dort schien er Kraft zu finden, denn gleich darauf sah er Arthur an und marschierte geradewegs auf ihn zu, bis er unmittelbar vor ihm mit klirrenden Sporen zum Stillstand kam. »Ich bitte um Vergebung, äh … Lord Arthur. Da ich bis zur gestrigen Übernahme meiner neuen Aufgabe in einem entfernten Außenposten im Großen Labyrinth stationiert war, wusste ich nicht, dass es Veränderungen, ahm, unter den Treuhändern gegeben hat. Die Sache ist die … ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll … Soweit ich weiß, seid Ihr eingezogen, wenn Euer Name auf dem Einberufungsbescheid steht. Ich muss ihn Euch aushändigen.« Der Leutnant hielt ihm ein großes, quadratisches Pergament vor die Nase, auf dem viel Kleingeschriebenes zu sehen war; Arthurs Name stand deutlich erkennbar in einem freien Feld in der Mitte. »Was passiert, wenn ich ihn nicht nehme?«, erkundigte sich Arthur. »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Crosshaw. »Wenn Ihr ihn nehmt, werde ich Euch in einem Aufzug zum Großen Labyrinth geleiten, ins Rekrutencamp. Wenn Ihr ihn nicht nehmt, werden Euch, glaube ich, die dem Einberufungsdokument innewohnenden Kräfte trotzdem zum Rekrutencamp bringen … nur mit unangenehmeren Methoden.« »Dürfte ich einmal einen Blick auf das Schriftstück werfen?«, bat Doktor Seamandros, der herbeigekommen war und an Arthurs Schulter stand. Er setzte sich seine Brille mit den Kristallgläsern auf die Stirn, nicht auf die Nase, und betrachtete das Dokument. »Ah, ja, da haben wir’s. Höchst interessant. Wenn du nicht freiwillig gehst, Arthur, dann wird deine Gestalt umgewandelt, normalerweise in ein kleines Päckchen aus braunem Papier, das mit einer Schnur zugebunden wird, sodass es mit dem Postsystem des Hauses befördert werden kann … was bei den nach wie vor herrschenden Problemen im Unteren Haus keine besonders … äh … effiziente Art des Reisens wäre.« »Na gut, ich nehme ihn«, sagte Arthur resigniert. Er streckte die Hand danach aus und schrie entsetzt auf, als sich das Papier um seine Finger wickelte und begann, wie eine grauenhafte, fleischfressende Nacktschnecke seinen Arm hinaufzukriechen – allerdings verspürte er keinen Schmerz. »Seid unbesorgt!«, rief Crosshaw. »Es verwandelt sich nur in eine Rekrutenuniform!« Arthur wandte den Blick ab und versuchte, sich zu beruhigen. Das Papier schob sich weiter über ihn und raschelte dabei und bauschte sich auf. Als er schließlich an sich hinabsah, hatten sich seine Kleider in eine schlichte, blaue Uniform mit schwarzen Knöpfen, blauen Hosen und kurzen, schwarzen Stiefeln verwandelt. In einem weißen Gürtel aus Segeltuch mit Messingschnalle steckten ein weißer Munitionsbeutel und eine leere Bajonettschlaufe (wie er später lernte, wurde sie von den Soldaten aus unerfindlichen Gründen ›Franzmann‹ genannt). Aber das Einberufungspapier war noch nicht ganz fertig. Arthur zuckte zusammen, als es aus seinem Kragen hervor-und an seinem Hinterkopf hinaufkroch. Es schob sich auf seinen Kopf und verwandelte sich dort in einen kleinen, blauen Pillboxhut mit einem fest sitzenden, unbequemen Kinnriemen, der allerdings unter Arthurs Lippe statt unter seinem Kinn festgeschnallt war. »Ausgezeichnet, Rekrut«, sagte Crosshaw. Er zeigte jetzt keine Anzeichen von Nervosität mehr, wohingegen Arthur sich augenblicklich kleiner und unbedeutender vorkam. »Folge mir!« Der Leutnant salutierte vor Dame Primus, dann drehte er sich auf dem Absatz herum und ging einen Schritt in Richtung Tür. »Moment mal!«, rief Susi. »Ich komme mit!« Crosshaw drehte sich überrascht um. »Wie bitte?« »Ich melde mich freiwillig«, erklärte Susi. »Ich will Arthur begleiten.« »Wir nehmen keine Freiwilligen«, erwiderte Crosshaw. »Man wüsste nie, wen man bekommt.« »Aber ich glaube, dass ich vielleicht vorher schon gedient habe – ich bin wahrscheinlich in irgendeiner Reserve.« »Wir mobilisieren auch keine Reservisten«, stellte Crosshaw naserümpfend fest. »Insbesondere keine Pfeiferkinder, die zwischen den Ohren gewaschen wurden und deshalb nichts mehr wissen.« »Irgendwo hab ich noch einen Zettel«, murmelte Susi und kramte in ihren Taschen herum. »Ich kann dir nicht helfen, Fräulein«, wies Crosshaw sie mit Bestimmtheit ab. »Komm jetzt, Rekrut Penhaligon! Halte dich etwas gerader! Was ist das an deinem Bein?« »Ein Krabbenpanzer«, sagte Arthur. Im Gegensatz zu seinen Kleidern hatte der Krabbenpanzer die Begegnung mit dem Einberufungsbescheid überlebt; seine neue blaue Hose steckte darunter. »Für mein gebrochenes Bein.« »Von mir verschrieben«, ergänzte Doktor Scamandros. »Doktor Scamandros, zu Ihren Diensten. Major Scamandros, Armeezauberer a. D. Ich habe meinen Dienst vor etwa dreitausend Jahren geleistet, bevor ich mich zwecks fortgeschrittener Studien ins Obere Haus begeben habe.« »Ausgezeichnet, Sir«, sagte Crosshaw und bedachte ihn mit einem weiteren zackigen Salut. »Wenn es eine verschriebene medizinische Notwendigkeit ist, dann kann es bleiben.« »Lord Arthur ist ein Sterblicher«, klärte Scamandros den Offizier auf. Er zog einen kleinen Notizblock heraus und kritzelte hastig etwas mit einer Pfauenfeder, die silberne Tinte verschrieb. »Er braucht diesen Krabbenpanzer und den Ring an seinem Finger aus medizinischen Gründen. Man sollte ihm besondere Rücksichtnahme entgegenbringen.« Crosshaw nahm die dargebotene Notiz entgegen, faltete sie und steckte sie unter seinen Armelaufschlag. »Und ich komme trotzdem mit!«, sagte Susi. »Kein Platz für dich im Aufzug!«, fuhr Crosshaw sie an. »Wahrscheinlich wird dich nichts davon abhalten, Sir Donnerstag zu ersuchen, dich wieder einzustellen, falls du tatsächlich eine Reservistin bist. Ich an deiner Stelle würde es nicht tun, aber ich kann dich nicht daran hindern. Komm jetzt, Rekrut Penhaligon! Mit links, im Eilmarsch!« Crosshaw griff mit dem linken Fuß aus, und seine Stiefelabsätze krachten auf den Marmorboden, als er auf die Tür zuging. Arthur folgte ihm und tat sein Bestes, den Marschstil des Leutnants nachzuahmen und mit ihm im Gleichschritt zu bleiben. Plötzlich fühlte er sich unglaublich einsam, von allen verlassen und zutiefst im Zweifel, was die Zukunft bringen mochte. Stand er wirklich kurz davor, für die nächsten hundert Jahre in der Armee zu verschwinden? Kapitel Sechs »Die Kleider sind zu Eurer Zufriedenheit, Fräulein Blatt?«, erkundigte sich Nieser, als sie fertig umgezogen hinter dem großen Bücherregal in der Mitte der Bücherei hervorkam. »Ich denke schon«, erwiderte sie. Sie sah auf das T-Shirt einer Band hinunter, von der sie noch nie etwas gehört hatte; dem Batikwirbel mythologischer Kreaturen nach zu urteilen musste sie aus den frühen Siebzigern stammen. Darunter trug sie Jeans, aber sie waren nicht wirklich aus Denim, obwohl sie so aussahen, und das Markenetikett auf der Gesäßtasche bestand aus einem gestochen scharfen Hologramm, das ein Tier darstellte, von dem sie sicher war, dass es auf der Erde nicht existierte. »Wenn Ihr möchtet, können wir versuchen, einen Blick auf Euren Bestimmungsort zu werfen, bevor Ihr geht«, bot Nieser an. Er begab sich zu einer Reihe von Bücherregalen und zog an der Schnur, die an einem herabhing. Irgendwo läutete eine Glocke, und die ganze Wand der vom Boden bis zur Decke reichenden Regale rollte zurück und glitt zur Seite, um ein siebeneckiges Zimmer freizugeben, das mit dunklem Holz ausgekleidet war. Im Zentrum waren sieben große Standuhren so im Kreis angeordnet, dass ihre Zifferblätter auf den Mittelpunkt blickten. »Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Blatt. Sie hörte ein eigenartiges, dunkles Brummen und spürte dessen Schwingung, doch ein Ticken war von den Uhren nicht zu vernehmen. »Die Perpendikel der Uhren«, erklärte Nieser. »Der Herzschlag der Zeit. Dies sind die Sieben Zifferblätter, Fräulein.« »Ich möchte Ihren Vorschlag annehmen«, sagte Blatt. »Können Sie mir zeigen, wo der Skelettjunge ist?« »Wir können es ja mal versuchen«, antwortete Nieser. Er tippte sich mit einem langen Finger an die Nase und lächelte. Während seiner Zeit in Montags Diensten wäre dies eine schauderhafte Geste gewesen, vollführt von einer schmutzigen Hand mit langen Fingernägeln gegen eine mit Furunkeln übersäte Nase, aber jetzt war Niesers Hand sauber und manikürt und sein Riechorgan, wenngleich immer noch lang und hakenförmig, sah gesund aus. Sogar das lange, weiße Haar am Hinterkopf war gepflegt und mit einer dunkelblauen Samtschleife zurückgebunden, die farblich zu seinem langen Frack passte. »Bitte betretet den Kreis der Uhren erst, wenn ich es Euch sage, Fräulein Blatt.« Der Butler holte tief Luft, trat dann rasch zwischen die Uhren und begann, die Zeiger der nächststehenden zu bewegen. Danach rannte er von einer zur anderen und verstellte auf jedem Zifferblatt die Zeit. Nachdem er die siebte Uhr eingestellt hatte, verließ er hastig den Kreis. »Wir sollten jeden Moment etwas sehen können«, erklärte Nieser. »Anschließend werde ich die Einstellungen ein wenig justieren und Euch zurückschicken. Ich fürchte aber, ich kann Euch nicht zu einem früheren Zeitpunkt als einundzwanzig Minuten nach zehn am Donnerstag nach dem Mittwoch, an dem Ihr aufgebrochen seid, zurückkehren lassen. Ah – es beginnt!« Ein Tornado aus weißem Nebel schraubte sich aus dem Boden und wurde langsamer und breiter, je höher er stieg. Nach wenigen Sekunden füllte er den Kreis der Standuhren vollständig aus. Während Blatt noch fasziniert zusah, durchdrang ein silberner Glanz die Wolke und wurde so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Dann verblasste das Silber, und die Wolke wurde durchsichtig. Blatt blickte plötzlich auf ein Zimmer in einem Krankenhaus hinab, als wäre sie eine Fliege an der Decke. Es war ein typisches Einbettkrankenzimmer. In dem Bett lag Arthur – oder vielmehr, rief Blatt sich hastig in Erinnerung, war es der Skelettjunge, der darin lag. Er sah genau wie Arthur aus, und sie erschauderte, als sie sich eingestehen musste, dass sie keinen Unterschied bemerkt hätte, wenn sie nichts davon wüsste. Als Nächstes sah sie die Uhr an der Wand. Sie zeigte 10:25 an, was beruhigend war. Hoffentlich war es noch Donnerstag … Die Tür ging auf, und ein Arzt kam herein. Blatt zuckte zusammen, denn sie hatte nicht damit gerechnet, etwas zu hören. Aber das Geräusch der sich öffnenden Tür und die Schritte des Arztes waren so deutlich, als ob sie die Szene wirklich von der Decke des Zimmers aus miterlebte. »Hallo, Arthur«, sagte der Doktor. »Erinnerst du dich an mich? Dr. Naihan. Ich will nur kurz einen Blick auf deinen Verband werfen.« »Tun Sie das«, sagte der Skelettjunge. Blatt erschauderte erneut, denn die Stimme des Nichtlings klang genau wie die Arthurs. Der Doktor lächelte und zog die Bettdecke zurück, um sich den Hightechverband am Bein des Skelettjungen anzusehen. Bereits nach wenigen Augenblicken richtete er sich wieder auf und kratzte sich überrascht am Kopf. »Das ist … das verstehe ich nicht … der Verband scheint mit deinem Bein verschmolzen zu sein … aber das ist unmöglich. Ich hole besser Professor Arden.« »Was stimmt nicht mit dem Verband?«, wollte der Skelettjunge wissen. Er setzte sich auf und schlüpfte aus dem Bett, während Dr. Naihan den Hörer des Wandtelefons abnahm. »Nein, du darfst nicht aufstehen, Arthur!«, wies Naihan ihn zurecht. »Ich rufe nur schnell –« Bevor er seinen Satz beenden konnte, schlug ihm der Skelettjunge so fest mit der Faust vor die Kehle, dass der Arzt gegen die Sauerstoffanschlüsse an der Wand geschleudert wurde, wo er zu Boden glitt und reglos liegen blieb. Der Skelettjunge lachte, was halb nach Arthur und halb nach Ungeheuer klang. Er beugte sich herab und legte einen Finger an Naihans Hals, offensichtlich um zu überprüfen, ob er tot war. Dann hob er den Leichnam mit einer Hand hoch, wozu Arthur nie in der Lage gewesen wäre, und warf ihn gleichgültig in den Wandschrank. Danach ging er zur Tür, öffnete sie und sah kurz hinaus, bevor er auf den Flur trat. Die Tür schloss sich langsam hinter dem Nichtling und fiel mit einem endgültigen Klicken ins Schloss, das Blatt eine Gänsehaut verursachte. Ihr war nicht klar gewesen, was es hieß, einem Monstrum zu begegnen, das genau wie Arthur aussah und sich auch so anhörte, zumal es mit beiläufiger Unbekümmertheit Leute umbrachte. »Nun, Fräulein Blatt, ist es Zeit für Eure Rückkehr«, unterbrach Nieser ihre düsteren Gedanken und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Während seiner Worte verschwand die Krankenhausszenerie, und Blatt sah wieder nur die Holzverkleidung von Wänden und Boden und die brummenden Uhren. Der Butler betrat erneut den Kreis und verstellte eilig die Zeiger dreier Uhren. »Stellt Euch in den Kreis, schnell, bevor die Uhren schlagen!« Er sprang zurück, und Blatt trat hastig in die Mitte. Einen Augenblick darauf begannen alle Uhren gleichzeitig zu schlagen und erfüllten den Raum mit ihrem Klang, während die Umgebung zu schimmern anfing. Blatt wurde schwindlig, alles verschwamm, und dann überrollte sie eine Welle der Übelkeit, als ein weißes Leuchten sich über Wände, Boden und Decke ausbreitete. Bald konnte sie nichts mehr erkennen außer diesem Weiß. Sie stand kurz davor, loszuschreien oder sich zu übergeben – oder beides –, als die Helligkeit auf einer Seite zurückwich und eine Art Korridor enthüllte, den dasselbe weiße Licht einrahmte, dessen Mitte aber angenehm düster war. Eine Hand auf den Magen gedrückt wankte Blatt auf den Korridor zu und folgte ihm. Sie fühlte sich völlig orientierungslos, aber das weiße Licht schien sie anzutreiben. Sie konnte ihre eigenen Schritte nicht hören, auch nicht ihren Atem oder sonst einen Laut. Dann, unvermittelt, kehrte der Schall zurück. Es war, als brauste der Wind an ihren Ohren vorbei. Das Brausen wurde schnell schwächer und erstarb dann ganz. Einen Moment später erlosch das weiße Licht. Mit zusammengekniffenen Augen ging Blatt ein paar laute Schritte auf einem festen Untergrund, stolperte und fiel auf den Rücken. Ihr verwirrter Verstand brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass die Lichter, in die sie jetzt sah, zwar ebenfalls weiß, aber nur die Neonleuchten an einer blassblauen Decke waren. Sie setzte sich auf und sah sich um. Sie saß auf dem Boden eines Krankenhausflurs. Das Ostbezirkskrankenhaus. Sie erkannte das blasse Blau und das schauderhafte Braun wieder, eine schlimme Farbzusammenstellung. Auf dem Flur hielt sich keine Menschenseele auf, aber rechts und links waren jede Menge Türen. Und über der Schwingtür am Ende des Ganges hing eine Uhr. Ihrer Anzeige zufolge war es zehn nach zwölf, was sie unruhig machte, denn als sie zwischen den Sieben Zifferblättern auf den Skelettjungen herabgeblickt hatte, war es erst zehn Uhr fünfundzwanzig gewesen. Wenn immer noch Donnerstag war, dann hatte sie zwar nur gut anderthalb Stunden verloren, aber dennoch … Sie rappelte sich auf und überprüfte die nächstgelegenen Türen. Sie führten alle zu irgendwelchen Lagerräumen. Offenbar befand sie sich in einem Kellergeschoss, das nicht für Besucher bestimmt war. Und das hieß für sie, diesen Bereich schleunigst zu verlassen, bevor die Sicherheitskräfte der Klinik sie aufgriffen und von ihr eine Erklärung verlangten, was sie hier tat oder wie sie hereingekommen war. Wenige Minuten später, nachdem sie bereits einen schrillenden Türalarm hinter sich gelassen hatte, verließ Blatt einen Aufzug und betrat das Stockwerk, auf dem die Quarantänestation lag. Hier hatte sich seit ihrem letzten Besuch einiges verändert. Damals war die Wartezone voller Leute gewesen, die gekommen waren, um ihre Verwandten zu besuchen, die in Quarantäne gehalten wurden, um die Schlafseuche restlos einzudämmen. Jetzt wartete da niemand, sämtliche Stühle waren mit Plastikfolien überzogen, und in der Luft hing der verräterische Geruch von kürzlich versprühten Desinfektionsmitteln. Beunruhigend war jedoch, dass sich vor der Station statt der üblichen zwei Sicherheitsleutejetzt vier Wachmänner des Krankenhauses, ein halbes Dutzend Polizisten in voller ABC-Montur und ein paar Soldaten in Tarnschutzanzügen aufhielten. Bevor sie sich wieder in den Aufzug zurückziehen konnte, hatte sie schon sämtliche Blicke auf sich gezogen. »Keinen Schritt weiter!«, brüllte einer der Wachmänner. »Die ganze Etage ist Quarantänezone! Wie bist du hierhergekommen?« »Ich bin einfach in den Aufzug gestiegen«, antwortete Blatt mit kindlicher Unschuldsmiene. »Der sollte doch gar nicht mehr hochfahren«, grummelte der Wachmann. »Geh wieder rein und fahre ins Erdgeschoss.« »Ich werde mir doch nichts einfangen, oder?«, fragte Blatt. »Fahr wieder runter!«, herrschte der Wachmann sie an. Blatt wich in den Aufzug zurück und drückte den Knopf. Offensichtlich war in der Zeit, während sie weg gewesen war, einiges passiert. Dass das gesamte Quarantänestockwerk jetzt vom Rest der Klinik abgeschottet war, ließ nichts Gutes ahnen. Der Aufzug hielt im Erdgeschoss. Blatt trat hinaus und fand sich in einem aufgeregten Gedränge wieder. Überall wimmelte es von Menschen, im Eingangsbereich, in den Gängen und in den Wartezonen. Die dort saßen sahen jedoch wie Krankenhausangestellte aus, nicht wie Besucher, und ein rascher Blick nach allen Seiten ergab, dass überhaupt keine Patienten da waren. Sie begann sich durch die Menge zu schieben und überlegte fieberhaft, wie sie weiter vorgehen sollte. Als Erstes hatte sie festzustellen, welcher Tag heute war und was hier eigentlich vor sich ging. Dann würde sie sich den Weg zum Wäschelager suchen, in dem der Skelettjunge vermutlich Arthurs Hemdtasche versteckt hatte, diese dann aus dem Krankenhaus schaffen und die Manifestation des Hauses ausfindig machen, von der Arthur ihr vor Eiszeiten mal erzählt hatte, sie sei neben seinem Haus erschienen und habe dort mehrere Blöcke eingenommen … Dort hinzukommen würde sehr schwierig werden, stellte Blatt fest, als sie die Türen des Haupteingangs sah. Sie waren geschlossen und mit schwarzgelbem Quarantäneband versehen. An den Fenstern klebten Schilder, die, wie Blatt schon von Weitem erkennen konnte, mit den Worten CREIGHTON-ERLASS überschrieben waren, der gesetzlichen Grundlage, die der Regierung die Einrichtung einer Quarantänezone erlaubte sowie den Einsatz letaler Mittel, um die Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern. Draußen vor den Fenstern, auf dem Parkplatz des Krankenhauses, standen vier oder fünf gepanzerte Fahrzeuge und eine Unmasse Soldaten in biologischen Schutzanzügen. Dazwischen liefen einige orange gekleidete Gestalten hin und her mit drei neongelben Buchstaben auf dem Rücken: FBA, die Abkürzung für Federal Biocontrol Authority. Blatt schaute sich um, ob sie irgendjemand kannte. Aber da waren keine vertrauten Gesichter. Schließlich entdeckte sie einen Pfleger, mit dem sie gesprochen hatte, als Ed und der Rest ihrer Familie eingeliefert worden waren. Er saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt und nippte erschöpft an einer Tasse Kaffee. Rechts und links dösten zwei Schwestern mit dem Kinn auf der Brust, und vor ihnen auf dem Boden lagen leere Kaffeebecher und halb aufgegessene Sandwichs. Blatt bahnte sich ihren Weg durch die Leute und blieb vor dem Pfleger stehen. »Hi«, sagte sie. Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, und das Schild an seinem Hemd hing schief, sodass es nicht zu lesen war. Der Pfleger blickte auf. Einen Moment lang schienen seine Augen durch sie hindurchzusehen. Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und lächelte. »Oh, hi. Hat es dich hier erwischt, als sie uns zur Q-Zone deklariert haben?« »Jau«, bestätigte Blatt. »Nur dass ich in dem Wartezimmer … äh … dort drüben geschlafen habe, und jetzt bin ich gerade wach geworden und habe keine Ahnung, was passiert ist. Ist die Schlafseuche wieder ausgebrochen?« »Nein, es ist etwas anderes«, sagte der Pfleger. Er reckte sich, und Blatt konnte seinen Namen lesen. Pflegedienstleiter Adam Jamale. »Vielleicht ist es auch gar nichts, weißt du, aber sie wollen kein Risiko eingehen.« »Was ist denn passiert?« »Ich blicke selbst nicht durch.« Jamale schüttelte den Kopf. »Alles hat vor einer Stunde angefangen. Ich habe das Gerücht gehört, dass man Hinweise auf einen Angriff mit biologischen Waffen auf ein Mitglied des Personals gefunden hat.« »Ja, das stimmt«, schaltete sich eine der Schwestern gähnend ein. »Dr. Penhaligon soll das Opfer sein, was irgendwie begreiflich ist. Ich meine, wenn man jemanden ausschalten will, dann sucht man sich doch den Besten aus, stimmt’s?« »Aber wer würde so etwas tun?«, wunderte sich Blatt und war wegen Arthurs Mutter tief beunruhigt. »Und was für biologische Waffen?« »Vielleicht Terroristen«, meinte die Schwester. »Wir haben keine Einzelheiten erfahren. Nur dass Dr. Penhaligon ein Symptom bei sich bemerkt und sofort gemeldet hat. Sie ist momentan in völliger Isolation im zwanzigsten Stock.« »Ich hoffe jedenfalls, dass sie damit fertig wird, egal was es ist«, meinte Jamale. »Hast du gewusst, dass sie die Hälfte von dem ganzen Zeug, das wir zur Virenbestimmung benutzen, selbst erfunden hat? Angefangen mit der Schnell-Lyse I bis hin zum neuen DNA-Tiefenscan-PAG, das wir letzten Monat bekommen haben.« »Tatsächlich? Dass sie auch hinter der Schnell-Lyse steckt, habe ich nicht gewusst. Sie hat es jedenfalls nicht erwähnt, als wir den Kursus über antivirale Wirkstoffe –« Blatt schaltete ab. Bei dem Biowaffenangriff musste es sich um die grauen Sporen des Schimmelpilzes handeln, die der Skelettjunge verbreitete. Da er mittels Zauberei aus irgendeinem Aliending erschaffen worden war, hielt sie es für ausgesprochen unwahrscheinlich, dass die menschliche Medizin ein Gegenmittel fand. Aber möglicherweise könnte er abgeschwächt werden. »Ach ja, das habe ich vergessen«, sagte Blatt und unterbrach die Fachsimpelei der beiden. »Welcher Tag ist heute?« »Donnerstag«, teilte ihr Jamale mit. »Vielleicht würde dir ein wenig Schlaf guttun.« »Nicht nachdem ich meine Familie mit der Schlafseuche gesehen habe«, erwiderte Blatt. »Seitdem ist Schlaf nicht mehr so verlockend. Aber ich muss gehen. Danke!« »Keine Ursache«, sagte Jamale. »Pass auf dich auf!« »Ich werd’s versuchen.« Blatt winkte noch einmal und tauchte im Gedränge unter, während sie fieberhaft nachdachte. Was würde der Skelettjunge tun? Hatte er irgendein Ziel, außer Arthur zu ersetzen? Die Quarantäne könnte es ihm erschweren, die entscheidenden Leute mit dem Gedanken lesenden Pilz zu infizieren, andererseits war er ein Nichtling. Es gab nichts und niemand auf der Erde, der ihn hindern konnte, zu tun, was er wollte. Niemand außer ihr. Sie musste schnell Arthurs Tasche aufspüren, irgendwie die Absperrung um das Krankenhaus durchbrechen und das Haus finden. Sie wechselte die Richtung und bewegte sich auf die Cafeteria zu. Dem Atlas zufolge hatte der Skelettjunge für seinen Unterschlupf das zentrale Wäschelager gewählt. Vermutlich gab es irgendein Verfahren, mit dem saubere Handtücher, Tischdecken und Ähnliches von diesem Wäschelager zur Cafeteria kamen und zur Reinigung wieder dorthin zurücktransportiert wurden. Vielleicht einen Wäscheschacht oder etwas in der Art. Den brauchte Blatt jetzt nur noch zu finden. Sie schlängelte sich durch die Menge, und als sie den Eingang der Cafeteria fast erreicht hatte, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf ein vertrautes Gesicht. Arthurs Gesicht. Der Skelettjunge war dicht vor ihr. Er humpelte an einer Krücke. Während er sich durch die Leute schob, streckten sich zahlreiche helfende Hände aus, denn oft rutschte er aus und fiel fast hin; dann ergriff er die nächste Schulter oder den nächsten Ellbogen auf der Suche nach Halt. Bei jeder Berührung lächelte er und flüsterte: »Danke!« Kapitel Sieben Leutnant Crosshaw sprach im Aufzug kein Wort mit Arthur, jedenfalls nicht mehr, nachdem er ihn instruiert hatte, wie man Habtachtstellung einnimmt. Sie standen in einer sehr engen Ausgabe eines Militäraufzuges, die kaum mehr Platz bot als eine Telefonzelle. Etwa einen halben Meter von der Tür entfernt war auf dem Boden eine rote Linie gezogen; Arthur musste dergestalt strammstehen, dass die Spitzen seiner neuen Stiefel sie berührten. Es hatte ihn nicht sehr überrascht, dass sich der Aufzug hinter einer Tür in dem Gang vor dem großen Sitzungssaal verbarg. Er wusste, dass es hier überall Aufzüge zu verschiedenen Domänen des Hauses oder für besondere Zwecke oder Passagiere gab. Er stellte es sich ein bisschen vor wie die ganzen Tunnel, Kanäle und Schächte, die kreuz und quer unter einer modernen Stadt verliefen, in manchen Teilen geballt, in anderen nur dünn gestreut. Irgendwo existierte bestimmt eine Übersichtskarte für das komplette Aufzugsnetz des Hauses. Im Atlas würde so etwas natürlich zu finden sein … Arthur wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er und Crosshaw ihren Bestimmungsort erreichten. Im Gegensatz zu anderen Fahrstühlen des Hauses wartete dieser hier weder mit einem Führer noch mit einer Glocke auf; stattdessen besaß er ein Hörn, das einen einzelnen, klaren Ton blies, als die Tür aufsprang. Hinter der Tür lag eine windgepeitschte Ebene mit sehr kurzem, sehr braunem Gras. Der Wind war heiß, und hoch oben am Himmel brannte die Sonne oder zumindest die künstliche Sonne, die es in manchen Teilen des Hauses gab. Eine halbe Meile entfernt am Rand der Ebene war eine sehr geplant und ordentlich wirkende Siedlung von zwanzig bis dreißig Häusern und anderen größeren Gebäuden zu erkennen. Dahinter, in theoretisch westlicher Richtung, bemerkte er ziemlich überrascht einen tropischen Dschungel. Im Norden stieß die Ebene an eine Reihe schroffer Granithügel, und im Osten erhob sich eine mächtige Bergkette, die von Kiefern und Fichten bestanden und stellenweise schneebedeckt war. »Zehn Schritt vorwärts, Abteilung marsch!«, rief Leutnant Crosshaw. Überrascht von dem Kommando ging Arthur los und war sich im selben Moment unsicher, wie viele Schritte er getan hatte. Waren es einer oder zwei gewesen? Angst stieg in ihm auf, während er die restlichen Schritte zählte. Was würde passieren, wenn er es falsch machte? »Das waren zehn Schritte! Kannst du nicht zählen, Rekrut?«, brüllte eine neue und höchst unangenehme Stimme hinter ihm. Arthur blieb stehen und wollte sich umdrehen. »Augen geradeaus!«, schrie die Stimme und schien höchstens fünf Zentimeter von seinem linkem Ohr entfernt zu sein. »Stillgestanden!« »Äh, Feldwebel Helve, auf ein Wort«, schaltete Crosshaw sich zaghaft ein, als Arthur im Nacken bereits ein Einatmen spürte, das die nächste stimmliche Eruption ankündigte. »Jawohl, Sir!«, brüllte die Stimme, die offenbar Feldwebel Helve gehörte. Arthur wagte nicht, sich zu bewegen oder gar umzudrehen, obwohl er sich wirklich dringend an der Nase kratzen musste, denn die Hitze hatte schon eine Schweißperle auf die Reise von seiner Stirn zu seinem linken Nasenflügel geschickt. Leutnant Crosshaw und Feldwebel Helve unterhielten sich leise etwa eine halbe Minute lang hinter Arthurs Rücken. Was Crosshaw sagte, konnte er nicht hören, aber bei Helve war schon ein Flüstern lauter als bei anderen die normale Stimmlage, sodass er dessen Dialoghälfte mitbekam. »Wer?« »Es kümmert mich nicht das Schnurrhaar einer Erhobenen Ratte, wer er ist.« »Schlecht für die Moral, Sir. Kann man nicht machen. Ist das alles, Sir?« »Ich akzeptiere Übergabe eines Rekruten Penhaligon, Sir. Mit ärztlicher Empfehlung.« Arthur hörte Schritte und dann das Geräusch der sich schließenden Aufzugstür. Doch er wagte noch nicht, sich zu bewegen, obwohl der Juckreiz an seiner Nase mittlerweile fast unerträglich war. »Rühren, Rekrut!«, bellte Helve. Arthur entspannte sich, verzichtete aber aufs Kratzen. Er erinnerte sich vage, dass sein älterer Bruder Erasmus – der Major in der Armee war – einmal von den Dingen des Militärdienstes gesprochen hatte, die in Filmen immer falsch dargestellt wurden. Eins davon war der Unterschied zwischen ›Rühren‹ und ›Bequem stehen‹. Unglücklicherweise konnte auch Arthur sich nicht mehr genau an den Unterschied erinnern. Reglos dazustehen schien die beste Wahl zu sein. »Füße so weit auseinander, Hände hinter den Rücken, Daumen über Kreuz, Kopf hoch, Augen geradeaus!«, rief Helve. Er ging um Arthur herum und baute sich vor ihm auf. »Sag ›Jawohl, Feldwebel!‹« »Jawohl, Feldwebel!«, grölte Arthur und legte seine ganze Stimmkraft hinein. Dank Erasmus war ihm auch die Notwendigkeit bekannt, stets lächerlich laut zu antworten. »Gut!«, schrie Helve. Er nahm Haltung an und beugte sich zu Arthur vor. Er zählte nicht zu den größten Bürgern – maß noch nicht einmal zwei Meter –, aber er war mit den breitesten Schultern gesegnet, die Arthur je bei einem Bürger oder Sterblichen angetroffen hatte, wenn er die Grotesken des Grimmigen Dienstags einmal außer Acht ließ. Sein Gesicht war nicht so einnehmend, wie bei Bürgern üblich, mochte es aber durchaus einmal gewesen sein. Jetzt war es jedenfalls von einer Nichtsverbrennung verunziert, die sich vom linken Ohr bis zum Kinn erstreckte. Falls er jemals Haare auf dem Kopf gehabt hatte, so waren sie dem Rasiermesser zum Opfer gefallen. Wie der Leutnant trug auch Helve eine scharlachrote Uniform, aber auf den Ärmeln saßen drei breite goldene Streifen. Auf der linken Brust prangten drei Orden aus mattem Rotguss mit vielfarbigen Bändern. An einem dieser Bänder waren fünf kleine Spangen befestigt, das Band eines anderen zierte eine Reihe von winzigen silbernen Anstecknadeln in Sternenform, die so angeordnet waren, dass sie noch Platz für weitere ließen. »Leutnant Crosshaw sagt, dass du ein Sonderfall bist!«, brüllte Helve. »Ich mag keine Sonderfälle! Sonderfälle machen keine guten Soldaten! Sonderfälle helfen anderen Rekruten nicht, gute Soldaten zu werden! Deshalb wirst du kein Sonderfall sein! Verstanden!«- »Ich denke schon –« »Klappe halten! Das war keine Frage!« Feldwebel Helve lehnte sich plötzlich zurück, kratzte sich am Hinterkopf und schaute um sich. Arthur traute sich nicht, seinem Blick zu folgen, aber was immer dort zu sehen war oder auch nicht, schien den Feldwebel zu beruhigen. »Steh bequem, Rekrut. Die nächsten zwei Minuten werde ich von Bürger zu Pfeiferkind zu dir sprechen, nicht von Feldwebel zu Rekrut. Aber du wirst mir gegenüber niemals etwas davon erwähnen und erst recht keinem anderen gegenüber. Hast du mich verstanden?« »Jawohl, Feldwebel«, antwortete Arthur vorsichtig. Feldwebel Helve langte in seine Gürteltasche und zog eine flache Dose heraus, der er ein Zigarillo entnahm, das er allerdings nicht anzündete. Stattdessen biss er ein Ende ab und begann zu kauen. Dann bot er Arthur das andere Ende an. Der schüttelte den Kopf und nutzte die Gelegenheit, um sich schnell an der Nase zu kratzen. »Die Sache ist doch die, Penhaligon. Du solltest gar nicht hier sein. Da ist irgendwas Politisches am Laufen, stimmt’s?« Arthur nickte. »Ich hasse Politik!«, erklärte Helve. Zur Bekräftigung spuckte er einen ekligen Klumpen durchgekauten Tabaks aus. »Und deshalb werde ich Folgendes tun. Es ist nicht ganz legal, du musst also damit einverstanden sein. Ich will deinen Namen ändern. Nur während du hier bist. Auf die Art kannst du mit dem Unterricht weitermachen, die anderen Rekruten werden nicht abgelenkt, und wir werden keine Schwierigkeiten haben. Es wird nur hier in den örtlichen Aufzeichnungen stehen, nichts Dauerhaftes. Die Abschlussprüfung legst du unter deinem eigenen Namen ab. Falls du sie schaffst.« »In Ordnung«, sagte Arthur. Wenn er schon hier sein musste, war es für ihn nur von Vorteil, wenn er sich hinter einem anderen Namen versteckte. »Ich meine, jawohl, Feldwebel!« »Wie sollen wir dich nennen?« Helve nahm einen weiteren Bissen von seinem Zigarillo und kaute nachdenklich darauf herum. Arthur versuchte, nicht einzuatmen. Der Gestank des Tabaks war widerwärtig, schlimmer, als er es für möglich gehalten hätte. Falls es überhaupt Tabak war und nicht irgendein naher Verwandter davon, der aus einer anderen Welt in den Sekundären Reichen stammte. »Wie wär’s mit Ruhtra?«, schlug Helve vor. »Das ist Arthur rückwärts.« »Ruhtra … äh … vielleicht etwas, was sich besser anhört … oder weniger offensichtlich ist«, meinte Arthur. Er sah zum Horizont, wobei er die Augen gegen den grellen Sonnenschein zusammenkneifen musste, der so sehr mit dem üppig grünen Dschungel im Westen kontrastierte. »Wie wär’s mit Helios? Helios … hm … Grün? Ich könnte ein Tintenbefüller aus dem Unteren Haus sein.« Helve nickte und spuckte wieder aus. Er verstaute die übrig gebliebene Hälfte des Zigarillos wieder in der Dose und schob sie zurück in die Gürteltasche. Anschließend zerrte er ein Klemmbrett ans Licht, das mindestens fünfmal größer als die Tasche war, zog einen Bleistift hinter seinem Ohr hervor, obwohl dort vorher keiner zu sehen gewesen war, und nahm ein paar rasche Änderungen an den Papieren auf dem Brett vor. »Versteck diesen Ring«, sagte Helve, während er schrieb. »Den Krabbenpanzer kann man bei einem verletzten Pfeiferkind noch erklären, aber kein Rekrut besitzt einen persönlichen Gegenstand wie diesen Ring.« Arthur zog den Krokodilring vom Finger und ließ ihn in seine eigene Gürteltasche gleiten. Soweit er es ertasten konnte, war sie innen so groß wie außen, wohingegen die des Feldwebels offenbar transdimensional war. »Rekrut Helios Grün, diese Unterhaltung hat niemals stattgefunden«, schärfte ihm Helve mit ausnahmsweise leiser Stimme ein, während er das Klemmbrett zurück in die Tasche stopfte; sowohl Brett als auch die darauf befindlichen Blätter verbogen sich dabei auf bizarre Weise. »Jawohl, Feldwebel«, bestätigte Arthur. »Stillgestanden!«, brüllte Helve. Bei der plötzlichen Heftigkeit und Lautstärke machte Arthur vor Schreck einen Luftsprung und landete zitternd in Habtachtstellung. »Du siehst diese Gebäude, Rekrut! Das ist Fort Transformation, wo wir Bürger zu Soldaten machen. Wir werden jetzt dorthin marschieren, und du wirst mich stolz machen! Rücken gerade! Fäuste geballt, Daumen nach unten, links um, Eilmarsch!« Arthur setzte sich in Bewegung. Helve folgte ein paar Schritte links hinter ihm und befahl brüllend Korrekturen an Haltung, Gang und Armschwung sowie der zeitlichen Abstimmung dieser drei. Zwischen den praktischen Kommentaren lamentierte der Feldwebel, was er bloß verbrochen habe, dass man ihn mit diesem schwächlichen Exemplar eines Pfeiferkinds bestrafte. Als sie endlich das Fort erreichten, fragte sich Arthur, ob er jemals richtig marschieren lernen oder wenigstens Helves Anforderungen gerecht werden würde. Auch fragte er sich, wo die anderen alle waren. Soweit es sich am Stand der extrem heißen Sonne ablesen ließ, war es später Nachmittag; deshalb hatte er eigentlich erwartet, jede Menge Rekruten und Ausbilder vorzufinden, die sich im Freien aufhielten und … Militärzeugs machten. »Halt!«, schrie Feldwebel Helve, als Arthur die erste Gebäudereihe passiert hatte und gerade eine große Fläche festgetrampelter Erde betreten wollte, die mit weiß gestrichenen Felsbrocken eingegrenzt war und offensichtlich den Exerzierplatz darstellte. »Wenn ich den Befehl ›Rekrut, weggetreten!‹ gebe, wirst du dich schneidig auf deinem linken Fuß herumdrehen, den rechten anheben und ihn krachend neben deinem linken aufkommen lassen, exakt eine Sekunde lang strammstehen und dann schneidig zum Kasernenblock A marschieren, den du vor dir sehen wirst, falls du nicht ebenso nichtsverdammt blind wie dumm bist! Dort wirst du dich bei Korporal Axtraus melden. Rekrut! Waaaarte darauuuuf! Weggetreten!« Arthur schwenkte auf dem linken Fuß herum, stampfte mit dem rechten auf und marschierte dann mehr tapsig als schneidig vorwärts. Vor ihm lag nur ein Kasernenblock, also hielt er darauf zu. Es war ein einstöckiges, gekalktes Gebäude, das auf ein Meter hohen Pfählen ruhte. Eine Treppe führte zu einer Tür hinauf, an der ein rotes Schild angebracht war, und darauf stand in schwarzen Druckbuchstaben: KASERNENBLOCK A, ZWEITER REKRUTENZUG, KORPORAL AXTRAUS. Arthur erklomm die Stufen, stieß die Tür auf und marschierte hinein. Das Innere war größer, als es hätte sein dürfen, aber darüber wunderte sich Arthur kaum noch. Das war im Haus ganz normal. Der Raum hatte ungefähr die Größe eines Fußballplatzes, die Decke befand sich in sieben Meter Höhe. Das vorhandene Licht stammte von zirka zwanzig großen Sturmlaternen, die von den Dachbalken hingen. Es gab auch Fenster zu beiden Seiten, aber sie waren alle mit Läden verschlossen. In den Lichtkreisen der Sturmlaternen sah Arthur eine lange Reihe von Pritschen und großen, hölzernen Kleiderschränken, wie Kapitän Katzenkissen an Bord der Motte einen besaß. Es mussten mindestens hundert Betten sein, jedes mit einem Schrank daneben. Gegenüber standen rund dreißig in Dreiergruppen angeordnete Regale. Jedes war drei Meter hoch und zehn Meter lang und mit allen möglichen Waffen und Rüstungen vollgestopft, die in Arthurs Augen sehr alt und mitunter sehr seltsam wirkten. Eines enthielt eine Sammlung von geraden und gebogenen Schwertern, kleinen Rundschilden, großen, drachenförmigen Schilden, blauen Uniformröcken, gewaltigen, unhandlich aussehenden Pistolen, Greifklauen und Seilen. In einem anderen standen fünfzig oder sechzig Musketen, und jede krönte ein merkwürdiger, röhrenförmiger Hut aus straff gespanntem, weißem Segeltuch. Im ersten Moment glaubte Arthur, dass niemand anwesend sei, aber als er weiter in den Raum hineinging, bemerkte er am anderen Ende eine Schar Bürger in blauen Rekrutenuniformen. Im Näherkommen entdeckte er auch einen scharlachrot uniformierten Ausbilder, der den Gebrauch irgendeiner Waffe vorführte. Nach den beiden Goldstreifen an den Ärmeln zu urteilen handelte es sich um Korporal Axtraus. Die Bürger wirkten wie gewöhnliche Leute, lauter Männer und Frauen, die alle sehr gut aussahen, aber keiner war größer als eins achtzig, sodass sie vermutlich keine bedeutenden zivilen Positionen bekleideten. Niemand drehte sich um, als Arthur auf sie zumarschierte. Korporal Axtraus allerdings blickte kurz auf. Auch er war zirka eins achtzig groß und stämmig und wie Feldwebel Helve durch alte Nichtsverletzungen entstellt. In seinem Fall hatten sich ein ganzes Ohr und die Nase aufgelöst; an ihrer Stelle trug er ein Holzohr und eine Silbernase, die beide angeklebt zu sein schienen, denn Arthur konnte kein anderes Befestigungsmittel erkennen. »Du kommst zu spät, Rekrut!«, schnauzte Axtraus ihn an. »Du wirst aufholen müssen, während wir weitermachen.« »Jawohl, Korporal!«, rief Arthur. Er ging ein paar Schritte nach links und stellte sich an das eine Ende des Halbkreises. Weiter drüben sah er einen sehr kleinen Bürger, der zum Teil seinen Blicken entzogen war. Er entpuppte sich denn auch als Pfeiferkind, ein Junge ungefähr in Arthurs Alter, der aber wahrscheinlich schon Hunderte oder sogar Tausende von Jahren im Haus lebte. Er hatte kurzes, schwarzes Haar, eine sehr dunkle Haut und machte ein freundliches Gesicht; zumindest zog er ein bisschen die Mundwinkel hoch. Er winkte Arthur verstohlen zu, ohne dass sein Interesse an der Waffendemonstration des Korporals beeinträchtigt wurde. Falls es sich überhaupt um eine Waffe handelte. Arthur sah zu, wie der Korporal einen großen grauen Eisenblock an einem hölzernen Griff festhielt. An der Unterseite war ein regelmäßiges Muster von Löchern zu erkennen, und als der Korporal ihn vor sich auf den Tisch stellte, schoss Dampf daraus hervor. »Das ist das Gruppenbügeleisen«, erklärte der Korporal, wobei er es auf einen weißen Kragen presste. »Es ist immer heiß und wird eure Kleider verbrennen, wenn ihr es mit der gelöcherten Seite darauf liegen lasst. Ich werde jetzt die korrekte Vorgehensweise beim Bügeln der Nummer-Zwei-Regimentsparadeuniformkragen vorführen. Seht genau her!« Sämtliche Bürger beugten sich vor, während der Korporal das Bügeleisen sorgfältig sechsmal von rechts nach links über den Kragen bewegte. Dann stellte er es ab, drehte den Kragen um und wiederholte den Vorgang. »Hat das jeder kapiert?« Alle nickten, bis auf einen Bürger, der die Hand hob. Er war mit seinen fein geschnittenen Gesichtszügen und den strahlend blauen Augen der Bestaussehendste, doch unglücklicherweise wirkte sein Blick ziemlich leer. »Könntet Ihr das noch einmal machen, Korporal?« Arthur wiegte sich ganz leicht auf den Fersen und unterdrückte einen Seufzer. Es sah so aus, als ob das eine lange Bügellektion werden würde. Kapitel Acht »He, ist das nicht Emilys Sohn? Der sollte doch auf Isolation im Zwanzigsten sein!« Es war ein Arzt, der diese Worte ausrief und dabei auf den Skelettjungen zeigte, welcher ihm keine Beachtung schenkte, sondern durch die Türen der Cafeteria verschwand. Blatt zögerte, dann eilte sie dem Nichtling nach. Hinter sich hörte sie den Arzt noch einmal rufen, und schon setzten sich einige Sicherheitskräfte des Krankenhauses in Bewegung. Aber sie hatten auf der anderen Seite des zentralen Atriums gestanden und würden einige Minuten brauchen, um sich einen Weg durch die Leute zu bahnen. Die Gitter an den Ausgabeschaltern der Cafeteria waren heruntergelassen, doch der Raum war voller Menschen, die müde herumhockten oder mit dem Kopf auf dem Tisch schliefen. Die Quarantäne musste während des Schichtwechsels angeordnet worden sein, begriff Blatt, sodass alle Angestellten, die von ihrer Schicht kamen, hier festsaßen und nun versuchten, ein bisschen zu dösen oder zu schlafen. Nur wenige gehörten nicht zum Personal, denn Besuchszeit war nachmittags. Der Skelettjunge gelangte bereits ans hintere Ende der Cafeteria, denn er benutzte seine Krücke nicht mehr und bewegte sich weitaus schneller, als es jedem Menschen mit einem geschienten Bein möglich gewesen wäre. Noch immer berührte er im Vorbeigehen Leute an Schulter oder Rücken. Jede Berührung fördert die Ausbreitung des Schimmelpilzes, dachte Blatt. Es war vermutlich nur eine Frage von Stunden, bis der Skelettjunge den Verstand Hunderter von Krankenhausangestellten beherrschte und über eine Armee von Willenlosen verfügte. Der Geistfresser bog hinter den Ausgabeschaltern links ab und stieß eine Tür auf. Er machte sich nicht die Mühe, sich umzusehen, aber Blatt suchte trotzdem sicherheitshalber Deckung hinter dem breiten Rücken einer Schwester. Als sich die Tür hinter ihm schloss, rannte sie die restliche Strecke, horchte einen Moment lang, öffnete sie dann ebenfalls und wagte sich hindurch. Obwohl sie leiser werdende Schritte gehört hatte, fürchtete Blatt, der Skelettjunge würde mit erhobener Faust hinter der Tür auf sie lauern, um sie zu schlagen wie den Doktor, oder um sie einfach nur mit seinem Gedankenschimmel zu infizieren. Aber er war nicht da. Nur eine angelehnte Tür am anderen Ende des Ganges zeigte, welchen Weg er genommen hatte. Angelehnt war nicht der passende Ausdruck für den Zustand der Tür, stellte Blatt fest, als sie dort ankam. Die Hälfte mit dem elektronischen Schloss war unbeschädigt, aber die andere Hälfte mit den Scharnieren war aufgebogen, sodass kein Alarm ausgelöst worden war und die Tür in der Sicherheitszentrale nach wie vor als verschlossen galt. Eine raffinierte Methode, um eine Begegnung mit dem Wachpersonal zu vermeiden. Das bedeutete wahrscheinlich, dass der Skelettjunge bereits Zugriff auf die Gedanken einiger Klinikangestellter hatte, wurde Blatt klar. Andernfalls hätte er nicht wissen können, wo er auf der Hut sein musste. Er war seit mindestens fünf nach sieben des Vorabends auf der Erde; er konnte also den Schimmelpilz schon an zahlreiche Leute weitergegeben haben. Weiter den Gang entlang durchquerte sie noch eine verbogene Tür und dann noch zwei weitere auf der Feuertreppe. Blatt folgte dem Skelettjungen äußerst vorsichtig, indem sie ständig auf seine Schritte lauschte. An der misshandelten Tür zum dritten Untergeschoss hielt sie sicherheitshalber an und spähte um die Ecke. Der Skelettjunge ging soeben auf eine Tür zu, von der ihr ein Gefühl sagte, dass sie dicht bei seinem Unterschlupf liegen musste, dem zentralen Wäschelager. Der Nichtling blieb stehen und schaute plötzlich zurück Richtung Treppe. Blatt erstarrte zur Salzsäule und hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte. Einen Moment lang wähnte sie sich sicher. Dann hörte sie ein Zischen, das Arthur niemals von sich gegeben hätte, und schon kam der Skelettjunge auf sie zugesprintet. Ohne nachzudenken, rannte Blatt die Feuertreppe hinunter, denn das ging schneller als hochzulaufen. Sie war keine fünf Stufen weit gekommen, als ihr ihr Fehler bewusst wurde. Alle Türen, die nach unten führten, würden verschlossen sein. Dort gelangte sie nirgendwo hin. Sie saß in der Falle, und innerhalb von Sekunden würde ihr Verfolger auf der Treppe auftauchen. Panisch versuchte Blatt, viele Stufen auf einmal zu nehmen – und stürzte. Sie fiel mit dem Kopf voran, schlug hart auf einer Stufe auf und rutschte bis zum nächsten Absatz hinunter. Der Skelettjunge blieb fünf Stufen über ihr stehen und musterte eine bewegungslos daliegende Blatt, der das Blut aus den Haaren tropfte. Doch ihre Brust hob und senkte sich; sie atmete noch. Der Nichtling zögerte, dann stieg er langsam die restlichen Stufen hinab, streckte den Arm aus und berührte sie leicht am Handrücken. Zufrieden stieg er die Treppe hoch und sah begierig der Zwiesprache mit dem verhexten Fetzen Stoff entgegen, der die Quelle seiner Identität war. Als Blatt wieder zu sich kam, waren Schmerzen die alles dominierende Empfindung. Ihr Kopf tat richtig weh, und ihre gesamte linke Seite schien von der Schulter bis zum Fuß in Flammen zu stehen. Sie wusste nicht gleich, wo sie war, und glaubte sich an Bord der Fliegenden Gottesanbeterin. Bin ich aus der Takelage gefallen“?, fragte sie sich. Aber unter ihr befanden sich keine Holzplanken, sondern harter Betonboden. Und es war auch nicht Pfännchen, der sie anschrie. Es war … ein Lautsprecher. Blatt rollte sich herum und setzte sich äußerst behutsam auf. Eine Stimme dröhnte aus den Notfalllautsprechern, die über jedem Absatz an der Decke angebracht waren, durch den Treppenschacht. »… auf Hinweise auf die Biowaffe Codename Graufleck überprüfen. Die Symptome sind graue Flecken an Händen, Hals, Gesicht oder anderen nicht bedeckten Körperstellen. Wenn Sie die grauen Flecken an sich entdecken, halten Sie sich von anderen Personen fern. Begeben Sie sich unverzüglich in den dritten Stock zur Behandlung. Wenn Sie die grauen Flecken nicht haben und auch vorher nicht bemerkt haben, bleiben Sie an Ort und Stelle. Vermeiden Sie Hautkontakt mit allen Personen. Bleiben Sie im Inneren des Gebäudes. Für dieses Krankenhaus gilt ab sofort Biogefahren-Zone Rot gemäß Creighton-Erlass. Wer versucht, es zu verlassen, wird erschossen und eingeäschert.« Dieser Ansage folgte ein lauter Summton, dann wiederholte sie sich. Blatt fasste sich an den Kopf, wo er am meisten wehtat, am Hinterkopf. Es war nichts gebrochen, soweit sie es ertasten konnte, aber als sie ihre Finger hervorzog, waren sie blutverschmiert. Sie drehte die Hand um und unterdrückte ein Gefühl der Übelkeit. Plötzlich erstarrte sie; ihr Blick blieb auf dem Handrücken hängen. Er war braun, wie jeder Teil von ihr, der an Bord der Gottesanbeterin diversen Sonnen ausgesetzt gewesen war. Aber genau in der Mitte waren drei kleine graue Flecken. Jäh kehrte die Erinnerung zurück. Der Skelettjunge, der sich herumdrehte, um ihr nachzujagen. Ihr Sturz auf der Treppe. Dann … während sie ohnmächtig war, musste der Nichtling sie mit seinen Sporen infiziert haben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ihre Gedanken lesen und sie tun lassen konnte, was ihm beliebte. Er würde alles erfahren. Er würde sie vollständig beherrschen. Blatt kämpfte sich wacklig auf die Beine und begann, die Treppe hinaufzusteigen; sie musste sich am Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Warnmeldung aus den Lautsprechern wurde ständig wiederholt und hallte im Treppenschacht wider, wodurch ihr das Nachdenken noch erschwert wurde. Sie musste die Tasche in die Finger bekommen und das Haus finden. Doktor Scamandros würde … könnte sie vielleicht heilen. Mit schier übermenschlicher Willenskraft gelang es Blatt, ihren schmerzgepeinigten Körper wieder ins dritte Stockwerk hinaufzuschleppen; als sie dort ankam, verstummte die plärrende Bandansage. Sie ruhte sich ein paar Minuten auf dem Treppenabsatz aus, um ihre Kräfte und ihre Gedanken zu sammeln. Aber ihr fiel keine Alternative zu ihrem ursprünglichen Vorhaben ein: zum Wäschelager zu gehen und nach der Tasche zu suchen. Falls der Skelettjunge sich dort aufhielt, war die Sache aussichtslos. Aber falls nicht, und sie fände die Tasche, dann … Blatt schüttelte den Kopf und zuckte vor Schmerz zusammen. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun würde, aber es war ein erster Schritt. Ein Schritt nach dem andern, sagte sie sich. Ein Schritt nach dem andern. Sie nahm diesen Schritt in Angriff, indem sie langsam den Korridor zum Wäschelager entlangging und sich mit einer Hand an der Wand abstützte. Sie erreichte die Tür, vor der sie den Skelettjungen gesehen hatte, doch die war unbeschriftet, also ging sie weiter. Ein Schild an der nächsten Tür besagte, dass sie zu einem Lagerraum für Bürobedarf führte, also begab sie sich zur nächsten. Lagerraum für Elektronikteile. Blatt wandte sich auch von dieser ab, als ihr die Frage durch den Kopf schoss, warum die erste Tür nicht mit einem Schild versehen war. Jede Tür im Krankenhaus trug ein Schild. Warum diese nicht? Sie drehte sich um und ging zurück. Und tatsächlich, schwache Klebstoffreste verrieten die Stelle, wo das Schild abgerissen worden war. Aber warum sollte sich der Skelettjunge die Mühe machen, das zu tun? Blatt legte ein Ohr an die Tür und unterdrückte ein Stöhnen, denn sie hatte sich in der Entfernung verschätzt; ein stechender Schmerz durchfuhr ihren Hals. Zugleich erlebte sie einen Augenblick der Panik, denn sie fürchtete, sich einen Wirbel gebrochen zu haben. Aber ihr Kopf ließ sich gut bewegen, und der Schmerz schien mehr von den Muskeln auszugehen, die von der Halsseite zum Kinn verliefen. Sie ignorierte ihn und horchte an der Tür. Sie konnte etwas hören, aber es klang nicht nach dem Skelettjungen, eher nach einer Frau, die leise redete. Blatt lauschte weiter, aber sie hörte niemand antworten. Es schien, als spräche die Frau mit sich selbst. Blatt drehte am Türknauf und schob die Tür einen Spalt breit auf. Sie sah Regale über Regale voll zusammengelegter Bettlaken, Kissenbezüge und anderem Bettzeug. Da standen auch ein Handwagen und, mit dem Rücken daran gelehnt, eine Schwester, die ein langes, biegsames Stück Plastik in der Hand hielt, in dem Blatt das Türschild erkannte. »Du kannst hier nicht herein«, sagte die Schwester. »Warum nicht?«, wollte Blatt wissen. Sie machte keine Anstalten, die Tür weiter zu öffnen oder sie zu schließen. Die Frau sah nicht ganz normal aus. Es machte einen merkwürdigen Eindruck, wie sie an dem Handwagen stand. Als ob einige Muskeln in ihren Armen und Beinen nicht richtig zusammenspielten. »Er hat mir aufgetragen, niemanden hereinzulassen«, sagte die Schwester. »Und ein Schwert zu finden. Aber ich konnte kein Schwert finden. Nur das hier.« Sie schwang das Schild. »Ich will nur –«, setzte Blatt an, aber die Schwester hob die Hand. »Warte, er spricht zu mir …« Der Kopf der Schwester sank nach hinten, und Blatt sah noch etwas anderes, das ganz und gar nicht normal war. Die Augäpfel der Frau waren grau geworden, die Regenbogenhaut und die Pupillen völlig schwarz. Blatt zögerte nicht länger. Sie stieß die Tür auf, warf sich gegen die Schwester und drückte sie mit dem Rücken gegen den Wagen. Der krachte in ein Regal, das halb umkippte und die Schwester unter einem Berg von blau gestreiften Handtüchern begrub. Während die Frau sich heftig unter der Lawine von Bettwäsche hervorarbeiten wollte, zerrte Blatt noch mehr Sachen aus den Regalen und türmte sie auf den Wäscheberg. Kissen, Decken, Handtücher – alles, was ihr in die Hände kam. Gleichzeitig sah sie sich verzweifelt um. Wie sollte sie ein kleines Stück Stoff in einem Raum voller Wäsche finden? Ihr würden nur Minuten bleiben, vielleicht auch nur Sekunden. Die Schwester war größer und stärker als sie, erst recht da Blatt diesen Sturz hinter sich hatte, und weil der Skelettjunge wusste, was die Schwester wusste, und hören und sehen konnte, was diese hörte und sah, würde er wahrscheinlich noch mehr seiner geistigen Sklaven in das Wäschelager schicken. Falls er nicht sogar selbst kam. Die Brille. Ich könnte Doktor Scamandros’ Brille benutzen! Blatt durchsuchte fieberhaft ihre Taschen. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, das Brillenetui verloren zu haben, aber daran war nur die unvertraute Anordnung der Taschen an ihrer fremdartigen Jeans schuld. Das Etui steckte in einer schmalen Tasche knapp oberhalb der Kniekehle. Sie zog es hastig heraus, klappte es auf und setzte sich gehetzt die Brille auf. Das Wäschelager sah durch die rissigen Gläser ziemlich verändert aus, aber nicht, weil die Sicht unscharf oder durch die Sprünge beeinträchtigt gewesen wäre. Tatsächlich waren die Gläser für Blatts Augen sogar völlig makellos, doch sah sie eigenartige, verschwommene Farben an Stellen, wo vorher keine gewesen waren. Verzauberte Stellen, vermutete sie, oder etwas in der Art. Rasch ließ sie den Blick über die Regale schweifen und wurde sofort belohnt. Die diversen Wäschestücke waren sämtlich mit kühlen Grün- und Blautönen überzogen, nur ein Regal stach wie ein Leuchtfeuer aus den anderen hervor. Es strahlte von innen heraus in einem tiefen Rot. Mit einem einzigen Satz war Blatt bei dem Regal und riss einen Wall von Kissenbezügen ein. Dort, hinter dieser Brustwehr aus Leinen, stand eine durchsichtige Plastikschachtel, halb so groß wie ein Schuhkarton, die ursprünglich zur Aufbewahrung steriler Mullbinden gedient hatte. Jetzt lag ein einzelnes, rechteckiges, weißes Stück Stoff darin, aber mit Hilfe ihrer Brille konnte Blatt Reihen über Reihen winziger Buchstaben über die Hemdtasche laufen sehen, die von einem inneren Feuer glühten. Sie schnappte sich die Schachtel und trat den Rückzug an, wobei sie nur kurz innehielt, um ein weiteres Regal voll Handtücher über der Schwester auszukippen, die sich gerade hochrappeln wollte. Blatt hatte den Raum hinter sich gelassen und war auf dem Gang, als die Schwester den Kopf freibekam und hinter ihr herschrie; sie klang halb wie eine Frau und halb wie ein Junge. Was immer sie – oder der Skelettjunge – rief, wurde abgeschnitten, als die Tür hinter Blatt zuschlug. Den Wortlaut hatte Blatt zwar nicht verstehen können, aber der Tonfall ließ keine Zweifel an seiner Bedeutung. Der Skelettjunge wusste, dass sie mit dem Pilz infiziert war. Früher oder später würde er ihren Verstand beherrschen, und ihr würde keine Wahl bleiben, als die Schachtel und die Tasche wieder herzugeben. Schließlich konnte sie sowieso nirgendwo hin. Kapitel Neun Nach der Bügellektion demonstrierte Korporal Axtraus weitschweifig, wie man eine lehmig-weiße Paste auf die Rekrutengürtel auftrug, möglichst ohne sie sonst wo hinzuschmieren. Anschließend kam das Polieren der Stiefel an die Reihe; dazu wurde eine scheußliche, teerige Mixtur aufgetragen und das sehr schwarze, aber raue Resultat mit Sand glatt geschmirgelt, bevor eine glänzende Politur zur Anwendung kam, die bestimmt die klebrigste Substanz im Universum war. Als sie im Anschluss an diese Vorführungen üben mussten, was ihnen gezeigt worden war, unterhielt sich Arthur leise mit dem Kind des Pfeifers, dessen Name Fred Anfangsziffern Gold war. Er war ein Handschriftenvergolder aus dem Mittleren Haus und am Tag vorher eingezogen worden. Fred war optimistisch, was ihren künftigen Dienst in der Armee betraf, und begrüßte diesen sogar als willkommene Abwechslung von seiner nervtötenden Tätigkeit, Ziffern in wichtigen Hausdokumenten mit Blattgold zu verzieren. Er hatte gehört oder er erinnerte sich – was von beidem, wusste er nicht genau –, dass die Kinder des Pfeifers in der Armee normalerweise als Trommler oder andere Musikanten beschäftigt wurden, oder als persönliche Diener hochrangiger Offiziere. Das klang in seinen Ohren nicht allzu schlecht. Nach der abschließenden Lektion über Uniformpflege wurde die Gruppe zum Abendessen entlassen. Nur dass es keins gab – und es würde auch die nächsten sechs Monate keins geben, wie ihnen Korporal Axtraus mitteilte. Essen war ein Privileg und eine Ehre, die man sich durch gutes Betragen und vorbildliche Pflichterfüllung verdienen musste. Bis dahin wurde die Abendessenspause lediglich genutzt, um sich auf den Abendunterricht und die Ausbildung des nächsten Tages vorzubereiten. Arthur vermisste das Essen, obwohl er wie jedermann im Haus wusste, dass er es nicht zum Leben brauchte. Er verbrachte die Stunde, indem er die Ausrüstung und die Uniformen besah, die in seinem Spind und auf seinem Bett bereitlagen. Das Nützlichste von dem ganzen Kram war ein dickes, illustriertes Buch mit dem Titel Des Rekruten Kamerad, das in einem der vielen Abschnitte auch das Zubehör des Soldaten aufführte und bebilderte und kurz beschrieb, wo und wie es zu gebrauchen sei; trotzdem musste Arthur Fred bitten, ihm das ein oder andere zu erklären. »Wie kommt es, dass wir so viele verschiedene Uniformen haben?«, wollte er wissen. Fred blickte auf Arthurs Bett, wo sich die mehrteiligen Uniformen reihten: der Lederharnisch mit Kilt, der scharlachrote Waffenrock mit schwarzer Hose, der Ledermantel mit verstärkten Lederhosen, das waldgrüne Wams mit braunen Gamaschen, der lange Kettenpanzer mit Kettenhaube und eine verwirrende Vielfalt von Helmen, Stiefeln, Armschienen, Handschuhen und Lederverstärkungen. »Die Armee besteht aus verschiedenen Einheiten, die alle verschiedene Uniformen tragen«, erklärte Fred. »Deshalb müssen wir das ganze Zeug lernen, falls wir mal zur Legion, zur Horde oder zum Regiment geschickt werden … oder zu einer der anderen. Hab vergessen, wie sie alle heißen. Die Rüstung da mit den langen, schmalen Teilen, die ineinandergleiten und die man mit den Riemen verschnürt, das ist die Legionärskluft. Scharlachrot ist die Farbe des Regiments, und die Horde trägt knielanges Eisenzeug. Sie haben auch alle unterschiedliche Waffen. Wir werden sie alle noch kennenlernen, Helios.« »Ich sollte sie vielleicht nach diesem Plan hier sortieren«, meinte Arthur. Er legte Des Rekruten Kamerad aufs Bett und faltete das große Schaubild auseinander, das die korrekte Platzierung jedes einzelnen der 226 Gegenstände zeigte, für die Arthur jetzt persönlich verantwortlich war. »Obwohl ich sonst niemanden seine Sachen wegräumen sehe.« »Sie sind Bürger gewöhnlichen Ranges«, sagte Fred, dessen Bett und Spind Musterbeispiele militärischer Ordnung waren. Es klang, als ob damit alles erklärt sei. »Was meinst du damit?«, hakte Arthur nach, denn ihm erklärte das gar nichts. »Sie werden nichts tun, solange man es ihnen nicht sagt«, führte Fred mit einem verwirrten Seitenblick auf Arthur aus. »Sind die gewöhnlichen Bürger im Unteren Haus anders? Der ganze Haufen hier kommt aus dem Mittleren. Papierschneider, die meisten, und Florimel dort drüben eine Binderin Zweiter Klasse. Müssen ein Auge auf sie haben. Sie denkt, sie sollte Rekruten-Obergefreite sein, weil sie die höchste Haus-Rangnummer von uns allen hat. Ich schätze, sie wird schon noch herausfinden, dass das hier keine Rolle spielt. In den Augen der Armee sind wir Rekruten alle gleich: so tief unten, wie man nur sein kann. Es kann also nur aufwärts gehen. Ich glaube, ich kann es zum General bringen, bis meine Militärzeit abgelaufen ist.« Fred redete gern. Arthur hörte ihm zu, während er seine Ausrüstung verstaute, ein Vorgang, der weitaus schwieriger war, als die Illustration vermuten ließ. Obwohl Fred nur einen Tag vor ihm in Fort Transformation angekommen war, hatte er schon eine ganze Menge über ihre Ausbildung und die verantwortlichen Offiziere – oder Ausbildungskader, wie sie genannt werden sollten – und alles andere herausgefunden. »In der ersten Woche dreht sich’s nur darum zu wissen, wie man richtig aussieht und ein bisschen hin und her marschiert und so’n Zeugs«, erklärte Fred. »Zumindest steht das so auf dem Plan. Dort drüben.« Er deutete in Richtung Tür. Die war so weit weg und das Licht der Sturmlaternen so schwach, dass Arthur nicht erkennen konnte, worauf er zeigte. »Auf dem Schwarzen Brett, neben der Tür«, half ihm Fred. »Komm, lass uns mal einen Blick darauf werfen! Wir haben noch fünf Minuten, bis das Abendessen vorbei ist, und wir müssen nachher sowieso dort drüben sein.« »Woher weißt du das?«, wunderte sich Arthur. Seine Armbanduhr war verschwunden, als die Rekrutenuniform sich über seinen Arm hergemacht hatte. »Axtraus ist gerade durch die Hintertür verschwunden. Jetzt wird er um das Gebäude herum zur Vordertür gehen, hereinkommen und befehlen, sich in einer Reihe aufzustellen, so wie er es vorhin getan hat. Das nennt sich ›zum Appell antreten^ Frag mich nicht, warum. Du musst deinen Hut aufhaben.« Arthur setzte seinen Pillboxhut auf und verzog das Gesicht, als er sich den Kinnriemen unter die Lippe statt unters Kinn schnallte, wo nach seinem Dafürhalten die angemessene Stelle für einen Kinnriemen gewesen wäre. Aber alle anderen trugen ihre Hüte auf dieselbe Weise, und davon abgesehen ließ einem die Länge oder vielmehr die Kürze des Riemens auch gar keine andere Wahl. »Fertig?« Fred stand in Habtachtstellung neben Arthur. »Wir müssen überallhin marschieren, oder wir werden angeschrien.« »Von wem?«, fragte Arthur. Die anderen zwanzig Bürger ihres Zuges lagen alle auf den Betten und starrten die Decke an. »Feldwebel, Korporale … man nennt sie Unteroffiziere«, erklärte Fred. »Uffze. Sie tauchen auf geheimnisvolle Weise auf. Besser, man riskiert das nicht.« Arthur zuckte die Schulter, und als Fred losmarschierte, passte er sich seinem Rhythmus an. Nach dem ersten Dutzend Schritte hatte er das Gefühl, den Dreh rauszuhaben, hörte auf, sich über seine Füße Sorgen zu machen, und konzentrierte sich auf seinen Armschwung. Auf die richtige Weise stehen zu bleiben – Halt machen, wie Feldwebel Helve es nannte und ihm ausführlich erklärt hatte – war schon etwas schwieriger. »Ich gebe das Kommando, soll ich?«, fragte Fred, als sie sich der Wand und dem Schwarzen Brett näherten. »Muss es geben, wenn der rechte Fuß runterkommt, dann machen wir einen Schritt mit dem linken, warten … nein … hoppla! Halt!« Fred hatte zu lange gewartet, und beide mussten komische kleine Schritte machen, um nicht gegen die Wand zu prallen, wodurch sie völlig aus dem Takt zum Stehen kamen. Arthur sah Fred an und wollte gerade in Gelächter ausbrechen, doch das Lachen gefror ihm zu einer Grimasse, weil Feldwebel Helve bedrohlich aus dem Schatten auftauchte. »Was für eine Fortbewegungsart sollte diese Missgeburt der Schande darstellen?«, schrie der Feldwebel sie aus vollem Halse an. Ein solider Offiziersstock mit Messingspitze erschien in seiner Hand, zischte durch die Luft und zeigte in Richtung ihrer Betten. »Im Geschwindschritt zurück zu euren Betten, aber wie Soldaten und nicht wie fußlahmes hinkendes Zivilistenpack!« Fred sauste davon wie der Blitz; er marschierte, aber in viel schnellerem Tempo. Arthur folgte ihm etwas langsamer, bis ihm plötzlich Helve Beine machte, der so dicht an seinem Nacken losbrüllte, als säße ihm der Feldwebel auf der Schulter. »Geschwindschritt! Wenn ich geschwind sage, dann meine ich auch geschwind! Doppelt so schnell wie normaler Marsch, Rekrut Grün!« Arthur verdoppelte sein Tempo, derweil Helve mit einer Schnelligkeit hinter ihm hin und her lief, die nach Arthurs Schätzung noch einmal das Doppelte seiner eigenen betrug und möglicherweise auch nur Feldwebeln zur Verfügung stand. »Rücken gerade, Kinn vor, Arme schwingen! Nicht so hoch!« Als Arthur die halbe Strecke zum Bett zurückgelegt hatte, verließ Helve im Sauseschritt den Lichtkreis der Sturmlaterne über ihm. Bevor Arthur mehr als zwei Schritte machen konnte, tauchte der Feldwebel am nächsten Bett wieder auf, schlug seinen Offiziersstock dem darauf ruhenden Bürger auf die Stiefelsohlen und schrie etwas, das sich wie ein einziges Wort anhörte: »Sofort aufstehen zur Inspektion ihr dummdämlichen-Dumpfbacken klumpen ranzig gewordenen Nichts!« Der Bürger war so schnell auf den Beinen, dass verschiedene Ausrüstungsgegenstände von seinem Bett geschleudert wurden. Wie an Fäden gezogen sprangen sämtliche Bürger nacheinander aus ihren Betten. »Auf dieser Linie der Größe nach antreten!«, befahl Feldwebel Helve. Er fuchtelte mit seinem Stock herum, und ein leuchtend weißer Strich erschien auf dem Boden. »Man wird euch so lange nicht auf dem Exerzierplatz von Fort Transformation sehen, bis ich sicher bin, dass ihr mir keine Schande bereitet! Stattdessen werdet ihr hier drin exerzieren! Jeden Abend nach dem Essen und jeden Morgen eine Stunde vor Sonnenaufgang, angezogen und ausgerüstet wie dem Ausbildungsplan zu entnehmen ist, den ihr bei der Südtür ausgehängt findet. Stillgestanden!« Arthur schaffte es kaum, rechtzeitig das Ende der Reihe zu erreichen, um Haltung anzunehmen. Weil Fred ein bisschen größer war, trat er zu Arthurs Rechten ins Glied. Beide Jungen starrten geradeaus, während Helve vorbeimarschierte und hier und da stehen blieb, um Bürger aus der Reihe zu ziehen und umzustellen. Als er zu Arthur kam, rümpfte er die Nase, vollführte eine Kehrtwendung, als würde er von unsichtbaren Drähten gelenkt, marschierte zurück, baute sich vor der Reihe auf und schrie: »Rührt euch!« Nur eine Hälfte der Bürger gehorchte, die andere stand weiterhin stramm. Von denen, die sich bewegten, bewegten die meisten das falsche Bein oder fuchtelten mit den Armen oder taten andere Dinge, die den Anstoß des Feldwebels erregten, welcher denn auch nicht müde wurde, ihnen mitzuteilen, was sie falsch gemacht hätten und wie sehr ihm das missfallen habe. Zwei Stunden später, nach Hunderten von »Stillgestanden!« und »Rührt euch!«, fiel Arthur aus schierer Erschöpfung hin. Zwar hatte sein krabbengepanzertes Bein ihn nicht im Stich gelassen, doch die ständige Aktivität war für seinen gesamten Körper zu viel. Helve marschierte zu ihm hin und blickte auf ihn herab. Als Fred sich bückte, um Arthur hochzuhelfen, befahl der Feldwebel ihm, stillzustehen. »Du bist ein schwaches Schilfrohr, Rekrut Grün!«, schrie Helve. »Schwache Schilfrohre führen zu schlecht geflochtenen Körben! Dieser Zug wird kein schlecht geflochtener Korb sein!« Was}, dachte Arthur. Verbissen kämpfte er sich auf die Füße und versuchte, Haltung anzunehmen. Helve starrte ihn mit aggressiv vorgerecktem Unterkiefer an. Dann drehte er sich abrupt weg und nahm seine Position vor dem Zug wieder ein. »Wecken ist eine Stunde vor Morgengrauen«, verkündete er. »Zu diesem Zeitpunkt werdet ihr in Nummer Zwei Rekruten-Felduniform exerzieren, es sei denn ihr seid zu einer speziellen Parade abkommandiert, in welchem Fall ihr Nummer Eins Rekruten-Paradeuniform tragen werdet. Zug! Weggetreten!« Arthur machte linksum kehrt, stampfte mit dem Fuß auf und marschierte weg, ebenso Fred und acht andere des Zuges. Die Übrigen drehten sich ein Stück nach rechts oder einmal ganz um die eigene Achse, stießen mit ihren Nebenleuten zusammen und fielen hin. »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Fred. »Hätte nicht gedacht, dass ein bisschen Trampelei dich umhaut. Ist ja nicht so, als ob wir noch richtige Sterbliche wären.« »Das ist das Problem«, sagte Arthur völlig erschöpft. »Ich … ich bin sozusagen … ein bisschen durch Zauberei beeinträchtigt. Deshalb bin ich jetzt sterblicher als die meisten Pfeiferkinder.« »Donnerwetter!«, rief Fred äußerst interessiert aus. »Wie ist denn das passiert?« »Ich darf nicht darüber sprechen.« »Ich hab gleich gewusst, dass im Unteren Haus etwas vor sich geht«, erklärte Fred. »Bei der nicht zugestellten Post und dem ganzen Kram. Aber wir haben nie erfahren, was tatsächlich geschehen ist. Hat Herr Montag was getan, was er nicht hätte tun sollen?« »Herr Montag?«, fragte Arthur. »Dann hast du noch gar nicht gehört, dass –« »Was gehört?« Fred schien nach Neuigkeiten förmlich zu lechzen. »Ich hab gar nichts gehört, so viel steht fest. Zwei Jahre lang keine Post, und Zeitungen gab’s auch keine. Alles die Schuld des Unteren Hauses, wenigstens hat das mein Boss gesagt.« Arthur gab keine Antwort. Fred war ein guter Kerl, und er glaubte, dass sie Freunde werden würden. Aber Arthur könnte es gefährlich werden, wenn seine wahre Identität ans Licht käme, und deshalb wollte er Fred nicht vorzeitig zu viel erzählen. »Was gehört?«, hakte Fred nach. »Ich darf nicht darüber sprechen«, wiederholte Arthur. »Tut mir leid. Wenn … wenn ich die Erlaubnis bekomme, dann erzähle ich dir davon.« »Erlaubnis von wem?« »Schau, ich kann wirklich nicht darüber sprechen. Ich will jetzt schlafen gehen. Wir müssen … ich weiß nicht … bestimmt bald wieder aufstehen.« Arthur klammerte sich an Freds Schulter, denn der Boden schwankte plötzlich. Er war so müde, dass es ein Weilchen dauerte, bis ihm klar wurde, dass es nicht am Boden lag. Er selbst schwankte; vor lauter Erschöpfung konnte er nicht einmal mehr gerade stehen. »Wir sollten uns besser zuerst den Plan anschauen«, sagte Fred geduldig. »Mir hat der Tonfall nicht behagt, in dem er spezielle Parade‹ gesagt hat.« »Geh du«, stöhnte Arthur. »Ich glaube nicht, dass ich es bis dorthin schaffe.« »Doch, das schaffst du«, meinte Fred ermutigend, schob Arthurs Hand weg und drehte ihn an der Schulter um. »Der kleine Spaziergang wird dir guttun.« Arthur ächzte und versuchte, sich nach den Betten hinzuwenden, doch Fred stupste ihn vorwärts. »Ja, ja, schon gut.« Arthur gab sich geschlagen und bemühte sich um einen klaren Kopf. »Dann lass uns eben gehen. Liiinksum, Abteiluuung marsch!« Dank Arthurs Kommando gelang es ihnen diesmal, ordentlich anzuhalten. Nachdem sie sich mit nervösen Blicken vergewissert hatten, dass ihnen kein Feldwebel auflauerte, studierten sie die verschiedenen Blätter am Anschlagbrett. Fred fiel als Erstem auf, dass ihre Namen erschienen waren, ganz von allein, unter einer einzelnen Überschrift auf einem separaten Blatt. »O nein!«, sagte er und tippte mit dem Finger auf das Papier. »Das ist echt Pech!« Arthur las sich die Notiz durch. In seinem ermatteten Zustand konnte er sich nicht gleich auf die Worte konzentrieren, und selbst dann sagten sie ihm nichts. »›Rekruten H. Grün und F. Gold bei den Badezimmeraufsehern im Verwaltungsgebäude Blau um 0600 melden.‹ Was ist daran so schlimm?« Fred sah ihn mit ungläubig aufgerissenen Augen an. »Badezimmeraufseher, Helios! Aus dem Oberen Haus!« Arthur sah immer noch verwirrt drein. »Säuberung zwischen den Ohren, Helios! Sie sind hier, um uns zwischen den Ohren zu waschen! Morgen früh!« Kapitel Zehn Blatt zögerte auf dem Gang. Sollte sie zurück zur Feuertreppe gehen oder mehr vom dritten Untergeschoss erkunden? Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, aber durch ihre Spezialbrille sahen die Treppenstufen unheilvoll rotstichig aus, daher beschloss sie, auf diesem Stockwerk zu bleiben. Die Schachtel mit der wertvollen Tasche fest umklammert, hinkte sie den Gang entlang und schob sich durch die Schwingtür, die tiefer ins Krankenhaus führte. Selbst wenn die Schwester sie nicht verfolgte, würden es bestimmt andere Opfer des Skelettjungen tun. Sie musste ein Versteck finden, wo sie sich ausruhen und den nächsten Schritt planen konnte. Aber das war leichter gesagt als getan. Insbesondere, weil jede Tür auf diesem Gang abgeschlossen war. Blatt zwang sich, schneller zu gehen, auch wenn ihr der Kopf wehtat, denn ihre Möglichkeiten schwanden zusehends. Dieser Gang würde sich womöglich ebenso als Falle entpuppen wie die Feuertreppe: Falls sich keine der Türen öffnen ließ, hatte sie sich in eine Sackgasse manövriert. Sie atmete erleichtert auf, als sie vor einer Tür orangene Warnkegel und ein Schild VORSICHT RUTSCHGEFAHR entdeckte. Aber dahinter befand sich nur ein winziger Raum, nicht viel größer als ein Schrank, der größtenteils von einem mächtigen, roten, senkrecht verlaufenden Rohr eingenommen wurde, das mit FW STEIGLEITUNG NASS gekennzeichnet war – was immer das heißen mochte. Schließlich, das Ende des Ganges war schon in Sicht, fand Blatt eine Tür, die nicht verschlossen war. Sie schlüpfte hindurch, zog sie hinter sich zu und sperrte ab, ohne sich vorher mit einem prüfenden Blick aufzuhalten. Es war eine Waschküche mit vier gewaltigen Waschmaschinen auf der einen und vier nicht minder gewaltigen Trocknern auf der anderen Seite. Sie waren alle abgeschaltet, obwohl mehrere mit Schmutzwäsche gefüllte Körbe auf Rollen davorstanden. In einer Ecke gab es einen Tisch mit einem Stuhl und einem Telefon. Als Blatt den Apparat sah, kam ihr ein Gedanke. Sie hatte zwar keine Ahnung, was es ihr nützen könnte, aber sie würde einen Freund anrufen. Oder, genauer gesagt, ihren Bruder Ed. Ed und sein Mobiltelefon waren unzertrennlich, und seit Beginn seiner Genesung von der Schlafseuche hatte er aus der Quarantäne heraus mit seinen Freunden SMS ausgetauscht. Blatt hob den Hörer ab und wählte. Der Anruf ging durch, aber Ed meldete sich nicht sofort. »Nun mach schon!«, drängte Blatt. Sie hatte keine Lust, auf die Mailbox umgeleitet zu werden. »Hallo?« »Ed, ich bin’s, Blatt!« »Blatt? Wo steckst du? Mama und Papa drehen bald durch hier drin!« »Ich bin im Krankenhaus, im Untergeschoss. Hör zu, ich weiß, das klingt jetzt merkwürdig, aber ich bin irgendwo anders gewesen … ich meine, so wie auf einem ganz anderen Planeten … mit Arthur Penhaligon zusammen. Es ist kompliziert, aber ein Feind von Arthur ist hier und der ist hinter mir her und ich muss hier raus –« »Blatt! Hast du dir den Kopf gestoßen oder so was?« »Naja, schon … nein! Ich weiß, dass es sich verrückt anhört. Erinnerst du dich noch an die Hundegesichter, die wir gesehen haben?« »Oja …« »Die haben auch damit zu tun. Und die neue Biowaffe, dieses Graufleck-Zeug, das kommt auch von denen. Oh, und der Arthur, der jetzt hier ist, ist nicht der richtige Arthur. Ich nehme nicht an, dass er in die abgesperrten Quarantänezonen kommen wird, aber falls doch, lass dich nicht von ihm anfassen. Nicht mal ein Händeschütteln oder so was.« »Blatt, du machst mich fertig! Was soll ich Mama und Papa erzählen? Sie haben gedacht, dass du bei der Wasserexplosion verletzt worden bist und dich bisher keiner gefunden hat.« »Was für eine Wasserexplosion?« »Im fünften Stock. Irgendein dickes Rohr, sie nennen es Löschwassersteigleitung, ist geplatzt und hat eine ganze Menge Zimmer überflutet. Das war die Sondermeldung, bis dieses Graufleck-Zeug aufgetaucht ist.« »Die Grenzsee …«, flüsterte Blatt und dachte sofort an die Welle, die sie und Arthur aus diesem Sekundären Reich getragen hatte. »Was?« »Spielt keine Rolle«, sagte Blatt hastig. »Ich muss herausfinden, wie ich aus diesem Krankenhaus wegkomme. An der Quarantäneabsperrung vorbei.« »Blatt! Sie werden dich erschießen! Ich weiß nicht … entspann dich doch mal. Du klingst völlig gestresst.« »Ich bin gestresst! Also, fällt dir etwas dazu ein oder nicht? Ich habe nicht viel Zeit.« »Moment mal, Papa will mit dir sprechen –« »Blatt?« Blatts Vater klang sehr besorgt. »Papa, schau, ich weiß, es hört sich merkwürdig an, aber ich bin da in etwas reingeraten –« »Blatt, wir sind einfach nur erleichtert, von dir zu hören. Bleib, wo du bist, und leg nicht auf! Ich sorge dafür, dass die Polizei zu dir kommt –« »Papa, ich brauche keine Polizei! Das ist kein … es ist nichts … hör mal, ich kann dir jetzt nichts erklären. Ich hab dich lieb!« Blatt legte den Hörer auf die Gabel, ließ sich auf den Stuhl fallen und presste die Finger an die Stirn. Dabei fiel ihr auf, dass sie noch immer Scamandros’ Brille trug. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sie abzunehmen, denn es war ein wenig störend, überall die farbigen Stellen zu sehen. Dann entschied sie sich jedoch dagegen; vielleicht würde sie mit ihrer Hilfe ein paar nützliche Dinge entdecken. »Es muss doch irgendeinen Weg nach draußen geben«, sprach sie sich selbst flüsternd Mut zu. Ich kann durch keinen der Haupt- oder Personaleingänge oder so was im Erdgeschoss hinaus. Es hat keinen Sinn, in die obersten Stockwerke zu gehen, denn da oben führt kein Weg nach draußen, außer ein Hubschrauber oder ein Fesselballon gabelt mich auf dem Dach auf, und das wird nicht passieren. Aber im Keller … da ist die Tiefgarage. Deren Eingänge werden auch bewacht sein. Alle Eingänge für Leute oder Autos werden bewacht sein. Plötzlich klapperte der Türgriff. Blatt fuhr zusammen. Sie hörte Männerstimmen auf der anderen Seite und erstarrte, denn bestimmt würden sie gleich die Tür aufsperren oder einschlagen. »Abgeschlossen«, sagte ein Mann. »Versuchen wir’s bei der nächsten.« Blatt horchte gespannt. Sie hörte Schritte, dann einige Worte, die nicht zu verstehen waren, dann wieder Schritte, die sich entfernten. Die Suche hatte begonnen. Das waren entweder Sicherheitskräfte der Klinik gewesen, die sie auf einem Überwachungsmonitor entdeckt hatten, oder geistige Sklaven des Skelettjungen. Vielleicht sogar beides in einer Person, wurde ihr klar. Ich kann im Erdgeschoss nicht raus. Sinnlos hochzugehen. Aber es muss andere Wege nach draußen geben. Ein Wäscheschacht … Blatt stand auf und schaute sich aufmerksam um, aber da gab es nur die Tür, durch die sie hereingekommen war. In ihrem Hinterkopf lungerte noch irgendeine Idee; sie konnte sie nur nicht aus ihrem geschundenen Hirn herauskitzeln. Irgendetwas war kurz aufgeblitzt, als sie mit Ed gesprochen hatte … Die Löschwassersteigleitung, die gebrochen war. Für Steigleitung nass. Das dicke rote Rohr. Vorsicht Rutschgefahr. Vielleicht führte das Rohr irgendwohin … Blatt ging zur Tür, horchte, öffnete sie und schlüpfte auf den Gang. Auf ihrer Seite der Schwingtür war niemand zu sehen; sie lief schnell zum Anschlussraum, ging hinein und zog die Tür hinter sich zu. Sie hatte kaum angefangen, das Rohr in Augenschein zu nehmen, als sie jemanden vorbeilaufen hörte, und gleich darauf den Zuruf eines Mannes. »Sie ist in 3U104 – sie hat vor zwei Minuten von dort aus telefoniert!« Blatt wandte sich wieder dem Rohr zu. Es war nur ein paar Zentimeter breiter als ihre Schultern und verlief durch Boden und Decke. Zuerst schien es keinen Weg hinein zu geben, aber als Blatt es umkreiste, entdeckte sie ein abgeschraubtes Blech. Die acht Muttern lagen ordentlich auf dem Boden, daneben ein langer Schraubenschlüssel und eine geöffnete Frischhaltedose mit einem angebissenen Sandwich und einem Apfel, was daraufhindeutete, dass der Arbeiter gezwungen gewesen war, seine Aufgabe zu unterbrechen, vermutlich um sich zu den anderen zu begeben, die oben warteten. Blatt sah ins Innere des Rohres. Die Stahlwand war mit Tropfen überzogen, aber es stand kein Wasser darin. Bei einem Blick nach oben bemerkte sie, dass auch andere Bleche entfernt worden waren; durch die Öffnungen drang kaltes, weißes Neonlicht herein. Nach unten zu war alles dunkel, und das Rohr war durch irgendetwas blockiert. Allmählich konnte sie erkennen, dass es sich dabei um einen großen Kasten handelte, der auf einem drehbaren Ring montiert war. Dieser war ringsum mit kleinen Rädern versehen. Der Kasten hatte Tastarme, die die Innenwand des Rohres berührten. Die Warnaufkleber ließen sich in dem schwachen Licht jedoch nicht entziffern. Es handelte sich offenbar um irgendeine ferngesteuerte Vorrichtung, die zur Inspektion der Steigleitung diente. Sie war mit Elektromotoren ausgerüstet, von denen die vier größten Räder angetrieben wurden, denn darunter hing ein ganzes Bündel von elektrischen und anderen Kabeln. »Nicht hier!«, rief die Stimme weiter hinten im Gang. »Überprüft alle Räume!« Blatt zögerte; dann steckte sie die kostbare Schachtel in ihren Hosenbund und zwängte sich ins Rohr, bis sie auf dem Inspektionsgerätstand. Das schaukelte in seinem Ring und glitt unter seiner neuen Last langsam in die Dunkelheit. Allein in dem engen Rohr eingezwängt, begleitet vom Pochen ihres Herzens und dem Surren der Räder, fühlte Blatt, wie die Wand der Steigleitung immer nasser wurde; sie brach in Panik aus. Was ist, wenn da unten Wasser steht und ich geradewegs untertauche? Blatt konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie presste Hände und Rücken gegen die Rohrwand, um ihren Abstieg zu bremsen. Aber das Metall war zu glatt und obendrein vom Wasser glitschig; der Kasten sank unaufhaltsam in die Tiefe und nahm Blatt mit sich. Ein Licht fiel von oben ins Rohr. Blatt sah hoch, aber der Strahl der Taschenlampe erreichte sie nicht. »Nichts!« Die Stimme des Wachmanns hallte zu ihr herab. Er war wenigstens fünfzehn Meter über ihr. Blatt starrte zu dem Lichtkegel und spürte, wie die Panik ihr die Kehle zuschnürte. Verzweifelt holte sie Luft, um nach Hilfe zu schreien, denn längst war ihre Angst stärker als ihr Wunsch, mit Arthurs Hemdtasche zu entkommen. Aus ihrem Schrei wurde ein ersticktes Grunzen, denn in dem Moment fiel von der Seite ein schwacher roter Schein ins Rohr. Blatt hatte gerade noch Zeit, sich gegen die offene Inspektionsluke zu werfen und am Rand festzuklammern, bevor der Kasten seine Fahrt in die Tiefe fortsetzte. Während Blatt noch schwer atmend dort hing, hörte sie es unten platschen und dann gluckern, als das Inspektionsgerät im tiefen Wasser verschwand. Wenige Augenblicke später zog sich eine erschöpfte, aber erleichterte Blatt nach oben und kletterte auf den Boden eines engen Tunnels hinaus, in dem die Rohrleitungen und Kabel verliefen, die zum Versorgungssystem eines größeren modernen Gebäudes gehörten. Dort blieb sie einige Minuten liegen, um wieder zu Kräften zu kommen, dann setzte sie sich auf und schaute sich um. Auch hier war das Blech der Inspektionsluke abgeschraubt worden. Aber die Muttern steckten in einem Plastiktütchen, das vorsorglich an das Blech geklebt war. Der Tunnel erstreckte sich nach links und rechts, so weit das Auge reichte, was allerdings nicht besonders weit war, denn das einzige Licht stammte von schwachen, roten Glühbirnen, die im Abstand von ungefähr fünfzehn Metern an der Decke angebracht waren. Aber der Leitungs- und Kabelwirrwarr ließ höchstens einem klein geratenen Monteur Platz, um sich kriechend vorwärtszubewegen. Für Blatt war das mehr als genug. Sie entschied sich auf gut Glück für eine Richtung, vergewisserte sich vorher, dass sie die Schachtel mit der Tasche nicht verloren hatte, und kroch los. Kapitel Elf »Ich kann nicht zulassen, dass sie mich zwischen den Ohren waschen«, sagte Arthur. »Du hast keine große Wahl«, meinte Fred düster. »Selbst wenn du dich versteckst, sie finden dich immer. Wir sollten besser anfangen, uns bereitzumachen.« »Es muss doch einen Weg geben, darum herumzukommen«, beharrte Arthur. »Und was meinst du mit bereitmachend« »Das Wichtigste aufschreiben«, erklärte Fred. »Du weißt schon, Name, Freunde, Lieblingsfarbe. Manchmal reicht das, um Erinnerungen zurückzubringen. Wenn wir natürlich ein paar Silbermünzen und etwas Salz hätten …« »Wir könnten sogar unsere Namen vergessen?« Arthur dämmerte erst jetzt, dass Waschen zwischen den Ohren doch schlimmer sein mochte, als er sich vorgestellt hatte. Er war darauf gefasst gewesen, möglicherweise ein paar Details über sein Leben auf der Erde oder seine Familie oder die Morgigen Tage und die Schlüssel zu vergessen … aber nicht, völlig zu vergessen, wer er war. »Du bist wohl erst vor kurzem gewaschen worden, wenn du dich nicht einmal daran erinnern kannst«, stellte Fred fest. »Wenn sie ganze Arbeit leisten, vergisst du alles über dich. Und es kümmert sie auch nicht, ob du erst gestern dran warst, sie knöpfen sich denjenigen einfach noch mal vor.« »Was war das mit den Silbermünzen und dem Salz?« »Eine Silbermünze unter der Zunge soll helfen, dem Waschen zu widerstehen«, sagte Fred. »Und Salz in der Nase. Aber wir haben beides nicht, also sollten wir uns besser ans Aufschreiben machen. Ich hoffe wirklich, dass ich diesmal nicht vergesse, wie man liest. Wir werden auch mit unserer Ausbildung wieder bei null beginnen müssen. Ich werde es nie zum General bringen, wenn ich zu oft zwischen den Ohren gewaschen werde. Komm jetzt.« Er marschierte zurück zu den Betten; Arthur folgte ihm langsam, ohne dass ein Uffz erschien, um ihn zu schelten. Seinem Gefühl nach war es mitten in der Nacht, und ihre festgesetzte Weckzeit war erst in drei oder vier Stunden. Trotz seiner Müdigkeit folgte Arthur Freds Beispiel und nahm ein Dienstnotizbuch und einen scharlachroten Bleistift aus seinem Spind, die beide in goldenen Buchstaben den Namen des Zuges trugen. Aber während Fred eifrig schrieb, fragte sich Arthur, was er zu Papier bringen sollte. Wenn er seinen richtigen Namen und andere wichtige Dinge aufschriebe, würde es vielleicht jemandem in die Hände fallen. Schließlich entschied er sich für einen Kompromiss; er begann seine Liste mit Helios Grün und schrieb dann Richtiger Name? und dann AP darunter. Anschließend notierte er Blau, seine Lieblingsfarbe, die Vornamen seiner Eltern, Bob und Emily, und die seiner Geschwister, Erasmus, Staria, Patrick, Susanne, Michaeli und Eric. Arthur dachte einen Moment lang nach und fügte dann Susi TB, Blatt und Herr Montag, Grimmiger Dienstag und Ertrunkene Mittwoch hinzu. Sollten diese Namen keine Erinnerungen in ihm wachrufen, dann wäre er wirklich in einem üblen Zustand. Er wollte noch mehr schreiben, aber er fühlte sich kraftlos. Das Papier verschwamm vor seinen Augen. Schon zwischen Ertrunkene und Mittwoch war er kurz eingenickt und wieder hochgeschreckt, als ihm das Kinn auf die Brust gefallen war. Also schloss er das Notizbuch, schob den Stift in eine Tasche und legte sich aufs Bett. Er nahm sich vor, ein wenig zu schlafen, vielleicht eine halbe Stunde, und sich dann aufzuraffen und mehr zu schreiben. Das Nächste, was er wahrnahm, war Freds Hand, die ihn wachrüttelte. Völlig zerschlagen schwang Arthur die Beine aus dem Bett und stand auf. Trompeten schmetterten lange, irritierende Töne, und nur die Hälfte der Sturmlaternen brannte. Fred drückte ihm ein Handtuch und einen Lederbeutel in die Hand. »Mach schon! Wir müssen uns waschen und rasieren.« »Aber ich rasiere mich nicht …« »Das macht hier eigentlich niemand. Im Haus wachsen die Haare nicht besonders. Aber wir müssen es versuchen. Vorschrift.« Arthur stolperte Fred hinterher. Mehr schlafend als wach stellte er fest, dass sie bloß gingen statt zu marschieren und auf eine Tür an der Ostseite der Kaserne zuhielten, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Die Tür schimmerte grünlich. Dahinter erwartete Arthur ein enger, dunkler Gang, in dem er schon beim ersten Schritt das Gleichgewicht verlor, denn der Boden wackelte wie Gelee. Arthur griff Halt suchend an die Wand, doch die gab unter seinen Fingern nach. »Das ist ein Obskurweg!«, protestierte er. »Stimmt«, meinte Fred lapidar. »Er führt zum Waschraum.« Ein paar Schritte später, obwohl sie dem Anschein nach durch keine weitere Tür getreten waren, gelangten sie in einen gewaltigen Waschraum, der kein Dach hatte. Über ihnen strahlte ein nächtlicher Himmel mit seltsamen und recht nah erscheinenden Sternbildern sowie einer ziemlich wackligen Mondsichel, die ein blasses, grünes Licht verbreitete. Arthur blieb wie angewurzelt stehen. Einen Augenblick lang war er wie betäubt von dem unerwarteten Nachthimmel und dem Anblick endloser Reihen von Bürger-Soldaten, die vor ebenso endlosen Reihen von Waschbecken und Spiegeln standen, während offene Gasflammen die Szenerie beleuchteten. Die meisten Bürger hatten sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, die von Einheit zu Einheit verschieden war. Es waren sämtliche Exemplare vertreten, die Arthur aus seinem Schrank kannte, und noch ein paar mehr, die ihm noch nicht begegnet waren. »Wir teilen uns den Waschraum mit der gesamten Armee«, erklärte Fred. »Komm, lass uns unseren Platz suchen. Ich glaube, dir würde ein Schwall kaltes Wasser im Gesicht guttun.« Er schlug einen diagonalen Kurs ein und ging geradewegs durch ein paar Legions-Bürger und deren Waschbecken hindurch, als ob sie gar nicht da oder nur geisterhafte Bilder wären. Die Legionäre ignorierten Fred; Arthur sah sie miteinander sprechen, doch er konnte keinen Ton hören. »Warte mal!«, rief Arthur. »Wo sind wir hier? Wie kommt es, dass du einfach durch sie durchgehen kannst?« »Oh, die sind für uns nicht real, ebenso wenig wie wir für sie«, meinte Fred. »Korporal Axtraus hat es gestern Morgen erklärt. Wir müssen nur unsere Waschbecken finden; sie können nicht weit weg sein.« Er ging weiter. Arthur folgte ihm zögernd und schauderte, als er durch die Legionäre schritt. Fred durchquerte soeben einige Artillerie-Bürger in Ledermänteln. Dahinter war eine Reihe freier Waschbecken zu sehen und rechts und links davon ein paar Rekruten-Bürger, die kurz aufblickten, als die beiden Neuen ankamen. Arthur hörte das Wasser in ihren Becken gluckern, und die Rasierklingen klimperten, wenn sie auf dem Porzellan abgelegt wurden. »Aber wie funktioniert das?«, wollte Arthur wissen. »Sind sie jetzt alle hier oder nicht?« »Die Ausführungen der Axt waren nicht sonderlich erhellend«, sagte Fred, während er seinen Lederbeutel öffnete und ihm Rasiermesser, Pinsel, Seife und Schüssel entnahm. »Irgendwas über Obskurwege, die in viele verschiedene Waschräume führen, die an derselben Stelle im Haus liegen, aber zeitversetzt. Hilft heißes Wasser sparen oder so was.« Fred begann, in seiner Schüssel Schaum zu schlagen. Arthur schüttelte den Kopf und spritzte sich aus dem Becken Wasser ins Gesicht. Es war warm und lief sofort wieder nach, obwohl es weder Hahn noch Abfluss gab. Fred schmierte sich den Schaum ins Gesicht und fing an, sich zu rasieren, wobei er im Flüsterton mit sich selbst redete. Arthur fragte sich, ob es eine Art Gebet sein mochte, damit man sich nicht die Kehle durchschnitt, denn er hatte gerade sein eigenes Rasiermesser herausgenommen, und es war gefährlich scharf. Dann bemerkte er, dass Fred den stumpfen Messerrücken und nicht die Schneide benutzte. »Was flüsterst du da?«, fragte er ihn. »Meinen Namen«, erwiderte Fred und schabte behutsam etwas Seifenschaum vom Kinn. »Und meine Lieblingsfarbe.« »Oh«, sagte Arthur. »Ich vergaß …« Er starrte sein vertrautes – wenn auch nicht sehr zufriedenstellendes – Gesicht im Spiegel an. Er konnte nicht glauben, dass er sich vielleicht schon bald selbst nicht mehr kennen sollte. »Du solltest dich lieber rasieren, sonst wirst du zu den Delinquenten gesteckt«, warnte ihn Fred. »Das heißt, du wirst bestraft.« »Auch wenn meine Haut völlig glatt ist?« Arthur fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Ich werde mich noch jahrelang nicht zu rasieren brauchen.« »Sie werden wissen, dass du dich nicht rasiert hast«, sagte Fred mutlos. »Dass wir zwischen den Ohren gewaschen werden, heißt noch lange nicht, dass sie uns vom Rasieren befreien oder sonst was.« »Okay, okay«, gab Arthur nach. Er gab etwas Seife in seine Rasierschüssel und begann sie mit dem Pinsel schaumig zu schlagen, so wie er es bei Fred gesehen hatte. Anschließend klatschte er sich, dem Beispiel seines Kameraden folgend, den Schaum ins Gesicht und schabte ihn mit der Rückseite der Klinge wieder ab. Eine völlig sinnlose Handlung. Während er also schabte, wegschnippte und sich die Reste aus dem Gesicht spülte, dachte er darüber nach, was er tun sollte. »Lass uns nicht zurückgehen«, schlug er vor, als sie sich Hals und Achselhöhlen wuschen. »Lass uns hierbleiben.« »Hier?«, kreischte Fred. Die Vorstellung hatte ihn offensichtlich aus der Fassung gebracht. »Ich bin nicht mal sicher, ob dieser Ort nach der morgendlichen Waschung noch existiert! Der Obskurweg schließt sich …« »Wenn wir bei diesen Becken bleiben, wird uns nichts passieren, schätze ich«, meinte Arthur. »Sie sind für uns real, also müssen sie irgendwo sein.« »Aber wir werden ohne Erlaubnis abwesend sein«, murrte Fred. »Bei der Parade fehlen. Die Badezimmeraufseher werden kommen und uns suchen.« »Wenn der Obskurweg bis morgen früh geschlossen ist, dann werden sie uns nicht finden können, stimmt’s?«, fragte Arthur. »Wie lange werden sie sich hier herumdrücken?« »Sie kommen, waschen und gehen«, sagte Fred. »Sie bleiben nur so lange, wie es dauert, alle Pfeiferkinder in der Gegend abzufertigen.« »Also warten wir hier bis morgen früh und gehen dann zurück«, beschloss Arthur, »nehmen unsere Strafe in Empfang und machen mit der Ausbildung weiter.« »Ihr werdet nichts dergleichen tun«, sagte die Rekrutin, die gerade neben ihnen mit dem Einpacken fertig geworden war. Arthur erkannte sie wieder; sie war aus seinem Zug. Florimel – auf die man laut Fred ein Auge haben sollte. »Ihr werdet euch melden wie befohlen.« »Nein, werden wir nicht«, entgegnete Fred, und die ganze Angst, die ihn eben noch beherrscht hatte, war wie weggewischt. Offenbar bedurfte es nur einer Florimel, die ihm Vorschriften machen wollte, um ihm frischen Mut einzuflößen. »Ich befehle euch, zur Kaserne zurückzukehren!« »Wer hat dich denn zum Fräulein Oberwichtig ernannt?«, fragte Fred. »Du bist nur eine Rekrutin, genau wie wir. Wir werden machen, was wir wollen, und du hältst den Mund.« »Ich werde euch melden«, drohte Florimel und richtete sich zu voller Höhe auf. »Nein, das wirst du nicht«, sagte Arthur streng. »Du wirst kein Wort sagen.« Florimel war groß, doch einen Moment lang wirkte Arthur größer als sie, und sein Haar wehte plötzlich wie von unsichtbarem Flügelschlag aufgewühlt, und es lag etwas von Dame Primus in seiner Haltung und Stimme. Dann war er wieder nur ein Junge, aber Florimel hatte die Augen schon niedergeschlagen und wich zurück. »Jawohl, Sir«, sagte sie. »Was immer Ihr sagt, Sir.« Sie salutierte halb, schwenkte unbeholfen nach rechts und marschierte durch ein paar grün gekleidete Grenzer, die den Waschraum ebenfalls verließen, von dannen, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Fred und gaffte ihn erstaunt an. »Ich war sicher, dass sie uns reinreiten würde. Jemand wie sie …« Er hörte auf zu reden, als der Mond über ihren Köpfen sich mit einem plötzlichen Ruck in Richtung Horizont begab. Gleichzeitig fiel von Osten ein rosiger Schein auf sie. Arthur drehte sich danach um. Die Sonne war noch nicht zu sehen, der Schimmer war nur ihr Vorbote. Aber dieser ließ die noch anwesenden Soldaten in alle Himmelsrichtungen davonstieben, wobei sie offensichtlich durch die jeweiligen Obskurwege zu ihren Standorten im Großen Labyrinth verschwanden. Innerhalb weniger Minuten fanden sich Arthur und Fred allein in dem gewaltigen Waschraum wieder, mit lauter Becken und Spiegeln, in denen das Morgenlicht aufzuscheinen begann. »Ich hoffe, dass sich das als gute Idee herausstellt«, sagte Arthur. »Das hoffe ich auch«, antwortete Fred erschaudernd. Gleich darauf überlief ihn ein weiterer Schauder, denn einige entferntere Spiegel verblassten allmählich, als ob sie sich im Sonnenlicht auflösten. Er wich an sein Waschbecken zurück. Arthur merkte, dass auch er unbewusst einen Schritt zurück gemacht hatte, um die beruhigende Festigkeit des Porzellans zu spüren. Während die Sonne aufging und zu einer erkennbaren Scheibe am Firmament wurde, verloren sich immer mehr Konturen des Waschraums. Arthur und Fred drängten sich dichter zusammen, bis sie Schulter an Schulter standen. Sie konnten ringsherum nichts sehen außer Sonnenlicht, aber ihre Becken blieben fest, und ihre Spiegel glänzten. »Vielleicht geht ja alles gut«, flüsterte Fred. »Vielleicht«, sagte Arthur. In dem Moment wurde alles schwarz, nur einen Augenblick lang. Blinzelnd stellten sie fest, dass sie zwar noch genauso dastanden wie eben, aber nicht mehr an einem Waschbecken und auch nicht mehr im frühen Sonnenschein. Sie waren wieder in der Kaserne und lehnten an Arthurs Schrank; an den Dachbalken brannten die Sturmlaternen. In dem düsteren Licht sah Arthur drei Gestalten, die in fünf Schritt Entfernung vor ihm standen. Figur und Größe nach mochten es Bürger sein, jedoch trugen sie alles verhüllende, eidottergelbe Roben mit langen, spitzen Kapuzen. Ihre Hände steckten in Handschuhen aus flexiblem Stahlgeflecht, und auch ihre Gesichter waren verborgen -hinter Masken aus gehämmerter Bronze. Die erste hatte einen lächelnden Mund. Die Mundwinkel der zweiten deuteten gedankenschwer nach unten. Der Mund der dritten war schmerzverzerrt. Nichts ließ erkennen, ob sich hinter der Maske ein Gesicht befand. In den Mund- und Augenlöchern sah man nur Dunkelheit. »B … B … Badezimmeraufseher«, flüsterte Fred. »Fred Anfangsziffern Gold, Handschriftenvergoldergehilfe Sechster Klasse, Lieblingsfarbe Grün, Tee mit Milch und einem Stück Zucker, Teekuchen, aber keinen Kümmel …« Die Badezimmeraufseher glitten mit raschelnden Roben auf sie zu. Zwei griffen in ihre weiten Ärmel und zogen seltsame blaue Kronen hervor, die aus lauter Eiszapfen zu bestehen schienen und im Licht knackten und funkelten. Der dritte förderte ein Stück goldenes Seil zu Tage, das sich in seiner Hand wie eine wütende Kobra aufbäumte, die gleich ihr Gift verspritzte. Aber es biss nicht zu. Stattdessen schoss das goldene Seil durch die Luft, wickelte sich um Arthurs Fußknöchel und brachte ihn zu Fall, als er gerade die Flucht ergreifen wollte. Arthur schlug schwer auf dem Boden auf. Das goldene Seil kroch über seine Beine und umwickelte sie fest, schlang sich anschließend um sein linkes Handgelenk und fing an, es auf den Rücken zu ziehen. Arthur leistete erbitterten Widerstand und scharrte verzweifelt mit der rechten Hand in seiner Gürteltasche nach dem Krokodilring. Der war zwar keine Münze, aber immerhin aus Silber, und Arthur wollte ihn dringend unter der Zunge haben. Er hatte ihn schon in der Hand und führte ihn an den Mund, als eine Windung des Seiles sich auch um sein rechtes Handgelenk schlängelte und ihm den Arm zurückzog. Arthur stieß mit dem Kopf hinab, bekam die Finger an den Mund und schob sich den Ring unter die Zunge, wobei er sich in die Lippe schnitt. Das Blut tropfte an seinem Kinn herab, als er auf die Knie gezerrt wurde, während das goldene Seil ihm die Handgelenke auf den Rücken fesselte. Arthur schaute auf und sah die knackende, funkelnde Krone auf sich zukommen. Ich bin Arthur Penhaligon, dachte er verzweifelt. Arthur Penhaligon, meine Eltern sind Bob und Emily. Ich bin der Herrscher des Unteren Hauses, der Fernen Weiten, der Grenzsee. Die Krone presste sich wie eine Schraubzwinge auf seinen Kopf- und Arthur versank mit einem lautlosen Schrei in Dunkelheit. Kapitel Zwölf Blatt stemmte sich mit den Füßen gegen die Leitersprossen und schob den Kanaldeckel zur Seite. Er war aus Stahlbeton und sehr schwer, aber sie drückte ihn so weit hoch, dass Sonnenlicht in den Schacht fiel, und mit einer weiteren Anstrengung gelang es ihr, ihn halb von der Öffnung zu schieben. Über sich konnte sie den Himmel und Hausdächer sehen. Eigenartigerweise hörte sie keinerlei Verkehrsgeräusche, obwohl das Kanalloch in der Mitte einer Straße sein musste, nach ihrer Schätzung ungefähr eine Meile vom Krankenhaus entfernt. Es war die dritte Leiter, zu der sie bei ihrer Kriecherei durch den Tunnel gekommen war – sie hatte entschieden, die ersten beiden zu ignorieren, weil sie sie noch innerhalb der Quarantänezone vermutete. Da sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung der Tunnel verlief, ließe sich erst mit Gewissheit sagen, wo sie war, wenn sie hinauskletterte und nachsah. In der Hoffnung, dass sie mangels Straßenverkehr nicht gleich von einem Auto überrollt würde, sobald sie ihren Kopf herausstreckte, zog sich Blatt ein Stück weit hoch und warf einen raschen Blick auf ihre Umgebung. Wie vermutet befand sie sich mitten auf einer Straße in der Stadt. Zu beiden Seiten standen alte Reihenhäuser hinter parkenden Autos. Es war jedoch niemand unterwegs. Die Straße lag unnatürlich ruhig da. Blatt holte tief Luft und zog sich vollends hoch. Das kostete sie den Großteil ihrer verbliebenen Kraft, sodass es einige Augenblicke dauerte, bis sie aufstehen konnte. Sie hatte eine gewisse Ahnung, wo sie sein könnte, doch um sicher zu sein, schaute sie zurück in die Richtung, in der sie das Krankenhaus vermutete. Es war auch tatsächlich da, aber das war es nicht, was ihr den Atem verschlug. Sie blickte über den Rand ihrer Spezialbrille und sah nicht nur die weiße Masse der drei Krankenhaustürme aus Beton und Glas, sondern auch ein anderes Gebäude, das in der Luft direkt über dem Krankenhaus schwebte. Ein gewaltiges, verrücktes Bauwerk mit seltsamen Türmchen und Erkern, Häusern und Hallen, Nebengebäuden, Anbauten, Aufbauten und Wehrmauern. Ein kleiner Teil davon ruhte unmittelbar auf dem Krankenhaus, und Blatt konnte undeutlich ein glänzendes Tor erkennen, von dem sie instinktiv wusste, dass es sich um den Vordereingang handeln musste. Es war das Haus. Die Manifestation war nicht dort, wo Blatt sie erwartet hatte, in der Nähe von Arthurs Haus, sondern über dem Krankenhaus. Sie hatte es soeben fertiggebracht, von dem einzigen Ort zu entkommen, wo es ihr vielleicht möglich gewesen wäre, den Vordereingang zu erreichen. Blatt setzte sich erschöpft auf die Straße und raufte sich die Haare. Wie hatte sie bloß annehmen können, das Haus würde sich an derselben Stelle manifestieren, wo Arthur es zuerst gesehen hatte? Offensichtlich erschien es immer dort, wo der letzte Bürger oder Nichtling, der den Vordereingang benutzt hatte, herausgekommen war – in diesem Fall beim Krankenhaus. »Schaff dich von der Straße runter, Mädchen, sonst erschießen sie dich!« Blatt zuckte zusammen und sah sich hektisch um. »Nun mach schon! Komm hier rein!« Die Stimme gehörte einer Frau. Einer alten Frau, die in der Tür eines Reihenhauses stand und Blatt winkte, hereinzukommen. Blatt stand ächzend auf und ging langsam zu dem Haus hinüber. »Beeil dich!«, rief die Frau. Sie spähte die Straße hinab. »Ich kann sie kommen hören.« Blatt hörte es auch: das dunkle Brummen sehr großer Fahrzeuge, das im Asphalt vibrierte. Sie rannte und hatte kaum die Türschwelle erreicht, als ein Panzer um das entfernte Ende der Straße bog. Blatt starrte durch das Fenster in der Haustür und staunte, wie laut der Panzer war und wie stark das Haus erzitterte, als er vorbeifuhr. Sechs weitere Panzer folgten dem ersten. Kein Mensch war darin zu sehen, niemand stand in den Türmen oder spähte durch geöffnete Sichtluken. Blatt hatte noch nie zuvor echte Panzer gesehen. Diese hier waren zweimal so groß wie die leichten gepanzerten Fahrzeuge, die sie bisher kannte. »Und wie heißt du?« Blatt drehte sich um. Die alte Frau war wirklich alt und ziemlich gebückt, doch sie bewegte sich flink und war sehr munter. »Tut mir leid«, sagte Blatt. »Ich war abgelenkt. Danke … danke, dass Sie mich gewarnt haben. Ich heiße Blatt.« »Und ich heiße Sylvie«, sagte die Frau. »Du siehst ziemlich mitgenommen aus. Am besten, du kommst mit mir in die Küche, und ich säubere deinen Kopf.« »Nein, ich muss … ich muss …« Blatts Stimme verlor sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun musste. Ins Krankenhaus zurückgehen? An den ganzen Panzern und Soldaten vorbei? »Eine Tasse Pfefferminztee, ein bisschen Waschen und ein Verband, das ist es, was du jetzt brauchst«, sagte Sylvie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Komm mit!« »Was geht da vor sich?«, fragte Blatt, während sie Sylvie gehorsam durch den Flur in die Küche folgte. »Das waren Panzer …« »Es scheint einen biologischen Angriff auf das Krankenhaus gegeben zu haben.« Sylvie nahm einen Erste-Hilfe-Koffer vom Kühlschrank und schaltete einen Wasserkocher ein. »Ich bin aber nicht mehr ganz auf dem Laufenden. Sie haben die städtische Quarantäne heute Morgen wieder in Kraft gesetzt. Wir können ins Wohnzimmer gehen und es uns im Fernsehen anschauen, wenn du möchtest. Setz dich nur ans Fenster, damit ich sehen kann, was ich mit deinem Kopf mache.« »Danke«, antwortete Blatt. »Ich wüsste gerne, was passiert. Sie sagen, die städtische Quarantäne wurde wieder in Kraft gesetzt?« »Vor zwei Stunden etwa, Liebes. Hier entlang.« »Aber Sie haben mich hereingelassen«, stellte Blatt fest, während sie Sylvie in ein kleines, aber behagliches Wohnzimmer folgte. An einer Wand hing ein Bildschirm; Sylvie schnippte mit den Fingern, und er schaltete sich ein. Der Ton war zwar so leise eingestellt, dass Blatt nichts verstand, doch konnte sie den am unteren Bildschirmrand entlanglaufenden Text lesen. QUARANTÄNESTUFE ROT ÜBER STADT VERHÄNGT. ARMEE UND FBA RIEGELN OSTBEZIRKSKRANKENHAUS AB. PSYCHOTROPE BIOWAFFE HINTER ERSTEM AUSBRUCHVERSUCH VERMUTET, WEITERER STEHT BEVOR. Man sah etwa ein Dutzend Leute aus der Krankenhaustür kommen. Sie gingen nicht normal, sondern schleppten die Beine unter merkwürdigen Verrenkungen nach und ruderten mit den Armen in der Luft. Die Kamera fuhr von ihnen weg zu den Soldaten und FBA-Agenten, die schrien und gestikulierten und schließlich ihre Waffe senkten, als die Geschütztürme der gepanzerten Fahrzeuge herumschwenkten. Dann fielen die ersten Schüsse. Es dauerte einen Moment, bis Blatt bewusst wurde, dass sie sie von draußen hören konnte; das Geräusch kam nicht aus dem Fernseher. Es war eine Liveübertragung. »Ja, ich weiß, ich hätte dich nicht hereinlassen sollen«, meinte Sylvie, die das Geschehen auf dem Bildschirm nicht verfolgte. Sie hob Blatts Haare an und begann, die Platzwunde mit einem beißenden Desinfektionsmittel abzutupfen. »Aber ich bin sehr alt, weißt du, und ich wollte nicht mit ansehen müssen, wie ein junges Mädchen vor meinen Augen erschossen wird. Falls du irgendeine schlimme Krankheit hast, dann werde ich mich vermutlich anstecken und ziemlich schnell daran sterben, ohne irgendjemand Umstände zu machen.« »Ich habe nichts«, beeilte sich Blatt zu sagen. Dann fiel ihr Blick auf ihre Hände. Nur dass das gelogen ist. Ich habe schon etwas. Aber du kannst dich nicht bei mir anstecken. Nur beim Skelettjungen. Aber bald wird er wissen, was ich weiß, und ich werde seine Marionette sein. Wie die bedauernswerten Leute, die er nach draußen geschickt haben muss und die erschossen worden sind, um die Quarantäne aufrechtzuerhalten. Im Fernsehen rückten jetzt zwei FBA-Agenten mit Flammenwerfern vor. Blatt sah weg, als die langen Feuerstrahlen auf die toten Leute gelenkt wurden. »Halt still«, ermahnte Sylvie sie. »Es ist mehr eine Quetschung als eine Platzwunde. Wahrscheinlich wäre eine Tomografie ratsam. Wann ist das passiert?« »Vor ungefähr einer Stunde, schätze ich«, antwortete Blatt. »Vielleicht auch vor zwei. Autsch!« »Ich habe ein bisschen anästhesierendes Gel aufgetragen«, erklärte Sylvie. »Und einen Pflasterverband, um die Wunde sauber zu halten. Aber die Tomografie solltest du trotzdem machen lassen.« »Sind Sie Ärztin?«, fragte Blatt. »Oder Krankenschwester?« »Ich bin im Ruhestand«, erwiderte Sylvie. »Aber ich war Apothekerin. Setz dich da hin, ich hole den Pfefferminztee.« Blatt sah wieder auf den Bildschirm. Gerade wurde ein hochrangiger Armeeoffizier interviewt. Ein General. Hinter ihm konnte Blatt die Panzer sehen, die an ihr vorbeigerollt waren. Jetzt fuhren sie vor dem Krankenhaus auf, und dazwischen postierten sich Soldaten. Blatt streckte die Hand aus, Handfläche nach oben, wartete, bis der Fernsehapparat sich auf sie eingestellt hatte, und hob einen Finger. Der Ton wurde lauter, und sie konnte verstehen, was der General sagte. »Wir wissen nicht, um was es sich handelt. Es könnte mit Rotwut zusammenhängen, dem durch Wasser übertragenen Psychotropikum, das vor zwei Jahren in Europa solche Probleme bereitet hat. Aber es hat sich innerhalb des Krankenhauses offenbar schon weit ausgebreitet, und manche Infizierten sind, wie wir gerade gesehen haben, nicht mehr zu rationalem Denken fähig und daher äußerst gefährlich. Unsere Aufgabe ist es, diesen Ausbruch einzudämmen. Dieser Aufgabe werden wir uns mit allen erforderlichen Mitteln stellen.« »Hat es weitere Kommunikation mit Dr. Emily Penhaligon gegeben?«, wollte der unsichtbare Interviewer wissen. »Dr. Penhaligon und ihr Team versuchen, die Wirkungen der Biowaffe mit verschiedenen Mitteln zu verlangsamen; sie erstellen eine Diagnose und entwickeln am Computer ein neutralisierendes Gegenmittel. Wir tun, was wir können, sowohl unsere Leute als auch die des FBA im Krankenhaus, um sicherzustellen, dass die Labors und die oberen Isolierstationen vom übrigen Krankenhaus abgeriegelt bleiben, wo sich die Infektion ausgebreitet hat.« »General, gibt es irgendwelche Informationen, wie und von wem die Biowaffe eingesetzt wurde?« »Es handelt sich eindeutig um einen terroristischen Akt«, antwortete der General. »In diesem Stadium der Ereignisse kann ich keine weiteren Erklärungen abgeben.« »Eine Reihe von Kommentatoren hat geäußert, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen –« Der Ton verschwand plötzlich wieder. Blatt drehte den Kopf und sah Sylvie, die mit den Fingern wackelte. »Der Lärm vom Fernseher stört mich«, erklärte sie. »Trink deinen Tee, Liebes. Wir beide müssen uns ein wenig unterhalten.« »Danke«, sagte Blatt. »Aber ich will nicht –« »Oh, ich will gar nicht wissen, wieso du aus dem Kanal aufgetaucht bist«, unterbrach Sylvie beschwichtigend. »Aber ich meine, wir sollten deine Eltern anrufen. Du hast doch Eltern? Nun, dann sollten wir sie anrufen und sie wissen lassen, dass du hier bist und diese Quarantäne mit mir gemeinsam durchstehen wirst.« »Das kann ich nicht.« Blatt war gerade klar geworden, was sie zu tun hatte. Oder vielmehr war ihr etwas eingefallen, was ihr vielleicht den Rückweg ins Haus ermöglichen würde. »Ich muss dringend weg.« »Du kannst nirgends hin«, sagte Sylvie. »Nicht zu Fuß und auch nicht mit dem Auto, selbst wenn ich dumm genug wäre, dich zu fahren. Jeglicher ziviler Verkehr ist untersagt.« »Ich muss zu einem Haus in Denister«, beharrte Blatt. Sie nannte Sylvie die Straße. »So schnell ich kann!« Es war Arthurs Adresse. Das Haus, das sich über der Klinik manifestiert hatte, mochte im Moment unerreichbar sein, doch Blatt erinnerte sich an etwas, was Arthur ihr vor langer Zeit in jenem Krankenhauszimmer erzählt hatte. Für jeden anderen wäre seitdem erst ein Tag vergangen, aber Blatt hatte zur selben Zeit Monate auf See verbracht. Jedenfalls hatte sie noch genau im Ohr, wie Arthur von seinem Telefon sprach, einem Telefon in einem roten Lackkästchen, mit dem man Bürger im Haus anrufen konnte. »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, beschied Sylvie mit ziemlich strenger Stimme. »Es ist aber unglaublich wichtig«, beharrte Blatt. »Und warum?« Blatt schwieg. Sie konnte Sylvie die Wahrheit nicht erzählen. Die alte Frau würde ihr nicht glauben, und das würde die Sache nur schlimmer machen. Ich kann es ihr nicht sagen, dachte sie plötzlich. Aber vielleicht kann ich es ihr zeigen! »Haben Sie ein Fenster, das zum Krankenhaus hinaus geht?«, erkundigte sie sich. »Ja, oben«, antwortete Sylvie. »Aber was hat das damit zu tun?« Blatt zögerte einen Moment. Sylvie war sehr alt, und ein Schreck könnte sie umbringen. Aber Blatt brauchte ihre Hilfe, und Arthur verließ sich darauf, dass seine Freundin dieses Stück Hemdstoff ins Haus zurückschaffte, damit es vernichtet werden konnte. Nicht nur Arthur, sondern alle anderen auch. Was, wenn der Skelettjunge seinen geistmanipulierenden Schimmelpilz weiter verbreitete? Und vielleicht würde der Nichtling noch schlimmere Dinge anrichten … »Ich möchte, dass wir nach oben gehen, und Sie sich dann das Krankenhaus durch diese Brille ansehen. Ich warne Sie, es wird ein Schock für Sie sein. Aber sobald Sie einen Blick darauf geworfen haben, werde ich Ihnen alles erzählen.« Sylvie blickte sie ärgerlich an, aber dann überzog ein Lächeln ihr Gesicht. »Du gibst dich sehr geheimnisvoll, und ich bin sicher, das ist Zeitverschwendung. Aber was habe ich schon zu verschwenden außer Zeit? Komm mit.« Das Fenster, durch das man das Krankenhaus sehen konnte, befand sich in Sylvies Schlafzimmer, einem kargen, ordentlichen Raum, der nichts Persönliches an sich hatte. Die alte Frau durchquerte ihn rasch und zog einen Vorhang zurück. »Da ist das Krankenhaus«, sagte Sylvie. »Inklusive Kampfhubschraubern, fürchte ich.« Blatt blickte durchs Fenster. Drei Kampfhubschrauber mit spitzen Schnauzen zogen in ungefähr sechshundert Fuß Höhe langsame Kreise über der Klinik. Sie schob die Brille höher auf die Nase und nahm sie dann schnell ab. Es bereitete ihr Kopfschmerzen, die Hubschrauber in die scheinbar festen Mauern des Hauses fliegen und dann wieder herauskommen zu sehen. »Bitte sehen Sie durch diese Brille«, forderte Blatt die alte Dame auf. »Aber machen Sie sich auf etwas gefasst!« »Ich bezweifle, dass ich durch diese Gläser überhaupt etwas sehen werde«, meinte Sylvie, als Blatt ihr die Brille reichte. »Sie sind ja voller Sprünge!« »Sie werden etwas sehen, und anschließend werde ich Ihnen alles erklären.« Blatt verzog das Gesicht, als der Schmerz wieder durch ihren Kopf schoss. Er fühlte sich nur vollkommen anders an, so als ob sich im Inneren ihres Schädels ein eigenartiger Druck aufbaute, wie bei einer Migräne, aber an den falschen Stellen. Der Pilz! Er muss schon in meinen Kopf vorgedrungen sein! »Ich kann wirklich überhaupt nichts sehen«, sagte Sylvie. Sie hatte die Brille auf, schaute aber nicht aus dem Fenster. »Durchs Fenster«, drängte Blatt, aber plötzlich fühlte sie sich unsicher und verzweifelt. Was, wenn Doktor Scamandros’ Brille nur bei ihr funktionierte? Kapitel Dreizehn Leutnant Krähe ließ sein Perspektiv sinken und rieb sich das rechte Auge; er hatte schon eine wunde Stelle, wo er das Fernrohr aufsetzte. Einen ganzen Nachmittag lang hatten er und seine Grenzer die feindliche Kolonne beobachtet und gezählt, während sie durch den Pass vorrückte. »Fügt noch fünftausend hinzu«, wies Krähe seinen Feldwebel an, der die Zahl der Nichtlinge mittels einer Strichliste in seinem Notizbuch festhielt. »Von den normalen Nichtlingen, in Einheiten zu jeweils eintausend.« »Das macht heute mehr als sechsundzwanzigtausend, Sir«, informierte ihn der Feldwebel. »Alle auf der einen Platte.« »Laut Plan bewegt sie sich bei Sonnenuntergang nach Osten und Norden«, sagte Krähe und klopfte auf die Ephemeride in seiner Tasche. »Wird noch ein paar mehr von ihnen aus dem Weg schaffen.« »Es müssen mittlerweile eine Million sein«, sagte der Feldwebel ruhig. »Was passiert, wenn jede Platte mit Nichtlingen voll ist? Dann hat es keinen Sinn mehr, sie hin und her zu schieben.« »Das ist defätistisches Gerede, Feldwebel, und das dulde ich nicht«, wies Krähe seinen Untergebenen barsch zurecht. »Es sind ohnehin noch jede Menge Platten leer; die Invasion der Nichtlinge wird äußerst effektiv aufgesplittert. Wie immer ist die tektonische Strategie erfolgreich. Und mir ist zu Ohren gekommen, dass das Zweite Bataillon des Regiments gestern eine weitere Schlacht gewonnen hat.« Krähe verschwieg allerdings, dass die XIXte Kohorte der Legion am Tag vor diesem Sieg nur mit knapper Not einer Niederlage entkommen war. Die Streitkräfte der Nichtlinge wurden zwar bei jedem Sonnenuntergang aufgesplittert, wenn die Platten sie wegtransportierten, aber es gab viele Platten, auf denen sich sehr große Heere befanden. Manchmal mussten diese Platten geräumt oder wieder eingenommen werden, wenn sie dem GHQ oder einer anderen unbeweglichen Stellung zu nahe kamen. Es war jetzt sechs Wochen her, seit Krähe mit seinen Soldaten die Grenzfeste verlassen hatte. Sie war nun in der Hand der Nichtlinge. Oberst Nage war zusammen mit seiner gesamten Garnison getötet worden, doch war es ihm gelungen, den Schaltraum zwölf Stunden lang zu halten, sodass die Tore geschlossen werden konnten – allerdings erst, nachdem vier- bis fünfhunderttausend Nichtlinge sie passiert hatten. Und dann, einen Monat darauf, waren die Tore irgendwie wieder geöffnet worden, obwohl das immer als unmöglich gegolten hatte. Zehntausende weiterer Nichtlinge waren einmarschiert. Doch wie Krähe seinem Feldwebel versichert hatte, bewährte sich die altehrwürdige tektonische Strategie. Mit den bei jedem Sonnenuntergang wandernden Platten und einem Feind, der dadurch seine Kräfte nicht bündeln konnte, war es der Armee möglich, die Nichtlinge stückchenweise zu bekämpfen und die meisten Aufeinandertreffen für sich zu entscheiden. Das schien aber Sir Donnerstag noch nicht zu reichen, hatte Krähe gehört. Es wurde erzählt, dass er, der schon in seinen besten Momenten nicht ausgeglichen war, noch gereizter als üblich reagiert hatte. Anscheinend war er sogar Marschall Morgengrauen gegenüber in Wut geraten und hatte sie ernsthaft verletzt, nachdem sie irgendeinen Aspekt des Vorgehens gegen die beispiellose Invasion und auch überhaupt die Klugheit der Entscheidung, den Feldzug so radikal und kurzfristig zu ändern, in Frage gestellt hatte. Krähe sinnierte, dass Morgengrauen natürlich recht gehabt hatte. Es war schon sehr merkwürdig, dass der Plan nur Stunden vor seiner Ausführung geändert wurde. Major Pravuil war auch ein seltsamer Bote gewesen. Irgendetwas war Krähe an ihm nicht ganz einwandfrei vorgekommen, so als ob er irgendeine besondere und keine normale Offiziersstelle innehätte. Das Ganze roch nach Politik und Einmischung von oben. Krähe hasste Politik. »Weitere Bewegungen am Plattenrand«, meldete einer der Grenzer. »Und ich schätze, wir sind entdeckt worden. Da ist ein Offizier … ein höherrangiger Nichtling, oder wie auch immer man ihn nennen soll … der eine größere Gruppe in unsere Richtung führt.« Krähe spähte vom Hügel hinab. Er und seine Grenzer lagen hinter zahlreichen Felsbrocken auf dem Gipfel in Deckung, aber vielleicht hatte eine unbedachte Bewegung sie verraten. Oder ein Lichtreflex von seinem Perspektiv. Instinktiv sah er zur Sonne hoch. Sie stand nahe am Horizont und war auf ihrem wackligen Weg nach unten, aber bis zu ihrem endgültigen Verschwinden würde es noch mindestens eine halbe Stunde dauern. Die Plattengrenze, die für sein geschultes Auge als schwacher Farbunterschied des Bodens sichtbar war, lag hundert Meter unter ihnen. Falls die Nichtlinge angriffen, müssten er und seine Männer es hinter diese Grenze schaffen, bevor die Dunkelheit einbrach und die Platten sich bewegten. Was nach Krähes Schätzung möglich war. Er war nicht allzu sehr beunruhigt. Seine Streitkräfte befanden sich in der Ecke ihrer gegenwärtigen Platte, und ein schneller Spurt in eine von zwei Richtungen würde sie auf Platten bringen, die sich in relativ sichere Gegenden schoben. »Irgendetwas ist eigenartig an dieser Kolonne«, brummte der Feldwebel. »Sieht aus, als ob sie etwas transportieren. Sie haben eine ganze Herde von Unpferden dabei.« Krähe hob sein Fernrohr. Unpferde waren wertvoller Viehbestand, Kreaturen, die Erdpferden nachempfunden und die Grimmiger Dienstag in der Grube halb gezüchtet, halb fabriziert hatte. Seit seinem Sturz hatte es keinen Nachschub an Unpferden mehr gegeben, sehr zum Verdruss der Mäßig Ehrenwerten Artillerie-Kompanie und der Horde. Aber die Nichtlinge dort unten hatten mehr als zweihundert Unpferde, die vor einen zwanzigrädrigen Wagen von mindestens zwanzig Meter Länge gespannt waren. Auf dem Wagen befand sich … Krähe ließ sein Perspektiv sinken, rieb sich noch einmal das rechte Auge und schaute dann erneut hindurch. »Was ist es?«, fragte der Feldwebel. »Es sieht wie ein riesiger Stachel aus«, berichtete Krähe. »Ein zwanzig Meter langer Stachel aus einem sehr eigenartigen Material. Er ist dunkel und er reflektiert überhaupt kein Licht. Es muss eine Art von –« »Nichts sein?« »Ja, das denke ich. Durch Zauberei fixiertes Nichts. Aber warum bringen sie es ins Labyrinth? Welcher Zweck könnte dahinterstecken, wenn sie doch gar nicht wissen, wo es landen wird –« Krähe schwieg plötzlich, legte das Fernrohr auf einen Stein und schlug rasch seine Ephemeride auf; er blätterte durch die Seiten, bis er die richtige Tabelle fand und durch Querverweise den Tag mit der Platte abglich, auf der sich der Unpferdezug der Nichtlinge befand. »Diese Platte wird sich heute Nacht genau ins Zentrum des Labyrinths bewegen«, sagte er nachdenklich. »Planquadrat fünfhundert/ fünfhundert.« »Dort gibt es nichts Besonderes«, bemerkte der Feldwebel. »Nichts, wovon wir wissen. Aber ich habe von einem berühmten Problem gehört, das sie an der Generalstabsakademie als Aufgabe stellen; sie nennen es ›Das Fünfhundert/ Fünfhundert-Problem‹ … Die Nichtlinge müssen wissen, wohin diese Platte wandert. Und sie müssen gewusst haben, wohin all die anderen Platten gewandert sind, sonst hätten sie nicht so weit kommen können.« »Aber sie können doch keiner Ephemeride habhaft werden, ohne dass sie explodiert«, gab der Feldwebel zu bedenken. »Oder etwa doch?« »Wir haben es auch nie für möglich gehalten, dass sie sich organisieren könnten«, meinte Krähe. »Dennoch haben sie genau das getan, und sie werden von jemandem angeführt, der das Geschäft kennt. Hier, nehmt das und schaut, ob Ihr noch etwas anderes sehen könnt.« Er reichte dem Feldwebel das Perspektiv und entnahm der Tasche seines Köchers einen kleinen Elfenbeinständer und einen Bleisoldaten. Die Figur war die eines Obersts im Regiment, ganz in Scharlachrot und Gold. Krähe stellte sie in den Ständer. Die Farben leuchteten auf, die Umrisse wurden schärfer, und sie verwandelte sich in eine lebendige Miniatur des echten Offiziers, der sich weit weg im GHQ aufhielt. »Oberst Repton!« »Hallo, Krähe! Ein weiterer inoffizieller Bericht?« »Jawohl, Sir! Ich werde Hauptmann Ferouk Meldung machen, aber es wird seine Zeit brauchen, bis diese Neuigkeit ihn auf dem Dienstweg erreicht, also dachte ich, Ihr solltet sie besser sofort erfahren und versuchen, Sir Donnerstag direkt zu übermitteln –« Der kleine Modelloberst verzog das Gesicht, als er das hörte, bedeutete Krähe jedoch mit einem Nicken, fortzufahren. »Wir haben eine bedeutende Nichtlingkolonne auf Platte 72/899 ausgemacht, die einen enormen Wagen eskortiert. Er wird von über zweihundert Unpferden gezogen. Auf dem Wagen befindet sich ein zwanzig Meter langes Objekt von drei Meter Durchmesser, welches an einem Ende spitz zuläuft und aus Nichts angefertigt zu sein scheint, obwohl seine Form beständig ist. Ich kann es nur als gigantischen Stachel beschreiben, Sir. Die Sache ist die, dass die Platte bei Sonnenuntergang zum Planquadrat fünfhundert/fünfhundert wandern wird, und ich –« »Habt Ihr fünfhundert/fünfhundert gesagt?« Oberst Repton klang alarmiert. »Würdet Ihr diesen Stachel als offensichtlich magisch bezeichnen?« »Jawohl, Sir!« Die Figurine erbleichte sichtlich. »Ich muss sofort Sir Donnerstag informieren! Wünscht mir Glück, Krähe!« Die Figur erstarrte und wurde wieder zu Blei. »Sollte besser uns Glück wünschen«, bemerkte der Feldwebel, während er Krähe das Glas zurückgab und seinen Bogen aufhob. »Da bewegen sich drei weitere Trupps auf uns zu. Sie werden definitiv angreifen.« Kapitel Vierzehn »Ich glaube, ich habe mich gerade an etwas erinnert«, sagte Fred. »Von meiner früheren Arbeit. Und zwar wie ich die Goldblättchen getrennt habe!« »Das ist gut«, freute sich sein Freund Helios Grün. »Mir ist noch nicht besonders viel wieder eingefallen. Ich träume zwar, und wenn ich aufwache, ist es noch irgendwo schemenhaft im Hinterkopf, aber dann mache ich die Augen auf, und es ist verschwunden.« »Es wird zurückkommen«, machte Fred ihm Mut. »Normalerweise tut es das. Das Meiste jedenfalls.« Helios runzelte die Stirn. »Es ist nur so, dass ich dieses Gefühl habe, ich sollte mich lieber schnell erinnern. Als ob es da etwas wirklich Wichtiges gibt, was ich tun muss.« »Es wird zurückkommen«, versicherte ihm Fred noch einmal. »So wichtig kann es sowieso nicht sein, wenn wir für den Rest des Jahres hier festsitzen. Von den übrigen neunundneunzigjahren Dienst gar nicht zu reden.« »Du wolltest General werden«, sagte Helios plötzlich. »Ich erinnere mich, dass du mir das einmal erzählt hast.« »Habe ich das?«, wunderte sich Fred. »Tatsächlich? Hmmm. Gar kein so übler Gedanke.« Es war jetzt sechs Wochen her, seit man Helios und Fred zwischen den Ohren gewaschen hatte. Später an jenem Tag waren sie auf ihren Betten aufgewacht, jeder mit einem Zettel an der Uniformjacke. Darauf stand ihr Name und sonst nichts. Nach dem ersten Erwachen hatten sie nicht einmal lesen können, aber glücklicherweise hatten sich ihre Schreibund Lesefähigkeiten schnell wieder eingefunden, zusammen mit verschiedenen anderen und einigem Grundwissen. Aber nur sehr wenige Einzelheiten aus ihrem früheren Leben waren zurückgekehrt. Sie hatten ihre Notizbücher gefunden, doch die waren keine große Hilfe gewesen. Fred hatte erfahren, was seine Lieblingsfarbe war und wie er seinen Tee bevorzugte, aber Helios fand seine eigenen Notizen äußerst rätselhaft. Nach der Lektüre hatte er das Gefühl, dass Helios wahrscheinlich nicht sein richtiger Name war, aber er hatte keine Ahnung, wie er tatsächlich hieß. Oder was die Namen der Treuhänder zu bedeuten hatten. Helios konnte sich nicht einmal erinnern, dass er früher Tintenbefüller gewesen war. Fred wusste schon wieder recht viel über sein Leben als Zivilist im Mittleren Haus; Helios’ Leben war dagegen ein großes Geheimnis. Egal wie er es versuchte, er konnte einfach keine Erinnerungen heraufbeschwören. Manchmal hatte er das Gefühl, als ob eine wichtige Einzelheit am Rande seines Gedächtnisses balancierte, aber wann immer er danach griff, stürzte sie ins Leere. Es war fast wie eine körperliche Qual, ein dumpfer Schmerz über ein verlorenes Leben. Fred versicherte ihm zwar, dass ihm mit der Zeit zumindest einiges wieder einfallen würde, aber das war nur ein schwacher Trost. Wenn die Rekruten des Zuges in der spärlichen Freizeit, die ihnen blieb, zusammensaßen, kamen sie unausweichlich auf ihr früheres Leben zu sprechen. Helios saß dann immer stumm da und hörte gespannt zu, stets in der Hoffnung, dass irgendein Detail aus dem Leben eines anderen einen Funken Erinnerung an sein eigenes entzünden mochte. Es tat weh, wenn die anderen in Erinnerungen schwelgten, doch dieser Schmerz ließ im selben Maß nach wie ihre täglich knapper werdende Freizeit. Aus unerfindlichem Grund war das normale Ausbildungspensum, bald nachdem man sie zwischen den Ohren gewaschen hatte, erhöht worden, und kurz darauf wurde es noch einmal erhöht. Anfangs hatten die Rekruten in der Nacht sechs Stunden und tagsüber zwei Stunden frei. Dann wurden die nächtlichen Freistunden auf fünf und dann sogar auf vier beschnitten, und selbst die waren vor Unterbrechungen nicht sicher. Die Ausbildung war intensiv gewesen. Helios und Fred wussten jetzt recht gut zu marschieren, sei es mit ihrem Zug oder einer größeren Formation, sei es unbewaffnet oder unter Ausführung grundlegender Übungen mit einer Vielfalt von Waffen, darunter Streitäxte mit Räderwerk, Musketen mit Nichtspulver, explosive Hellebarden, Muskelfaser-Langbogen, Barbarenschwert und Rundschild, Energiespeere und blitzgeladene Krummsäbel. Sie waren mit den siebzehn Formen des Salutierens vertraut und kannten die achtunddreißig Ehrentitel, die in der Armee benutzt wurden. Sie waren auch in der Lage, die Waffen, mit denen sie exerzierten, zu benutzen, und konnten sie pflegen, ohne ihre Kameraden dabei zu verletzen. Sie brachten es zuwege, sich in den wesentlichen Uniformen der Haupteinheiten zu präsentieren, wenn auch nie zur völligen Zufriedenheit ihres Feldwebels. Sie hatten gelernt, Befehle zuerst einmal zu befolgen und erst anschließend darüber nachzudenken. Sie waren im Begriff, Soldaten zu werden. »Eigentlich müsstest du dich einfacher erinnern«, wunderte sich Fred. »Immerhin hast du diesen Silberring benutzt.« Helios nahm den Ring aus seiner Tasche und sah ihn sich wieder einmal an. Er hatte ihn damals beim Aufwachen unter der Zunge gehabt. Als er Fred danach gefragt hatte, konnte der sich nicht erinnern, ihn vorher schon einmal gesehen zu haben, und es verging eine Woche, bevor dem Pfeiferkind wieder einfiel, dass es hieß, eine Silbermünze unter der Zunge sei gut gegen das Vergessen. »Er besteht gar nicht völlig aus Silber«, sagte Helios. »Ein Teil scheint aus Gold zu sein. Ich denke, das hat etwas zu sagen … aber –« »– ich kann mich nicht erinnern«, beendete Fred den Satz für ihn. Er sah hinüber auf die gestrüppreiche Wüste im Westen. »Beinahe Sonnenuntergang. Vielleicht gibt Helve uns frei, wenn es dunkel wird.« »Das bezweifele ich«, meinte Helios. Er wollte nicht freihaben. Freihaben hieß, Zeit haben, und das hieß, sich erinnern wollen. Er zog es vor, Arbeit zu haben und erst gar keine Gelegenheit zum Nachdenken zu bekommen. Die Gruppe war auf Säuberungsmission. Die Platten im Südwesten, Westen und Nordwesten hatten während der vergangenen Woche häufig gewechselt, und der Wind war aus westlicher Richtung gekommen und hatte allerlei Laub ins Camp geweht, das sich unter den Gebäuden und in verschiedenen Ecken abgelagert hatte und das Missfallen des Ausbildungskaders erregte. Also waren die Rekruten mit dem Befehl losgeschickt worden, alles aufzufegen. Die Strafe für das Liegenlassen auch nur eines einzigen Blattes oder gar eines rollenden Dornbusches war ein Vierzehn-Meilen-Übungsmarsch bei Nacht in Hordenrüstung (die gut beim Reiten von Unpferden, aber schrecklich beim Marschieren war) mit Legionswaffen und Grenzerstiefeln (denn nach vierzehn Meilen Marschieren in Hordenstiefeln würde das gesamte Rekrutenbataillon lahm zurückkehren). »Was ist das dort hinten in der Wüste?«, fragte Fred. »Ist eine der anderen Rekrutenkompanien auf Gefechtsübung?« Helios schaute in die Richtung, in die Fred deutete. Da marschierte eine Kolonne weniger als eine Meile entfernt. Die Spätnachmittagssonne glitzerte auf den Spitzen ihrer Helme und langen Speere und wurde sehr hell von den metallischen Fäden in der Standarte zurückgeworfen, die über den vier oder fünf Reitern auf der linken Flanke im Wind flatterte. »Das sind keine Rekruten«, stellte Helios fest. »Und das ist auch keine Einheit, von der ich je gelesen habe.« In dem Versuch, seinen Gedächtnisverlust zu kompensieren, hatte Helios den kompletten Des Rekruten Kamerad gelesen und weite Passagen daraus auswendig gelernt. »Vielleicht sollten wir Feldwebel Helve informieren«, meinte Helios nachdenklich. Er drehte sich um, um zur Schreibstube zu marschieren, und nahm stattdessen ruckartig Haltung an. Feldwebel Helve stand genau vor ihm und starrte in die Wüste. Er keuchte, was Helios und Fred überraschte; sie hatten Helve noch nie außer Atem erlebt. »In Bereitschaft!«, schrie Helve in einer Lautstärke, die sie ebenfalls noch nie erlebt hatten, obwohl sie schon Zeuge wahrhaft gewaltiger stimmlicher Auftritte ihres Vorgesetzten gewesen waren, wenn sie wieder einmal ihre Messingteile unzureichend poliert oder ihre Gürtel unzulänglich geweißt hatten. »Sämtliche Rekruten, Legionsmontur, Barbarenschwerter und Energiespeere, im Schnellschritt! Das ist keine Übung! Wir werden angegriffen!« »Wer sind die?«, fragte Fred, während er und Helios zur Kaserne sprinteten, ohne von irgendeinem Uffz zurechtgewiesen zu werden. Eine Flut von Korporalen und Feldwebeln kam ihnen entgegen, aber sie schienen heute andere Sorgen zu haben, als kleinliche Verstöße wie Rennen statt Marschieren zu rügen. »Können keine Nichtlinge sein.« »Wieso nicht?«, wollte Helios wissen, als sie in die Kaserne stürzten und zu ihren Spinden spurteten. »Der Haufen da draußen war organisiert. Diszipliniert. Uniformen und Standarten und alle die gleichen Waffen und so weiter«, erklärte Fred ein paar Augenblicke später. »Hier, hilfst du mir bitte, das festzuschnallen?« Helios zurrte die Lederschnüre an Freds mehrteiliger Rüstung fest und stand still, während Fred den Gefallen erwiderte. Sie gürteten ihre Barbarenschwerter, deren Klingen rotierten, wenn man das Heft drehte, legten ihre rechteckigen Schilde an und nahmen die Energiespeere in die Hand. Die langen Metallspitzen begannen sofort zu leuchten, und schwarze Rauchfetzen wanden sich zur Decke. So manches Dach und so manches Kameraden Uniform waren schon von Rekruten mit Energiespeeren in Brand gesetzt worden. »Was sollen wir tun, Helios?«, fragte Florimel. Sie und der Rest der Gruppe wurden gerade mit ihren Vorbereitungen fertig. Obwohl offiziell kein Gruppenführer ernannt worden war und sowohl Helve als auch Axtraus versichert hatten, dass dies nie geschehen werde, weil keiner der Rekruten dafür gut genug sei, pflegten alle auf Helios zu blicken in der Erwartung, dass er ihnen ihre Befehle erklärte oder sagte, was zu tun war. Falls Helios aus irgendeinem Grund nicht zur Verfügung stand, wurde Fred als sein Stellvertreter angesehen. Helios fragte sich, ob das mit seiner Vergangenheit zusammenhing. Er hatte eine leise Ahnung, dass er eine Autoritätsperson gewesen war, was für ein Kind des Pfeifers vielleicht ungewöhnlich, aber nicht beispiellos war. »Wir werden angegriffen«, erklärte er. »Deswegen werden wir hier antreten und hinausmarschieren und einfach unsere Befehle befolgen. Dann wird schon alles gut werden. Hat jeder alles? Theoderich! Wo ist dein Barbarenschwert? Geh es holen und komm uns nach. Alle anderen, angetreten! Links um, im Gleichschritt, marsch! Links … links … links, rechts, links!« Sie marschierten gerade aus der Kaserne, als ihnen ein keuchender Korporal Axtraus begegnete. Er war nicht in voller Legionärsmontur, sondern hatte einfach seinen Hut gegen den erstbesten Helm eingetauscht und sich in einen Brustharnisch geworfen; eine zahnradgetriebene Streitaxt ersetzte das Barbarenschwert. Aber er wirkte recht besonnen, als er rasch neben der Reihe der Rekruten in Schritt fiel. »Gut gemacht, Rekrut Grün. Wir sammeln uns auf dem Exerzierplatz. Rekrut Rannifer, du marschierst zu dieser Lücke links von Zug Zwei. Wir werden uns dort formieren.« Rannifer war der größte von ihnen, um Haaresbreite größer als Florimel, daher musste er immer den Orientierungspunkt abgeben, hinter dem sich die anderen formierten und der infolgedessen immer der Erste im Glied war, wenn die Übrigen paarweise marschierten wie jetzt. Das war nicht besonders klug eingerichtet, denn Rannifer war leichter aus dem Konzept zu bringen als die meisten. Dieses Mal marschierte Axtraus sehr dicht bei Rannifer, um Fehler zu verhindern, und außerdem schneller als gewöhnlich, wenn auch nicht im Eilschritt, wie Helios auffiel. Vermutlich wollte er nicht panisch erscheinen. Alle anderen Rekrutenzüge marschierten ebenfalls auf den Exerzierplatz. Einige hatten sich bereits formiert; ihre Feldwebel schrien und brüllten. Es waren sogar höhere Offiziere da, die sich in der Nähe berieten. Helios ordnete sie unwillkürlich anhand der Helmbüsche nach Rang ein, denn alle trugen Legionärsuniform. Vier Leutnants, ein Major und sogar ein Oberst. Helios war beeindruckt. Er hatte schon Leutnants gesehen, aber noch keinen höheren Rang. »Mir ist gerade etwas eingefallen«, flüsterte Fred ihm zu, als sie in der Mitte der vordersten Reihe zum Stehen kamen. »Über Pfeiferkinder.« »Was denn?«, flüsterte Helios zurück. Der Feind war jetzt nur noch fünfhundert Meter weit weg und rückte mit gleichmäßigem Marschschritt vor. Er führte eine ganze Menge großer Basstrommeln mit sich, um den Takt zu halten, und ihr dumpf dröhnender Rhythmus wurde etwa alle zehn Schritte durch ein Geräusch untermalt, das sich wie das Fauchen eines Tieres anstatt wie ein Schlachtruf anhörte. Der Gegner war auch viel zahlreicher, als Helios zuerst gedacht hatte, wenigstens viele Hundert. Nicht, dass er sie zählte; er hatte nur den Eindruck, dass es fürchterlich viele waren, die sehr schnell näher kamen. »Wir stecken Verletzungen nicht so leicht weg wie Bürger«, antwortete Fred. »Will sagen, wenn uns der Kopf abgeschlagen wird, dann war’s das für uns. Und auch unsere Arme und Beine werden wahrscheinlich nicht mehr nachwachsen.« »Ruhe im Glied!«, schrie Feldwebel Helve. Er schritt langsam die vorderste Reihe ab und würdigte den anstürmenden Feind keines Blickes. »Dies wird genau wie eine Übung vonstattengehen! Die Feinde sind Nichtlinge. Sie sind uns unterlegen! Wir sind die Armee der Architektin! Der Architektin! Lasst es mich hören: Der Architektin!« »Der Architektin!«, dröhnte es aus den Kehlen von sechshundert Bürgern. Es klang unglaublich kraftvoll und zuversichtlich, und Helios begann, sich ein wenig besser zu fühlen, ungeachtet dessen, was Fred ihm gerade erzählt hatte. »Wir werden nicht zurückweichen!«, rief Feldwebel Helve. »Sieg der Architektin!« »Sieg der Architektin!«, antwortete es donnernd. Helios bemerkte, dass Feldwebel Helve seine Rufe zeitlich so abstimmte, dass die Antwort der Bürger mit dem fauchenden Geräusch ihrer Feinde zusammenfiel und sogar das Schlagen ihrer Trommeln übertönte. »Oberst Huwiti wird euch in den Plan einweihen!«, rief Feldwebel Helve. »Denkt immer daran, euren Kameraden zur Seite zu stehen! Denkt an eure Ausbildung!« Oberst Huwiti schlenderte vor die vier Rekrutenreihen, die sich über den gesamten Exerzierplatz verteilten. Er grüßte lässig Feldwebel Helve, der den Gruß mit absoluter Präzision erwiderte. Keiner der beiden schien sich auch nur im Entferntesten der Tatsache bewusst zu sein, dass eine dicht gedrängte, schwarze Masse humanoider Nichtlinge in dunkel lackierten Rüstungen mit langen, funkensprühenden Speeren geradewegs auf sie zugestampft kam und nur noch dreihundert Meter entfernt war. »Die Sache wird sehr einfach«, sagte der Oberst mit ruhiger, aber weit tragender Stimme. »Erste Reihe, wenn ihr bitte so nett wäret, eure Schilde zu verhaken, eure Energiespeere in den Boden zu pflanzen und die Schwerter zu ziehen. Zweite Reihe, bereitet eure Energiespeere zum Wurf vor. Auf das Kommando ›werfen‹ werdet ihr werfen und euch dann nach hinten zurückziehen. Währenddessen wird die dritte Reihe nach vorn marschieren und auf Befehl werfen. Jede Reihe, die hinten ankommt, wird wieder umdrehen und die Schwerter ziehen. Befolgt die Befehle eurer Feldwebel und Korporale, und alles wird gut werden.« »Jawohl, Sir!«, brüllte Helve, die Art von Jawohl, Sir‹, die alle anderen bewog, ihre Lungen zu leeren, indem sie ebenfalls »Jawohl, Sir!« schrien. »Ich komme mir ein bisschen klein vor«, murmelte Fred, während er seinen Schild mit den Nachbarschilden verhakte und das Ende seines Energiespeers in den Boden rammte. »Mir geht’s genauso«, pflichtete Helios ihm bei. Die beiden waren mindestens dreißig Zentimeter kleiner als die Bürger rechts und links von ihnen, und selbst wenn sie ihre Schilde hochhielten, knickte die Reihe bei ihnen plötzlich nach unten ab. Sie konnten schon spüren, wie der Boden unter den dröhnenden Schritten ihrer Feinde erbebte, und hörten das Fauchen und Knistern ihrer Waffen, das dem Klang der blitzgeladenen Krummsäbel glich, der bevorzugten Waffe der Horde. »Ihr zwei Pfeiferkinder, sofort zurück mit euch in die vierte Reihe!«, befahl eine barsche Stimme vor ihnen. Helios gehorchte auf der Stelle, hakte seinen Schild aus und machte auf dem Absatz kehrt, um nach hinten zu marschieren, Fred an seiner Seite. Hinter ihnen schloss sich die Reihe, vor ihnen wichen die Bürger zur Seite. Sie wollten gerade die dritte Reihe durchqueren, als die Feinde plötzlich aufbrüllten. Das Stampfen ihrer Füße beschleunigte sich, Trommelschlag und Hörnerschall wurden verdoppelt. Im selben Moment schrien Helve und einige andere Feldwebel: »Zweite Reihe! Werfen!«, doch selbst ihre sagenhaften Stimmen gingen in dem schrecklichen Getöse fast unter. Helios wusste, der Feind hatte angegriffen, und zwei Sekunden später spürte er es wie eine Schockwelle, als die vorderste Linie der Nichtlinge in die verhakten Schilde seiner Kameraden prallte und das Krachen und Schreien und Fluchen, das Zischen überhitzter Speere und Klirren der Barbarenschwerter auf Nichtlingsrüstungen den Luftraum auszufüllen schien. »Dritte Reihe, werfen! Vierte Reihe, vorrücken!« Helios hatte die vierte Reihe gerade erst erreicht und fuhr heftig herum, als die ganze Reihe vormarschierte. Er und Fred keilten sich ein und hoben ihre Energiespeere. Während er Zeuge eines unbeschreiblichen Pandämoniums wurde, in dem sich die vordersten Reihen von Nichtlingen und Bürgern in verbissener Schlacht vermischten, befand sich Helios Grün ganz und gar in der Gegenwart. Da war kein Teil seines Verstandes, der versucht hätte, sich an irgendetwas aus der Vergangenheit zu erinnern, aber als der Energiespeer aus seiner Hand schnellte und in den hinteren Reihen des Feindes sein Ziel fand, blitzte ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Er sah sich etwas werfen – einen weißen Ball –, und jemand rief ihm zu: »Gut gemacht, Arthur Penhaligon!« Der Name hallte so mächtig in ihm nach, dass er einen Moment lang den unglaublichen Tumult der Schlacht um sich vergaß. »Ich bin nicht Helios Grün!«, schrie er. »Ich bin Arthur Penhaligon!« Kapitel Fünfzehn Sylvie sah durchs Fenster. Blatt beobachtete sie, und ihr Mut sank, als die alte Dame nicht so reagierte, wie sie es erwartet hatte. Sie stand nur da und fummelte am linken Bügel von Scamandros’ Brille herum. »Äußerst interessant«, sagte sie schließlich. »Haben Sie es gesehen?«, fragte Blatt. »Das Haus? Über dem Krankenhaus und ringsherum?« »Ja, meine Liebe, das habe ich«, sagte Sylvie in sehr sachlichem Ton. »Ist es real oder irgendeine Art von 3-D-Projektion dieser Brille?« »Es ist real«, antwortete Blatt grimmig. »Ausgesprochen real. Diese Brille hat nichts mit unserer Technik zu tun; ein Zauberer hat sie angefertigt.« Sylvie nahm die Brille ab und betrachtete das Drahtgestell und die gesprungenen Gläser. Dann setzte sie sie wieder auf und starrte noch einmal aus dem Fenster. »Ich habe nicht viel Zeit«, erklärte Blatt. »Diese Krankheit, von der alle glauben, dass sie von einem biologischen Kampfstoff hervorgerufen wird, wird in Wirklichkeit von einem … einer Kreatur aus diesem Haus verursacht, einem Nichtling. Man kann den … Virus … nur bekommen, wenn man von diesem Nichtling berührt wird. Ich habe ihn, und sobald er seine volle Wirkung entfaltet, wird der Nichtling sehen, was ich sehe, wissen, was ich weiß, und in der Lage sein, meinen Verstand zu lenken.« »Auch aus dieser Entfernung?«, wollte Sylvie wissen. Sie starrte immer noch aus dem Fenster. »Ah … das weiß ich nicht«, erwiderte Blatt. »Aber das Risiko kann ich nicht eingehen. Ich muss zu Arthurs … zum Haus meines Freundes. Er hat ein Telefon, mit dem man Bürger anrufen kann … die Leute im Haus. Ich habe mir gedacht, wenn Sie die Polizei rufen – nein, nein, das ist zu riskant. Wenn Sie einen Krankenwagen rufen, dann könnte ich ihn in meine Gewalt bringen und sie zwingen, mich hinzufahren.« »Du bist ja eine richtige Abenteurerin!«, rief Sylvie aus. Sie riss sich vom Fenster los und gab Blatt die Brille zurück. »Aber ich nehme an, das könnte klappen. Nur – was wird anschließend geschehen?« »Mein Plan war, mir um ›anschließend‹ Gedanken zu machen, wenn es ein Anschließend gibt«, entgegnete Blatt. »Und ich bin keine Abenteurerin. Wenigstens nicht aus freien Stücken. Ich habe mich einmal auf so etwas eingelassen und meine Lektion gelernt. Keine Abenteuer mehr, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet.« »Das wären dann aber keine Abenteuer«, wandte Sylvie ein. »Weißt du, ich war nie abenteuerlustig. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Ich habe ein Hausnotrufgerät hier. Soll ich es aktivieren? Es ist ein privater, kein staatlicher Service, also können wir davon ausgehen, dass schnell ein Krankenwagen kommen wird.« »Aktivieren Sie es«, stimmte Blatt zu und schickte sich an, wieder nach unten zu gehen. »Kann ich mir ein Messer aus Ihrer Küche leihen? Und etwas Salz?« »Wenn du das möchtest.« Sylvie öffnete eine Nachttischschublade und nahm ein kleines, elektronisches Gerät heraus, schnippte den Plexiglasdeckel auf und drückte den kleinen, roten Knopf. Es fing an zu piepen, und eine künstliche Stimme riet: »Bewahren Sie Ruhe. Hilfe ist unterwegs. Bewahren Sie Ruhe. Hilfe ist unterwegs.« Dann begann das Gerät, ein Vivaldi-Stück für Flöte und Fagott zu spielen. Sylvie warf es in die Schublade zurück und folgte Blatt nach unten. Sie fand sie in der Küche vor, wie sie löffelweise Salz schluckte und mit Orangensaft hinunterspülte. »Was um alles in der Welt tust du da?« Blatt hustete halb würgend. Dann wischte sie sich den Mund mit einem Küchentuch ab und sagte: »Ich weiß es selbst nicht genau, wirklich, aber Salz könnte die Macht des Nichtlings schwächen. Sie mögen kein Salz … und kein Silber.« »Ich habe einen silbernen Armreif«, sagte Sylvie. »Ich werde ihn holen.« »Danke«, nuschelte Blatt durch die Mundwinkel. Sie musste mit aller Kraft gegen den Brechreiz ankämpfen und hätte nicht für möglich gehalten, dass einem nur von einem halben Dutzend Löffel Salz so übel werden konnte. Vielleicht mochte der Pilz auch kein Salz. Für den Fall der Fälle rührte sie sich noch eine Salzwasserlösung an und gurgelte damit; anschließend zog sie sich die Flüssigkeit noch durch die Nase, als ob sie ihre Nebenhöhlen ausspülen wollte. Vielleicht würde das ja helfen. Als Sylvie zurückkam – sie hatte nicht nur den silbernen Armreif, sondern auch ein Halsband aus kleinen, silbernen Eicheln gefunden – hörten sie das Heulen einer näher kommenden Sirene und dann das Schlagen der Türen des dazugehörigen Krankenwagens, der vor dem Haus hielt. »Ich habe meinen Insulinpen bei mir«, sagte Sylvie und zeigte Blatt einen Stift, den sie unter ihrem Schal versteckt hatte. Der Markenname auf der Hülle war mit Kugelschreiber geschwärzt. »Ich werde ihnen erzählen, dass er etwas sehr Gefährliches enthält, das ich ihnen spritzen werde, wenn sie nicht tun, was ich sage. Aber erst, wenn wir im Wagen sind; vorher werde ich hier sitzen, und du sagst ihnen, dass ich ohnmächtig geworden bin. Du kannst dich als meine Enkelin ausgeben.« »Danke!«, sagte Blatt überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Sylvie sich so eifrig beteiligen würde. »Ah, ich will aber nicht, dass Sie tatsächlich verletzt werden …« »Ich weiß, ich weiß«, beruhigte die alte Frau sie. Sie ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder und begann, Töne wie eine kleine, kranke Katze von sich zu geben. Es war so realistisch, dass Blatt sich wirklich einen Moment lang Sorgen machte, bis sie Sylvie zwinkern sah. Blatt öffnete die Tür. Draußen standen zwei Rettungssanitäter, beide in voller Quarantänemontur; nur die Augen waren hinter ihren Gesichtsmasken zu sehen. »Es ist meine Oma!«, schluchzte Blatt. »In der Küche!« Die Sanitäter drängten sich an ihr vorbei, wobei der zweite den Verband an ihrem Kopf bemerkte. »Was ist geschehen?«, erkundigte sich der erste Sanitäter. »Sie hat das Bewusstsein verloren«, schwindelte Blatt. »Ich glaube, es ist ihr Herz.« »Oh, oh, oh, oh«, stöhnte Sylvie. »Wir schaffen sie besser in den Wagen«, meinte der erste Sanitäter, während er ein Blutdruckmessgerät aus seinem Notfallkoffer nahm und an Sylvies Handgelenk befestigte. Der zweite Sanitäter nickte und ging wieder hinaus. »Hm, stark erhöhter Puls, Blutdruck okay. Könnte eine Herzgeschichte sein. Sie kommen wieder in Ordnung«, wandte er sich an Sylvie. »Ich heiße Ron, und ich werde mich um Sie kümmern. Entspannen Sie sich einfach, und ehe Sie sich’s versehen, liegen Sie schon im Rettungswagen.« Der Sanitäter tätschelte ihren Handrücken, und Sylvies Mitleid erregendes Miauen verstummte. Ihre andere Hand lag unter ihrem Schal und hielt den Insulinpen umklammert. »Kann ich mitkommen?«, fragte Blatt. »Du verstehst aber schon, dass, wenn wir dich in ein Krankenhaus mitnehmen, du dann wegen der Quarantäne vielleicht dort bleiben musst? Und wir müssen dich vorher einsprühen.« »Klar«, war Blatt einverstanden. »Solange wir nicht im Ostbezirkskrankenhaus landen.« »Auf keinen Fall. Da ist im Moment der Teufel los. Wir sind zurzeit in der Lerchenthaler Privat stationiert. Okay, geh ein Stück zur Seite!« Und zu Sylvie: »Wir werden Sie jetzt auf die Trage heben.« Der zweite Sanitäter war zurückgekommen und schob eine fahrbare Trage vor sich her. Die beiden hoben Sylvie fachmännisch hoch, legten sie darauf und zogen die Gurte locker an. Das Blutdruckmessgerät quittierte ihr Tun mit einem Piepen. »Frequenzerhöhung«, meinte Ron. »In ein paar Minuten haben wir Sie an ein paar unserer Wundermaschinen angeschlossen. Dann wird es Ihnen wieder gut gehen.« Blatt hatte befürchtet, die Nachbarn könnten fragen, wer sie sei, sobald sie das Haus verließen. Aber ihre Sorge war unbegründet. Hier und da war zwar ein Gesicht hinter einer Scheibe zu sehen, doch niemand kam auf die Straße. Wahrscheinlich fragten sich alle, ob Sylvie ein Opfer der neuen Biowaffe geworden war. Dass der zweite Sanitäter Blatt eine Schutzbrille und eine Gesichtsmaske reichte und sie anschließend komplett mit etwas einsprühte, das den Schlauch hellblau verließ, aber beim Trocknen die Farbe verlor, war weiter dazu angetan, auch den neugierigsten Nachbarn vom Verlassen seiner sicheren Wohnung abzuhalten. Das Desinfektionsmittel roch schwach nach feuchter Zeitung, aber es hinterließ glücklicherweise keine fühlbaren Rückstände. Nach dem Einsprühen ging der Sanitäter nach vorn und setzte sich hinters Steuer. Blatt kletterte hinten in den Wagen, wo Ron soeben ein Gerät eingeschaltet hatte, das mit einem halben Dutzend herabhängender Schläuche, Leitungen und Sensoren über der Trage pendelte. Blatt zog die Tür hinter sich zu, und der Krankenwagen fuhr mit Sirenengeheul los. Als sie um die Ecke bogen, neigte sie sich über Sylvie und löste die Gurte um ihre Arme, während der Sanitäter auf der anderen Seite gerade den Deckel von einer Tube Kontaktgel schraubte. »Was machst du –« »Keine Bewegung!«, zischte Sylvie, setzte sich ruckartig auf und presste den Insulinpen fest gegen Rons Oberschenkel, wo der Stoff seines Schutzanzuges so dünn war, dass die Nadel ihn leicht durchdringen würde. »Das hier sind zweihundertfünfzig Milligramm Rapyrox. Sagen Sie Ihrem Kollegen, er soll Funkstille halten und keinen Alarm geben.« Der Sanitäter erstarrte und drehte dann langsam den Kopf nach vorn. Blatt hatte keine Ahnung, was Rapyrox war, aber Ron wusste es jedenfalls und hatte Angst davor. »Jules, die alte Dame drückt eine Injektionseinheit Rapyrox gegen mein Bein. Unternimm nichts … ich meine, gar nichts.« »Was?« »Ich habe hier zweihundertfünfzig Milligramm Rapyrox, und ich habe keine Angst, sie zu benutzen!«, kreischte Sylvie schrill und jagte damit Blatt fast ebenso viel Angst ein wie Ron. »Ich will, dass Sie mich irgendwo hinfahren. Und du verhältst dich ruhigjunge Dame!« Blatt nickte und war sich plötzlich nicht mehr sicher, wie viel von Sylvies Vorstellung tatsächlich noch geschauspielert war. »Was immer Sie sagen, Lady«, sagte Jules beschwichtigend. Blatt konnte sehen, wie seine Augen nervös zwischen dem Rückspiegel und der Windschutzscheibe hin und her zuckten. »Wohin wollen Sie?« Sylvie nannte ihm eine Adresse, die zwei Häuser von Arthurs Haus weg war. Blatt sah die alte Dame verwundert an, als sie Jules die falsche Hausnummer gab, dann nickte sie langsam. »Ich lese viele Krimis«, sagte Sylvie scheinbar ohne Bezug. »Prima, prima«, murmelte der Sanitäter im Fond. »Warum auch nicht? Ich lese selbst ab und zu einen. Ah, warum wollen Sie eigentlich nach –« »Habe ich gesagt, dass Sie reden dürfen?«, schrie Sylvie. Der Rest der Reise verlief ohne Konversation. Jules warf nach wie vor mal einen raschen Blick in den Rückspiegel, aber dabei ließ er es bewenden. Ron schloss die Augen und atmete regelmäßig und sehr kontrolliert. Sylvie beobachtete ihn mit Argusaugen, die heller strahlten, als es für eine alte Dame normal war. Blatt saß da und machte sich Sorgen. Sie spürte weiterhin den Druck im Kopf, aber er war nicht schlimmer geworden. Ihr fiel immer noch nichts Besseres ein, als Dame Primus anzurufen und zu hoffen, dass das Vermächtnis auf irgendeine Weise helfen würde. Bevorzugt, indem es die Tasche an sich nahm und zu Arthur schaffte, sodass der den Skelettjungen vernichten konnte. Ob das allerdings den Unglücklichen helfen würde, die sich bereits mit dem Pilz infiziert hatten, war eine andere Frage. Auch wenn es etwas gab, was Dame Primus oder Doktor Scamandros gegen den Pilz tun konnten, steuerte Blatt in jedem Fall auf eine Menge Schwierigkeiten zu – hoffentlich endete es nicht damit, dass sie sich als sabbernder Zombie in die Sklavenarmee des Skelettjungen einreihte. »Wir sind fast da«, meldete Jules von vorn. »Möchten Sie, dass ich anhalte?« »Ja«, sagte Sylvie. »Mädchen, schau aus dem Fenster. Sieh nach, ob wir Gesellschaft haben. Falls wir welche haben …« »Ich habe nichts getan!«, protestierte Jules. Ron schöpfte noch tiefer, noch bewusster Atem, öffnete aber nicht die Augen. Blatt schaute durch das getönte Heckfenster des Krankenwagens. Sie konnte weder ein anderes Fahrzeug noch irgendwelche Leute auf der Straße sehen. Aber sie konnte die Hausnummern lesen. Da war Arthurs Haus, nur ein paar Türen von der Stelle entfernt, wo sie hielten. »Niemand zu sehen.« »Gut«, sagte Sylvie. »Geh und pflücke mir ein paar Blumen, Mädchen. Ich werde hier warten.« »Aber ich will keine –«, stieg Blatt in das Spiel ein. »Ich sagte, geh mir ein paar Blumen pflücken!«, befahl Sylvie mit dem Kichern einer Wahnsinnigen. »Wie du willst, Oma«, erwiderte Blatt unterwürfig. Sie kletterte hinten aus dem Wagen, wobei ihr der Anblick von Ron entging, der versuchte, ihr einen stummen Hilferuf zuzublinzeln. »Lassen Sie das!«, befahl Sylvie. »Und du holst einfach die Blumen, Mädchen. Sonst nichts! Und mach die Tür hinter dir zu!« Blatt schloss die Tür und ging rasch zu Arthurs Haus. Es war ziemlich groß, aber die Vordertür war hinter dem Rasen gut einzusehen. Blatt ignorierte sie und ging weiter, bis sie zur Einfahrt kam. Zehn Schritt vor dem Garagentor ging sie auf ein Knie nieder und drückte den Knopf der Fernbedienung, die unter einem Stein angebracht war, genau wie Arthur es ihr beschrieben hatte. Das Signal öffnete die Seitentür der Garage. Blatt überquerte die Auffahrt und behielt dabei die Fenster des Hauses im Auge, aber kein Gesicht erschien hinter den Scheiben. Sobald sie erst einmal in der Garage war, war es kein Problem mehr, ins Haus und die Treppe hochzukommen. Es gab drei Etagen über der Garage, wusste Blatt, und Arthurs Schlafzimmer war ganz oben. Es war ihr ein bisschen unheimlich, in jemandes Haus einzubrechen, und sie war deswegen sehr nervös. Nervöser noch als im Krankenwagen, obwohl die Entführung des Fahrzeugs und der Sanitäter ein wirklich ernstes Verbrechen war. Jedes Mal, wenn einer ihrer Schritte lauter als erwartet auf der Treppe knarrte, drehte sie fast durch und sah vor ihrem geistigen Auge bereits Arthurs Vater oder eines der Geschwister plötzlich vor sich auftauchen. Wahrscheinlich sind sie alle im Krankenhaus, versuchte Blatt sich zu beruhigen. Oder sie halten sich bei Freunden oder Bekannten auf. Es ist wirklich ruhig in diesem Haus. Nur noch ein Stockwerk … Sie erreichte den Treppenabsatz auf der dritten Etage. Es gab drei Schlafzimmer- und eine Badezimmertür. Arthurs Tür war die erste links … Oder war es die erste rechts? Blatt zweifelte plötzlich an ihrem Gedächtnis. Arthur hatte doch ›die erste links‹ gesagt, oder? Blatt öffnete die Tür zu ihrer Linken behutsam einen Spalt breit und spähte hinein. Dann schloss sie sie wieder, so leise sie konnte, und trat einen Schritt zurück. In dem Zimmer war ein Mädchen; es stand mit dem Rücken zur Tür, trug Kopfhörer und hörte Musik, vielleicht auch Nachrichten, und stellte unterdessen etwas Kompliziertes mit einem Lichtstift und einem großen Flachbildschirm an. Blatt schluckte und öffnete die Tür zu ihrer Rechten, wobei sie sich Mühe gab, äußerst leise zu sein. Es war Arthurs Zimmer, genau wie beschrieben, nur ordentlicher. Und auf dem Bücherregal stand ein rotes Lackkästchen. Blatt eilte zu dem Kästchen, nahm es, setzte es auf dem Bett ab und klappte den Deckel auf. Ein Telefon war darin. Ein altmodisches Telefon, ein Messingständer mit einer Sprechmuschel darauf und einer Hörmuschel an einer Kordel. Sie nahm es heraus und hielt es vor ihren Mund, setzte sich aufs Bett und drückte die Hörmuschel ans Ohr. Obwohl das Telefon nicht mit der Wand verbunden war, hörte Blatt einen altmodischen, knackenden Wählton, dem gleich darauf eine Stimme folgte. »Vermittlung. Welche Nummer, bitte?« »Dame Primus«, antwortete Blatt hastig. »Die Nummer weiß ich nicht.« »Wer ist am Apparat, bitte?«, fragte die Vermittlung. »Blatt«, sagte Blatt. »Arthurs Freundin Blatt.« »Einen Augenblick, bitte.« Die Stimme verschwand, und das Knacken wurde lauter. Blatt bearbeitete ungeduldig den Boden mit den Füßen und umklammerte den Hörer des Telefons noch fester. »Dame Primus ist zurzeit nicht erreichbar«, meldete sich die Vermittlung nach mindestens einer Minute. »Kann ich eine Nachricht übermitteln?« Kapitel Sechzehn Der Energiespeer hatte kaum seine Hand verlassen, da wurde Arthur auch schon vom Gedränge der Leiber nach vorn getragen, weil die Reihen der Bürger sich vorschoben, um die Verluste im Schildwall der vordersten Reihe zu ersetzen. Alles war unglaublich laut, Furcht einflößend und verwirrend. Manchmal war sich Arthur nicht einmal sicher, welche Richtung überhaupt vorwärts war, denn die Reihen waren in ständiger Bewegung und verlagerten sich, und er musste mit seinen Nachbarmännern mitziehen, wenn er nicht niedergetrampelt werden wollte. Unwillkürlich hatte er sein Barbarenschwert aus der Scheide gerissen und benutzte es auch. Es waren Momente intensiver Furcht, wenn er nach einem Nichtling hieb, der plötzlich vor ihm auftauchte, oder wenn er verzweifelt versuchte, einen Speer abzublocken, der Blitze sprühend wie aus dem Nichts direkt auf ihn zugezischt kam. Einmal stand er für ein paar Augenblicke als Einziger in der Mitte eines zwei Meter großen Kreises von Schwerverwundeten, während ringsherum die Schlacht tobte. Die Sterbenden stöhnten und röchelten zu seinen Füßen. Das waren die leisen Töne einer Schlacht, die gleich wieder im Kampflärm untergingen, als Arthur von seinen Kameraden mitgerissen wurde, Töne, die von Verwirrung und Entsetzen und Endgültigkeit sprachen und die er nie vergessen würde. Der Lärm war allgegenwärtig und endlos. Metall klirrte auf Metall. Waffen prallten dumpf auf Rüstungen und Fleisch und Knochen. Die Trommeln schlugen ohne Unterlass. Bürger und Nichtlinge brüllten und heulten. Blitze sprühten, zischten und krachten. Rauch und grauenhafte Gerüche von Verbranntem stiegen auf und waberten durch das Getümmel. Arthurs Verstand hielt der Angst und dem Schrecken nicht stand. Er funktionierte wie ein Roboter, bewegte sich nur noch gemäß seiner Ausbildung und seinen Befehlen, kein intelligentes Bewusstsein schien ihn zu steuern. Ihm war, als hätte sich sein eigentliches Selbst in einen Bunker zurückgezogen und würde aufzeichnen, was Augen, Ohren und Nase wahrnahmen. Er würde sich später ansehen und darüber nachdenken, was seine Sinne ihm berichteten. Im Moment konnte er das Erlebte nicht bewältigen. Die Wellen der Schlacht wogten vor und zurück, ohne dass Arthur die verstrichene Zeit hätte abschätzen können, denn da reihten sich Sekunden tiefsten Schreckens und plötzlichen Handelns aneinander und kamen ihm in seiner Erschöpfung vor wie Stunden. Dann, wie das Meer im Gezeitenwechsel, zogen sich die Nichtlinge zurück. Die Rekruten schickten sich an, sie zu verfolgen, wurden aber mit lauten Kommandos zurückgehalten und mussten sich zehn Meter weiter vorn neu formieren, wobei sie über tote Feinde und gefallene Kameraden trampelten. Gegen diese Flut der Vorwärtsbewegung drängte ein steter Strom von verwundeten Bürgern an, die aufeinander gestützt unterwegs nach hinten waren, doch kein noch kampffähiger Rekrut verließ die Reihen. Die Sonne war schon fast untergegangen, als sich die Nichtlinge endgültig zurückzogen. Sie flohen zur Plattengrenze, um sie zu überqueren, bevor das letzte Stückchen Sonne hinter dem Horizont verschwand und die Wüstenplatte sich irgendwo anders hinbewegte. Arthur befolgte stumpfsinnig die Kommandos, die rings um ihn gerufen wurden. Die entsetzlichen Eindrücke wurden nicht weniger, vom schrecklichen Gefühl in blauem Bürger- und ölig-schwarzem Nichtlingsblut zu waten, bis hin zu den krächzenden Schreien der schwerverletzten Gegner, die nicht mehr fliehen konnten. Zuflucht war nur zu finden, indem er geradeaus starrte und an nichts anderes dachte als an die Ausführung der Befehle. Der nächste lautete marschieren; also stapften sie vorwärts und verfolgten in gleichmäßigem Tempo die Streitmacht der Nichtlinge bis zur Plattengrenze. Zweimal drehte sich ein Nichtlingstrupp um, um zu kämpfen, sodass der Befehl zum Gegenangriff gegeben wurde, aber es kam nicht zu Gefechten nach allen Richtungen. Die Rekruten blieben einigermaßen in Reih und Glied, während sie im Schnellschritt und unter Kriegsgeschrei, dem Feind entgegenstürmten. Dennoch musste Arthur seine ganze Aufmerksamkeit und Energie aufbringen, um nicht umgestoßen und von den eigenen Leuten zertrampelt zu werden. Er wusste nicht mehr genau, in welcher Reihe er eigentlich war, denn vor ihm marschierten viele andere; die Streitmacht der Bürger hatte die Formation zusammengezogen und war jetzt mehr eine breite Kolonne, die von den Feldwebeln, welche die Kommandos von Oberst Huwiti verstärkten und weiterleiteten, wie mit dem Meißel geformt wurde. Irgendwann war es zu dunkel, um weiterzukämpfen; das grüne Mondlicht und der Schein der Sterne reichten nicht aus, um die kleinen Nichtlingsgruppen aufzustöbern, die noch übrig geblieben waren. Zahlreiche Gegner waren tot oder gefangen genommen, doch einem bedeutenden Teil des feindlichen Heeres war es gelungen, die Plattengrenze kurz vor Sonnenuntergang zu überqueren, und war verschwunden, als die benachbarte Platte weiterwanderte und die Wüste sofort von einer Quadratmeile üppigen, wogenden Graslandes ersetzt wurde, was den Nachzüglern willkommene Deckung bot. Mehrere Rekrutenzüge wurden mit zusätzlichen Offizieren als Vorposten zurückgelassen; der Rest der Truppe marschierte zum Fort. Anfangs wurde noch versucht, zu singen, doch die Lieder erstarben den Rekruten auf den Lippen, als sie das Schlachtfeld überquerten. Bürger und Nichtlinge lagen niedergestreckt mit verrenkten Gliedmaßen zwischen teils noch funkensprühenden Waffen auf geschwärztem Boden, und überall war Blut, blaues und schwarzes vermischt wie auf der Palette eines apokalyptischen Malers. »Ich dachte, Nichtlinge lösen sich auf, sobald sie tot sind«, flüsterte Fred und klang doch eigenartig laut und schrill, sodass sich die Bemerkung scharf vom Geräusch der Marschschritte und dem gelegentlichen Klirren von Waffen oder Rüstungen abhob. »Und gehen zurück ins Nichts.« »Das tun sie auch«, sagte die Bürgerin neben Arthur. Arthur sah sie zum ersten Mal richtig an und stellte fest, dass sie ein Korporal war. Sie hieß Urmink. »Und warum liegen sie dann noch hier, Korporal?«, wollte Fred wissen. »Das sind Nahe Schöpfungen«, erklärte Urmink. »Zwar aus Nichts gemacht, aber einem Bürger sehr ähnlich. Sie sind aus Fleisch und Blut. Sie haben viel mehr mit Bürgern gemein als Sterbliche und sind ganz und gar nicht wie der normale Nichtling.« Sie sprach im Plauderton und nicht in der barschen Stimmlage, die Arthur und Fred gewohnt waren. Urminks Freimütigkeit kam unerwartet, doch die Jungen wollten ihr Glück nicht strapazieren und zogen es vor, zu schweigen. Umso verblüffter waren sie, als die Korporalin erneut das Wort ergriff, während die Kolonne einen Schwenk vollführte, um dem schlimmsten Teil des Schlachtfeldes im Zentrum des Exerzierplatzes auszuweichen. »Das wird beileibe nicht der letzte Kampf mit diesem Haufen gewesen sein. Dieser Feldzug ist nicht wie die anderen. Ihr habt euch alle wacker geschlagen, aber es war kein schweres Gefecht. Wir waren ihnen zahlenmäßig überlegen, und sie waren bereits müde.« Wir müssen noch mal kämpfen?, dachte Arthur. Die Angst bildete in seinem Magen einen Klumpen und kam ihm so heftig hoch, dass er fast würgen musste. Er kämpfte ihn nieder. Natürlich, wir sind Soldaten, aber das war so entsetzlich … wie könnten wir das je wieder tun … wie könnte ich das je wieder tun …? Die Rekruten durften noch nicht wegtreten, als der Verband auf dem sauberen, rückwärtigen Teil des Exerzierplatzes Halt machte. Stattdessen wurden jedem Zug spezielle Aufgaben zugeteilt. Die meisten mussten die Toten einsammeln, noch brauchbare Ausrüstungsgegenstände bergen und aufräumen. Arthur und Fred standen stramm und warteten, dass ihr Zug seine Befehle bekam. Nachdem Korporal Urmink gegangen war, unterhielten sie sich leise aus den Mundwinkeln. »Wir hatten Glück, dass wir aus der vordersten Reihe nach hinten beordert wurden«, sagte Arthur. »Allerdings«, stimmte Fred ihm zu. »Ich frage mich … ich frage mich, ob die anderen es alle mit heiler Haut überstanden haben.« Sie waren eine Weile still und dachten darüber nach, während andere Züge kehrtmachten und wegmarschierten. Mittlerweile standen nur noch sechzig oder siebzig Rekruten auf dem Exerzierplatz und keiner davon in Freds und Arthurs Nähe, falls nicht welche hinter ihnen waren, die sie nicht sehen konnten. Schließlich erkannten sie die Stimme von Feldwebel Helve, der Zug Zwei befahl, sich vor seiner Kaserne zu formieren. »Was war das überhaupt, was du gerufen hast, als die Schlacht losging?«, wollte Fred wissen, während sie auf ihre Kaserne zumarschierten. »Mein wirklicher Name«, erwiderte Arthur. »Er ist … nun ja, ich glaube, ich soll ihn aus irgendeinem Grund geheim halten. Er fiel mir genau in dem Moment wieder ein, als der Feind angriff. Nur kann ich mich leider an sonst nichts erinnern. Nur an den Namen.« »Sind das alle?«, fragte Fred, als sie sich der Kaserne näherten. Eine sehr kurze Reihe stand vor der Tür. Die Hälfte des Zuges fehlte. Arthur brauchte mehrere Sekunden, bis ihm klar wurde, was das bedeutete: Sie waren tot oder zumindest so schwer verwundet, dass sie medizinischer Behandlung bedurften. »Das können nicht alle sein«, flüsterte Fred, als sie näher kamen. »Bürger sind nicht so leicht umzubringen …« »Grün und Gold, ins Glied treten!«, befahl Helve, doch ohne zu schreien. Arthur und Fred stellten sich rasch ans Ende der Reihe. Am anderen Ende stand nicht mehr Rannifer, sondern Florimel, die jetzt am größten war. »Ihr habt gut gekämpft«, sagte Helve fast im Plauderton. »So, wie ich es von euch erwartet habe. Und daher erwartet euch jetzt eine besondere Vergünstigung. Oberst Huwiti hat befohlen, dass zur Belohnung heute Abend eine außerordentliche Postzustellung stattfinden wird. Ihr braucht euch also nicht drei weitere Monate zu gedulden. Und da ihr heute wie Soldaten gekämpft habt, wird es auch eine Rumration geben – allerdings nicht für euch Pfeiferkinder, bedaure, das sagen zu müssen. Weiß nicht, weshalb nicht, aber so lautet der ausdrückliche Befehl. Wir sind abkommandiert worden, die Post abzuholen und ins Kasino zu bringen. Da immer noch eine gewisse Gefahr durch Nichtlingsangriffe besteht, werden wir unsere Barbarenschwerter behalten; die Schilde bleiben hier. Das bedeutet nicht, dass euch das Putzen der Waffen erspart bleibt oder dass ihr euch nicht zu waschen braucht. Wir führen jetzt eine schnelle Reinigung durch und werden sie später ordentlich beenden.« Das dauerte eine Viertelstunde. Arthur war froh, wenigstens einige sichtbare Spuren der Schlacht beseitigen zu können, wenngleich er mit seinem geistigen Auge noch immer das Nichtlingsblut auf der Klinge sah. Helve ließ ihnen keine Zeit zum Nachdenken, nachdem sie mit dem ersten Säubern fertig waren. »Zug, links um, Abteilung marsch! Bleib im Gleichschritt, Lanven!« »Er hat nichts davon gesagt, was mit den anderen passiert ist«, flüsterte Fred Arthur zu. Sie konnten sich relativ gefahrlos unterhalten, denn Helve ging ganz vorn, während sie am Ende der Gruppe marschierten. Helve dirigierte den Zug zu einem Gebäude, in dem Arthur noch nicht gewesen war. Davon gab es in dem Fort noch reichlich. Wie zum Beispiel das Kasino. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es eins gab. Auch an der Tür dieses Gebäudes prangte das unvermeidliche rot-schwarze Schild; darauf war zu lesen: POSTENPOSTAMT. Wie die Kaserne, so war auch das Postenpostamt innen größer als außen. Es schien völlig leer zu sein bis auf einen langen, hölzernen Schalter, auf dem eine Klingel prangte. Helve ließ den Zug anhalten, marschierte darauf zu und ließ seine Handfläche auf die Klingel niedersausen. Das zeitigte eine sofortige Reaktion. Ein Bürger in dunkelgrüner Uniform, in der Arthur die Feldbekleidung für Verpflegungsoffiziere erkannte, sprang hinter dem Schalter auf. »Wir haben geschlossen!«, beschied er naserümpfend. Arthur war erstaunt, dass ein bloßer Verpflegungskorporal in einer solchen Weise mit Feldwebel Helve zu sprechen wagte, insbesondere, wo des Feldwebels Kürass an mehreren Stellen verbeult und mit Nichtlingsblut beschmiert war. »Kommt in drei Monaten wieder!« Blitzschnell packte Helve den Verpflegungskorporal beim obersten Knopfseiner Uniformjacke, wodurch er ihn hinderte, wieder hinter seinen Schalter zu rutschen. »Der KO hat eine außerordentliche Postzustellung befohlen, Korporal. Lest Ihr Eure Befehle nicht?« »Nun, das ist etwas anderes«, sagte der Korporal. »Post für das gesamte Rekrutenbataillon?« »So ist es«, bestätigte Helve. Er ließ den Korporal mit einem Ruck los, der den Knopf von der Uniform zu trennen drohte. »Für das gesamte Bataillon.« »Kommt sofort«, sagte der Korporal. Er zog ein Stück Papier unter dem Schalter hervor, sowie einen Federkiel und ein Tintenfass, und schrieb rasch etwas auf. Dann marschierte er von seinem Schalter zu der freien Fläche dahinter und warf das Blatt in die Luft. Einen Augenblick später geschah ein ohrenbetäubendes Rumpeln. Der Korporal sprang zurück, denn ein Dutzend zwei Meter großer Segeltuch-Postsäcke polterte aus dem Nichts herab. »Die Post«, sagte der Korporal. »Bedient Euch.« Mit diesen Worten versank er wieder hinter seinem Schalter. »Schnappt euch die Säcke«, wies Helve die Rekruten an. »Jeder einen. Grün und Gold, ihr nehmt einen zwischen euch.« Der Feldwebel selbst hob anscheinend mühelos zwei Säcke auf und packte sich einen unterjeden Arm. Arthur und Fred konnten kaum ihren einen hochheben, doch sobald sie ihn einmal ausbalanciert hatten, erwies er sich nicht als so schwierig zu tragen, wie sie befürchtet hatten. »Bleibt im Glied und gebt euch einen ordentlichen Anschein«, instruierte Helve sie. »Wir halten uns vom Exerzierplatz fern. Hinten herum und zum Kasino.« Arthur brauchte sich nicht zu wundern, dass er das Kasino noch nie gesehen hatte, denn es war kein Gebäude des Forts, sondern war wie der Waschraum durch einen Obskurweg in der Außenmauer eines Waffenarsenals zu erreichen. Unter der Last der Postsäcke schleppte sich der Zug den Obskurweg entlang und gelangte schließlich in einen Raum, der so groß war, dass Arthur keine Wände sehen konnte, nur eine Decke in zirka zwanzig Meter Höhe. Und wie der Waschraum war auch das Kasino von den geisterhaften Gestalten anderer Soldaten bevölkert; die meisten saßen auf Bänken entlang der Tische, die reich mit Speise und Trank beladen waren. Anders als die Becken im Waschraum waren die Tische gekennzeichnet; jeder trug das Schild einer speziellen Einheit. ›Fort Transformation Rekrutenbataillon‹ stand ungefähr fünfzig Tische in gerader Linie vom Obskurwegeingang entfernt. Als sie darauf zumarschierten, fiel Arthur auf, dass viele der geisterhaften Soldaten verwundet waren. Es waren jede Menge Bandagen, Krücken, Augenklappen und ganz frische Narben zu sehen. Und die wenigsten Tische waren komplett besetzt. Das entsprach nicht dem Bild, das Des Rekruten Freund gemalt hatte, dachte Arthur niedergeschlagen. In dem Buch war alles sauber und untadelig, und die gezeichneten Soldaten strahlten Gesundheit, Fitness und Zufriedenheit aus. Bis Arthur und Fred an ihren Plätze ankamen, waren sie bereits völlig erschöpft und hatten kaum noch genügend Kraft, ihren Sack auf einen Tisch zu hieven. »Macht sie auf«, sagte Helve. »Wir müssen nicht sofort zurück; also können wir uns unsere Post ebenso gut vor dem großen Ansturm besorgen.« Die Säcke wurden geöffnet, und eine Flut von Briefen und Paketen ergoss sich über die Tische. Dann löste sich plötzlich ein Brief aus diesem Haufen, segelte durch die Luft und knallte an den Helm einer Rekrutin. Sie langte nach oben und rief entzückt: »Ich habe einen Brief bekommen!« Zehn Sekunden später prallte ein in braunes Papier eingewickeltes Päckchen an Florimels Rüstung ab und landete in ihren Händen. Anschließend kam ein Umschlag für Fred, und bald darauf hatten alle etwas bis auf Arthur. Sogar Feldwebel Helve hatte einen kleinen, rosaroten, mit Blumen verzierten Umschlag erhalten. »Ich werde nichts kriegen«, meinte Arthur. Er wusste nicht, wieso er sich da so sicher war, aber er hatte keine Zweifel. Das letzte Wort war kaum über seine Lippen gekommen, als ihm ein großer, gelbfarbener Umschlag ins Gesicht klatschte. Arthur taumelte rückwärts auf eine Bank, und nachdem sich seine erste Überraschung gelegt hatte, saß er da und starrte auf seine Post. Sie war an Arthur Penhaligon adressiert, was ihm bestätigte, dass er sich an seinen Namen richtig erinnert hatte. Arthur machte sich ans Öffnen. Der Umschlag war auf der Innenseite beschrieben, sodass er die Nähte auftrennen und glatt streichen musste, was gar nicht so einfach war, denn das Papier war sehr schwer und fest. Der Brief war handschriftlich mit mattsilberner Tinte verfasst. Lieber Arthur, einer Unserer Agenten hat deine Eltern in seiner Gewalt. Falls du Uns nicht unverzüglich die Schlüssel übergibst und auf jeden Anspruch verzichtest, der Rechtmäßige Erbe zu sein, werden Wir Unseren Agenten veranlassen, sämtliches wissen über dich aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Dasselbe wird unser Agent auch mit deinen Brüdern und Schwestern und deinen Freunden tun. Es wird sein, als hättest du niemals gelebt. Dein Zuhause wird weiterhin stofflich existieren, aber du wirst seinen Platz mehr darin haben. Da es, wie Wir glauben, dein Wunsch ist, zu einer rein sterblichen Existenz zurückzukehren, solltest du dies als Gelegenheit betrachten. Unterzeichne einfach auf der gepunkteten Linie unten, und für alles weitere wird gesorgt. Samstag, Erhabenste Bürgerin des Oberen Hauses Arthur las den Brief noch einmal, doch er wurde nicht schlau daraus. Er war ein Kind des Pfeifers. Welche Eltern und Familie er auch gehabt haben mochte, sie waren schon vor langer Zeit gestorben, irgendwo in den Sekundären Reichen. Und soweit er wusste, verspürte er auch kein Bedürfnis, zu irgendeiner Art von sterblicher Existenz zurückzukehren. »Das ist gut«, sagte Fred und tippte auf seinen eigenen Brief. »Von meinen alten Kumpels in der Vergolderwerkstatt Siebzehn. Da werden Erinnerungen wach! Von wem ist dein Brief, Helios?« »Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Arthur. »Mir scheint, da erlaubt sich jemand einen üblen Scherz mit mir. Nur … da regt sich durchaus was in meinem Gedächtnis, aber ich bekomme es nicht zu fassen. Irgendetwas mit Schlüsseln …« »In Ordnung, genug gefaulenzt!«, bestimmte Feldwebel Helve. »Es ist noch sauber zu machen, und der morgige Tag muss vorbereitet werden.« Arthur stopfte den Brief in seine Tasche und stand auf. Gerade rechtzeitig, denn Helve bellte unvermittelt »Stillgestanden!«, fuhr auf dem Absatz herum und salutierte einem Offizier, den Arthur zwar kommen gesehen, aber als eine der geisterhaften Gestalten abgetan hatte. »Danke, Feldwebel«, sagte der Offizier. Von Nahem war unschwer zu erkennen, dass es sich um einen der Leutnants handelte, die vor der Schlacht mit Oberst Huwiti gesprochen hatten. Sein Helmbusch war jetzt ziemlich zerzaust, und er hatte eine lange Schnittwunde am rechten Arm davongetragen, die von der Schulter bis zum Handgelenk blau verschorft und von Brandflecken umgeben war. Bei einem Sterblichen hätte eine solche Verletzung zur Dienstuntauglichkeit geführt. Den Leutnant schien sie wenig zu stören; er erwiderte Helves Gruß mit einer nur leichten Ungelenkigkeit. »Ich komme Eure zwei Pfeiferkinder holen«, sagte der Leutnant. »Die Befehle sind unmittelbar vor der Schlacht eingetroffen. Von ganz oben. Alle Pfeiferkinder sofort im GHQ melden. Haben sie ihre Unpferd-Reitstunden schon gehabt?« Nein, haben wir nicht, dachte Arthur entmutigt. Kapitel Siebzehn »Nein!«, schrie Blatt in die Sprechmuschel. »Keine Nachricht – aber he! Legen Sie nicht auf! Stellen Sie mich zu Fräulein Susi Türkisblau durch, bitte.« »Bitte wartet«, sagte die Vermittlung. Währenddessen spürte Blatt hinter dem rechten Auge einen stechenden Schmerz, und ihre linke Hand zappelte ziellos hin und her. Es war schrecklich, so als ob der Hand urplötzlich ein Eigenleben eingehaucht worden wäre. Aber Blatt wusste genau, was geschah. Der Schimmelpilz hatte sich in ihrem Gehirn eingenistet und prüfte, wie viel Gewalt er über sie hatte. Der Skelettjunge war vielleicht schon in der Lage, ihre Sinneswahrnehmungen zu empfangen. »Hallo. Susi hier.« »Susi! Hier ist Blatt. Ich habe die Tasche, aber der Pilz … der Schimmelpilz des Skelettjungen ist in meinem Kopf! Und ich kann nicht zurück zum Haus!« »Gut gemacht!«, sagte Susi. Ihre Stimme wurde leiser, und Blatt hörte sie sagen: »Sie hat sie, Nieser. Stell die Zifferblätter ein!« »Ich brauche Hilfe«, sagte Blatt. »Ich weiß, dass du eigentlich nicht –« Ihre linke Hand zappelte wie ein Fisch auf dem Trocknen, aber noch war kein anderes Körperglied betroffen. Der Schmerz hinter dem Auge war nicht schlimmer geworden … aber auch nicht besser. »Wen kümmert das!«, rief Susi vom Hörer abgewandt und sprach dann wieder mit Blatt. »Ich komme durch. Beeilung, Nieser!« Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen, und der Wählton kehrte zurück. Blatt stellte das Telefon in sein Kästchen und nahm die rechte Hand zu Hilfe, um ihren wild rudernden linken Arm zu bändigen, bevor sie sich selbst verletzte. Ihr Arm kämpfte zwar nicht gegen sie, wie Blatt schon halb befürchtet hatte, doch die merkwürdige Empfindung, die sie zuerst darin gespürt hatte, machte sich jetzt auch im rechten Bein bemerkbar. »Mach schon, Susi!«, flüsterte sie. Sie hatte eine Idee, wie sie sich retten konnte, aber zuerst musste sie die Tasche loswerden. Der Pilz riss so schnell die Kontrolle an sich! Die Tür ging auf, und Blatt erstickte ein Aufstöhnen, denn es war nicht Susi. Es war ein Mädchen von vielleicht siebzehn oder achtzehn. Arthurs Schwester. Die Jüngste. Michaeli. »Was machst du hier?«, fragte Michaeli. »Wer bist du?« »Freundin von Arthur!«, antwortete Blatt, aber ihr Mund funktionierte nicht richtig, weil Lippen und Zunge urplötzlich teilweise taub waren, sodass es wie »Feudi fo Afuur« klang. »Was?«, fragte das Mädchen nach. Sie hielt ein Handy in der Hand, und der Daumen schwebte wahrscheinlich über der Kurzwahltaste für die Polizei. »Arthur!«, wiederholte Blatt langsamer, um verstanden zu werden. »Ich bin eine Freundin von Arthur!« »Was machst du hier?«, fragte Michaeli noch einmal, aber sie hatte die Taste noch nicht gedrückt. »Und was stimmt nicht mit dir?« »Arthur hat mich geschickt«, antwortete Blatt. »Habe Graufleck.« Michaeli prallte entsetzt zurück und verließ das Zimmer so schnell, dass sie gegen die Flurwand lief. »Nicht ansteckend«, versuchte Blatt sie zu beruhigen, aber die Wirkung ihrer Worte ging verloren, als sie die Kontrolle über ihr Bein vollends verlor und zu Boden fiel, wo sie sich verzweifelt mit dem eigenen Körper ringend hin und her wand. Michaeli fing an zu schreien, jedoch nicht wegen Blatts Verrenkungen. Susi Türkisblau war im Flur materialisiert. Sie trug blassgelbe Flügel, die voll ausgebreitet waren; die Spitzen der Randfedern berührten Decke und Wände. Sie hielt den Schlagstock eines Metallportiers in der Hand, einen offenbar hölzernen Knüppel, über den blaue Funken krochen. »Was ist hier los?!«, kreischte Michaeli. Blatt bemerkte erfreut, dass ihr das Telefon aus der Hand gefallen war. »Ich bin eine Freundin von Arthur«, stellte Susi sich vor. Sie faltete die Flügel ein und beugte sich über Blatt, wobei sie mit dem Schlagstock gestikulierte. »Muss ich dich mit dem Ding hier k. o. schlagen, Blatt?« »Noch nicht«, schnatterte Blatt. Ihr Kiefer bewegte sich ohne ihr Zutun, aber der rechte Arm gehörte noch ihr. Sie versuchte, die Schachtel aus der Hosentasche herauszuziehen, aber ihre Beine schlugen fortwährend aus. »Danke … so schnell … gekommen …« »Ich habe dich durch die Sieben Zifferblätter beobachtet«, erzählte Susi. »Mit kurzen Unterbrechungen, nachdem die feinen Pinkel von der Armee mich abgewiesen haben. Muss was Nützliches tun, auch wenn die alte Primel dagegen ist.« Jetzt steckte sie kurzerhand den Schlagstock in den Gürtel und stellte einen Stiefel auf Blatts Oberschenkel, um ihren Spasmen Einhalt zu gebieten. Dann langte sie hinunter und nahm die Plastikschachtel an sich. Blatt schlug mit den Armen um sich und versuchte, sie ihr wieder wegzuschnappen, was die schlimmste Befürchtung bestätigte: Der Skelettjunge konnte sehen, was Blatt sah. Es war wahrscheinlich nur noch eine Frage weniger Minuten, bis er ihren Körper völlig unter Kontrolle hatte. »Bring … zum Haus«, stammelte sie. »Schnell.« »Was wird aus dir?«, fragte Susi. »Schlag mich k. o.«, flüsterte Blatt. Ihre rechte Hand schickte sich an, über den Fußboden auf Susis Fuß zuzukriechen. »Sag Sylvie im Krankenwagen Bescheid. Soll … Beruhigungsmittel …« »Die alte Dame in dem Fahrzeug mit dem Licht obendrauf?«, fragte Susi nach, aber in Wirklichkeit redete sie nur, um Blatt abzulenken, während sie den Schlagstock wieder herausnahm und ihr damit auf die Schulter tippte. Man hörte ein heftiges Knacken, und ein Strom blauer Funken lief an Blatts Körper auf und ab, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, worauf sich alle Muskeln verkrampften und die Augen sich in den Höhlen verdrehten. »Du hast sie umgebracht!«, schrie Michaeli. Sie hatte irgendwoher einen Besen organisiert und schwang ihn mit einer Technik, die vergangenen Kendo-Unterricht oder vielleicht auch eine Rolle bei einer Schulaufführung von Robin Hood nahelegten. »Nein, hab ich nicht«, protestierte Susi und behielt den Besenstiel argwöhnisch im Auge. »Du bist Arthurs Schwester Michaeli, stimmt’s?« »Ja …« »Ich bin Susi Türkisblau. Man könnte sagen, ich bin Arthurs Chefassistentin.« »Seine was? Was geht hier vor sich?« »Keine Zeit für Erklärungen«, erklärte Susi lässig. »Könntest du zum … wie sagt ihr noch gleich … Krankenwagen draußen runterflitzen und der alten Dame sagen, dass man sich um Blatt kümmern muss. Ich muss nämlich schleunigst weg.« »Aber …« Michaeli ließ den Besen ein wenig sinken. Susi nahm das als Einladung und schlüpfte behutsam an ihr vorbei, wobei ihre Flügel ein bisschen flatterten. Ein paar Federn streiften Michaelis Gesicht und ließen das Mädchen erschrocken zusammenfahren. »Diese Flügel da … die sind ja echt!« »Das will ich meinen«, erwiderte Susi. »Die besten, die man kriegen kann. Hoffentlich vermisst sie der Eigentümer nicht, bevor ich zurück bin. Wie komme ich zum Ostkrankenhaus?« »Ah, Ostbezirkskrankenhaus? Irgendwo da entlang«, sagte Michaeli und wies in die entsprechende Richtung. »Danke sehr«, sagte Susi. »Und euer Dachgarten liegt hinter dieser Tür?« Michaeli nickte; die Verwirrung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wo gehst du hin?«, fragte sie. »Zurück zum Haus, der ersten Schöpfung der Architektin, dem Mittelpunkt des Universums«, antwortete Susi. »Falls ich den Vordereingang finden kann und der Skelettjunge und seine Lakaien mich nicht aufhalten. Auf Wiedersehen!« Michaeli trat zögernd zur Seite. Susi verbeugte sich, schlug einmal kurz mit den Flügeln und lief die Treppe hoch zum Dachgarten. Hinter ihr musterte Michaeli die Kranke, um festzustellen, ob sie noch atmete, aber sie näherte sich ihr nicht. Dann ging sie zurück in ihr eigenes Zimmer und sah aus dem Fenster. Auf der Straße stand ein Krankenwagen. Sie zögerte einen Moment, dann lief sie die Treppe hinunter. Susi tätschelte dem Keramikleguan, der im Dachgarten stand, den Kopf, sprang auf seinen Rücken und hob mit ein paar kräftigen Flügelschlägen ab. Dreißig Fuß über dem Dach erwischte sie einen Aufwind und stieg rasch auf eine Höhe von mehreren Hundert Fuß. Abgesehen davon, dass man mit diesen Flügeln außergewöhnlich gut fliegen konnte, waren sie mit einigen besonderen Eigenschaften ausgestattet. Eine davon würde hoffentlich dafür sorgen, dass die Rückreise zum Haus ohne Zwischenfälle verlief. Doktor Scamandros zufolge, der ihr widerstrebend behilflich gewesen war, sie aus Dame Primus’ Ankleidezimmer zu entleihen, erzeugten sie beim Fliegen einen magischen Effekt, der es Sterblichen unmöglich machte, ihren Träger anzusehen. Die Flügel übten auch einen gewissen Schutz aus, aber auch nur während des Fluges. Susi war das ziemlich kleinlich vorgekommen, und so dachte sie auch noch, nachdem Doktor Scamandros ihr erklärt hatte, dass es die Natur der Zauberei sei, Erwartungen niemals zu entsprechen. Nicht, dass Susi im Moment etwas anderes als Flugtüchtigkeit von ihnen erwartete. Sie beabsichtigte, zur Manifestation des Hauses zu fliegen, die sich, wie sie durch die Sieben Zifferblätter gesehen hatte, über dem Krankenhaus befand. Dann wollte sie geradewegs zum Vordereingang fliegen und, falls sie anklopfen und warten musste, davor auf und ab schweben. Anschließend ginge es ohne Umwege mit der Hemdtasche zurück zu Montags Tagraum. Dort würde sie sich überlegen, wie man sie zu Arthur schaffte, damit er sie in eine ausreichende Menge Nichts werfen und sie so zusammen mit dem Skelettjungen loswerden konnte. Ein äußerst unkompliziertes und zufriedenstellendes Stück Arbeit, dachte Susi. Selbst Dame Primus konnte schwerlich etwas daran auszusetzen haben – obwohl sie natürlich trotzdem etwas finden und eine weitere Predigt über das Ursprüngliche Gesetz vom Stapel lassen würde, aber daran war Susi schon gewöhnt. Es war ein geringer Preis, wenn sie dafür Arthurs Welt vor dem Geistfresser retten konnte. Susi hatte dreiviertel der Strecke zum Krankenhaus hinter sich gebracht und konnte das Haus bereits deutlich vor sich sehen, da bemerkte sie auch den schwachen Punkt in ihrem Plan. Der mangelnden Beachtung nach zu urteilen, welche ihr die wichtig aussehenden Sterblichen da unten am Boden entgegenbrachten, stimmte es offenbar, dass die Flügel sie vor menschlichen Blicken abschirmten. Und wenngleich das nicht bei Nichtlingen funktionieren würde, hatten sowohl sie selbst als auch Doktor Scamandros es für äußerst unwahrscheinlich gehalten, dass der Skelettjunge ein Paar Flügel besäße, sodass sich ihr auch von dieser Seite niemand in den Weg stellen würde. Worüber sie nicht ausreichend nachgedacht hatten, war die Tatsache, dass irgendjemand den Skelettjungen überhaupt erst erschaffen und ihm durch den Vordereingang auf die Erde verholfen hatte, unter Missachtung zahlreicher Gesetze des Hauses. Wer einen Geistfresser beschwor, der würde auch nicht zögern, gewöhnlichere Nichtlinge zu benutzen. Es konnten ohne Weiteres noch andere hier sein, um dem Skelettjungen bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu helfen. Und da waren sie auch schon. Susi schlug heftig mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen, als sie sie sah. Drei Gestalten, die langsam etwa fünfhundert Meter vom Vordereingang entfernt im Kreis flogen. Im Augenblick spielten sie ein Spiel mit einer der Flugmaschinen der Sterblichen und ließen sich reihum vor die Pilotenkanzel fallen, sobald die Maschine auf ihrem Rundflug um das Krankenhaus knatternd an ihnen vorbeikam. Die Tatsache, dass der sterbliche Pilot sie nicht sehen konnte und auch nicht wissen würde, was ihn getroffen hatte, wenn sich einer von ihnen verschätzte, war offensichtlich der besondere Nervenkitzel bei dem Spiel. Susi wusste nicht genau, um welche Nichtlingsart es sich handelte. Sie sahen annähernd menschlich aus, doch einer hatte den Kopf eines Nagetiers, ein anderer den einer Schlange, und der Schädel des Dritten erinnerte an eine angematschte Avocado mit Augen und einem Mund mit Pferdegebiss. Ihre Gliedmaßen waren recht normal, abgesehen von einer großen Mannigfaltigkeit der Finger. Alle drei trugen ausrangierte Bürgerhemden, Westen und Bundhosen, ähnlich den Kleidern, die Susi für sich selbst bevorzugte; allerdings hatten diese Nichtlinge keine Hüte auf. Sie waren auch mit sehr edel aussehenden, rotfiedrigen Schwingen ausgestattet, nicht mit dem billigen Papierzeug. Wahrscheinlich besaßen diese Flügel ähnliche Eigenschaften wie Susis, obwohl Nichtlinge sich ohnehin in den Sekundären Reichen unsichtbar machen konnten. Sie waren mit Dreizacken bewaffnet, was nahelegte, dass sie einmal in Mittwochs Diensten gestanden hatten, aber das war sicherlich eine Irreführung. Susi wusste zu viel über sie, um darauf hereinzufallen. Die traurige, von Fresssucht geplagte Treuhänderin hätte keine Nichtlinge beschäftigt. Die drei hier mussten für einen der Morgigen Tage arbeiten, von denen noch vier übrig waren. Susi gewann weiter an Höhe, während sie sie beobachtete, und beschrieb einen Kreis, um die Sonne in den Rücken zu bekommen. Die Nichtlinge waren in ihr Spiel vertieft, aber sie konnten sich jeden Moment an ihre Pflicht erinnern und aufblicken. Die Sonne würde sie in einem gewissen Maß vor ihren Blicken verbergen. Der Portiersschlagstock wäre nicht besonders nützlich, falls es zu einem Luftkampf kommen sollte, sagte sich Susi. Sie konnte es zwar aus der augenblicklichen Entfernung nicht erkennen, aber sie war sicher, dass die Dreizacke magischer Natur waren und entweder vor Hitze rot glühten oder Elektrizität absonderten oder, wenn sie großes Pech hatte, Nichtsprojektile verschossen. Ich kann nicht gegen drei bewaffnete Nichtlinge kämpfen, dachte Susi. Sie fasste unter sich das Haus ins Auge und versuchte zu erkennen, ob sich in der Nähe des Vordereingangs weitere Nichtlinge oder sonstige unangenehme Überraschungen befanden. Es war von so weit oben schwer zu sehen. Sie flog in mindestens dreitausend Fuß Höhe, und die vielen bizarren Überhänge, Strebepfeiler, Auskragungen, Zinnen, Vordächer und Anbauten warfen tiefe Schatten. Ihre einzige Chance bestand in einem Sturzflug, den sie im allerletzten Augenblick direkt vor dem Vordereingang bremsen würde. Wenn sie schnell genug fiel und den Sturz im richtigen Moment auffing, ohne sich dabei den Hals zu brechen, würde es ihr vielleicht gelingen, durch den Eingang zu kommen, bevor die Nichtlinge ihr dazwischenfunken konnten. Sie schob die kostbare Schachtel mit dem Stückchen Hemdstoff tiefer in die Uhrtasche ihrer drittobersten Weste, knöpfte die beiden Westen, die sie darüber trug, bis zum obersten Knopf zu und verschnürte ihren Mantel bis zum Kinn. Die Nichtlinge spielten weiter mit der knatternden Flugmaschine. Susi schwebte noch einen Moment in der Luft und vergewisserte sich, das Kinn fast auf der Brust, dass sie senkrecht nach unten freie Flugbahn hatte. »Hey, ho, kein Sprung für ’nen Floh«, murmelte sie vor sich hin. Sie faltete in klassischer Tauchmanier die Hände überm Kopf, warf sich in die Tiefe und hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen. Einen Augenblick lang hielten sie ihre ausgebreiteten Schwingen in ihrer Position, obwohl ihr Körper fast lotrecht in der Luft hing. Dann legte sie die Flügel an und brauste nach unten wie ein Meteorit, der vom Himmel stürzt. Kapitel Achtzehn An diesem Abend erhielt Arthur eine ausgesprochen beschleunigte Lektion im Unpferd-Reiten. Er und Fred wurden, nach der außerordentlichen Überraschung eines Händedrucks und einiger netter Worte von Feldwebel Helve, in aller Eile vom Leutnant aus dem Kasino gebracht. Sie marschierten zum Ordonnanzraum, wo Oberst Huwiti sie in Kenntnis setzte, dass sie aufgrund ihrer Leistungen auf dem Schlachtfeld von Fort Transformation befördert worden seien, und er ihnen zu ihrer Zuteilung zum GHQ als Gefreite im Regiment gratulierte. Auch er gab ihnen die Hand. Im Gegenzug salutierten sie und vollführten die fescheste Kehrtwendung, die ihnen möglich war. Danach marschierten sie ins Zeughaus zum Quartiermeister, wo sie für die Rekrutenausrüstung quittierten, die sie in der Kaserne zurückgelassen hatten, die Legionärsmontur zurückgaben, die sie trugen, und Feldreitrüstung und sonstige Ausrüstung der Horde erhielten, die sie sofort anlegen mussten. Vom Zeughaus aus humpelten sie in ihren knielangen Kettenhemden und steifen Lederstiefeln dem Leutnant hinterher, und trotz der Last der geflügelten Helme, der Sättel, der vollgestopften Satteltaschen und der Krummsäbel, die von der Horde Blitztulware genannt wurden, bemühten sie sich, nicht zu stöhnen. Der Reitunterricht wurde in den Postställen von einem Unteroffizier geleitet, dem sie vorher noch nicht begegnet waren: Kavalleriefeldwebel Terzok. Er war nicht im Mindesten so breit in den Schultern wie andere Feldwebel, doch prangte auf seinen Lippen ein wahrhaft erstaunlicher Schnurrbart, von dessen Echtheit Arthur ganz und gar nicht überzeugt war. Selbst von Nahem sah er aus, als wäre er aus feinem Draht gemacht, und er stand auf eine Weise zu den Seiten, die Haaren ganz sicherlich nicht möglich war. Fast fühlten sie sich besser, als der Kavalleriefeldwebel, statt unnatürlich freundlich zu ihnen zu sein, sie sofort anschnauzte und anfing, eine lange Liste von Fakten über Unpferde und ihre Handhabung herunterzurattern, wobei er sich alle ein, zwei Minuten unterbrach, um sie abzufragen, was er gerade gesagt hatte. Arthur war müde, doch dass er die Schlacht überlebt hatte, verschaffte ihm auch Auftrieb, zumal er noch gar nicht richtig darüber nachgedacht hatte. Die Aussicht, zum GHQ zu dürfen, war ebenfalls eine Erleichterung. Daher waren die ersten paar Stunden des Unpferde-Unterrichts erträglich. Bis sie irgendwann in der dritten Stunde endlich die Ställe betraten, hatte sich jedes Gefühl der Erleichterung verflüchtigt. Dann unterlief Arthur der fatale Fehler, zu gähnen, während Kavalleriefeldwebel Terzok ihnen gerade die Feinheiten des Unpferdcharakters anhand eines Exemplars aufzeigte, das ruhig mit bewegungslosen, rubinrot glitzernden Augen in seiner Box stand. »Langweile ich dich, Kavallerist Grün?«, brüllte Terzok. »Nicht spannend genug, wie? Wir wollen wohl lieber direkt auf ein Unpferd, ja?« »Nein, Feldwebel!«, schrie Arthur. Auf einmal war er hellwach. »Nein, Kavalleriefeldwebel!«, schrie Terzok. Er stieß seinen Drahtbürstenschnurrbart fast in Arthurs Nase. »Du wirst ein Unpferd wie ein Kavallerist der Horde reiten, nicht wie ein Gefreiter, und ich bin Kavalleriefeldwebel und nicht irgendein Stoppelhopser. Ist das klar?« »Jawohl, Kavalleriefeldwebel!«, riefen Arthur und Fred; Letzterem schien es am gescheitesten, mit einzustimmen. »Wenn wir ein paar mehr Unpferde hier hätten, hätte ich diesen Nichtlingen einen Trupp nachschicken können«, fuhr Terzok fort. »Dann wäre keiner davongekommen. In Ordnung. Ich werde die Grundlagen zum fünften und letzten Mal wiederholen. Dies hier ist Mowlder, das älteste Unpferd der Garnison. Vor mehr als viertausend Jahren zusammengesetzt und läuft immer noch wie eine Eins. Er ist ein typisches Unpferd, mit drei Zehen an jedem Bein, nicht die vierzehige Variante, die man gelegentlich sieht. Jede dieser Zehen ist für Kampfzwecke mit einer zehn Zentimeter langen Stahlklaue ausgestattet worden, wie ihr hier sehen könnt. Die Haut des Unpferdes besteht aus flexiblem Metall, dennoch ist es eine Nahe Schöpfung, der ein Originalentwurf der Architektin zugrunde liegt. Unter der Metallhaut, die als äußerst nützliche Rüstung dient, befindet sich lebendiges Fleisch. Wie wir Bürger ist das Unpferd extrem zäh und ausgesprochen regenerationsfreudig. Unpferde sind außerdem klug und müssen immer gut behandelt werden. So weit irgendwelche Fragen?« »Nein, Kavalleriefeldwebel!« »Also gut. Ich werde jetzt demonstrieren, wie man sich einem Unpferd korrekt nähert, um ihm das Zaumzeug anzulegen. Schaut genau zu!« Arthur schaute wirklich genau zu, und es sah unkompliziert aus, solange das Unpferd kooperierte, erwies sich aber als gar nicht so einfach, als Arthur es selbst probierte. In den Sattel zu kommen und das Unpferd tatsächlich zu reiten stellte sich ebenfalls als schwieriger heraus, als er gedacht hatte. Sechs Stunden nach Beginn des Unterrichts, in der kalten Zeit vor Morgengrauen, erklärte Terzok die beiden Jungen für so reitfähig, wie sie es in der verfügbaren Zeit werden konnten, also so gut wie gar nicht reitfähig, aber er hoffte, dass sie nach und nach durch Erfahrung lernen würden. Bevor sie ihn verließen, flüsterte er den beiden Unpferden, auf denen sie reiten sollten, etwas ins Ohr. In diesem Stadium war insbesondere Arthur so müde, dass er auch nicht protestiert hätte, wenn man ihn wie einen nassen Sack quer über dem Sattel festgebunden hätte. Er wollte einfach nur ausruhen und nie mehr etwas von Kavalleriefeldwebel Terzok und seinem Schnurrbart hören oder sehen müssen. Er hatte geglaubt, dass er Erschöpfung gewohnt sei, und inzwischen gegen Koordinationsverlust und Schwindel anzukämpfen verstünde. Aber im Augenblick konnte ihn nicht einmal die Gegenwart eines Feldwebels davon abhalten, beim Stehen zu schwanken. Der Schlaf sollte ihm jedoch verwehrt bleiben. Ein weiterer unbekannter Leutnant, dieser unverwundet und in Hordenrüstung, traf gegen Ende ihres Unterrichts ein und verkündete, dass er sie zum GHQ brächte. »Ich bin Kavallerieleutnant Jarrow«, stellte er sich vor. »Abkommandiert von der Horde nach Fort Transformation. Wir werden in fünfzehn Minuten losreiten, nachdem ich eure Waffen, Ausrüstung, Pferdegeschirr und Reittiere überprüft habe. Welcher von euch ist Gold und welcher Grün?« »Ich bin Gefrei … Kavallerist Gold«, meldete sich Fred. Arthur murmelte etwas, das sich entfernt nach »Grün« anhörte. Jarrow runzelte die Stirn und trat dichter an ihn heran. »Ich weiß, dass es eine ärztliche Empfehlung bezüglich deiner Person gibt, Grün. Aber die Akte ist verloren gegangen. Fühlst du dich in der Lage zu reiten?« »Ich bin nur müde, Sir«, erwiderte Arthur. »Sehr müde.« Er war so müde, dass er sich nicht einmal sicher war, ob er überhaupt etwas laut gesagt hatte. Außerdem war er verwirrt – wo war er, und was machte er dort? Wenn er irgendwohin gehen sollte, dann doch bestimmt in die Schule. Schule mit Blatt und Ed. Arthur schüttelte den Kopf. Was war das für eine Schule, die er vor seinem geistigen Auge sehen konnte? Wer waren Blatt und Ed, und warum schauten sie auf ihn herunter und über ihnen war blauer Himmel? »Habt Ihr diesen beiden die Hordenmethode zum Tragen Verwundeter gezeigt, Kavalleriefeldwebel?«, erkundigte sich Jarrow. »Nein, Sir!«, bellte Terzok und fragte dann mit Blick auf Arthur: »Soll ich ihn aufschlingen?« »Ja, tut das«, stimmte Jarrow zu. Drei Unpferde waren im Vorfeld für den Ritt bereitgemacht worden und standen geduldig draußen vor dem Stalltor. Terzok zog einen großen Segeltuchsack mit Lederriemen und Stahlschnallen hinter dem Stalltor hervor und hängte ihn zwischen zwei der Unpferde. Während er ihnen leise zumurmelte, schnallte er die eine Seite des Sackes am Sattel des linken fest und die andere an dem des mittleren. So festgezurrt, bildete er eine Art Hängematte. »Dies hier ist ein Doppelrittsack«, erklärte Terzok. »Unpferde sind in der Lage, perfekt im Gleichschritt zu gehen, im Gegensatz zu anderen Reittieren. Aber der Doppelrittsack wird nur auf speziellen Befehl hin verwendet, denn die Tiere können damit nicht galoppieren.« Arthur glotzte den Sack zwischen den beiden Unpferden an. Er war so müde, dass er eine Weile brauchte, um zu kapieren, dass er für ihn gedacht war. »Wie kommt man hinein?«, wollte Fred wissen. »Wenn man fit genug ist, hineinzuklettern, dann sollte man reiten«, entgegnete Terzok. »Wenn nicht –« Er packte sich Arthur unter den Arm, stellte sich vor die Pferde und schob ihn mitsamt Rüstung und Waffen und allem in den Sack. »Wenn der Soldat, der getragen wird, sehr schwer verletzt ist, schnürt man diese Riemen hier zusammen«, erklärte Terzok. »Aber ich will nicht –«, setzte Arthur an. »Ruhe!«, schnauzte Terzok. »Dir ist befohlen worden, im Sack zu reisen. Und jetzt schlaf!« Arthur schwieg und drehte sich so lange hin und her, bis das Heft seines Blitztulwars ihm nicht mehr in die Hüfte stach; anschließend streifte er noch sein Kettenhemd glatt, das ihm auf die Oberschenkel drückte. Danach, schließlich hatte ein Feldwebel es ihm befohlen, schloss er die Augen und schlief ein. Anfangs schlief er nicht sehr tief und nahm durch den Spalt der Augenlider vage die Aktivitäten um sich herum wahr, als Kavallerieleutnant Jarrow das Zaumzeug der Unpferde überprüfte. Dann begann der Sack, in dem er steckte, auf und ab zu hüpfen an, und die stählernen Klauen an den Zehen der Unpferde schlugen einen Moment lang Funken auf den Steinplatten vor dem Stall, bevor die nackte, staubige Erde die Trittgeräusche dämpfte. Das Hüpfen wurde zuerst stärker, als ihre Reittiere in Trab fielen, und ging dann in Schlingern über, sobald die zwei Unpferde, die den Sack zwischen sich trugen, in einen perfekt aufeinander abgestimmten Kanter übergingen. Während die Unpferde sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit vom Fort wegbewegten, versank Arthur in tiefen Schlaf und begann zu träumen. Er stand in einem gewaltigen Marmorsaal, umgeben von hoch aufragenden Bürgern, die gut und gerne vier Meter groß sein mochten, wenn man die Haufen von Waffen, Rüstungen und Nichtlingsleichen zu ihren Füßen als Maßstab heranzog. Doch war Arthur noch größer als sie und blickte aus luftiger Höhe auf sie hinab. Er betrachtete einen Ring an seinem Finger, einen Krokodilring, der sich langsam von Silber zu Gold verwandelte. Nur das letzte Stück war noch aus Silber, und unter seinen Blicken wurde auch das zu Gold. Die großen Bürger begannen zu applaudieren, und Arthur spürte, wie er noch weiter wuchs, bis er nicht mehr in dem Marmorsaal stand, sondern ein Riese war, der über einem grünen Feld aufragte, von dem ihm eine kleine Stimme in seinem Kopf zuflüsterte, dass es der Sportplatz der Schule sei. Kinder rannten zu seinen Füßen herum und wurden von hundegesichtigen Kreaturen verfolgt, die seines Wissens Bringer hießen. Dann war er plötzlich nur so groß wie ein Kind, und die Bringer waren doppelt so groß wie er und jagten und packten ihn. Einer riss ihm die Brusttasche vom Schulhemd ab und nahm ihm das Buch weg, das darin gewesen war. »Hab dich!«,, sagte eine schreckliche, krächzende Stimme. Arthur schrie im Schlaf und wachte auf und sah sich von einem ledrigen, entsetzlichen Etwas gepackt. Ein bösartiges Wesen hatte ihm den Vollständigen Atlas des Hauses gestohlen! Das ist es! Der Vollständige Atlas des Hauses ‚’Ich hatte den Vollständigen Atlas des Hauses. Mein Name ist Arthur Penhaligon. Ich bin der Rechtmäßige Erbe. Arthur versuchte, diesen Gedanken festzuhalten, doch er entschlüpfte ihm. Er gab es auf, öffnete die Augen und schaute um sich. Er steckte immer noch in dem Doppelrittsack, aber die Unpferde standen reglos da. Die Sonne ging auf; ein schmaler Strich der rosaroten Scheibe wagte sich über die ockerroten Hügel im Osten. Verkrüppelte Bäume mit fahlen Stämmen und gelben, dreieckigen Blättern wuchsen vereinzelt in der Gegend, zu spärlich, um sie einen Wald zu nennen. Fred stand vor Arthur, massierte sich die Innenseiten der Oberschenkel und murmelte etwas über die Niederträchtigkeit von Unpferden. Kavallerieleutnant Jarrow saß auf einem Stein in der Nähe und studierte seine Ephemeride. Es war sehr still; man hörte nur den sirrenden Atem der Unpferde und wenn sie gelegentlich mit den Zehen an einen Stein stießen. »Was ist los?«, fragte Arthur schläfrig. Er schob seine Arme durch die Öffnung des Sackes und zog sich halb heraus. Den Rest der Strecke wäre er gefallen, wenn nicht Fred ihn aufgefangen und ihrer beider Gleichgewicht gerade so lange gewahrt hätte, um gemeinsam mit ihm halbwegs kontrolliert zusammenzubrechen. »Was los ist?«, wiederholte Fred empört. »Du sägst dich durch ein halbes Dutzend Bretter, während ich mir die Haut von den Oberschenkeln scheuere und das Steißbein prelle – das ist los.« »Das war los«, korrigierte ihn Arthur mit einem Lächeln. »Was ist jetzt los?« »Wir haben für eine Rast angehalten«, erklärte Fred. Er deutete mit dem Kopf auf Leutnant Jarrow. »Das ist alles, was ich weiß.« Jarrow schloss seine Ephemeride und kam zu ihnen. Arthur und Fred rappelten sich auf, standen stramm und salutierten. »Das ist nicht nötig -wir sind im Feld«, winkte Jarrow ab. »Bist du vollständig erholt, Grün?« »Jawohl, Sir«, bestätigte Arthur. »Gut«, meinte Jarrow. »Wir haben noch ein ziemliches Stück zu reiten, und es ist sehr gut möglich, dass wir vor Streitkräften Neuer Nichtlinge fliehen müssen.« »Neue Nichtlinge, Sir?«, fragte Arthur nach. »So nennen wir sie mittlerweile«, führte Jarrow aus. »Wir werden ihnen wenn irgend möglich ausweichen. Bleibt einfach dicht bei mir und steigt nicht von euren Reittieren, dann werden wir sie abhängen. Sie haben keine Kavallerie.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er hinzu: »Das heißt, wenigstens haben wir bis jetzt noch keine gesehen. Irgendwelche Fragen?« »Was tun wir, wenn wir von Ihnen getrennt werden, Sir?«, wollte Arthur wissen. »Lasst den Unpferden die Zügel schießen«, antwortete Jarrow. »Sie werden die nächsten freundlichen Truppen finden. Aber damit ihr Bescheid wisst, unser heutiges Ziel ist Platte 268/457. Sie wird bei Sonnenuntergang planmäßig eine neue Position nur zehn Meilen von der Zitadelle entfernt beziehen. Gegenwärtig befinden wir uns auf Platte 265/459. Wir werden von hier aus drei Meilen östlich reiten und dann zwei Meilen südlich. Die Platten im Osten haben kahle Hügel, grasbewachsene Steppe und Dschungel mit Lichtungen; bewegt euch vom Dschungel nach Süden, und ihr erreicht eine Ruinenstadt und dahinter Seen- und Sumpfgebiet: Das ist die Platte, die wir wollen. Im Dschungel, der Ruinenstadt und dem Sumpf müssen wir extra wachsam sein. Dort kann man leicht überrascht werden, und das Gelände macht ein Entkommen zu Unpferde schwierig. Wir werden noch eine halbe Stunde rasten und dann weiterreiten. Ich werde auf der Erhebung dort Wache halten. Ihr solltet die Tiere nicht abschirren, aber sie abreiben. Wir wollen ja nicht, dass sie rosten.« Wer rastet, der rostet, kam Arthur in den Sinn, während er und Fred gehorsam Drahtbürsten, Reinigungstücher und Flaschen mit Lösungsmittel aus ihren Satteltaschen nahmen und anfingen, die Kniegelenke und die anderen Stellen, an denen die Unpferde für Rost anfällig waren, zu bearbeiten. Die Kreaturen schnaubten und wieherten leise; sie genossen die Aufmerksamkeit, und Arthur merkte, dass er allmählich mit ihnen warm wurde. Hier draußen im Feld, wo die Sonne das Rot ihrer Augen undeutlich machte, schienen sie nichts mehr mit den kalt starrenden Wesen der dunklen Ställe gemein zu haben. »Ich frage mich, warum sie uns im GHQ wollen«, sinnierte Fred. »Kavallerieleutnant Jarrow hat gesagt, der Befehl käme von Sir Donnerstag persönlich.« »Wahrscheinlich hat er herausgefunden, dass ich mich hier als Pfeiferkind aufhalte«, meinte Arthur, ohne nachzudenken. »Was?« Fred lugte unter seinem Unpferdebauch hindurch und glotzte zu Arthur hoch. »Wahrscheinlich hat er herausgefunden, dass ich mich hier als Pfeiferkind aufhalte«, wiederholte Arthur langsam. Seine Worte hatten den Klang der Wahrheit, aber er wusste nicht, was sie bedeuteten. Er konnte sich einfach nicht erinnern … Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, kam Jarrow den sanften Abhang hinunter. »Steigt auf!«, sagte er leise hinter vorgehaltener Hand, damit seine Stimme nur zu den beiden trug. »Neue Nichtlinge!« Kapitel Neunzehn Bei ihrer gegenwärtigen Geschwindigkeit von nahezu dreihundert Stundenkilometern war Susi nur noch neunhundert Fuß und vier Sekunden von der Tür entfernt, als einer der Nichtlinge sie endlich bemerkte. Er stieß einen gellenden Schrei aus und erschreckte damit seinen Kameraden, der prompt in den Hubschrauber krachte, mit dem er Haschen spielte. Der Nichtling, der für den Piloten unsichtbar war, durchschlug das Glas der Kabinenhaube und verursachte bei seinen panischen Versuchen, wieder ins Freie zu gelangen, enorme Schäden im Cockpit. Dabei tötete er zufällig Pilot und Copilot. Der Kampfhubschrauber bäumte sich auf, hing einen Moment lang senkrecht in der Luft und stürzte dann auf den Parkplatz, wo er explodierte und die Vorderseite des Krankenhauses, die Soldaten, die dort Stellung bezogen hatten, und die FBA-Agenten mit brennenden Trümmerteilen überschüttete. Susi breitete in achthundert Fuß Höhe die Flügel aus und bremste damit so ruckartig, dass ihr für einen Augenblick Hören und Sehen verging. Doch die Flügel brachten sie innerhalb einer Sekunde zum Schweben, und immer noch war sie ein paar Hundert Fuß über dem Vordereingang, während die zwei übrig gebliebenen Nichtlinge, so schnell sie konnten, auf sie zugeflattert kamen. Susi ging wieder in den Sturzflug über, geradewegs als ob sie angreifen wollte. Die Nichtlinge hielten abwartend an und erhoben ihre Dreizacke, doch im letzten Moment knickte Susi einen Flügel ab, glitt seitwärts durch die Luft hinab und landete auf einem Fuß auf dem Krankenhausdach. Der Vordereingang war direkt vor ihr, aber mit zwei wütenden Nichtlingen im Nacken hielt Susi es nicht für angebracht, erst zu klopfen. Sie beugte sich, noch auf einem Fuß stehend, zum Vordereingang hin, schloss die Augen – und fiel geradewegs hindurch. In Erwartung eines Aufpralls legte Susi schützend die Arme um den Kopf. Aber nachdem mehrere Sekunden lang nichts passierte, öffnete sie die Augen und ließ die Arme sinken. Sie schwebte, möglicherweise fiel sie auch, in völliger Dunkelheit. Ihre Flügel regten sich nicht, aber im Innenohr hatte sie ein Gefühl von Bewegung. Sie konnte überhaupt nichts sehen, auch nicht, als sie verzweifelt den Hals verdrehte, um vielleicht einen Blick auf den Vordereingang zu erhaschen, durch den sie gerade gekommen war. Oh, oh, dachte sie. Sie hatte den Vordereingang noch nie zuvor benutzt und gedacht, sie käme einfach auf der anderen Seite auf dem Türstopper-Hügel heraus. Offensichtlich war es aber nicht ganz so einfach. Susi dachte kurz über ihre Lage nach, dann flüsterte sie: »Flügel, verbreitet Licht!« Sie war erleichtert, dass sie sich hören konnte, und noch mehr, dass sie sich gleich darauf sehen konnte, denn ihre Flügel fingen langsam an zu leuchten und statteten sie mit einem perlweißen Nimbus aus. Doch auch in diesem Licht war immer noch nicht mehr zu erkennen. Susi sah nach oben, nach unten und nach allen Seiten und hoffte auf ein Anzeichen, dass es ein Irgendwo … oder sogar ein Irgendetwas … in dieser seltsamen Leere gab. Als nichts zu entdecken war, schlug sie versuchsweise mit den Flügeln. Wieder hatte sie den Eindruck von Bewegung, doch ohne Bezugspunkte, an denen sie sich orientieren konnte, war sie sich nicht sicher, ob tatsächlich etwas geschah. Nach allem Anschein konnte sie genauso gut wie eine Fliege im Gelee feststecken und mit den Flügeln zappeln, ohne vom Fleck zu kommen. Susi zuckte die Schultern, entschied sich aufs Geratewohl für eine Richtung und fing an, energisch zu fliegen. Beträchtliche Zeit später – es mochten Stunden vergangen sein – fragte sie sich, ob sie es fertiggebracht hatte, sich tatsächlich im Vordereingang zu verirren beziehungsweise in einem Bereich zwischen dem Haus und der Tür, in dem zwar nicht das Nichts war, wo aber auch eine ausgesprochene Leere herrschte. Sie stellte das Flügelschlagen ein. Das Gefühl der Bewegung blieb, und Susi dachte erneut über ihre Lage nach. Ziellos herumzuflattern hatte zu keinem Ergebnis geführt, also musste sie etwas anderes tun. »He!«, rief sie. In dieser Stille klang das sehr laut. »Leutnant Hüter! Ich habe mich in Ihrer blöden Tür verirrt! Kommt her und helft mir heraus!« Keine Antwort. Susi schlug die Beine übereinander und nahm ein Käse-Senf-Brunnenkresse-Sandwich aus ihrem Hut. Genau wie der Hut war auch das Sandwich ziemlich zermatscht, aber Susi verzehrte es mit Genuss. Als Tintenbefüllerin hatte sie kaum jemals Zugang zu Speisen gehabt. Seit sie Montags Terz war und manchmal in die Speisekammern des Tagraums gelangte, hatte sie die Freuden der Nahrungsaufnahme neu entdeckt, auch wenn sie keine Lebensnotwendigkeit war. »Fräulein Türkisblau.« Susi sprang auf und ließ ihren Brotrest fallen. Sie fuhr herum und erblickte einen großen, außerordentlich gut aussehenden Bürger in einem taubengrauen Cutaway mit hohem Kragen, der über glänzenden Langschäftern schwarze Hosen mit rasiermesserscharfen Bügelfalten trug. Sein Zylinder war so blank, dass er das Licht von Susis Flügeln wie ein Spiegel reflektierte. Er hielt einen Stock mit silbernem Knauf in seinen in Glacehandschuhen steckenden Händen. Seine Schwingen, die hinter ihm eingerollt waren, bestanden aus gehämmertem Silber. »Wer seid Ihr?«, fragte Susi misstrauisch. »Das kann ich dir leider nicht verraten«, sagte der Bürger freundlich. Seine Zunge, bemerkte Susi, war von einem noch strahlenderen Silber als seine Flügel. »Ich darf dich bitten, mir den Schatz unseres Geistfressers zu übergeben. Wir wollen doch nicht zulassen, dass seine Arbeit unterbrochen wird, nicht wahr?« »Ihres Geistfressers?« Susis Blicke huschten hin und her, um zu sehen, wo dieser Bürger hergekommen war, oder um einen sonstigen Fluchtweg zu entdecken. »Unseres«, bekräftigte der Bürger. Seine Stimme war über die Maßen melodisch und angenehm zu hören. »Na komm! Gib mir die Tasche, und ich werde dir eine Stelle zeigen, wo du den Eingang verlassen kannst.« Susi blinzelte und ertappte ihre Hand, wie sie unter die Westen griff. »Ich werde sie Euch nicht aushändigen!«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Doch, das wirst du«, widersprach der Bürger. Er gähnte und tupfte sich den Mund mit seinem linken Handschuh ab. »Beeil dich.« »Werde ich nicht!« Susi blieb stur und musste entsetzt feststellen, dass sie die Schachtel mit dem wertvollen Stofffetzen dennoch herausholte. »Sehr gut«, sagte der Bürger beifällig. Er streckte die Hand aus, um sie entgegenzunehmen, während Susi darauf starrte und versuchte, sich zum Wegziehen ihrer Hand zu zwingen. Gerade als sich die Finger des Bürgers um die Schachtel schließen wollten, entfaltete er explosionsartig die Flügel, knurrte wütend und wirbelte in die Höhe. Susi fiel nach hinten und schlug einen doppelten Purzelbaum, bevor sich ihre eigenen Flügel ausbreiteten und sie stabilisierten. Hoch über ihr war der anmaßende Unbekannte in einen verbissenen Zweikampf mit einem Bürger mit neonblauen Schwingen verwickelt, in dem Susi nicht sofort den Leutnant Hüter des Vordereingangs erkannte. Sein blauflammendes Schwert prallte gegen den Blitze schleudernden Stockdegen des anderen. Die beiden stießen wie Raubvögel aufeinander herab, umkreisten sich und wichen aus, während sie Ausfälle machten und Schläge und Paraden austauschten, die Susi mit den Augen kaum verfolgen konnte. Sie staunte nicht schlecht, wie sich die Kämpfer attackierten, denn sie benutzten ihre Flügel auch als Waffen, blockten damit gegnerische Hiebe ab, setzten die scharfkantigen Spitzen als Messer ein und teilten Schläge aus, die den Getroffenen durch die Luft katapultierten. Manchmal hingen die Kontrahenten kopfüber in der Luft, manchmal schwebten sie waagrecht, und Susi wurde schwindlig dabei, Oben und Unten auseinanderzuhalten. Schließlich gab sie es auf und beschränkte sich darauf, ihnen einfach nur fasziniert zuzuschauen. Der Kampf war rasant und ausgesprochen gefährlich. Viele Male gelang einem der beiden nur noch so eben eine Parade, oder er konnte gerade noch zur Seite fliegen oder zurückspringen, wenn ein wohl gezielter Schlag auf ihn zukam. Die Klingen trafen sich so schnell hintereinander, dass es klirrte wie eine Lawine Münzen. Susi, die bei Montags Mittag das Fechten gelernt hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, während sie schwingenunterstützte Meisterstücke der Fechtkunst miterlebte, die in keinem Handbuch zu finden waren. Für Susi blieb nichts zu tun, als die Schachtel wieder in ihre Weste zu stecken und niemandem in die Quere zu kommen. Sie überlegte, ob sie sich einmischen sollte, doch die zwei Bürger bewegten sich zu schnell und waren so auf den Kampf konzentriert, dass sie sich sagte, jede Intervention ihrerseits würde höchstens den Leutnant Hüter ablenken. Dann ging dieser in die Defensive und zog sich stetig nach oben zurück, und Susi fragte sich, ob sie nicht besser das Weite suchen sollte. Aber es war nach wie vor keine Zuflucht zu entdecken. Also folgte sie stattdessen den Kämpfenden und schlug kräftig mit den Flügeln, um die beiden nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich beendete der Leutnant Hüter seinen Rückzug und warf sich nach vorn. Sein Gegner versuchte einen Aufhaltstoß, der ihm aber misslang, und die zwei prallten aufeinander, mit den gekreuzten Klingen zwischen sich. Der Leutnant Hüter war der Schmächtigere und Kleinere, aber offenbar waren seine Flügel stärker, denn er schob seinen Gegner mindestens fünf Meter zurück. Gleichzeitig rief er ein Wort, das Susi nicht verstehen konnte, aber dennoch wie einen Schüttelfrost in jeder Faser ihres Körpers spürte. Bei diesem Wort erschien ein Kreis aus weißem Licht direkt hinter dem fremden Bürger. Der spürte ihn offenbar, denn er schlug noch heftiger mit den Schwingen, um seine Position zu halten – aber der Leutnant Hüter war zu stark für ihn. »Das ist noch nicht das Ende –«, schrie der Bürger, als er rückwärts in den Lichtkreis stürzte. Es musste sich um einen Ausgang handeln, denn auf der anderen Seite waren ein goldgetäfelter Raum und ein Elefantenfuß-Schirmständer zu sehen. Sobald der Bürger über die Schwelle gefallen war, verschwand der Kreis wie eine zerplatzende Seifenblase. Und erneut war nichts als konturloser Raum um sie herum. »Mensch!«, sagte Susi. »Wer war denn das?« »Samstags Abenddämmerung«, antwortete der Leutnant Hüter. »Wir sind alte Widersacher, er und ich. Nicht jeder der Morgigen Tage oder ihrer Diener befolgt den Vertrag des Vordereingangs peinlich genau, und Samstags Lakaien sind die gerissensten von allen.« Er kämmte sein langes, weißes Haar mit den Fingern zurück und wischte sich mit dem Frackärmel das Gesicht ab. Trotzdem sah er noch wüst aus; seine Wasserstiefel waren tropfnass, und auf dem rechten Ärmel hatte er Blutflecken. »Zweifelsohne wird er bald zurückkehren, möglicherweise nicht allein. Ich habe viele Türen im Haus geschlossen, aber das nützt wenig, wenn Samstag ihre Wiederöffnung befiehlt und Sonntag dazu weder ja noch nein sagt. Wohin möchtest du gehen, Susi?« »Ins Untere Hau –«, setzte sie an; dann besann sie sich eines Besseren. »Kann ich wirklich überall hin?«, erkundigte sie sich. »Der Vordereingang öffnet sich in alle Teile des Hauses, in unterschiedlicher Gestalt«, belehrte sie der Leutnant Hüter. »Nicht alle diese Türen sind sicher. Manche klemmen, andere sind verschlossen, wieder andere sind verloren gegangen, sogar für mich. Aber ich kann dir zu jeder Domäne eine öffnen, innerhalb gewisser Grenzen.« »Wisst Ihr, wo Arthur sich im Moment aufhält?«, fragte Susi. Sie hatte vorgehabt, die Hemdtasche zu Montags Tagraum zu bringen, aber es wäre besser, sie direkt zu Arthur zu schaffen, damit er sie ohne Verzögerung vernichten konnte. »Das weiß ich nicht«, erwiderte der Leutnant Hüter. »Komm, entscheide dich, wohin du gehen willst. Ich habe viel zu tun und kann nicht länger verweilen.« »Das Große Labyrinth«, beschloss Susi. »Ich will ins Große Labyrinth.« »Die einzige Tür, die ich vielleicht dorthin öffnen kann, befindet sich in der Zitadelle. Dort residiert Sir Donnerstag. Hast du dir das gut überlegt?« »Hab ich«, bekräftigte Susi. »Im Labyrinth gibt es großen Arger«, warnte der Leutnant Hüter. Er sah Susi direkt an, und seine blassen, eisblauen Augen begegneten den ihren. »Es ist möglich, dass dort bald alle Ein- und Ausgänge geschlossen werden. Und die Aufzüge auch.« »Warum?« »Weil eine Nichtlingsarmee kurz vor der Eroberung dieser Domäne steht. Wenn sie Sir Donnerstags Streitkräfte besiegen, dann werden die Verbindungen zum Großen Labyrinth zur Sicherheit für den Rest des Hauses gekappt werden. Deshalb frage ich dich noch einmal: Bist du sicher, dass du dorthin willst?« »Ich muss etwas zu Arthur bringen«, antwortete Susi und tätschelte die Schachtel unter ihren Westen. »Also schätze ich, dass ich wohl hinmuss. Außerdem, so schlimm wird es schon nicht sein. Ich meine, Nichtlinge tun sich doch nie zusammen, oder?« »Diese tun es«, erwiderte der Leutnant Hüter. »Nun, da du darauf bestehst, hier ist die Tür zum Großen Labyrinth und Sir Donnerstags Zitadelle.« Er gestikulierte mit seinem Schwert und sprach noch einmal ein Wort, das Susi den Magen umdrehte und ihre Ohren klingeln ließ. Es entstand ein Lichtkreis durch den ein hölzerner Laufgang entlang einer Steinmauer zu sehen war. Darauf patrouillierte ein Bürger in scharlachroter Uniform mit geschulterter Muskete, der ihr gerade den Rücken zuwandte. »Danke!«, sagte Susi. Sie schlug mit den Flügeln und wollte schon kopfüber in das Loch tauchen, als sie spürte, wie sie an den Spitzen zurückgehalten wurde. »Keine Flügel im Großen Labyrinth«, erklärte der Leutnant Hüter, worauf sie sich von ihrem Rücken lösten und in seinen Händen landeten. »Sie ziehen zu viele Blitze an. Hat etwas mit dem Plattenwechsel zu tun.« »Aber ich muss sie zurüüü –« Bevor Susi ihren Satz beenden konnte, bewegte sich der Eingang auf sie zu, und sie fiel hindurch. Sie fand sich bei Spätnachmittagssonnenschein und kühlem Wind hoch auf den Zinnen einer Bastion des Sternforts wieder, der inneren Verteidigungsanlage von Sir Donnerstags Zitadelle. Als Susi auf den Laufgang polterte, blieb der Wachtposten unvermittelt stehen, stampfte mit dem Fuß auf und vollführte eine Kehrtwendung. Er machte noch zwei, drei weitere Schritte und starrte Susi an, bis ihr Anblick in seinen Verstand durchsickerte. Er blieb stehen, fuchtelte mit der Muskete, um sie schließlich in Anschlag zu bringen, und platzte heraus: »Halt! Wer da? Ruft die Wachmannschaft! Alarm! Wachen! Korporal!« Kapitel Zwanzig Von der Last des Doppelrittsacks befreit, galoppierten die Unpferde über die Ebene, und so wichen sie der Patrouille der Neuen Nichtlinge mühelos aus. Arthur, der das zum ersten Mal erlebte, war anfangs verängstigt; aber später, als ihm klar wurde, dass er nicht herunterfallen würde, empfand er den rasanten Ritt sogar als belebend. Die Unpferde hatten eine viel bessere Kondition als ihre irdischen Kollegen, aber selbst sie konnten nicht endlos galoppieren. Als der Nichtlingstrupp nur noch ein kleiner Punkt am Horizont der Platte war, hob Kavallerieleutnant Jarrow die Hand. Sein Unpferd verlangsamte seinen Lauf, trabte ein kurzes Stück und fiel schließlich in Schritt; Arthurs und Freds Tiere folgten seinem Beispiel. So ritten sie weiter, bis Jarrow um die Mittagszeit eine halbstündige Rast anordnete. Dafür wählte er die Ruinenstadt der letzten Platte aus, die sie überqueren mussten. Ruinenstadt war fast zu viel gesagt; nur die Grundmauern waren noch übrig, ein oder zwei Steinreihen hoch, und grasbedeckte Hügelgräber, die interessante Überreste enthalten mochten oder auch nicht. Kavallerieleutnant Jarrow erklärte ihnen, dass hier nie eine Stadt gestanden hatte. Das Ganze war schon als Ruine erbaut worden, denn die Architektin hatte das Große Labyrinth als Übungsgelände für die Armee erschaffen. Der Offizier zeigte ihnen auch, wie man eine Plattengrenze erkannte – das war wichtig zu wissen, weil man nämlich schon im Umkreis einiger Meter Gefahr lief, sich bei Sonnenuntergang mit seinen verschiedenen Körperteilen an verschiedenen Stellen wiederzufinden. Nicht alle Plattengrenzen waren auf dieselbe Weise zu unterscheiden, erklärte Jarrow, aber die meisten ließen sich an der veränderten Farbe der Vegetation oder des Bodens erkennen, die sich als kontinuierliche Linie bemerkbar machte. Die Grenze zwischen dem Dschungel und der Ruinenstadt beispielsweise war sehr deutlich, denn die von Kletterpflanzen bewachsenen Bäume am südlichen Rand waren allesamt gelblich. Die Grenze zwischen Ruinenstadt und Sumpf war weniger offensichtlich, da es dort keine klar erkennbare Linie des Farbwechsels oder Unterschiede in der Vegetation gab. Aber Jarrow zeigte auf einen flachen Hügel aus weißen Steinen im Zentrum eines Gebiets, wo der Untergrund allmählich von kurzem, grünem Gras in niedrige Büsche überging, die beinahe blau waren. Bezeichnenderweise war der Steinhügel halbkreisförmig, rund auf der nördlichen Seite und gerade auf der südlichen. Er war errichtet worden, um die südliche Grenze dieser Platte anzuzeigen. Der eigentliche Sumpf begann bald dahinter. Jarrow ließ die Zügel locker, und sein Unpferd suchte sich behutsam seinen Weg durch hohes Riedgras und teefarbene Wassertümpel; die anderen folgten im Gänsemarsch. In der Mitte der Platte, zumindest nach Jarrows Schätzung, fanden sie eine Insel höher gelegenen, trockenen Geländes und schlugen dort ihr Lager auf. Jarrow hielt wieder Wache, während Arthur und Fred die Unpferde abschirrten, mit den Drahtbürsten striegelten, einölten und ihnen die rubinroten Augen polierten. Dann rieben sie ihre blitzgeladenen Tulware trocken, schärften sie und fetteten ihre Stiefel und Kettenhemden ein. Bis sie all das erledigt hatten, war die Abenddämmerung hereingebrochen. Tief im Sumpf, mit einer hinter dem Horizont verschwundenen Sonne, konnten sie nur eine der ausgewechselten Platten um sich herum ausmachen. Im Westen, wo bisher nichts zu sehen gewesen war, blickte man jetzt auf einen eindrucksvollen Berg, dessen dunkle Silhouette sich Ehrfurcht gebietend vor dem Sternenhimmel abhob. »Wir reiten bei Morgengrauen zur Zitadelle«, sagte Jarrow. Er hatte die letzten Sonnenstrahlen genutzt, um seinen Almanach zurate zu ziehen, da er nach Einbruch der Dunkelheit kein Licht machen wollte. »Ich würde gerne jetzt losreiten, und wenn wir andere Platten hätten, könnten wir es schaffen. Aber bei der vorliegenden Konstellation ist ein Gebirgspass zu überqueren, dahinter liegt ein Wald und hinter diesem der Östliche Wasserschutz.« »Was für ein Schutz?«, fragte Arthur nach. »Er ist Teil der Zitadelle und wandert nicht. Ein ausgetrockneter See, der geflutet werden kann, wenn die Schleusentore der unterirdischen Quellen des Zitadellenberges geöffnet werden. Er müsste eigentlich noch trocken sein, aber …« Jarrows Stimme verlor sich. Die drei saßen in der sternenklaren Nacht und lauschten den Stimmen des Sumpfes. Ihre Unpferde standen ruhig in der Nähe und unterhielten sich ebenfalls von Zeit zu Zeit in ihrer leisen, trockenen Sprache, die die ältesten Kavalleriefeldwebel vielleicht noch verstehen mochten. Nach einer Weile nahm Fred seinen Mut zusammen und fragte: »Müsste trocken sein, Sir, aber ist es vielleicht nicht?« »Ja, er könnte gefüllt worden sein«, erklärte Jarrow. »Zwar hat sich die tektonische Strategie wie immer als überlegen erwiesen, doch sind so viele Neue Nichtlinge in der Gegend, dass einige wohl oder übel in der Nähe der Zitadelle landen mussten, und so haben sich verschiedene Gruppen auf der Ebene unterhalb des Berges vereinigt … eine wahre Plage. Es ist jedoch keine echte Belagerung, keineswegs.« »Wie sieht die Zitadelle eigentlich aus, Sir?«, fragte Arthur. »Sie ist eine mächtige Festung, Grün. Vier konzentrische Ringe von Bastionen, Ravelins und Demi-Lunes, alle so platziert, dass es keinen toten Winkel gibt und sie sich gegenseitig mit Musketen und Kanonen unterstützen können; die Zugangsrampen werden von Feuerwellenwerfern bestrichen. Dann ist da noch, im dritten Ring, die Innere Zitadelle, eine Sternfestung, die auf einem Felshügel errichtet wurde. Die Innere Zitadelle hat Erdwälle von fünfundzwanzig Metern Stärke, die eine dreizehn Meter hohe Mauer schützen, und ist mit sechzehn Kartaunen, zweiunddreißig Basilisken und zweiundsiebzig kleinen Kanonen bewaffnet, die von den Artilleristen Falkonetts genannt werden. Allerdings herrscht ein schlimmer Engpass beim Geschützpulver, seit Grimmiger Dienstag von diesem neuen Lord Arthur abgesetzt worden –« Jarrow unterbrach sich, als Arthur plötzlich vor Schmerzen aufwimmerte und die Hände an den Kopf presste. Er fühlte sich, als wäre im Zentrum seines Gehirns eine Rakete eingeschlagen und in einem Schauer von Erinnerungen explodiert. Bilder, Klänge, Gerüche und Gedanken füllten seinen Kopf, so viele, dass ihm für einen Augenblick übel wurde und er die Orientierung verlor. Alles Erlebte – von dem Tag an, wo er seinen gelben Elefanten verloren hatte, bis zur Begegnung mit den drei Badezimmeraufsehern -überlagerte sich verrückt gemischt zu einem spontanen Rückblick. Der Schmerz verschwand so unvermittelt, wie er gekommen war, und die Erinnerungen zogen sich langsam in tiefere Regionen seines Verstandes zurück, wobei sie sich selbst sortierten, wenn auch nicht in perfekter Reihenfolge. Jedoch wusste er jetzt, wer er war und was geschehen war und dass er sich durch Sir Donnerstag in großer Gefahr befand. »Geht es dir gut, Kavallerist?«, erkundigte sich Jarrow. »Jawohl, Sir«, flüsterte Arthur. »Erinnerungsschmerz«, sagte Fred. »Ich habe mir deswegen einmal selbst auf den Mund geschlagen. Hat mir ’ne dicke Lippe eingetragen. Hast du dich an was Nützliches erinnert, Helios?« »Vielleicht«, antwortete Arthur zurückhaltend. Er war in einer schwierigen Lage. Er hätte Fred zwar gern alles erzählt, aber damit würde er ihn nur der gleichen Gefahr aussetzen. »Jedenfalls muss ich über ein paar Dinge nachdenken.« »Ihr zwei ruht euch aus«, befahl Jarrow. Er erhob sich, lockerte den Tulwar in seiner Scheide und begann seinen Rundgang um die Insel. »Ich werde Wache halten.« »Braucht Ihr nicht mal etwas Schlaf, Sir?«, fragte Fred. »Auch ich habe über vieles nachzudenken«, erwiderte Jarrow. »Und ich muss mich noch nicht ausruhen. Pfeiferkinder benötigen mehr Schlaf als einberufene Bürger, und diese Bürger brauchen mehr Schlaf als reguläre Soldaten wie ich, die von der Architektin fürs Kriegshandwerk geschaffen worden sind. Doch wer sogar noch weniger schläft als ich, sind unsere glutäugigen Kameraden hier, die überhaupt nur in ihren Ställen schlummern, und auch das nur einmal alle sieben Tage. Ich werde euch vor Morgengrauen wecken oder wenn es Anzeichen für Schwierigkeiten gibt.« Die Nacht verlief ohne Zwischenfälle; dennoch wachte Arthur mehrmals auf, woran entweder irgendein Geräusch oder seine unbequeme Lage auf dem Boden schuld war, da er nur einen Sattel als Kopfkissen und eine grobe, verfilzte Decke als Bettzeug hatte. Richtig geweckt wurde Arthur von Leutnant Jarrow im frühen Morgengrauen, als die ersten Sterne verblassten. Da sie kein Frühstück benötigten und ihnen das Rasieren im Feld erlassen war, sattelte das Trio in aller Eile die Unpferde und machte sich auf den Weg. Die zwei Jungen bissen die Zähne zusammen, um still die Schmerzen zu ertragen, die vom Ritt des Vortags und der auf dem Boden verbrachten Nacht herrührten. Arthur schenkte weder diesen Schmerzen noch dem Sumpf, durch den er ritt, besondere Beachtung. Er war vollauf mit der Überlegung beschäftigt, was er tun sollte und was Sir Donnerstag mit ihm tun würde. Der Treuhänder musste wissen, wer Arthur war, denn Leutnant Crosshaw oder Feldwebel Helve dürften seine Anwesenheit gemeldet haben. Möglicherweise war es auch gar kein Verwaltungsfehler gewesen und Sir Donnerstag hatte Arthur absichtlich eingezogen. Aber warum sollte Sir Donnerstag alle Pfeiferkinder in der Armee zur Zitadelle beordern, wenn er nur Arthur in die Finger bekommen wollte? Dahinter musste mehr stecken, glaubte Arthur. Dann war da noch die Frage, was er tun sollte, falls sich ihm die Gelegenheit böte, das Vermächtnis zu suchen oder den Vierten Schlüssel an sich zu bringen. Sollte er ihn dann nehmen und eine Bestrafung riskieren? Oder sollte er ein guter Soldat sein und Sir Donnerstag lieber keinen Vorwand liefern, die Armeevorschriften zu vergessen und ihm etwas Schreckliches anzutun? Wenn er sich für Letzteres entschied, dann müsste er vielleicht seine hundert Jahre Dienst ableisten und würde nie mehr nach Hause kommen … »Nach Hause. Der Skelettjunge. Blatt. Derber Brief!«, sagte Arthur plötzlich laut und schlug sich an die Stirn. In diesem Moment war ihm der Brief von Erhabener Samstag wieder eingefallen, in dem sie seine Familie bedrohte. Als Helios, ohne sein wahres Gedächtnis, hatte er ihn als schlechten Scherz abgetan. Aber jetzt, da seine Erinnerung vollständig zurückgekehrt war, fielen ihm auch die Befürchtungen wieder ein, die den Skelettjungen betrafen. »Wir müssen von hier an leise sein«, befahl Jarrow und lenkte sein Unpferd zur Seite, sodass er sich direkt an Arthur und Fred wenden konnte. »Der Pass, der vor uns liegt, sollte frei sein, aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen. Schließt zu mir auf und haltet eure Schwerter bereit. Falls der Weg blockiert ist, werden wir versuchen durchzubrechen.« Arthur ritt so dicht an den Leutnant heran, dass ihre Knie sich fast berührten; Fred machte dasselbe auf der anderen Seite. Sollten sie angreifen müssen, so würden sie das als dicht gedrängte Masse von Unpferden tun, als Keil, der sämtliche Reihen Neuer Nichtlinge spalten würde, die sich ihnen entgegenstellten. Während sie weiterritten, schaute sich Arthur zum ersten Mal richtig um. Sie waren dabei, den Sumpf zu verlassen, und bewegten sich in westlicher Richtung. Die Platte vor ihnen wurde von zwei felsigen Hügeln beherrscht, zwischen denen auf halber Höhe eine Schlucht verlief. Der holprige Weg, auf dem sie sich befanden, führte in die Schlucht. »Können wir nicht um die Hügel herumreiten?«, schlug Arthur vor. Er konnte im Norden oder Süden nichts Besonderes erkennen. »Nördlich von hier sind heute Schlammpfuhle«, klärte Jarrow ihn auf und klopfte auf seine Ephemeride. »Und im Süden Distelbüsche. Da kommen wir mit den Unpferden nur sehr langsam durch. Der Weg hier ist zwar etwas steil, aber breit und gut. Hinter dem Pass liegt ein Bauerndorf, umgeben von Weideland. Dahinter befindet sich die östlichste der festen Platten – der Östliche Wasserschutz. Falls uns niemand auflauert und der Wasserschutz trockenliegt, sollten wir am späten Nachmittag in der Zitadelle eintreffen.« Niemand lauerte ihnen auf, aber lange, bevor sie ihn sehen konnten, wurde klar, dass der Östliche Wasserschutz nicht trockenlag. Die Mulde war geflutet worden, und von diesem Wasser lief einiges über auf die angrenzende Platte und strömte die Hauptstraße des Bauerndorfs hinunter, einer malerischen, aber unbewohnten Ansammlung enger Gassen und Häuser mit einem großen Dorfanger, an dem mehrere Schenken, eine Schmiede, vier oder fünf kleine Läden und ein Bogenschießstand lagen. »Hat hier überhaupt mal jemand gelebt, Sir?«, fragte Arthur, während die Unpferde bis zu den Fesselgelenken im Wasser wateten und dabei die Nüstern hochhielten, um ihre Abneigung gegen das feuchte Zeug zu demonstrieren. »Nicht dauerhaft«, antwortete Jarrow. Er sprach hastig und schaute unruhig umher. Es schien keine Stelle zu geben, die seiner Aufmerksamkeit entging. »Aber in früheren Zeiten waren die Schenken gut gefüllt, wann immer diese Platte nahe an die Zitadelle, die Weiße Burg, Fort Transformation oder einen der anderen unbeweglichen Standorte rückte. Dann wurde sogar ein Markt abgehalten. Wir müssten die Zitadelle jeden Moment sehen können. Gleich hinter diesen Häusern.« Am Dorfausgang stieg die Straße kurz an und verlief dann wieder eben. Hier und da standen hohe Zypressen am Rand, doch die Sicht geradeaus war ungetrübt. Als sie das flache Stück erreichten, ließ Jarrow anhalten und hielt, mit der Hand die Augen abschirmend, Ausschau. Arthur und Fred schauten nicht, sie stierten; ihre Münder standen weit offen und hätten für jedes Insekt, das sich zufällig in der Gegend aufhielt, leicht zur tödlichen Falle werden können. Vor ihren Augen erstreckte sich ein kilometerbreiter See, der sich im Norden und Süden auf andere Platten ausdehnte und schließlich den Blicken entschwand. Sein östliches Ufer reichte an den Rand der Dorfplatte, der durch eine Reihe Pinien markiert war, von denen viele ihrer westlichen Äste beraubt waren. Hinter dem See lag, wie eine riesenhafte Hochzeitstorte, die Festung. Die äußere Linie winkelförmiger Bastionen – die zunächst wie kurze, dreieckige Türme aussahen – bildete den Boden der Torte, dann folgte hundertfünfzig Meter weiter innen und fünfzig Meter höher die zweite Linie, und weitere hundertfünfzig Meter zur Mitte hin und wieder fünfzig Meter höher die dritte Linie. Hinter dieser erhob sich ein Hügel aus weißem Fels, und darauf ein sternförmiges Fort. Jeder seiner sechs Zacken wurde von einer Bastion gebildet, die mit einem halben Dutzend Kanonen bestückt und mit zirka zweihundert Verteidigern bemannt war. Genau im Zentrum des Sternforts stand ein uralter Bergfried, ein quadratischer Steinturm von fünfzig Metern Höhe. Im Südwesten über der äußersten Verteidigungslinie hing eine gewaltige grüne Rauchwolke. »Feuerwellenrauch«, stellte Jarrow grimmig fest. »Es muss irgendwann heute Morgen ein Angriff stattgefunden haben. Aber ich habe keine Kanonen gehört … offenbar sind wir äußerst knapp an Nichtspulver. Wir reiten ins Dorf zurück – wir werden ein Floß bauen müssen.« »Können wir der Zitadelle nicht irgendwie eine Nachricht übermitteln?«, schlug Arthur vor. »Sir?« »Ich habe keine Kommunikationsfiguren«, entgegnete Jarrow. »Es konnten keine für mich entbehrt werden. Wenn wir mit Rauch oder einem Spiegel Signale senden, könnten die Neuen Nichtlinge es bemerken und einen Stoßtrupp entsenden. Sie müssen ihre Streitmacht auf den westlichen Ebenen gesammelt haben. Ich habe noch nie eine so große Feuerwellenwolke wie die hier gesehen.« Der Bau des Floßes war nicht so schwierig, wie Arthur befürchtet hatte. Sie nahmen sich einfach ein Dutzend Fässer und drei Türen aus der nächsten Schenke und suchten sich in der Schmiede etwas Seil, Pech und einige Nägel, außerdem ein paar Werkzeuge. Unter Jarrows Anleitung wurden die Fässer aneinandergebunden, die Stellen, die für ein Leck anfällig schienen, mit Pech abgedichtet und anschließend darauf die Türen genagelt. Zusammengesetzt wurde das Floß am Seeufer, in unmittelbarer Nähe der Plattengrenze. Arthur war sich dessen voll und ganz bewusst, aber er verkniff es sich, ständig den Stand der Sonne zu überprüfen, und er fragte Jarrow auch nicht, wo das Dorf bei Sonnenuntergang hinwandern würde. Doch je näher der Nachmittag kam, desto nervöser wurde er. Es fehlte noch eine halbe Stunde bis zum Anbruch der Dämmerung, als sie fertig wurden; den letzten Schliff bildeten drei Paddel aus Brettern, die sie aus den Bänken der Schenke angefertigt hatten. Das Floß war vortrefflich gelungen, aber es sah nicht groß genug aus für drei Unpferde, einen Bürger und zwei Pfeiferkinder. »Nehmt den Tieren alles Geschirr und Zaumzeug ab und ladet es auf das Floß«, wies Jarrow sie an. Auch er schaute jetzt prüfend nach der untergehenden Sonne. »Wir werden sie rasch abreiben und einölen, bevor wir sie wegschicken.« »Wohin werden sie gehen, Sir?«, wollte Fred wissen. Sein Unpferd, das laut der Gravur auf den stählernen Vorderkappen seiner Zehen Skwidge hieß, war ihm sehr ans Herz gewachsen. »Sie werden den Weg zu ihren Freunden finden«, beruhigte Jarrow ihn. Er nahm Skwidge die Satteltaschen ab und packte sie aufs Floß, das jetzt halb im Wasser lag. »Beeilt euch! Wir müssen von der Plattengrenze weg sein, bevor das Dorf wandert!« Die Sonne war nur noch als dünner Strich über dem Sternfort zu sehen, als das letzte Unpferd sich mit einem Abschiedswiehern auf den Weg machte. Arthur und Fred warfen hastig ihre Bürsten und Reinigungstücher aufs Floß und schickten sich an, es ganz in den See zu schieben. »Stemmt euch mit dem Rücken dagegen!«, trieb Jarrow sie zur Eile an, ohne die schwindende Sonne aus den Augen zu lassen. Doch während das Floß bereits zu zwei Dritteln im Wasser lag und die Fässer am vorderen Ende schon schwammen, steckte das hintere Ende im Schlamm fest. Arthur und Fred gingen in die Knie und stemmten sich mit aller Kraft dagegen, und diesmal wurden sie von Jarrow unterstützt. Das Floß glitt ein Stückchen vor und rührte sich dann keinen Zentimeter mehr von der Stelle. »Was ist das für ein Geräusch?«, keuchte Arthur zwischen zwei Stößen. Ein hoher Pfeifton war zu hören, wie vom Ultraschallbohrer eines Zahnarztes. »Plattenwanderung!«, rief Jarrow. »Ins Wasser, schnell!« Er packte Arthur und Fred und zerrte sie vom Floß weg in den See. Nach wenigen Schritten reichte den Pfeiferkindern das Wasser bis zur Brust, doch Jarrow ließ sie nicht los, sondern zog sie weiter hinter sich her, selbst als Arthur und Fred schon mit dem Kopf im Nacken nach Luft schnappten und strampelnd Halt suchten, weil ihre schweren Kettenhemden und die übrige Hordenausrüstung sie unter Wasser zu ziehen drohten. Kapitel Einundzwanzig Als Arthur und Fred schon glaubten, ertrinken zu müssen, was nicht wesentlich besser gewesen wäre, als beim Plattenwechsel zerstückelt zu werden, verstummte das hohe Pfeifen. Jarrow blieb stehen und drehte sich um, machte aber keine Anstalten, ans Ufer zurückzugehen. »Hilfe!«, gluckste Arthur. »Hab keinen Boden mehr unter den Füßen«, keuchte Fred. Jarrow beschränkte sich weiterhin darauf, zum Ufer zu starren. Dann zog er Arthur und Fred langsam aus dem Wasser und ließ sie neben dem Floß einfach fallen. Nach einer Weile hektischen Hustens und Keuchens hatten sich die beiden Jungen so weit erholt, dass ihnen etwas Entscheidendes auffiel: Das Floß war noch heil – und das Bauerndorf am selben Fleck. Jarrow stand neben ihnen und blätterte in seiner Ephemeride. Er musste sich die Seiten dicht vor die Augen halten, um im schwindenden Licht noch etwas lesen zu können. »Die Platte hat sich nicht bewegt«, stellte Arthur fest. »Nein«, stimmte Jarrow ihm zu. Er schüttelte den Kopf. »Das hätte sie aber sollen. Das ist sehr ernst. Nur die tektonische Strategie hat die Neuen Nichtlinge davon abgehalten, sich zu einer überwältigenden Streitmacht zu massieren und diese in einer Entscheidungsschlacht gegen uns zu führen … Wir sollten uns am besten sofort zur Zitadelle begeben!« Er warf sich mit neuer Inbrunst gegen das Floß, und Arthur und Fred assistierten ihm schwächlich. Diesmal glitt ihr behelfsmäßiges Wasserfahrzeug ganz in den See und tanzte wie ein richtiges Schiff auf den Wellen. Zumindest wie ein richtiges Schiff, das steuerbords an einer dauerhaften Fünfzehn-Grad-Schlagseite leidet. Obwohl es keine zwei Kilometer bis ans andere Ufer waren, gingen Arthur und Fred die Kräfte aus, bevor sie nur die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten. Jarrow behielt eine mörderische Schlagfrequenz bei und gönnte ihnen keine Pause. »Sir, wenn wir ein paar Minuten –«, setzte Arthur an. »Paddelt!«, schrie Jarrow. »Ihr seid Soldaten der Architektin. Paddelt!« Arthur paddelte. Seine Arme und Schultern schmerzten so sehr, dass er sich auf die Lippen beißen musste, um nicht zu wimmern, aber er paddelte weiter. Auch Fred paddelte weiter, aber Arthur schenkte ihm keine Beachtung mehr. Seine Welt war klein geworden und bestand nur noch aus Schmerzen, dem Paddel und dem Wasser, das er teilen und wegschieben musste. Der Mond begann seinen zittrigen Aufstieg, als sie sich einer der äußeren Bastionen näherten, die sich in den See hinausschob. Sanfte Wellen schwappten an die Steinmauer, die den Uferdamm aus Erde umfasste. Das Mondlicht spiegelte sich auf ihren Helmen und Kettenhemden wider und lenkte die Aufmerksamkeit der Wachen auf sie. »Wer da?«, scholl der Ruf übers Wasser, begleitet vom Aufflackern einer Stoppine, als jemand eine Muskete oder kleine Kanone zum Feuern bereitmachte. »Leutnant Jarrow von der Horde mit zwei Kavalleristen«, rief Jarrow zurück. »Ersuche um Erlaubnis, am Kai anlegen zu dürfen.« »Stellt das Paddeln ein und wartet auf unser Kommando!« Jarrow zog sein Paddel aus dem Wasser. Arthur konnte fast nicht aufhören; seine Muskeln drängten auf Wiederholung des Bewegungsmusters. Nachdem er sein Paddel aus dem Wasser genommen und es quer über das Floß gelegt hatte, dauerte es noch eine Weile, bis er loslassen konnte. »Rudert zum Schleusentor vor!« »Beginnt zu paddeln!«, befahl Jarrow. Arthur und Fred nahmen mechanisch ihre Paddel wieder auf und tauchten sie ins Wasser ein. Nachdem das Floß einmal zum Stillstand gekommen war, war es nicht leicht, es wieder in Bewegung zu setzen. Zum Glück war es nicht weit bis zum Schleusentor, einem alten Eisengitter ungefähr dreißig Meter weiter vorn in der seewärtigen Mauer der Bastion. Das Fallgatter wurde gerade so weit hochgezogen, dass es ihnen möglich war, das Floß und sich selbst darunter hindurchzubringen und in eine unter Wasser stehende Kammer im Inneren der Bastion zu paddeln. Hinter ihnen krachte das Gitter spritzend ins Wasser. In der Kammer war nur eben so viel Platz, dass sie sich mit ihrem Gefährt zwischen zwei kleine Boote schieben konnten, die an einem niedrigen Steg vertäut waren. Entlang des Stegs hatte ein Empfangskomitee Aufstellung genommen: ein Leutnant, ein Korporal und zwei Bürger im Scharlachrot des Regiments mit Nichtspulver-Musketen und aufgepflanztem Bajonett. Jarrow kletterte hoch und sprach, nach einem Austausch von militärischen Grüßen und dem Präsentieren der Waffen, hastig mit dem anderen Leutnant. Arthur und Fred sammelten erschöpft ihre Sättel, Satteltaschen und ihr Zaumzeug auf. »Gold! Grün! Lasst das!«, befahl Jarrow. »Wir müssen uns in Marschall Mittags Hauptquartier melden. Ihr seid die beiden letzten der erwarteten Pfeiferkinder.« Arthur und Fred sahen sich an und ließen nur zu gerne ihr ganzes Gepäck wieder fallen. Dann halfen sie sich gegenseitig auf den Kai und versäumten nicht, den fremden Leutnant zu grüßen. »Ihr solltet besser dafür sorgen, dass sie in Regimentsuniformen stecken, bevor sie zum Marschall gehen«, riet der andere Offizier. »Es sei denn, sie sind ständige Kavalleristen.« »Das sind sie noch nicht«, sagte Jarrow. Er klopfte Arthur und Fred auf ihre wunden Rücken, dass sie vor Schmerz fast umfielen. »Aber sie haben das Zeug dazu. Lasst uns aufbrechen! Kavalleristen, stillgestanden! Im Gleichschritt, Abteilung marsch!« Jarrow kannte sich in der Zitadelle offensichtlich gut aus. Er führte sie vom Schleusentor eine Rampe hinauf auf die obere Plattform der Bastion, dort an Kanonen und Wachtposten vorbei und in ein Wachhaus, wo Jarrow ein paar Formalitäten mit dem Offizier der Wache klärte. Anschließend gingen sie eine Rampe hinab und durch eine Galerie, die von kleinen Kanonen auf Drehzapfen gesäumt war, stiegen erneut durch ein Wachhaus nach oben, kletterten eine Wendeltreppe hinunter, überquerten die freie Fläche zwischen dritter und zweiter Verteidigungslinie, betraten eine andere Bastion und landeten schließlich im Zeughaus des Quartiermeisters, das dem in Fort Transformation glich wie ein Ei dem anderen, sodass sich die beiden Jungen fragten, ob sie überhaupt jemals dort weggegangen waren. Innerhalb einer Viertelstunde waren ihre Horden-Kettenhemden und -Helme ausgezogen und durch die viel leichteren und bequemeren scharlachroten Uniformenjacken, schwarzen Hosen und Pillboxhüte des Regiments ersetzt. Sie erhielten die ihnen schon bekannten weißen Gürtel mit Munitionsbeutel und Franzmann, dazu Bajonette, aber keine Musketen. »Haben nur Pulver für die Scharfschützen«, erklärte der Quartiermeister-Feldwebel, ein grauhaariger Bürger, dem irgendwann einmal eine nichtsversetzte Kugel beide Wangen durchschlagen hatte. Die Wunden waren nie vollständig verheilt, und beim Sprechen pfiff ihm die Luft durch die Löcher, sodass er schwer zu verstehen war. Jarrow wechselte seine Ausrüstung nicht, vermutlich weil er ein ständiger Hordeoffizier war, aber er nahm sich die Zeit, seine Rüstung und seine Stiefel persönlich einer raschen Reinigung zu unterziehen, was ihm das Wohlgefallen des Quartiermeister-Feldwebels eintrug. Dann wartete er geduldig, während Arthur und Fred sich zurechtmachten. Als sie anfingen, ihre Bajonette zu untersuchen, rief er sie zur Ordnung und marschierte wieder mit ihnen hinaus. Diesmal ließen sie die äußeren Bastionen hinter sich und schlugen einen Zickzackkurs über diverse Rampen, durch mehrere Wachhäuser und vier Treppenfluchten ein. Auf der anderen Seite der zweiten Verteidigungslinie überquerten sie eine noch breitere Fläche nackter Erde, brachten einen wahren Irrgarten an Rampen, Treppen und Wachhäusern hinter sich, bevor sie eine Drittlinien-Bastion verließen und am Fuße einer schmalen Treppe herauskamen, die sich den weißen Steinhügel hinauf ihren Weg nach oben suchte. »Wohin gehen wir, Sir?«, wollte Fred wissen. »Marschall Mittags Hauptquartier befindet sich im Sternfort«, klärte Jarrow sie auf. »Und jetzt die Treppe hoch mit euch!« Der Hügel war nicht so hoch, wie Arthur ihn vom See aus eingeschätzt hatte, vielleicht nicht einmal hundert Meter. Nachdem er die schwere Rüstung und den blitzgeladenen Tulwar glücklich losgeworden war, fühlte er sich so viel besser, dass es ihm fast Vergnügen bereitete, die Stufen zu ersteigen, obwohl er wusste, dass sich der Muskelkater noch früh genug einstellen würde. Während seiner Zeit in der Armee hatte er schon zahlreiche Muskeln entdeckt, von denen er vorher gar nichts gewusst hatte, doch leider waren diese Entdeckungen immer mit Schmerzen verbunden. Die Bastionen des Sternforts waren etwas kleiner als die der unteren Verteidigungslinien. Am Ende der Treppe meldete sich Jarrow laut und ging erst weiter, als ihm ein Wachtposten antwortete. Dann marschierten sie, gut sichtbar im grünlichen Mondlicht, über den kahlen Boden, überquerten auf einem schmalen Steg einen Graben und betraten schließlich eine der Bastionen durch eine Ausfallpforte an ihrer Stirnseite. »Was meinst du, ob du hier wieder herausfinden würdest?«, fragte Fred ein wenig später, während sie darauf warteten, dass Jarrow seine Unterhaltung mit wieder einem anderen Leutnant in wieder einem anderen Wachraum beendete – Letzterer war allerdings hübscher als die unteren, denn er hatte holzvertäfelte Wände statt bloßer Steinmauern, und den Boden zierte ein blau-roter Teppich. »Nein«, antwortete Arthur mit voller Überzeugung. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen, wahrscheinlich weil es ziemlich leicht passieren konnte, dass er im Gegensatz zu Fred von hier fliehen musste. »Ihr geht jetzt in Marschall Mittags Empfangszimmer«, sagte Jarrow und wandte sich ihnen wieder zu. »Offenbar wartet dort bereits eine Anzahl von Pfeiferkindern, und der Marschall wird sich euch bald widmen. Denkt daran, immer strammzustehen, außer auf ausdrücklichen, anders lautenden Befehl, und sprecht nicht, wenn ihr nicht angesprochen werdet. Ist das klar?« »Jawohl, Sir«, schrien Arthur und Fred. Jarrow zuckte zusammen. »Ihr braucht hier nicht so zu schreien. Spart euch das für den Exerzierplatz auf. Du hast dich wacker geschlagen, Grün, und du auch, Gold. Viel Glück für die Zukunft. Ich hoffe, wir dienen wieder einmal zusammen.« Er schüttelte ihnen die Hand und war verschwunden. Arthur und Fred drehten sich nervös zu der anderen Tür um. Ein Korporal öffnete sie und bedeutete ihnen grinsend, einzutreten. Arthur hatte vor Aufregung Magenschmerzen. Zwar schien es nicht, als würde Sir Donnerstag gleich seine Identität aufdecken und ihm etwas Entsetzliches antun, aber er war unruhig, weil er nicht wusste, was auf ihn zukam, sowohl in seiner offiziellen Rolle als Soldat wie auch in seiner geheimen Eigenschaft als Rechtmäßiger Erbe. Sie marschierten in perfektem Gleichschritt durch die Tür. Das Zimmer dahinter war groß, aber nicht so weitläufig wie Montags Tagraum und auch viel spartanischer. Der Boden war mit poliertem Holz ausgelegt, in einer Ecke standen ein Schreibtisch mit spindeldürren Beinen und ein schwarz lackierter Wandschirm, an den Landkarten geheftet waren, an den Wänden hingen verschiedene Waffen und der konservierte Kopf eines Monsters – möglicherweise eines Fisches, denn er sah aus, als ob er von einem zehn Meter langen Piranha stammte. Des Weiteren standen in zwei Reihen zwanzig Pfeiferkinder da, die meisten in scharlachroter Regimentsuniform, aber man sah auch vier Legionäre in Ausgehrüstung, drei Artilleristen in grauen Mänteln und zwei Grenzer in Grün. Alle drehten die Köpfe und sahen zu, wie Fred und Arthur das Zimmer betraten, um sich dem linken Ende der Truppenschau anzugliedern. »Warte den Befehl ab!«, flüsterte Arthur, als sie sich den Reihen näherten. »Fred und Helios, halt! Links um!« Sie führten die Kommandos perfekt aus. Die anderen Pfeiferkinder blickten wieder nach vorn. Alle bis auf eine Grenzerin, die einen Schritt zurücktrat und hinter der Reihe entlangschlich, bis sie bei ihnen angekommen war und neben Arthur Haltung annahm. »Pst! Arthur!« Arthur schaute aus den Augenwinkeln nach links. Die Grenzerin war Susi! Im Rang eines Korporals! Völlig überrascht drehte Arthur den Kopf ein paar Zentimeter zur Seite, bevor er ihn wieder in die vorschriftsmäßige Stellung riss. Doch seine Augen hielt es kaum in den Höhlen, so angestrengt schielte er zu seiner Freundin hinüber. Er verspürte eine unglaubliche Erleichterung über ihr Erscheinen, und gleichzeitig erreichte seine Besorgnis einen neuen Höhepunkt. Susis Eintreffen eilte normalerweise ernsthaften Schwierigkeiten und großem Chaos nur um Minuten voraus. »Susi! Haben sie dich schließlich doch angenommen?«, flüsterte er aus dem Mundwinkel. »Und du hast es schon bis zum Korporal gebracht?« »Wie man’s nimmt«, erwiderte Susi. »Es ist ein bisschen kompliziert, aber kurz gesagt bin ich hierhergekommen, und sie hatten ein paar Probleme, sich darüber klar zu werden, was sie mit mir anfangen sollten. Ein paar Stunden lang wollten sie mich als Spionin erschießen, aber dann hat sich herausgestellt, dass ich tatsächlich früher mal in der Armee war; ich habe meinen Militärdienst vor vierhundert Jahren geleistet und war seitdem ununterbrochen in der Reserve! Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, obwohl allmählich ein paar Fetzen zurückkommen. Ich hab ihnen weisgemacht, dass ich gerade zwischen den Ohren gewaschen worden und ein bisschen durcheinander bin, und dann kam dieser Befehl, dass sich alle Pfeiferkinder melden sollen, ohne Ausnahme, also sagte sich der Major, dem ich unterstellt bin, die wären wir glücklich los, und schickt mich hierher. Das Wichtige dabei ist, Arthur, ich habe –« »Stillgestanden!« Ein Regimentshauptfeldwebel in makelloser Uniform, deren scharlachrote Ärmel mit Lorbeerkränzen und gekreuzten Schwertern geschmückt waren, hatte das Zimmer betreten. Sie marschierte hinüber zu den Pfeiferkindern, kerzengerade, die Stiefel in perfektem Rhythmus auf dem Boden klappernd, einen Offiziersstock mit Silberspitze unter dem Arm. »Schließ diese Lücke, Soldat!«, fuhr sie ein Pfeiferkind an und zeigte auf den freien Platz, den Susi zurückgelassen hatte. Sie hielt vor den beiden Reihen an, vollführte eine Kehrtwendung und salutierte vor dem Bürger, der gerade hinter ihr den Raum betreten hatte. Er war nicht so prächtig anzuschauen wie der RHF, denn er trug eine Uniform, die der Regiments-Gefreitenuniform Arthurs aufs Haar glich bis auf zwei schwarze Epauletten, die jeweils mit einem Kreis aus sechs winzigen, goldenen Schwertern geschmückt waren. Das kam Arthur eigenartig vor, denn laut Des Rekruten Freund waren für einen Marschall nur fünf vorgesehen. Der einzige andere Unterschied zu einer Gefreitenuniform war der, dass der Bürger statt eines Pillboxhutes eine Art schwarzes Barett trug, an dem ein goldenes Abzeichen steckte. Das Abzeichen wirkte zu groß für das Barett und stellte eine stilisierte Hand und ein halbes Schwert dar, um dessen Heft sich eine Schlange wand. Er hatte kleine, tief liegende Augen und sah für einen solch hochrangigen Bürger nicht sonderlich gut aus. Er war auch gar nicht so groß, vielleicht eins achtzig oder so, und um die Schultern herum ungefähr halb so breit wie Feldwebel Helve. Alles in allem war er körperlich nicht unbedingt Furcht einflößend. Aber da lag etwas in diesen dunklen Augen, und er hatte einen Zug um den dünnlippigen Mund mit dem vorgereckten Kinn, der Arthur vom ersten Moment an Angst machte. »Lasst sie bequem stehen«, wies dieser Bürger den RHF an. »Rührt euch!«, kommandierte der RHF mit der mehrfachen Lautstärke des anderen. Die Pfeiferkinder gehorchten, und keines geriet dabei außer Takt. Sogar Susi bekam es hin. »Ich bin Sir Donnerstag«, sagte der Bürger, und ein fast unmerkliches Beben durchlief die Reihen, doch nicht mehr. Arthur starrte geradeaus und wagte nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Doch wenn er nach außen hin auch ruhig war, so raste sein Verstand, um zu erraten, was geschehen mochte und was er tun könnte. »Ich werde euch jetzt mit meinem Plan vertraut machen«, fuhr Sir Donnerstag fort. »Anschließend werde ich nach Freiwilligen fragen.« Er ging ein paarmal auf und ab, blieb plötzlich stehen und sah aus dem Fenster auf der anderen Seite des Zimmers. »Ursprünglich sollte Marschall Mittag den Plan erklären, aber er leidet zurzeit an einer Unpässlichkeit. Er wird vielleicht später noch zu uns stoßen. Hauptfeldwebel! Die Kartenwand!« Der RHF marschierte quer durchs Zimmer, hob den schwarzen Wandschirm hoch und marschierte zurück zu einer Stelle vor den Pfeiferkindern, wo sie ihn absetzte. Dann marschierte sie ans Ende der Reihe und stellte sich neben Susi, sodass sie der Vorführung folgen konnte. Sir Donnerstag ging zu Arthur und zog das Bajonett aus dem Franzmann an dessen Gürtel. Arthur rührte sich nicht und sah auch nicht hin, selbst dann nicht, als er die unterarmlange Klinge herausgleiten hörte. Er wird mich doch sicher nicht vor aller Augen erstechen, dachte er verzweifelt. Dame Primus hat gesagt, dass er sich an seine eigenen Regeln hält. Er wird mich nicht erstechen - »Ich borge es mir einen Augenblick lang, Gefreiter«, sagte Sir Donnerstag, »um es als Zeigestock zu benutzen.« Er wandte sich der Kartenwand zu und schwang das Bajonett. Eine gelb leuchtende Linie erschien, wo er hinzeigte, dann eine weitere. Rasch skizzierte Sir Donnerstag ein Quadrat. »Dies ist das Große Labyrinth«, erläuterte er. Er fügte ein X in der unteren rechten Ecke hinzu. »Das hier ist die Zitadelle.« Jetzt zog er einen kleinen Kreis genau im Zentrum des Vierecks. »Und dies ist das absolute Zentrum des Labyrinths, ein Punkt, der fünfhundert/fünfhundert genannt wird. Wer kann mir den einzig möglichen Weg nennen, bis heute um Mitternacht eine schlagkräftige Streitmacht von der Zitadelle zu Punkt fünfhundert/fünfhundert zu schaffen, wenn man ein Verharren der Platten als gegeben annimmt? Die Entfernung beträgt dreihundert Meilen, und unterwegs treiben sich etwa zweihundertfünfzigtausend Neue Nichtlinge herum.« Er drehte sich um und sah sie an. »Irgendjemand? Wie sieht es mit dir aus, Gefreiter? Grün, nicht wahr?« »Jawohl, Sir«, krächzte Arthur. Er war sich nicht sicher, ob er den Dummen spielen oder lieber die ehrliche Antwort geben sollte, die ihm sofort in den Sinn gekommen war. »Ich nehme an … der einzige Weg wäre über die Unwahrscheinliche Treppe.« »Und die logische Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt?« »Dass sehr wenige … äh … Bürger überhaupt von der Unwahrscheinlichen Treppe wissen und noch weniger sie bereisen können«, antwortete Arthur. Er hatte ein ausgesprochen mulmiges Gefühl bei der Sache. »Ich weiß nicht, wie viele Soldaten jemand, der in der Lage ist, die Unwahrscheinliche Treppe zu benutzen, mit sich nehmen könnte.« »Sehr gut«, sagte Sir Donnerstag. »Du bist hiermit zum Leutnant ernannt. Im Regiment, es sei denn, du hast eine Vorliebe für die Horde.« »Nein, Sir«, sagte Arthur. Was hat er vor?, wunderte er sich. Er will mich in irgendeine Falle locken. »Die offensichtliche Frage ist: Warum sollte jemand eine Streitmacht von der Zitadelle zu Punkt fünfhundert/fünfhundert schicken wollen?«, fuhr Sir Donnerstag fort. Er tippte mit der Bajonettspitze auf die Kartenwand. »Die Antwort darauf ist simpel. Weil ich letztendlich meinen politischen Vorgesetzten im Haus gehorchen muss, sah ich mich in diesem Feldzugjahr genötigt, meine Pläne zu ändern und eine gewaltige Anzahl von Nichtlingen ins Große Labyrinth zu lassen. Nichtlinge, die, wie mir vorher unbekannt war, Neue Nichtlinge sind, praktisch Bürger. Sie sind ausgebildet, diszipliniert und gut ausgerüstet, und sie werden von jemandem angeführt, der mächtig und sehr geschickt ist, der wahrscheinlich von Verrätern in meinem Stab unterstützt wird, von jemandem, der eines der Geheimnisse des Großen Labyrinths entschleiert hat und dem es mit viel verräterischer Hilfe gelungen ist, einen großen, mächtigen Stachel stabilisierten Nichts direkt in die Meisterposition bei Punkt fünfhundert/fünfhundert zu schaffen!« Bei diesen Worten rammte Sir Donnerstag das Bajonett in die Kartenwand und zerriss und hieb sie mit unglaublicher Wildheit kurz und klein. Ein paar Splitter spießte er mit dem Bajonett auf und stieß dann die Waffe in ein größeres Holzstück, wo sie zitternd stecken blieb. Er holte tief Luft, bevor er sich wieder den Pfeiferkindern zuwandte. »Ich empfinde dies als störend, wie ihr sehen könnt. Jener Stachel hat auf zauberische Weise eine Platte bei Punkt fünfhundert/fünfhundert stillgelegt. Dies ist die Meisterposition des Labyrinths, und wenn sie sich nicht bewegen kann, kann es auch keine andere Platte. Folglich werde ich eine Streitmacht über die Unwahrscheinliche Treppe zu Punkt fünfhundert/fünfhundert führen. Da die große Mehrheit der Bürger von der Treppe schlichtweg zurückgewiesen wird, muss ich Pfeiferkinder nehmen, die die Treppe immer akzeptiert, und ich suche zwölf Freiwillige. Wir werden über die Treppe gehen, den Stachel zerstören und über die Treppe zurückkehren. Hauptfeldwebel!« Der RHF kam wieder vor die Reihe marschiert, sog die Lunge voll Luft und brüllte: »Alle, die wünschen, sich freiwillig für einen speziellen Sturmangriff über die Unwahrscheinliche Treppe zu melden, treten einen Schritt vor!« Kapitel Zweiundzwanzig Arthur war ein zu frisches Produkt der Rekrutenausbildung, als dass er hätte anders können. Während sein Verstand ihn noch zum Nachdenken zu überreden versuchte, reagierten seine Beine bereits auf das Kommando, als ob sie einer anderen Person gehörten: Er trat einen Schritt vor. Fred tat es ihm gleich und, nach kurzem Zögern, Susi ebenfalls. Aus dem Augenwinkel konnte Arthur erkennen, dass mindestens zehn weitere Pfeiferkinder vorgetreten waren. Aber das bedeutete auch, dass die Hälfte sich nicht freiwillig gemeldet hatte. »Lasst den Rest wegtreten«, befahl Sir Donnerstag. »Schafft sie mir aus den Augen! Falls eines davon einen Rang innehat, degradiert es! Und besorgt ein paar Sterne für Herrn Grün!« Während der RHF den Nicht-Freiwilligen Kommandos zubrüllte, trat der Treuhänder an ein Schlitzfenster und schaute hinaus. Arthur konnte nicht sehen, was er sah, aber da das Fenster nach Westen ging und sie sich hoch oben aufhielten, war es vermutlich eine gewaltige Schar Neuer Nichtlinge, die sich auf einen weiteren Angriff auf die äußeren Bastionen vorbereiteten. Arthur würde wahrscheinlich bald selbst viele Neue Nichtlinge zu sehen bekommen, doch darüber machte er sich weniger Sorgen als über Sir Donnerstag. Jemand, der zu einer solch rasenden Wut fähig war, wie der Treuhänder sie soeben an den Tag gelegt hatte, war ein gefährlicher Zeitgenosse. Selbst wenn man nicht der Rechtmäßige Erbe und dazu entschlossen war, ihn seiner Position und seines Schlüssels zu berauben. Vom Schlüssel ist ohnehin keine Spur zu sehen, dachte Arthur. Und was das betrifft, vom Vermächtnis auch nicht. Der Schlüssel ist wahrscheinlich eine Waffe, schätze ich. Das Vermächtnis kann überall stecken, vielleicht ist es nicht einmal in dieser Domäne des Hauses. »Herrn Grüns Sterne, Sir«, sagte der RHF zu Sir Donnerstag und riss Arthur damit aus seinen Gedanken. Der Hauptfeldwebel überreichte dem Treuhänder ein kleines Samtschächtelchen. »Vier Schritt vor, bitte, Leutnant Grün«, forderte Sir Donnerstag ihn auf. Arthur marschierte nach vorn und blieb stehen. Sir Donnerstag trat dicht an ihn heran, öffnete die Schachtel und entnahm ihr zwei rautenförmige Abzeichen aus Gold. Er drückte sie auf die Epauletten auf Arthurs Schultern, die sich augenblicklich schwarz färbten und goldene Knöpfe bekamen, während sich die ›Sterne‹ in seine Schulterstücke einnähten. »Meine Gratulation«, sagte Sir Donnerstag. »Ihr werdet mein stellvertretender Kommandeur bei diesem Angriff auf den Stachel sein. Und nun begebt Euch zu meiner Linken und tretet zwei Schritt nach hinten. Ihr könnt jetzt nicht mehr zurück ins Glied.« Arthur marschierte um ihn herum und stand hinter ihm stramm. Susi senkte langsam ein Augenlid, was möglicherweise ein Zwinkern bedeutete. Fred starrte einen Punkt oberhalb von Arthurs Kopf an, und die übrigen Pfeiferkinder sahen ihn direkt an, scheinbar ohne ihn wahrzunehmen. Jetzt, wo Arthur sie betrachten konnte, bemerkte er, dass einige den Korporalsrang innehatten; zwei waren sogar Feldwebel. Sie würden nicht glücklich sein, wenn herauskam, dass er in Wirklichkeit bloß ein teilweise ausgebildeter Rekrut war, der nur eine Schlacht mitgemacht hatte – und die nach nur sechs Wochen Ausbildung. »Mein Plan ist unkompliziert«, begann Sir Donnerstag. »Wir werden so nahe wie möglich beim Stachel herauskommen. Ich werde mehrere Minuten benötigen, um ihn zu zerstören, und darf während dieser Zeit nicht unterbrochen werden. Ihr werdet derweil alle Feinde abhalten, die versuchen, mir in die Quere zu kommen. Sobald der Stachel vernichtet ist, werden wir über die Unwahrscheinliche Treppe zur Zitadelle zurückkehren. Da der Überraschungseffekt ganz auf unserer Seite liegt, haben wir sehr gute Erfolgschancen. Irgendwelche Fragen?« Einer der Feldwebel, ein ernst dreinblickender Junge mit strohblondem Haar und einem anscheinend aufgemalten gelben Schnurrbart, salutierte und hob die Hand. »Dürfen wir uns mit Waffen unserer Wahl ausrüsten?« »Die Hauptwaffenkammer steht euch zur Verfügung«, erwiderte Sir Donnerstag. »Nichtspulver-Waffen eingeschlossen. Allerdings muss ich euch bitten, euch nicht zu überladen. Ich kann nicht ein Dutzend Soldaten und eine Kanone die Unwahrscheinliche Treppe hochtragen.« Er lächelte, um ihnen zu zeigen, dass er gescherzt hatte; pflichtschuldiges Gelächter lief durch die Reihen. Arthur lächelte ebenfalls, ein bisschen verspätet, doch das Lächeln gefror ihm im Gesicht, als auch Susi Haltung annahm und die Hand hob. Nicht, Susi!, dachte Arthur. Frag ihn nichts, was ihn sauer macht! »Sir – dieser Stachel. Ist er aus Nichts gemacht? Aus viel Nichts?« »Ja«, antwortete Sir Donnerstag. »Ich glaube, ich habe das bereits erwähnt.« Sag nichts mehr! Da. Arthur hinter dem Treuhänder stand, zog er rasch mit der Hand einen imaginären Reißverschluss zwischen seinen Lippen zu und verwandelte die Bewegung in ein eigentümliches Nasekratzen, als er den Blick des RHFs bemerkte. Klugerweise – und vielleicht zum ersten Mal, seit Arthur sie kannte – hielt Susi den Mund. »Noch weitere Fragen?«, erkundigte sich Sir Donnerstag. In seiner Stimme schwang eine kaum unterdrückte Drohung mit. Er wollte keine weiteren Fragen mehr. Er wollte sofortigen, bedingungslosen Gehorsam. Arthur lief ein Schauder über den Rücken. Er würde Sir Donnerstag keine schlechte Nachricht überbringen wollen. Genau genommen würde er ihm überhaupt keine Nachricht überbringen wollen, denn es war unmöglich vorherzusagen, wie der Treuhänder reagierte. Es gab keine weiteren Fragen mehr. »Hauptfeldwebel McLameth, weitermachen!«, bellte Sir Donnerstag. »Leutnant Grün, folgt mir!« Arthur sah zu Susi hinüber. Sie rollte ein paarmal mit den Augen, aber er hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Fred hingegen bedachte ihn mit einem Lächeln, als der RHF nicht hinsah. Es war das Lächeln von jemandem, der sich über den Erfolg eines Freundes freut. Ich hoffe, Fred wird nicht getötet, dachte Arthur, während er hinter Sir Donnerstag her marschierte. Er weiß gar nicht, auf was er sich da einlässt, mit seinem Traum, General zu werden. In dieser Schlacht waren wir noch vor dem Schlimmsten geschützt, und es war trotzdem noch entsetzlich - »Marschall Mittags Arbeitszimmer«, sagte Sir Donnerstag und öffnete die Tür. Mittags Arbeitszimmer war überraschend klein, nur zehn Meter lang und fünfzehn breit. Für Arthur sah es allerdings mehr wie ein Arsenal aus, denn jede Wand war mit Waffen geschmückt. Dazwischen hingen hier und da ein Gemälde oder ein Kupferstich mit kriegerischen Szenen, lauter Scharmützel und Schlachten mit Nichtlingen. Auf allen stand derselbe rothaarige, lässig-elegante Bürger im Mittelpunkt, der, wie Arthur vermutete, Donnerstags Mittag sein musste. In der Mitte des Zimmers stand auf drei Säulenfüßen ein großer Mahagoni-Schreibtisch. Die Tischplatte war leer bis auf einen Marschallstab mit Gold- und Elfenbeinintarsien genau in der Mitte. »Es gibt einige Angelegenheiten, die wir bereden müssen, Leutnant Grün«, meinte Sir Donnerstag. »Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, Leutnant Penhaligon?« »Das ist mein richtiger Name, Sir«, erwiderte Arthur. Er stand stramm, aber sein Blick huschte zur Wand. Wenn Sir Donnerstag ihn angriffe, würde er da hinspringen, das Barbarenschwert aus der Halterung reißen und … »Es lag nicht in meiner Absicht, Euch einzuziehen«, fuhr Sir Donnerstag fort. »Tatsächlich habe ich erst davon erfahren, als der Rekrutierungsoffizier auf dem Dienstweg Meldung gemacht hat. Natürlich hätte er direkt zu mir kommen sollen. Er ist jetzt wieder Gefreiter.« Nachdem ich die Möbeldemolierung miterlebt habe, kann ich gut verstehen, warum er nicht direkt zu dir gegangen ist. Ich wette, niemand tut das, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. »Sobald Ihr eingezogen und einer meiner Soldaten geworden wart, war ich in der Wahl meiner Mittel gegen Euch eingeschränkt«, sprach Sir Donnerstag weiter. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, ohne Arthur aus den Augen zu lassen. »Aber dann wurde mir bewusst, dass Ihr ähnlich eingeschränkt seid, was die Befreiung des Vermächtnisses und die Beanspruchung des Vierten Schlüssels angeht. Ihr seht, Arthur, wir befinden uns in einer eigenartigen Lage. Ich bin Soldat. Und obschon ich die Glorreiche Armee des Hauses kommandiere, bin ich nicht der oberste Befehlshaber. Die Architektin war das, und als sie verschwand, überzeugte man mich, dass Lord Sonntag die geeignete Autorität habe, dieses Amt zu bekleiden, und dass Erhabene Samstag die passende Stellvertreterin sei. Samstag übermittelte mir Sonntags Befehl, einen Teil des Vermächtnisses zu nehmen, ihn zu verstecken und das Amt eines Schlüsselverwalters anzunehmen. Selbstverständlich befolgte ich diesen Befehl. Und bis ich etwas anderes von Lord Sonntag oder seinem Stellvertreter höre, hat er für mich Gültigkeit.« Er legte eine Pause ein und nahm eine Zahnradaxt von der Wand. Arthur spannte die Muskeln an und bereitete sich darauf vor, seinerseits eine Waffe zu ergreifen, um sich zu verteidigen, aber Sir Donnerstag machte keine Anstalten anzugreifen. Er begann, den Stiel der Axt vor und zurück zu biegen, als ob er aus Gummi und nicht aus schwerkraftverdichtetem Stahl bestünde. Der Rädermechanismus der Waffe kreischte protestierend auf, da er mit dem Stiel verbogen wurde, und das Schwungrad an dessen Ende kam schmorend zum Stillstand; um Sir Donnerstags Arme waberte Rauch. »Ich habe diesen Befehl zehntausend Jahre lang befolgt«, meinte Sir Donnerstag zähneknirschend. »Obwohl das Vermächtnis beständig zu entkommen sucht und sich fortwährend beschwert und Ränke schmiedet und ich nie … ruhen kann!« Die Axt zerbrach, die Federn zischten durchs Arbeitszimmer und prallten von den Wänden ab. Arthur duckte sich instinktiv, nahm aber sofort wieder Haltung an. »Ich kann niemals ruhen, denn wenn ich ruhe, könnte das Vermächtnis entkommen«, fuhr Sir Donnerstag fort. »Das macht mich ein wenig reizbar. Doch ich habe meine Befehle. Ihr seht also, Leutnant, dass ich das Vermächtnis nicht freilassen und Euch den Schlüssel nicht geben werde, bis ich den direkten Befehl dazu erhalte. Was ich, wenngleich ich nicht sehr viel mit dem Oberen Haus kommuniziere, für extrem unwahrscheinlich halte.« Sir Donnerstag wischte sich die letzten Reste pulverisierten Metalls von den Händen, ging steifbeinig zu Arthur hin und beugte sich dicht zu ihm hinunter. »Ihr mögt Pläne haben, Arthur, das Vermächtnis selbst zu befreien. Aber hier seid Ihr nicht Arthur Penhaligon, Herrscher des Unteren Hauses, der Fernen Weiten und der Grenzsee. Hier seid Ihr ein Offizier meiner Armee, und ich befehle Euch, nichts zu unternehmen, um das Vermächtnis zu befreien. Habt Ihr mich verstanden?« »Jawohl, Sir«, sagte Arthur. »Im aktiven Dienst Befehle zu missachten wird als Meuterei angesehen«, sagte Sir Donnerstag. »Auf die die Todesstrafe steht. Versteht Ihr auch das?« »Jawohl, Sir!« »Dann ist dies erledigt, wenigstens für die Dauer Eures Militärdienstes.« Sein Mund zog sich auf einer Seite nach oben; vermutlich hielt er das für ein Grinsen. »In neunundneunzig Jahren kann viel passieren, Herr … Grün.« »Jawohl, Sir!«, sagte Arthur und dachte: Wohl eher in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Du wirst schon dafür sorgen, dass ich dieses Himmelfahrtskommando nicht überlebe. »Ihr solltet Euch am besten dem Stoßtrupp zugesellen und Euch vorbereiten«, meinte Sir Donnerstag. »Wir werden die Unwahrscheinliche Treppe in achtzehn Minuten betreten. Weggetreten!« Arthur grüßte und machte eine Kehrtwendung. Aber als er sich auf dem Absatz herumdrehte, hörte er, wie eine schwache Stimme durch seinen Verstand zu ihm sprach. Sie war leise, doch sehr deutlich, und er erkannte den Tonfall. Allen Teilen des Vermächtnisses war diese Art von monomaner Direktheit eigen, sogar in geistiger Rede. Arthur, ich bin hier, an den Schlüssel gefesselt. Ich kann mich selbst befreien, wenn Sir Donnerstags Macht und Aufmerksamkeit genügend abgelenkt werden. Arthur ließ sich nichts anmerken. Er marschierte weiter, während sein Verstand mit vielen Plänen, Ängsten und Vorstellungen jonglierte, die er ohne Unterlass fallen ließ, wieder aufgriff und in seinem Kopf hin und her warf. Um das Gespräch zu belauschten und in seinem Verstand sprechen zu können, musste das Vermächtnis bei ihnen im Zimmer sein. Da es an den Schlüssel gefesselt war, musste dieser ebenfalls hier sein. Aber Sir Donnerstag führte keine sichtbare Waffe mit sich. Er trug eine Gefreitenuniform, aber ohne Patronentasche oder Franzmann, worin er etwas hätte aufbewahren können. Aber da war doch dieses Abzeichen, dachte Arthur. Dieses merkwürdig übergroße Abzeichen an seinem Barett. Ein Schwert mit einer Schlange am Heft … Kapitel Dreiundzwanzig Arthur stellte fest, dass ein Feldwebel auf ihn wartete. Es war ein merkwürdiges Gefühl, von ihm gegrüßt statt angeschrien zu werden, aber es war auf angenehme Art merkwürdig. Arthur glaubte, dass er sich schnell daran gewöhnen würde, Offizier zu sein. Der Feldwebel führte ihn eine Wendeltreppe hinab zu einer riesigen Waffenkammer, für die man unter dem Sternfort eine Höhle aus dem Fels gehauen hatte. Sie war voller Regale mit Waffen und Rüstungen: acht Reihen, von denen jede mindestens hundert Meter lang war. Die elf Pfeiferkinder polterten herum und suchten sich ihre Ausrüstung zusammen. Drei ergraute Bürger, Waffenmeisterfeldwebel, beobachteten sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Resignation. Einer der Feldwebel rief, als er Arthur mit seinen neuen Rangabzeichen sah: »Stillgestanden!« Die Pfeiferkinder nahmen Haltung an, allerdings nicht besonders schnell und nicht sehr gewandt. Eines fiel sogar fast hin. Arthur ignorierte das. »Kommando zurück!«, rief er. »Weitermachen. Korporal Blau!« Susi erschien hinter einem Regal kurzläufiger Musketen mit Trichtermündung, Tromblonen genannt. Sie hatte ein Barbarenschwert auf einen breiten, nicht vorschriftsmäßigen Ledergürtel geschnallt. In dem Kreuzbandelier darüber steckten vier kleine Nichtspulver-Pistolen in Halftern. Arthur bedeutete ihr mit einem Handzeichen, hinter ein anderes Regal zurückzugehen, und gesellte sich dann zu ihr; hier waren sie durch eine Reihe zweieinhalb Meter hoher Schilde, sogenannten Pavesen, vor den Blicken der anderen geschützt. »Arthur, ich habe die Tasche!«, flüsterte Susi. Sie klopfte auf ihre Uniformjacke. »Die Tasche? Meine Hemdtasche?«, vergewisserte sich Arthur verblüfft. Er hatte ihr gerade von seiner Unterredung mit Sir Donnerstag erzählen wollen. »Du meinst die, mit der der Skelettjunge gezogen wurde?« »Naja, ich erzähl dir ja nicht von irgendeiner Tasche«, erwiderte Susi. »Willst du sie jetzt? Ich schätze, du kannst sie in dieses Stachelding stecken, wenn es wirklich aus Nichts gemacht ist.« »Ja«, sagte Arthur rasch. Er streckte die Hand aus. »Aber wie hast du sie in die Finger bekommen? Hat Blatt … ist mit meiner Familie alles in Ordnung?« »Keinen Schimmer.« Susi kramte in ihrer Uniformjacke herum und förderte die kleine, durchsichtige Plastikschachtel zu Tage, in der das Stückchen Stoff lag. »Blatt hat die Tasche organisiert, aber sie konnte nicht zum Haus zurück. Sie hat aus deinem Zimmer telefoniert, und ich bin durch die Sieben Zifferblätter geflitzt, aber bis ich bei ihr war, hatte dieser Hirnpilz sie schon übernommen. Ich hatte keine Zeit dazubleiben, also bin ich in den Vordereingang geflogen. Nur dass mich Samstags Mittag aufgehalten hat, der Hackfleisch aus mir gemacht hätte, wenn nicht der Leutnant Hüter, möge sein weißes Haar nie ausfallen, sich im letzten Moment dazwischengeworfen hätte –« »Du wirst dir die vollständige Geschichte für später aufheben müssen«, unterbrach Arthur ihren Redeschwall. Er lechzte zwar danach, alle Einzelheiten zu erfahren, aber im Augenblick musste er sich auf die unmittelbar vor ihm liegenden Probleme konzentrieren. »Uns bleiben nur ein paar Minuten. Sir Donnerstag weiß, wer ich bin. Er hat mir den Befehl gegeben, das Vermächtnis nicht zu befreien; ich glaube, es befindet sich in diesem Mützenabzeichen, das er trägt. Die Schlange. Und der Schlüssel ist das Schwert.« Susi kratzte sich am Kopf. »Das ist eine verzwickte Geschichte. Ich hätte eher gedacht, er wäre einer von der Sorte, die dir einfach den Kopf abschlägt.« »Er hält sich an Befehle und Vorschriften«, erklärte Arthur. »Aber ich nehme an, dass er mich beim geringsten Zeichen von Insubordination tatsächlich umbringen wird. Davon abgesehen glaube ich, dass er ohnehin plant, mich umkommen zu lassen, und zwar während dieses Angriffs auf den Stachel.« »Das muss er wohl«, stimmte Susi zu, was nicht sehr ermutigend war. »Was hast du jetzt vor?« Arthur schaute sich um, ob etwa jemand in Hörweite war. »Das Vermächtnis hat zu mir gesprochen, in meinem Kopf. Es sagte, es könne sich selbst befreien, falls Sir Donnerstag genügend abgelenkt ist. Sobald es einmal frei ist, kann es mir helfen, den Schlüssel zu bekommen, nehme ich an. Nur … ich muss zugeben, selbst wenn ich den Schlüssel kriege und das Vermächtnis mir hilft, macht mich der Gedanke, mich mit Sir Donnerstag anzulegen, ein bisschen … nervös.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Susi. »Ich kann nicht einmal selbst versuchen, Sir Donnerstag abzulenken, weil ich ja den Befehl habe, nichts zu unternehmen, um das Vermächtnis zu befreien«, erklärte Arthur. »Warum nicht?«, wollte Susi wissen. »Missachte die Befehle doch einfach. Das mache ich bei der alten Primel die ganze Zeit.« »Ich glaube nicht, dass ich das kann«, hielt Arthur ihr entgegen. »Ich spüre einen Druck im Kopf, sobald ich darüber nachdenke, Befehle zu missachten, und allein die Vorstellung, gegen einen direkten Befehl von Sir Donnerstag zu handeln, fällt mir schon schwer. Das kommt vermutlich von der Rekrutenschule, und es ist noch schlimmer geworden, seit ich Offizier bin. Das muss der Grund sein, warum Sir Donnerstag mich zum Leutnant ernannt hat.« »Ich werde ihn ablenken«, schlug Susi vor. In ihren Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck. »Ich schätze, ich habe so viel Übung darin, Befehle zu missachten, dass ich es schaffen kann.« »So einfach ist das nicht«, beeilte Arthur sich zu sagen. »Wir müssen warten, bis Sir Donnerstag den Nichtsstachel zerstört hat. Wenn er nämlich nicht zerstört wird, haben wir keine Chance gegen die Neuen Nichtlinge … obwohl … jetzt, wo ich darüber nachdenke …« »Was?« Susi nahm einen Energiespeer aus einem Regal und prüfte sein Gewicht mit einer Wurfbewegung. Arthur duckte sich, als sie damit herumfuchtelte, sprach aber weiter. »Ich frage mich, ob schon einmal jemand versucht hat, sich mit den Neuen Nichtlingen und ihrem Kommandeur zu unterhalten«, grübelte Arthur. »Ich weiß, dass sie der Feind sind, aber sie sind nicht wie normale Nichtlinge, die nur auf Tod und Zerstörung aus sind. Wer weiß, was diese hier wirklich wollen? Vielleicht könnte ich mit ihnen verhandeln.« »Verhandeln mit Nichtlingen?«, mokierte sich Susi. »Man kann nicht mit Nichtlingen verhandeln –« »Fünf Minuten!«, rief der Feldwebel, der Arthur zur Waffenkammer geleitet hatte. »Fünf Minuten!« »Fünf Minuten!«, wiederholte Arthur. »Ich sollte mich besser fertig machen.« Er rannte zu einem Regal mit Legionärsrüstung und zog, nach einem Augenblick des Zögerns, den bronzierten Brustharnisch eines Unterzenturios der segmentierten Rüstung eines gewöhnlichen Legionärs vor. Er legte ihn an und zwängte die Plastikschachtel mit der verzauberten Tasche in die Scheide unter dem Armloch, die dazu vorgesehen war, einen Letzten-Ausweg-Dolch aufzunehmen. »Kannst du mir ein Barbarenschwert besorgen, Susi? Eins der mittelgroßen.« »Jawohl, Sir!«, entgegnete Susi und salutierte zackig. »Du musst nicht –«, setzte Arthur an, aber er beendete seinen Satz nicht, als er bemerkte, dass Susis Blick und Gruß nicht ihm galten; sie sah vielmehr über seine Schulter. Im selben Moment rief jemand: »Stillgestanden!« Arthur fuhr herum, dass die lose hängenden Harnischriemen gegen die Rüstung klatschten. Sir Donnerstag hatte die Waffenkammer betreten. Er trug nach wie vor seine scharlachrote Regimentsuniform, hatte aber das Barett gegen einen eisernen Legionärshelm eingetauscht. Von dem Abzeichen war nichts zu sehen. Er hielt ein sehr langes, breites Schwert in der Hand, von dem Arthur sofort wusste, dass es der Vierte Schlüssel war. Er konnte seine Macht bis ins Mark spüren, wie einen fiebrigen Schmerz, der von den Fingern in die Wirbelsäule und von dort die Beine hinunterwanderte. Das Schwert besaß einen äußerst breiten Griff, sodass es zweihändig geschwungen werden konnte … oder einhändig, wenn sein Träger sehr stark war. Eine dekorative Metallschlange wand sich um das ansonsten schmucklose Bronzeheft. Alles in allem glich das Schwert dem Abzeichen an Sir Donnerstags Mütze. »Herr Grün!«, bellte Sir Donnerstag. »Lasst die Truppe antreten und überprüft ihre Ausrüstung!« »Jawohl, Sir!« Arthur befestigte eilig die Kürassriemen unter seinen Armen, schnallte das Barbarenschwert an, das Susi ihm reichte, und klatschte sich einen Offiziershelm mitsamt scharlachrotem Helmbusch auf den Kopf. Danach war er ein paar Augenblicke lang unsicher, was er tun sollte. Doch ihm fiel ein, was die Offiziere immer taten: Befiehl einem Feldwebel, sich darum zu kümmern. Er blickte sich nach dem nächsten Pfeiferkind-Feldwebel um und entdeckte eine Grenzerin mit drei schwarzen Chevrons am Arm. Arthur marschierte rasch zu ihr hinüber. »Wie ist Euer Name, Feldwebel?« »Quecksilber«, antwortete der Feldwebel. »Sir.« »Ihr werdet der Gruppen … Zug … Wasimmerwirsind-Feldwebel sein, Feldwebel«, bestimmte Arthur. Er war ein bisschen aufgeregt, weil er so mit einem Feldwebel sprach, nachdem er in der Rekrutenschule wochenlang am unteren Ende der Befehlskette gestanden hatte. »Lasst alle antreten, und wir werden gemeinsam ihre Ausrüstung überprüfen.« »Sehr wohl, Sir«, sagte das Mädchen. Sie sah Susi ziemlich ähnlich, fiel Arthur auf, dieselbe Art schmales Gesicht; allerdings hatte Feldwebel Quecksilber sehr kurzes, schwarzes Haar, und ihre Augen waren braun. »Schlage vor, wir nennen die Einheit einen Stoßtrupp, Sir.« »Gut – weitermachen, Feldwebel!«, sagte Arthur. Das sagten Offiziere immer, wenn sie nicht wussten, was sie machen sollten. »Stoßtruuuuupp!«, schrie Quecksilber. »Angetreten! Eine Reihe!« Die Pfeiferkinder formierten sich schnell und stellten sich automatisch der Größe nach auf, wobei sie hin und her rückten, bis sie den korrekten Abstand zueinander eingenommen hatten, was gemessen wurde, indem die ausgestreckte Faust gegen die Schulter des rechten Nachbarn gehalten wurde. Es war ein merkwürdig aussehender Haufen. Fast alle trugen bunt gemischte Uniform- und Rüstungsteile aus den verschiedenen Waffengattungen, und alle außer Arthur hatten sich mit mindestens zwei Waffen versorgt, einige auch mit drei oder vier. Er bemerkte ebenfalls, dass keiner der Artilleristen sich freiwillig für den Einsatz gemeldet hatte, was vielleicht erklärte, warum diese Einheit die Mäßig Ehrenwerte Artillerie-Kompanie hieß. »Stoßtrupp bereit zur Inspektion, Sir!« Arthur wechselte einen militärischen Gruß mit Quecksilber und schritt die Reihe ab, wobei er jeden Soldaten flüchtig überprüfte. Hätte er sich zuversichtlicher gefühlt, hätte er einige Bemerkungen über ihre Waffen oder ihre Ausrüstung fallen lassen, doch stattdessen erkundigte er sich nur nach ihren Namen. Er kam sich nicht wie ein richtiger Offizier vor, doch allein als Mitsoldat wollte er wissen, wer sie waren. Nach der Erfahrung aus der Schlacht bei Fort Transformation war ihm klar, dass zumindest einige von ihnen nicht zurückkehren würden. Er wollte die Namen seiner Kameraden kennen, und er versuchte auch, sich ihre Gesichter einzuprägen, damit er sich an sie erinnern konnte, falls er den bevorstehenden Kampf überleben sollte und sie nicht. Er wiederholte im Geist jeden genannten Namen. Er hatte schon immer ein ausgezeichnetes Gedächtnis gehabt, insbesondere für Wörter und Musik. Die neun Pfeiferkinder außer ihm selbst, Susi und Fred hießen Quecksilber, Leimtopf, Gelbstoppel, Sonnensegel, Jazebeth, Halbschnitt, Zobelfell, Feinalt und Hermelin. Ihre Vornamen nannten sie ihm nicht. Fünf waren Mädchen und vier Jungen; dem Aussehen nach zu urteilen waren sie zwischen neun und dreizehn Jahren alt. Am Ende der Reihe machte Arthur auf dem Absatz kehrt und marschierte zu Sir Donnerstag, der geduldig wartete. Erneut wurden militärische Grüße getauscht, und Arthur meldete den Stoßtrupp einsatzbereit. Sir Donnerstag nickte und marschierte zu den Soldaten hinüber, um sich persönlich an sie zu wenden. »Ich werde die Unwahrscheinliche Treppe als Erster betreten«, kündigte er an. »Ihr werdet die Nachhut bilden, Herr Grün. Der Soldat, der mir folgt, wird sich hinten an meinem Gürtel festhalten, und der Soldat hinter ihm an dem seinen, und so fort. Wenn irgendjemand loslässt, wird er von der Unwahrscheinlichen Treppe fallen, wo immer wir uns in diesem Augenblick gerade befinden, und alle, die sich an ihm festhalten, werden mit ihm fallen. Deshalb ist es von wesentlicher Bedeutung, dass jeder fest zupackt und keiner loslässt. Die Unwahrscheinliche Treppe ist … unwahrscheinlich. Daher ist es, auch wenn wir darauf nur eine sehr kurze Strecke innerhalb des Hauses zurücklegen, durchaus möglich, dass wir auf einem Treppenabsatz herauskommen, der sich zu ganz anderer Zeit ganz woanders befindet. Falls das geschieht, lasst nicht los! Wir werden dann die Treppe sofort wieder besteigen. Niemand darf loslassen, bevor ich den entsprechenden Befehl gebe! Ist das klar?« »Jawohl, Sir!«, brüllte der Stoßtrupp. Kapitel Vierundzwanzig Sir Donnerstag verlor keine Zeit. Sobald er seine Ansprache beendet hatte, ging er ans rechte Ende der Pfeiferkinderreihe und nahm seinen Platz ein. »Stoßtrupp! Rechts um! Ergreift den Gürtel des Soldaten vor euch!« Arthur lief eilig ans hintere Ende der Reihe, während sich alle um neunzig Grad nach rechts drehten. Es blieb ihm kaum noch Zeit, Freds Gürtel zu packen, als Sir Donnerstag auch schon eine Anzahl von Stufen mit seinem Schwert skizzierte, dessen Spitze leuchtende Striche in der Luft zurückließ. »Nicht notwendig, im Gleichschritt zu bleiben!«, rief Sir Donnerstag, während er seinen Stiefel anhob und unwahrscheinlicherweise die unterste jener leuchtenden, immateriellen Stufen betrat, die er gerade gezeichnet hatte. »Ihr werdet es vielleicht hilfreich finden, die Augen zu schließen – aber haltet euch in jedem Fall fest!« Arthur hatte die Unwahrscheinliche Treppe zwar selbst schon benutzt, aber er hatte noch nie gesehen, wie jemand darin verschwand. Wenn er sie bei früheren Gelegenheiten bereist hatte, war er völlig darauf konzentriert gewesen, sich eine Treppe vorzustellen, wo keine war, eine Reihe von Stufen aus strahlend weißem Marmor, die unendlich weit nach oben führten. Das war jedoch nicht das, was er jetzt sah. Sir Donnerstag betrat die leuchtenden Stufen, die er gezeichnet hatte, und dann verschwand sein Kopf, als wäre er plötzlich ausradiert worden, und dann verschwanden auch seine Schultern und, allzu schnell, der ganze Rest. Das Pfeiferkind hinter ihm rang hörbar nach Atem, als auch sein Arm verschwand, dann machte es die Augen zu und wurde vorwärtsgezogen, um sich scheinbar aufzulösen. Es war unangenehm, der Letzte zu sein, auch wenn sich die Reihe sehr schnell bewegte. Arthur bemerkte, dass nicht ein einziges Pfeiferkind zögerte, wenngleich die meisten im letzten Moment den Kopf abwandten, wie um ihr Gesicht zu schützen. Und die Augen machten sie zu. Arthur behielt die Augen offen. Er wollte es sehen, wenn Sir Donnerstag irgendwelche Tricks auf der Treppe versuchte. Er hätte eigentlich erleichtert sein müssen, dass er gleich darauf von weißem Licht umgeben war, vor sich die marmornen Stufen und die Reihe der Soldaten, die die Treppe erklommen. Aber er war es nicht. Die Treppe war keine Wendeltreppe gewesen, als er sie das letzte Mal benutzt hatte. Jetzt wand sie sich in enger Spirale nach oben. Als er nach vorn gerissen wurde, merkte Arthur, dass er kurz stehen geblieben war. Einen entsetzlichen Augenblick lang fürchtete er, den Halt an Freds Gürtel zu verlieren. Doch seine Finger waren fest verklammert, und er schloss sie noch fester, während er vorwärtstaumelte und seine ganze Aufmerksamkeit den Stufen widmete. »Halt dich fest!«, mahnte Fred, so ruhig er konnte, und dennoch nachdrücklich. »Sir.« Arthur tat es und konzentrierte sich aufs Treppensteigen. Die ersten zwanzig oder dreißig Stufen rechnete er noch damit, dass Sir Donnerstag irgendeine Gemeinheit versuchen würde, aber dann erinnerte er sich wieder daran, wie mühsam es für ihn selbst gewesen war, nur Susi Blau die Treppe hochzuführen. Der Treuhänder würde nichts unternehmen können, ohne einen Sturz zu riskieren – und im Fall der Unwahrscheinlichen Treppe bedeutete ein Sturz, irgendwo den Rest seiner Tage zu beschließen, wo man fast sicher keine fünf Minuten verbringen wollte. Diese Erkenntnis führte bei Arthur zu der Sorge, was sie erwartete, sobald sie am anderen Ende herauskamen. Selbst wenn Sir Donnerstag nur fünf oder sechs Minuten brauchte, um den Nichtsstachel zu zerstören, so konnte in dieser Zeit doch viel passieren. In der Schlacht bei Fort Transformation waren in den ersten dreißig Sekunden Dutzende von Bürgern und Neuen Nichtlingen verwundet oder getötet worden, ganz zu schweigen von den ersten fünf Minuten. Es gab auch noch die Möglichkeit, dass Sir Donnerstag etwas zustieß. Wenn er sie nicht mehr auf die Unwahrscheinliche Treppe führen könnte, säßen sie in der Falle -als leichte Beute für die Neuen Nichtlinge. Es sei denn, ich kann alle zurück auf die Unwahrscheinliche Treppe führen, dachte Arthur. Er fragte sich, ob die Benutzung der Treppe die zauberische Kontaminierung seines Körpers verstärkte. Der Krokodilring steckte in seiner Gürteltasche, aber es war sinnlos, über ihn oder die Kontaminierung nachzudenken. Arthur wusste, dass er tun würde, was immer nötig war, um ihr Überleben zu sichern. Etwas lenkte Arthurs Aufmerksamkeit auf sich, und er sah nach oben. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen und verlor sich in einem Schleier strahlend weißen Lichts. Doch Sir Donnerstag war nicht mehr zu sehen, ebenso wie die zwei Pfeiferkinder, die unmittelbar hinter ihm gegangen waren. Das dritte war gerade dabei, zu verschwinden. »Wir kommen heraus!«, sagte Arthur. »Haltet euch fest!« Er kam sich ein bisschen albern vor, als er »haltet euch fest« sagte, denn zu dem Zeitpunkt waren schon fast alle weg, sodass nur noch Fred ihn hören konnte, und der wusste, dass Arthur derjenige war, der sich vorhin nicht richtig festgehalten hatte. Dann war auch Fred verschwunden, und dieses Mal schloss auch Arthur instinktiv die Augen. Als er sich nur eine Mikrosekunde später zwang, sie wieder zu öffnen, sah er vor sich die Reihe der Pfeiferkinder mit Sir Donnerstag an der Spitze. Nur ein paar Schritt von Sir Donnerstag entfernt rotierte ein gewaltiger Kegel völliger Dunkelheit, in dem gelegentlich blendend weiße Punkte aufblitzten, schnell um die eigene Achse. Es war der Stachel – und er drehte sich nicht nur, er war auch viel größer, als Arthur sich ihn vorgestellt hatte. Der Teil, den er sehen konnte, war ungefähr zehn Meter hoch und maß am oberen Ende zirka sieben Meter im Durchmesser, aber es sah so aus, als wäre er zur Hälfte im Boden eingegraben und die Spitze hätte sich schon vor langem ihren Weg durch den Mutterboden in das Material unter der organischen Schicht der Platte fünfhundert/fünfhundert gebohrt. »Lasst los!«, brüllte Sir Donnerstag. »Nehmt Verteidigungspositionen ein!« Arthur ließ los und blickte um sich. Sie standen auf einer mit Holzbalken verstärkten Rampe aus Erde, die offenbar gebaut worden war, um den Stachel in Stellung zu bringen. Sie war sechs Meter breit und vielleicht fünfundzwanzig lang. Der Stoßtrupp befand sich am oberen Ende, direkt neben dem Stachel. Das untere Ende der Rampe mündete in eine staubige, festgetrampelte Landstraße, die von weißen Felsblöcken gesäumt war und einen Kilometer weit bis zur Plattengrenze führte. Zu beiden Seiten standen zahllose Reihen von leuchtend gelben, glockenförmigen Zelten, Hunderte und Aberhunderte, die selbst sieben Meter Durchmesser hatten und insgesamt eine quadratische Fläche von fünfzehn Metern Seitenlänge einnahmen. Es gab auch einen Exerzierplatz aus nackter Erde von siebzig Quadratmetern. Eine Einheit von eintausend Neuen Nichtlingen war dort aufmarschiert und wurde soeben von einem sehr großen, sehr imposanten Neuen Nichtling inspiziert – vielleicht handelte es sich sogar um einen Bürger, denn er besaß menschliche Gestalt und trug einen blassgelben Uniformmantel mit vielen Schlaufen und einer beträchtlichen Menge goldener Tressen, dazu einen schräg aufgesetzten Zweispitz. Aus der Entfernung betrachtet, war sein Gesicht hinter einer Metallmaske verborgen, die aber auch eine entsetzliche Prothese darstellen mochte. Er hatte ein Dutzend Nichtlings-Offiziere in seinem Gefolge, und in dem kurzen Moment, den Arthur brauchte, um auf den Exerzierplatz hinunterzuschauen, wurde ihm klar, dass das der geheimnisvolle Anführer der Neuen Nichtlinge sein musste. Ihm blieb keine Zeit für weitere Betrachtungen. Feldwebel Quecksilber schrie Befehle, die Pfeiferkinder stellten sich in einer Reihe am Ende der Rampe auf und machten ihre Nichtspulver-Pistolen, Karabiner und Energiespeere, Quecksilber ihren Muskelfaser-Langbogen einsatzbereit. »Ausgezeichnet, äh, Feldwebel«, sagte Arthur. Er musste sich anstrengen, um mit ruhiger Stimme zu sprechen. Das Wimmern des rotierenden Stachels war äußerst störend und klang fast wie ein Kleinkind, das in höchsten Tönen jammerte. Auch hatten die Neuen Nichtlinge auf dem Exerzierplatz die Störenfriede bemerkt, denn der große Befehlshaber drehte sich nach ihnen um, und obwohl er nichts zu sagen schien, entfaltete sich unter den Offizieren plötzlich rege Tätigkeit; Kommandos wurden geschrien. »Wird sie fünf Minuten kosten, hier hochzukommen«, schätzte Quecksilber mit geübtem Blick. »Die ganzen Zelte, die im Weg stehen –« Sie stockte, denn auf dem Platz setzten große Kesselpauken ein. Sie trommelten im selben Rhythmus, den Arthur beim Angriff auf Fort Transformation gehört hatte. Zugleich quollen Neue Nichtlinge aus den Zelten, wie ausschwärmende Bienen, unter deren Stock man ein Feuer gelegt hat. Arthur sah zu Sir Donnerstag. Der stand mit erhobenem Schwert neben dem Stachel. Plötzlich brüllte er einen Schlachtruf, der das Klagen des Stachels übertönte und Arthur einen Schauder des Entsetzens über den Rücken jagte. Sir Donnerstag ließ seine Waffe auf das wirbelnde Nichts hinabsausen und trennte ein gewaltiges Stück davon ab, das im Uhrzeigersinn rotierend durch die Luft zischte, auf einem der Glockenzelte aufschlug und es augenblicklich zerstörte. Alles, was davon übrig blieb, waren ein paar Spannschnüre, die schlaff in ein Loch im Boden hingen. Doch der Stachel hörte nicht auf, sich um seine Achse zu drehen, und es war auch kein Loch darin zu bemerken, als ob das Nichts die Lücke einfach geschlossen hätte. Sir Donnerstag blickte finster und führte einen erneuten Streich nach dem Stachel – mit ähnlichem Resultat. »Da kommen sie«, sagte Quecksilber. »Wollt Ihr Befehl zum Feuern geben, Sir?« Es dauerte einen Moment, bis Arthur begriff, dass sie mit ihm sprach. Er starrte auf das Heer der Neuen Nichtlinge herab, die mit Schreien und gutem Zureden in Reih und Glied gebracht wurden, während sie auf den Fuß der Rampe zurannten. Links und rechts der Rampe waren auch viele Nichtlinge älteren Typs unterwegs, von denen manche versuchten, die Seitenwände zu erklimmen, nicht ganz ohne Erfolg, obwohl es zehn Meter bis nach oben waren. Alle Neuen Nichtlinge waren uniformiert und mit den knisternden Blitzspeeren bewaffnet, die Arthur bereits erlebt hatte, und offensichtlich wurden sie gut geführt. Es stimmte zwar, dass sie sich auf verschiedene Weise von Bürgern unterschieden, durch zusätzliche Gliedmaßen oder entstellte Gesichtszüge etwa, doch besaßen sie keine Ähnlichkeit mit den halbverrückten Pöbelhaufen, zu denen sich die gewöhnlichen Nichtlinge normalerweise zusammenrotteten. »Ja, ich werde den Befehl geben«, bestätigte Arthur, so gelassen er konnte. »Tromblonen zuerst, dann die Energiespeere. Quecksilber, Ihr sichert die linke Seite und erschießt die Kletterer. Susi, du nimmst die rechte Seite und machst dasselbe mit deinen Pistolen. Fred, du lädst für Susi.« Arthur zog sein Schwert und begab sich zur Mitte der Reihe, wobei er für Sir Donnerstag nicht mehr als einen flüchtigen Blick übrig hatte. Aber das war genug, um zu wissen, dass der Treuhänder gegen den Stachel nicht viel ausrichtete, wenngleich er seine Schläge mittlerweile so führte, dass die Nichtsstücke ins Camp der Gegner segelten und keine Schneise mehr in die Gruppe der Pfeiferkinder zu schlagen drohten. »Wartetauf mein Kommando!«, rief Arthur, als die Tromblonen angelegt, die Energiespeere gehoben wurden. Eine Formation Neuer Nichtlinge in zehn Zwölferreihen hatte den Fuß der Rampe fast erreicht. Arthur beobachtete, wie sie vorwärtsstampften, und wusste, dass er mit seinen Leuten keine Chance hatte, sie aufzuhalten, die Erstürmung der Rampe zu verhindern oder auch nur das Aufeinandertreffen mit ihnen zu überleben. Es bliebe vielleicht Zeit, um zwei Salven aus den fünf Tromblonen abzugeben und drei Energiespeere zu schleudern, und das wäre es dann gewesen. Sie würden überrannt werden. Überrannt, dachte Arthur. Genauer gesagt getötet. Es sei denn, Sir Donnerstag kann mit dem Schlüssel endlich etwas erreichen. Wir könnten auch versuchen, zurück auf die Treppe zu gelangen … nur dass uns dazu keine Zeit bleibt. Das würden wir nie schaffen. Sie würden angreifen und uns niedermähen … die letzten paar jedenfalls … zu denen auch ich zähle. Vielleicht ist es ja genau das, was Sir Donnerstag von Anfang an geplant hat. Das Dröhnen der gegnerischen Trommeln änderte plötzlich seinen Rhythmus und wurde schneller. Die Neuen Nichtlinge setzten schreiend zum Sturm auf die Rampe an. Susis Pistolen gingen los, Quecksilbers Bogen surrte und surrte noch einmal. Arthur zählte bis drei und rief »Feuer!«. Die Tromblonen knallten, Nichtspulverrauch breitete sich aus. Arthur schrie: »Werft!«. Die Energiespeere flogen. Arthur rief: »Haltet die Stellung!«, und rückte vor, um bei den anderen zu sein um sich mit ihnen dem ersten Anprall entgegenzustemmen und wenn es auch nur für ein paar Sekunden wäre und dann - Ein seltsam unirdischer Ton durchdrang den Lärm, eine gehauchte, hohe, einzelne Note, die ein wenig wie eine Flöte klang und ein wenig wie der Gesang eines Wales und gleichzeitig völlig anders und neu. Dieser Ton beendete alles. Die Pfeiferkinder erstarrten buchstäblich mitten in der Bewegung. Arthur sah fassungslos zu Feinalt, der sein Barbarenschwert halb aus der Scheide gezogen hatte, undjazebeth, deren Finger um das Schloss ihres Tromblons gekrümmt waren. Susi war eine Statue am Rand der Rampe, in den Händen die Steinschlosspistolen, mit denen sie auf die Kletterer zielte. Quecksilber stand genauso reglos; ihren Bogen hatte sie gegen einen Poniard mit dreieckiger Klinge getauscht. Die Neuen Nichtlinge waren nicht erstarrt, sondern nur stehen geblieben. Die beiden äußersten der zwölf Reihen drehten um und zogen sich von der Rampe zurück; die übrigen wichen zur Seite und bildeten eine Gasse. Durch diese kam gemessenen Schrittes der große Kommandeur. Er hielt eine schlichte, hölzerne Pfeife an den Lippen, die hinter der Maske aus mattiertem Stahl nicht zu sehen waren, und spielte diese unglaublich reine Note, ohne einmal abzusetzen. Arthur hörte eine Bewegung hinter sich und fuhr erschrocken herum. Es war Sir Donnerstag mit zornrotem, wutverzerrtem Gesicht. »Verräter!«, schrie er gellend. »Fünf Minuten waren alles, was ich verlangt hatte!« Bevor Arthur reagieren konnte, zog Sir Donnerstag das Schwert durch die Luft, traf den erstarrten Gefreiten Feinalt an Arthurs Seite und trennte dem Unglücklichen mit einem einzigen Hieb den Kopf ab. Und schon holte er erneut aus und schwang die Klinge gegen Korporal Jazebeth. Ohne nachzudenken, parierte Arthur den Schlag. Doch sein Barbarenschwert bewirkte nicht mehr als ein dünner Zweig. Die Klinge des Treuhänders durchschnitt es mühelos, und der Aufprall riss Arthur das Heft aus der Hand. Sir Donnerstags Schlag wurde dadurch kaum gebremst: Die Schneide bohrte sich tief in Jazebeths Hals. Arthur machte einen ungeschickten Satz zurück und fiel, als Sir Donnerstag den nächsten Hieb nach ihm führte, den er mitten in der Bewegung in einen Stoß verwandelte, dass die Schwertspitze auf Arthur zuschnellte. Doch der Bürger führte seinen Stoß nicht zu Ende. Stattdessen sprang er zur Seite, zeichnete mit der Klinge ein paar Stufen und schickte sich an, die Unwahrscheinliche Treppe zu betreten. Arthurs Bauchmuskeln brannten, als er mit einem Ruck vom Boden hochschnellte. Hastig sah er sich um. Der Nichtlings-Kommandeur war noch sechs oder sieben Meter entfernt; er schritt langsam durch das Spalier seiner Untergebenen und blies die unirdische Pfeife. Sir Donnerstag stand mit einem Fuß auf seiner leuchtenden Stufe und hatte Arthur den Rücken zugewandt. Arthur presste entschlossen die Lippen zusammen, langte in das Armloch seines Kürasses, um den Notdolch zu ziehen, doch seine Finger schlossen sich um eine kleine Plastikschachtel. Bevor ihm klar war, was er in der Hand hielt, hatte er sie schon herausgezogen. Ich werde sterben, dachte er. Aber meine Familie kann ich retten. Er schleuderte die Schachtel auf den Stachel und warf sich auf Sir Donnerstags Rücken, als der Treuhänder gerade auf der Unwahrscheinlichen Treppe verschwand. Kapitel Fünfundzwanzig Arthur schaffte es, die Beine um Sir Donnerstags Taille und die Arme um dessen Hals zu schlingen, als der Treuhänder den ersten Schritt auf dem tückischen Marmor der Unwahrscheinlichen Treppe machte. »Keine Tricks!«, warnte Arthur ihn. »Wenn Sie irgendetwas versuchen, außer die Treppe hinaufzusteigen, werde ich uns beide runterwerfen!« Sir Donnerstag knurrte etwas, und das so unartikuliert und wild, dass es gut von einem Raubtier hätte stammen können. Aber er stapfte weiter die Treppe hinauf und trug Arthur so mühelos wie einen leichten Rucksack. Nach zwanzig Stufen sprach der Treuhänder ihn an. »Dafür werdet Ihr sterben. Meuterei ist Meuterei, ganz gleich, wer sie begeht. Ihr habt Euer Schicksal besiegelt, Leutnant.« Arthur gab keine Antwort. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Sir Donnerstags Bewegungen, nicht seinen Worten, denn dieser hielt das Schwert noch in der Hand und konnte leicht den Arm anwinkeln und Arthur ohne Warnung erstechen. Der Junge hielt sich bereit, sein gesamtes Gewicht auf eine Seite zu werfen, selbst wenn es als totes Gewicht enden sollte. Wenigstens wäre dann Sir Donnerstag von der Treppe geworfen und würde hoffentlich an einem entsetzlichen Ort landen, von dem aus es keine leichte Rückkehr auf die Stufen gäbe. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden, sagte eine ruhige Stimme in Arthurs Kopf. Der eingesperrte Vierte Teil des Vermächtnisses. Vorhin auf der Rampe hatte ich ihn fast. Du musst ihn wieder wütend machen. Ihn wütend machen?, erwiderte Arthur in Gedanken. Sind Sie denn genauso wahnsinnig wie er“? Ich will ihn nicht wütend machen. Ich weiß so schon nicht, wie ich das hier überleben soll. Es ist die einzige Form der Ablenkung, die bei Sir Donnerstag funktionieren wird, erklärte das Vermächtnis. Lenke ihn ab, und ich werde mich selbst befreien und dir den Vierten Schlüssel überantworten, Lord Arthur. Anschließend kann der Treuhänder der Gerechtigkeit zugeführt werden. Ich werde ihn jedenfalls nicht hier wütend machen, dachte Arthur. Er überlegte, wo der am wenigsten ungeeignete Ort sein mochte, um Sir Donnerstag in Rage zu versetzen. Dann sagte er laut: »Es gibt bestimmt ein großes Besprechungszimmer in der Zitadelle. Für die Marschälle und so weiter, um alle auf dem Laufenden zu halten. Besonders jetzt, wo die Festung belagert wird.« »Es gibt mein Einsatzzimmer«, knurrte Sir Donnerstag zähnefletschend. »Aber es gibt keine Belagerung. Das ist nichts weiter als eine Unannehmlichkeit.« »Dann will ich in diesem Einsatzzimmer herauskommen«, erklärte Arthur. »Bringen Sie mich dorthin oder ich werfe uns beide von der Treppe!« »Eure Beleidigungen … werden meine Rache … nur umso süßer schmecken lassen«, entgegnete Sir Donnerstag. Arthur konnte hören, wie er mit den Zähnen knirschte. »Sie ist nur aufgeschoben.« Arthur setzte zur Antwort an, doch es kam nicht mehr dazu, denn unerwartet – zumindest für ihn – trat Sir Donnerstag von der Treppe zurück ins Haus. Sofort schlug er mit der freien Hand hinter sich und schmetterte Arthur von seinem Rücken zu Boden. Benommen wollte sich der Junge aufrappeln, doch das war nicht einmal halb geschehen, da hatte Sir Donnerstag schon seine Befehle gebrüllt, und zahlreiche Bürger stürzten beflissen herbei. »Nehmt diesen Verräter fest! Alles ist enthüllt! Der Feind wird vom Pfeifer angeführt, und sämtliche Pfeiferkinder müssen exekutiert werden, bevor sie verräterische Aktivitäten entfalten können! Marschall Morgengrauen, kümmert Euch unverzüglich darum!« Arthur wurden die Arme auf den Rücken gezogen, während er angestrengt den Kopf hob. Diese Mühe wurde ihm sogleich abgenommen, als jemand ihm den Kopf in den Nacken riss, um ihm einen Arm um den Hals zu legen. Das alles fand in einem Kuppelsaal voller Offiziere statt. Die drei, die bei Sir Donnerstag standen, waren die größten und prächtigsten. Das mussten die Marschälle Morgengrauen, Mittag und Abenddämmerung sein. Sie alle hatten die gleichen schwarzen Augen, und Mittag trug einen Verband um den Kopf, was die Vermutung nahelegte, dass er entweder kürzlich in Kämpfe verwickelt oder nicht immer einer Meinung mit Sir Donnerstag gewesen war. Arthur hielt die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher. »Wir sind keine Verräter!«, krächzte er, während er rückwärts zu einer Tür gezerrt wurde. »Sir Donnerstag hat zwei seiner eigenen Soldaten getötet! Er ist als Kommandeur untauglich! Ich bin ebenfalls Offizier in der Glorreichen Armee der Architektin, und ich verlange –« Weiter kam er nicht, denn Sir Donnerstag durchquerte den Raum mit einem einzigen Satz und rammte ihm die Faust in die Magengrube. Solche Schmerzen hatte Arthur noch nicht erlebt, das war schlimmer als der Beinbruch. Er konnte nicht mehr atmen, und eine ganze Weile glaubte er, nie wieder Luft zu bekommen. Es war sogar noch beängstigender als ein Asthmaanfall, denn sein Brustkorb fühlte sich nicht nur zugeschnürt, sondern tatsächlich zerschmettert an. Doch nach zehn, zwölf schrecklichen Sekunden konnte er wieder einatmen, denn Sir Donnerstags Aufmerksamkeit wurde von Marschall Morgengrauen abgelenkt. Durch ihre grüne Grenzerkleidung hob sie sich von der Masse der scharlachroten Hauptquartiersuniformen ab und unterschied sich auch insofern von allen anderen, als sie auf Sir Donnerstag zuging, statt vor ihm zurückzuweichen. »Der Leutnant hat recht. Er hat eine ernsthafte Anschuldigung vorgebracht und muss gehört werden.« Sir Donnerstags Augen wurden schmal. Er glitt wie eine Schlange auf den Marschall zu. »Muss gehört werden? Ich habe Befehle erteilt, oder etwa nicht, Marschall Morgengrauen? Ich will, dass diese Pfeiferkinder getötet werden!« »Die Vorschriften besagen –« Sir Donnerstag schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte, unternahm aber keinen Versuch, sich zu verteidigen, sondern spuckte lediglich einen Zahn aus. Dann setzte sie erneut an. »Die Vorschriften besagen, dass ein Untersuchungsgericht –« Der nächste Schlag ließ sie in die Knie gehen. Doch sie stand wieder auf, und diesmal traten die beiden anderen Marschälle nach vorn, um sich neben sie zu stellen. »Sir, dies ist weder die Zeit noch der richtige –«, begann Marschall Mittag. »Befehle!«, schrie Sir Donnerstag mit überschnappender Stimme. Er drehte sich um und zeigte auf Arthur. »Ich befehle meinen Soldaten, alle Pfeiferkinder zu töten, beginnend mit diesem da! Ist denn niemand hier, der seine Pflichten kennt?« »Keiner rührt sich!«, blaffte Marschall Abenddämmerung, und seine Stimme war kalt und schneidend. »Das ist keine legale Order. Wir sind Soldaten, keine Henkersknechte.« »Ihr seid gar nichts!«, kreischte Sir Donnerstag. »Ich degradiere euch alle zu nichts! Ich werde meine Befehle selbst ausführen!« Er fuhr herum, hob sein Schwert, sodass die Spitze genau auf Arthurs Herz gerichtet war, und rannte direkt auf den Jungen zu. Arthur versuchte, sich auf den Boden zu werfen, aber er wurde zu fest gehalten. Er konnte dem Stoß nicht ausweichen. Doch die Klinge fand ihr Ziel nicht. Sir Donnerstag hatte erst einen Schritt gemacht, als die Schlange am Heft seines Schwertes unvermittelt zum Leben erwachte und sich aufbäumte. Sie bestand ganz und gar aus Wörtern, und eine Zeile, die über ihren Rücken lief, erstrahlte plötzlich silbern. Die Buchstaben wuchsen, bis sie die ganze Breite des Reptils einnahmen und schließlich ein Satz zu lesen war: Lasset dem Vermächtnis Genüge geschehen! Die Giftzähne der Schlange glänzten im silbernen Licht, und bevor Sir Donnerstag einen weiteren Schritt machen konnte, schlug sie zu; blitzschnell bohrten sich ihre Zähne in seinen Handrücken. Sir Donnerstag zuckte zusammen und verriss das Schwert, sodass die Klinge ein gutes Stück über Arthurs Kopf hinwegsauste, dem Bürger, der ihn festhielt, das Ohr abschnitt und dann tief in die Holzvertäfelung der Wand eindrang. Arthur hörte den Bürger hinter sich aufschreien und wurde losgelassen. Sir Donnerstag versuchte, die Schlange, die Teil Vier des Vermächtnisses war, von seiner Hand zu reißen. Die Marschälle zogen ihre Schwerter. Alle anderen drängten sich gegen die Wände; manche zogen die Waffe, doch die meisten sahen einfach nur verblüfft und verängstigt zu. Arthur wusste, was zu tun war. Er drehte sich um, packte das Schwert und zog es unter Aufbietung seiner letzten Kräfte aus dem Holz. Es fiel klirrend zu Boden, denn er konnte es nicht mehr halten. Arthur kniete sich daneben und umfasste den Griff. Dann sprach er mit der klarsten Stimme, zu der er noch fähig war. »Ich, Arthur, gesalbter Erbe des Königreichs, beanspruche diesen Schlüssel und mit ihm …« Sir Donnerstag heulte wütend auf, zerrte die Schlange von seinem Arm und schleuderte sie quer durchs Zimmer, entriss der kraftlosen Hand eines Stabsmajors das Schwert und stürzte, heulend wie ein wildes Tier, auf Arthur zu. Doch die Marschälle hielten ihn auf. Es bedurfte aller drei, um das fertigzubringen; ihre Klingen prallten klirrend mit seinem Schwert zusammen, während sie darum kämpften, den Rasenden unschädlich zu machen. Arthur sprach immer schneller, wobei sein Blick dem blitzschnellen Schlagabtausch der Schwerter galt. »… den Befehl über die Glorreiche Armee der Architektin und die Herrschaft über das Große Labyrinth. Ich beanspruche dies von Geburts und Erwerbs wegen, aus der Wahrheit heraus, aufgrund des Testamentes und gegen allen Widerstand.« Er spürte eine Berührung am Bein, und sein erschrockener Schrei durchbrach die Stille, die sich während seiner Rede über das Zimmer gesenkt hatte. Er blickte an sich hinab und sah die Schlange an seinem Bein hochkriechen. Die Marschälle machten sich Sir Donnerstags momentane Ablenkung zunutze und drängten ihn in eine Ecke zurück, doch weder war er entwaffnet noch besiegt. Die drei Marschälle vermochten nicht mehr, als ihn dort festzuhalten und sich vor seinen blitzschnellen Ausfällen und Hieben zu schützen. Obwohl er den Vierten Schlüssel nicht mehr hatte, war er noch immer extrem gefährlich. »Richte den Schlüssel auf ihn und befiehl ihm, strammzustehen!«, zischte das Vermächtnis. Es hatte sich schon weit um Arthurs Oberarm gewunden und reckte den rautenförmigen Kopf empor, sodass er beunruhigend dicht am Ohr des Jungen hin und her pendelte. »Ich will den Schlüssel nicht benutzen«, flüsterte Arthur. »Wie bitte!?«, zischte das Vermächtnis. »Ich weiß, dass du der Rechtmäßige Erbe bist! Das erkenne ich!« »Ja, der bin ich«, wisperte Arthur. »Aber … hören Sie, wir werden später darüber reden.« »Ihr habt also meinen Schlüssel«, rief Sir Donnerstag. Er senkte sein Schwert, doch die Marschälle unternahmen keinen Versuch, daraus Vorteil zu ziehen. »Es braucht jedoch mehr als das, um meine Armee zu kommandieren, besonders wenn der Feind vor den Toren steht. Ich nehme an, der Feind steht noch vor den Toren?« »Jawohl, Sir«, bestätigte ein Oberst unsicher. »Wir sind aber zuversichtlich, dass es dem Feind an Mut gebricht, sobald die Platten sich wieder bewegen, und –« »Die Platten werden sich nicht bewegen«, sagte Sir Donnerstag. »Wegen des Verrats hatte ich keinen Erfolg. Der Stachel wurde nicht zerstört.« Das rief Laute des Erschreckens hervor und manches Stöhnen wurde unterdrückt, es gab sogar ein oder zwei offene Ausrufe der Verzweiflung. Mehrere Offiziere wandten den Blick ab; nur wenige sahen Arthur an. Ihr Verhalten zeigte, dass die Lage ausgesprochen ernst war, und jetzt, da Arthur darauf achtete, konnte er die fernen Geräusche der Schlacht hören, wenngleich keine Kanonenschüsse zu vernehmen waren. Was entweder gut oder schlecht war, je nachdem, ob es auf den Mangel an Nichtspulver oder auf mangelnde Notwendigkeit zurückzuführen war. »Ich bin Lord Arthur, der Rechtmäßige Erbe der Architektin«, verkündete er. »Ich übernehme das Kommando. Marschälle Morgengrauen, Mittag und Abenddämmerung, ich will, dass Sie den Bürger entwaffnen und festnehmen, der vormals als Sir Donnerstag bekannt war.« »Ich kommandiere die Armee auf Befehl Lord Sonntags, übermittelt in schriftlicher Abfassung durch Erhabene Samstag«, konterte Sir Donnerstag. »Vielleicht war es vorschnell von mir, die Exekution der Pfeiferkinder zu verlangen, doch wir befinden uns im Krieg. Sicherlich ist niemand unter euch, der in Zweifel zieht, dass nur ich uns zum Sieg über die Neuen Nichtlinge führen kann. Nehmt diesen Arthur fest, und zur gegebenen Zeit können wir uns mit seinen Ansprüchen befassen und ein angemessenes Untersuchungsgericht einberufen.« »Benutze den Schlüssel!«, zischte das Vermächtnis. »Das Vermächtnis der Architektin hat mich erwählt«, sagte Arthur verzweifelt. Er hob den Arm, um die Schlange zu zeigen. »Dies ist Teil Vier ihres Vermächtnisses.« Er konnte spüren, wie die Stimmung der Bürger im Raum umschlug. Sie standen kurz davor, wieder in ihren gewohnten Gehorsam zurückzufallen. »Welches Vermächtnis?«, fragte Sir Donnerstag. Er machte einen Schritt nach vorn, und die drei Marschälle blieben mit gesenkten Waffen zurück. »Das ist nichts weiter als eine verzauberte Schlange, ein Ding aus dem Oberen Haus. Eine Verschönerung des Schlüssels. Oberst Repton, Ihr steht nahe bei ihm. Verhaftet Leutnant Grün, denn das ist er tatsächlich. Ihr seht doch, dass er den Schlüssel nicht benutzen kann, oder nicht?« »Benutze den Schlüssel!«, zischte das Vermächtnis abermals, und in seiner leisen Schlangenstimme drang Verzweiflung durch. Kapitel Sechsundzwanzig »Ich bin der Rechtmäßige Erbe«, sagte Arthur müde und resigniert. Er hob den Vierten Schlüssel. Der schrumpfte mit der Bewegung und verwandelte sich von einem Schwert in einen schlanken Marschallstab aus Elfenbein, der mit winzigen, goldenen Lorbeerblättern umwunden war. Sofort begann der Stab so grün zu leuchten wie der Mond des Großen Labyrinths. Arthur richtete ihn auf Sir Donnerstag, sodass die Spitze auf dessen Augen zeigte, die jetzt seltsam gelbstichig aussahen. »Stillgestanden!« Alle im Saal nahmen Haltung an, ausgenommen Arthur und Sir Donnerstag. Die Augen des Treuhänders wurden noch gelber; auf seiner Stirn trat eine pochende Ader hervor, während er versuchte, der Macht des Schlüssels zu widerstehen. Dann, fast unmerklich, begannen seine Stiefel über den Boden zu rutschen und trafen sich mit einem vernehmlichen Klacken der Absätze. Seine Hände legten sich an die Seitennaht, und sein Schwert hing locker herab. »Sie sind sämtlicher Dienstgrade und Privilegien entkleidet«, verkündete Arthur mit dem Nachdruck der Macht, und seine Stimme klang tiefer, fester und viel unheimlicher, als es bei einem Jungen möglich sein sollte. Sir Donnerstags Epauletten flogen weg, und seine Knöpfe sprangen ab und regneten zu Boden. Sein Schwert zerbarst in drei Stücke, und von dem Heft hielt er nichts als rostiges Pulver in der Hand. Arthur senkte den Vierten Schlüssel. »Marschall Morgengrauen, nehmen Sie mit sich, wen immer Sie brauchen, und sorgen Sie dafür, dass Sir Donnerstag irgendwo sicher eingesperrt wird. Vergewissern Sie sich, dass er nicht entkommen kann, aber stellen Sie ebenfalls sicher, dass er auch von Außenstehenden bewacht wird. Irgendjemand bringt alle ehemaligen Treuhänder um.« »Jawohl, Sir!«, bellte Morgengrauen. Sie nahm ihren Gürtel ab, um Sir Donnerstag damit die Hände zu fesseln. Er leistete keinen Widerstand, aber er warf Arthur einen finsteren Blick zu; in den tiefliegenden Augen brannte ein unverhohlener Hass. Morgengrauen bedeutete mit einer knappen Handbewegung zwei Obersten, ihr zu helfen, und gemeinsam führten sie Sir Donnerstag aus dem Zimmer. »Den wären wir glücklich losgeworden«, kommentierte das Vermächtnis. »Nun, Lord Arthur, die Lage ist ziemlich bedrohlich. Ich denke, unsere erste Maßnahme sollte darin bestehen, Sir Donnerstag vor ein korrekt konstituiertes Gericht zu stellen, damit er sich für die zahllosen Verbrechen verantworten kann, die er –« »Marschall Mittag«, sagte Arthur und hielt der Schlange mit zwei Fingern das Maul zu, »hat schon jemand versucht, mit diesen Neuen Nichtlingen zu verhandeln?« Marschall Mittag sah das frustrierte Vermächtnis an, das sich um Arthurs Arm ringelte, dann den Jungen. »Nein, Sir. Es war noch nie möglich, mit Nichtlingen zu verhandeln.« »Mein Bruder ist Soldat«, erklärte Arthur. »Offizier. Er hat mir einmal erzählt, dass jede Armee ihren aktuellen Krieg führt, wie sie den letzten geführt hat, ohne eine Lehre aus dem tatsächlichen Geschehen zu ziehen.« »Jawohl, Sir«, sagte Mittag – aber er sah verwirrt aus. »Was ich damit sagen will, ist, dass wir nicht von dem alten Typus des Nichtlings angegriffen werden. Wir haben es hier mit Neuen Nichtlingen zu tun. Alles an ihnen ist anders. Und sie werden vom Pfeifer angeführt. Wenigstens vermute ich, dass er es ist. Sir Donnerstag hat es geglaubt, und er hatte diesbezüglich keinen Anlass zu lügen. Weshalb sich mir die Frage stellt, was der Pfeifer und seine Nichtlinge eigentlich wollen.« »Uns vernichten, Sir«, sagte Mittag. »Das ist das, was Nichtlinge normalerweise wollen«, erklärte Arthur erschöpft. »Aber wie ich schon gesagt habe, alles ist anders an diesen Neuen Nichtlingen. Andernfalls befänden wir uns erst gar nicht in dieser Lage. Wobei mir einfällt, wie ist überhaupt die Lage?« »Sie ist ernst, Sir«, berichtete Mittag. »Man müsste das Schlachtfeld in Augenschein nehmen, aber auch so kann man im Wesentlichen sagen, dass die Neuen Nichtlinge rings um die Zitadelle ständig Verstärkung erhalten. Vor einer halben Stunde gab es einen Angriff, bei dem sie beinahe die äußere südwestliche Bastion erobert hätten. Unsere Feuerwellen gehen zur Neige, wir haben nur noch sehr wenig Nichtspulver, und die Garnison besitzt nicht ihre volle Stärke. Die Neuen Nichtlinge erhalten ständig Nachschub, wir jedoch nicht. Wir haben nach letzten Berichten eine Streitmacht von siebzehntausendzweihundertsechsundachtzig in der Zitadelle und ungefähr weitere zweiundsechzigtausend Soldaten in der Weißen Burg, in Fort Transformation, im Kanonen-Arsenal und in Festung Eisenzehe. Aber da sich die Platten nicht bewegen, gibt es keine Möglichkeit, rechtzeitig auf dem Marschweg Verstärkung von einem dieser Orte zu erhalten, denn sie liegen zu weit weg. Außerdem werden sie sicher selbst bedrängt, denn der Feind im Labyrinth ist zahlreich. Die uns gegenüberstehende Streitmacht ist mindestens fünfundsiebzigtausend Mann stark, und weitere Zehntausende sind im Anmarsch. Ohne tektonische Strategie können wir ihr Eintreffen nicht verhindern.« »Lord Arthur«, mischte sich die Schlange ein, da Arthur das Maul inzwischen losgelassen hatte. »Wenn die Zitadelle zu fallen droht, dann sollten wir sie verlassen und unseren Gefangenen mitnehmen, damit er der Gerechtigkeit zugeführt werden kann–« »Mund halten!«, befahl Arthur. »Was ist bloß los mit euch Vermächtnisteilen? Ihr könnt den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Außerdem, selbst wenn ich von hier fortginge – was ich nicht tun werde – gäbe es sicher keinen Weg hinaus außer über die Unwahrscheinliche Treppe, und die würde ich nicht nehmen, weil ich den Schlüssel nicht benutzen will! Ist das jetzt klar?« »Jawohl, Sir«, murmelte die Schlange kleinlaut. »Dabei fällt mir ein …« Arthur kramte in seiner Tasche, zog den Krokodilring heraus und schob ihn auf seinen Finger. Aber er traute sich nicht, ihn richtig anzusehen, und so war er froh für die Unterbrechung durch Marschall Abenddämmerung. »Entschuldigt, Sir«, sagte Abenddämmerung. Seine Uniform war dunkelgrau, hatte schwarze Epauletten und ebensolche Knöpfe. Wie allen Abenddämmerungen waren seinem Wesen die Zurückhaltung und innere Ruhe des späten Abends zu eigen. »Es gibt einen Ausweg. Ein Aufzug führt von Sir Donnerstags Arbeitszimmer hinauf ins Mittlere Haus und hinunter ins Untere Haus.« »Ein Aufzug?«, wiederholte Arthur. »Haben wir auch Telefonverbindung zum Rest des Hauses?« »Ja, Sir«, bestätigte Abenddämmerung. »Möchtet Ihr einen Anruf tätigen?« Arthur klopfte sich mit dem Vierten Schlüssel auf den Schenkel und zuckte zusammen, als es tatsächlich wehtat. Der Elfenbeinstab war viel härter, als er aussah, und die goldenen Blätter waren spitz. Sein Verstand raste, während er einen Plan auszuarbeiten versuchte. Neben der großen Frage, wie die Zitadelle zu verteidigen war, nagte auch die stete Sorge um das Wohl Susis und Freds und der übrigen Pfeiferkinder seines Stoßtrupps an ihm. Sie waren erstarrt oder gar in Statuen verwandelt worden, was den Schluss nahelegte, dass der Pfeifer sie nicht töten wollte. Er hatte sie ja schließlich auch erst ins Haus gebracht. Aber Arthur konnte sich nicht darauf verlassen, dass ihnen nichts zustieß. Dass der Pfeifer der Anführer der Neuen Nichtlinge war, stellte überhaupt das größte Rätsel dar. Soweit Arthur sich erinnern konnte, war der Pfeifer eines von drei Kindern des Alten und der Architektin und war von einer sterblichen Leihmutter geboren worden. Aber mehr als das wusste er auch nicht. Warum sollte der Pfeifer eine Armee von Fast-Bürgern gegen das Haus führen? Sein älterer Bruder war doch Lord Sonntag, oder nicht? »In Ordnung«, sagte er schließlich. Er zögerte, als ihn alle respektvoll anblickten und er die Erwartung in den Gesichtern sah. »Wie groß ist Sir Donnerstags Aufzug? Es ist hoffentlich kein so albern kleiner wie der in Fort Transformation, oder?« »Ich glaube, er ist von variabler Größe«, antwortete Abenddämmerung. »Bei größter Ausdehnung etwa so groß wie dieses Zimmer.« »Wie lange würde es von hier bis ins Untere Haus oder umgekehrt dauern?«, wollte Arthur wissen. »Das hängt von den Aufzugführern und den örtlichen Behörden ab. Minuten, Stunden, Tage … ich kann es nicht sagen.« »Natürlich«, brummte Arthur in sich hinein. »Dann hoffe ich nur, dass es sich um Minuten handeln wird. Ich will versuchen, mit den Neuen Nichtlingen zu verhandeln. Mein Bruder, der Soldat, hat mir auch erzählt, dass es immer am besten ist, in der Position der Stärke zu verhandeln. Deshalb werde ich das Untere Haus, die Fernen Weiten und die Grenzsee anrufen, damit sie so viele Portiers, ehemalige Aufseher, Mitternächtliche Besucher, Seeleute und so weiter durch den Aufzug schicken, wie sie zusammentrommeln können, mit Montags, Dienstags und Mittwochs Morgengrauen, Mittagen und Abenddämmerungen und so viel Nichtspulver, wie sie auftreiben können.« »Zivilisten«, sagte Mittag in herabsetzendem Ton. »Das Pulver allerdings wäre nützlich.« »Sie haben alle Erfahrung darin, unterschiedlichste Nichtlingsarten zu bekämpfen«, rief Arthur ihm ins Gedächtnis. »Außerdem wette ich, dass die meisten ihre Zeit in der Armee abgeleistet haben und Reservisten sind.« »Reservisten sind wenig besser als Zivilisten«, meinte Mittag naserümpfend. »Sie wieder in unsere Streitkräfte einzugliedern ist nicht leicht. Darüber hinaus glaube ich, dass nicht einmal Ihr die Autorität habt, die Reserve einzuberufen. Das ist eine Aufgabe des Oberen Hauses, Sir.« »Unter den gegenwärtigen Umständen werden wir jede Verstärkung nehmen, die wir kriegen können, und außerordentlich dankbar dafür sein«, schaltete sich Abenddämmerung ein. Er warf Mittag einen spitzen Blick zu, dem dieser auswich. »Und Sir Arthur beruft die Reserve nicht ein. Er zieht nur … Freiwillige zusammen.« »Die besser willkommen geheißen werden sollten«, mahnte Arthur. Manchmal drohte ihn der Mangel an gesundem Menschenverstand bei den Bürgern in den Wahnsinn zu treiben. »Wo ist das Telefon?« Ein Hauptmann eilte durch den Raum, in den Händen ein Köfferchen aus Weidengeflecht, in dem man normalerweise eine Picknickausrüstung vermutet hätte. Als er es öffnete, kam allerdings ein Telefonhörer auf einer Gabel zum Vorschein. Arthur nahm den Hörer ab, und der Hauptmann begann, eine kleine Kurbel an der Seite des Köfferchens zu drehen. »Kann ich Euch helfen?«, erkundigte sich eine knackende Stimme, die sich sehr weit weg anhörte. »Verbinden Sie mich mit Dame Primus«, befahl Arthur. »Sie nimmt keine Anrufe entgegen«, erwiderte die Stimme. »Ich habe erst vor kurzem einen für sie gehabt.« »Hier spricht Lord Arthur, Rechtmäßiger Erbe der Architektin. Und es ist dringend, bitte.« »Wie war das?« »Ich sagte, hier spricht Lord Arthur –« »Nein, nicht das – was habt Ihr zum Schluss gesagt?« »Bitte«, wiederholte Arthur. »Sehen Sie, es ist wirklich dringend.« »Ich stelle Euch sofort durch, Sir«, verkündete die Stimme. Arthur hörte, wie sie vom Hörer abgewandt zu sich selbst sagte: »Er hat ›bitte‹ gesagt, und dabei steht er höher als diese ganzen ungehobelten feinen Pinkel.« Das Knacken wurde etwas lauter, dann hörte Arthur eine Stimme, die er als die Niesers erkannte. »Montags Tagraum. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Nieser, ich bin’s, Arthur. Geben Sie mir bitte sofort Dame Primus!« »Sehr wohl, Sir.« »Lord Arthur?« Die Schlange an Arthurs Arm zuckte zusammen, als Dame Primus’ Stimme erschallte. Wieder einmal fragte er sich, warum alle hochrangigen Bürger das am Telefon machten. Wahrscheinlich nur, um wichtig zu klingen. »Ja. Ich habe nicht viel Zeit, hören Sie also genau zu! Ich will jeden verfügbaren Portiersfeldwebel, Metallportier, Mitternächtlichen Besucher, die ehemaligen Aufseher aus den Fernen Weiten, die regulären Matrosen und all unsere hochrangigen Bürger so schnell wie möglich mit so viel Nichtspulver wie möglich hier in der Zitadelle im Großen Labyrinth sehen! Oh, und Doktor Scamandros und auch sonst jeden, der in einer Schlacht von Nutzen sein könnte, einschließlich Sie selbst. Im Unteren Haus wird ein Aufzug bereitstehen. Irgendwelche Fragen?« »Allerdings, Lord Arthur, ich habe zahlreiche Fragen«, sagte Dame Primus mit nörgeliger Stimme. »Was geht da vor? Planst du, Lord Donnerstag zu bekämpfen? Das wäre kein vernünftiges Verhalten. Selbst mit all unseren Kräften wären wir kein ebenbürtiger Gegner für die Armee –« »Ich habe den Schlüssel, und Teil Vier ist frei«, fiel Arthur ihr ins Wort. »Sir Donnerstag ist inhaftiert –« »Und wird gerichtet werden!«, platzte die Schlange heraus. »– und wir stehen kurz davor, von einer gewaltigen Armee Neuer Nichtlinge angegriffen zu werden, die vom Pfeifer angeführt wird. Würden Sie sich also bitte beeilen?« »Gewiss«, antwortete Dame Primus in ziemlich verändertem Ton. »Es soll sein, wie du sagst, Lord Arthur. Ich weiß nicht, wie schnell wir kommen können, aber wir werden unser Bestes tun.« »Das wäre also geregelt«, meinte Arthur, als er den Hörer auflegte. »Wir wollen einen Blick aufs Schlachtfeld werfen, und während wir das tun, soll jemand eine große, weiße Fahne organisieren. Und einen Ölzweig. Das könnten Sie erledigen, Marschall Mittag. Marschall Abenddämmerung, gehen Sie voraus!« Während sie sich zur Tür begaben, warf Arthur einen verstohlenen Blick auf seinen Krokodilring. Er brauchte keine Lupe, um zu sehen, dass das Gold die vierte Markierung überzogen und ein Drittel des Weges zur fünften zurückgelegt hatte. Kapitel Siebenundzwanzig Hoch oben auf den Zinnen des Sternforts konnte man leichter erkennen, in wie großen Schwierigkeiten die Zitadelle und alle, die hinter ihren Mauern Schutz suchten, tatsächlich steckten. Jenseits der westlichen Bastionen erstreckte sich ein etwa dreihundert Meter breiter Streifen geschwärzten, aufgewühlten Niemandslandes. Dahinter waren in einem komplexen Muster zahlreiche diagonal verlaufende Gräben ausgehoben, die meilenweit nach Westen, Norden und Süden führten. Darin hockten die Neuen Nichtlinge mit ihren Belagerungsgerätschaften, darunter auch Sturmleitern, Faschinenbündel zum Füllen von Gräben, Sturmböcke und zahlreiche große Sturmdächer, die beim Angriff vor Pfeilen und Musketenkugeln schützen sollten. »So sehen also fünfundsiebzigtausend Neue Nichtlinge aus«, stellte Arthur fest und bemühte sich, unbekümmert zu klingen. Doch das fiel ihm schwer, denn es waren so viele Feinde, und sie wirkten so durch und durch gut organisiert, angefangen bei den Gräben bis hin zu der Art und Weise, wie die Einheiten formiert und mit eigenen, farbenprächtigen Bannern ausgestattet waren, die von der Nachmittagssonne angestrahlt über ihnen im Wind flatterten. »Sieht eher nach neunzigtausend aus«, bemerkte Abenddämmerung und blickte auf den Streifen Pergament in seiner Hand. »Die Grenzer melden, dass soeben eine weitere Kolonne eingetroffen ist. Dort in der Ferne – man kann den Staub sehen, den sie aufwirbeln.« Arthur blickte in die angedeutete Richtung. »Wie weit weg ist das?« »Vier Meilen«, meinte Abenddämmerung. »Ab den festen Platten. Im Normalfall würden sie bei Sonnenuntergang weit forttransportiert werden.« Arthur sagte nichts, doch jeder blickte auf die heruntertorkelnde Sonne und ließ sein unausgesprochenes Bedauern spüren, dass die Mission, bei der der Stachel hatte zerstört werden sollen, gescheitert war. »Sie bereiten sich auf einen erneuten Angriff vor«, stellte ein Oberst an Abenddämmerungs Seite fest. »Das ist ungewöhnlich«, sagte dieser. »Ihr letzter Versuch ist doch gerade erst gescheitert. Normalerweise warten sie ein oder zwei Tage, um ihre Kräfte zu sammeln. Ich frage mich, warum sie es jetzt so eilig haben?« »Sie waren nahe daran, die südwestliche Eckbastion einzunehmen«, antwortete der Oberst. »Vielleicht denken sie, ein schneller Angriff könnte diese Aufgabe zu Ende bringen.« »Ich sollte mich besser um die Verteidigung kümmern, Sir«, erklärte Abenddämmerung. »Falls mir der Vorschlag gestattet ist, Sir, es wäre klug, auch Marschall Mittag dorthin zu schicken. Er ist ein gewaltiger Kämpfer und immer in der Lage, den Truppen neuen Mut einzuflößen.« »Wir werden alle gehen«, beschloss Arthur. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die plötzlich trocken geworden waren. Nur der Wind, dachte er. »Ich werde mit der Parlamentärsflagge nach draußen gehen«, sagte er laut. »Ich nehme nicht an, dass der Pfeifer dort sein wird … andererseits vermute ich, dass auch er die Unwahrscheinliche Treppe benutzen kann … also ist er vielleicht doch da …« Arthur hielt einen Moment inne und dachte nach, bevor er weitersprach. »Ich werde nach ihm fragen. Falls er nicht da ist und sie bereit sind, mit uns zu reden, werden wir etwas Zeit gewinnen. Wenn er da ist, werde ich versuchen, die Verhandlungen so sehr wie möglich in die Länge zu ziehen, um Dame Primus Zeit zu verschaffen, die Verstärkungen hierherzubringen.« Ich kann nur beten, dass sie nicht so langsam und bürokratisch wie sonst handelt, dachte Arthur und hoffte, dass ihm seine Zweifel nicht anzusehen waren. »Sie werden schlichtweg versuchen, Euch zu töten«, warnte Marschall Abenddämmerung. »Der Schlüssel wird Euch in einem gewissen Umfang beschützen, doch wir kennen das Ausmaß ihrer auf Nichts basierenden Zauberei und Kräfte nicht. Und der Pfeifer … ich weiß nur wenig über ihn, aber er stand schon immer in dem Ruf, ein äußerst mächtiger und ungewöhnlicher Zauberer zu sein.« »Wann haben Sie zuletzt von ihm gehört?«, wollte Arthur wissen. »Wir schenken dem Geschehen anderswo im Haus oder in den Sekundären Reichen nicht viel Aufmerksamkeit«, erklärte Abenddämmerung. »Aber natürlich bringen neue Rekruten neue Gerüchte mit, und von ihren Angehörigen und Bekannten zu Hause treffen Briefe ein. Jetzt, da ich darüber nachdenke, glaube ich, dass mir seit mindestens mehreren Hundert Jahren nichts mehr vom Pfeifer und seinen Taten zu Ohren gekommen ist.« »Und jetzt kommt der Pfeifer zurück, scheinbar aus heiterem Himmel und mit einer Armee von Neuen Nichtlingen im Gefolge.« »Mit Eurer Erlaubnis, Sir, werde ich persönlich Eure Leibwache auswählen und anführen.« Arthur schüttelte den Kopf und zeigte nach unten. »Ich werde allein gehen. In die Mitte der feuerwellenverbrannten Zone dort, zwischen diesen beiden Bastionen. Sie können mir von hier aus Deckung geben. Wenn zu viele auf mich zukommen, werde ich mich zurückziehen. Aber ich hoffe, wenn sie die weiße Fahne sehen, werden sie nur einen einzigen Boten schicken. Sie sind sehr militärisch … ich denke, sie werden das Richtige tun.« »Es sind gute Soldaten«, sagte Abenddämmerung langsam, als ob es ihm schwerfiel, das laut auszusprechen. »Vielleicht werden sie einen Herold schicken. Aber für den Fall, dass sie es nicht tun … wir haben eine Kompanie der Horde hier, Sir. Deshalb, Eure Erlaubnis erneut vorausgesetzt, werde ich veranlassen, dass sie sich bei der südwestlichen Ausfallpforte bereithält. Falls eine Rettungsaktion nötig ist.« »Natürlich«, stimmte Arthur zu. »Aber niemand unternimmt etwas, bis ich ein deutliches Zeichen gebe oder buchstäblich angegriffen oder weggeschleppt werde. Ich will nicht, dass alles aus dem Ruder läuft, nur weil jemand den Herold erschießt oder etwas Ähnliches.« Er zögerte, dann fuhr er fort. »Sie sollten auch Soldaten abstellen, um ein Auge auf die Pfeiferkinder zu haben. Der Pfeifer kann möglicherweise ihre Handlungen beeinflussen. Ich will aber nicht, dass eins von ihnen eingesperrt oder verletzt wird oder dergleichen. Sie dürfen weiterhin ihren Pflichten nachgehen. Sie sollen nur beobachtet werden, und wenn sie sich eigenartig benehmen, kann man sie immer noch einschließen. Aber keins wird verletzt, verstanden?« »Jawohl, Sir«, bestätigte Abenddämmerung. »Da ist Marschall Mittag mit der Parlamentärsflagge.« Mittag stampfte mürrisch auf die Brüstung hinaus, einen Stock mit einer zusammengerollten weißen Fahne in der Hand. »Danke sehr, Marschall.« Arthur fühlte sich schuldig, weil er den Marschall nach der weißen Fahne geschickt hatte, und das nur, weil der Bürger ihn geärgert hatte. Seine Eltern wären angesichts dieses Machtmissbrauchs entsetzt gewesen. Wenn er nicht aufpasste, sagte sich Arthur, würde er sich nicht nur in einen Bürger verwandeln – er würde sich in einen Sir Donnerstag verwandeln. »Ich hätte einen rangjüngeren Offizier schicken sollen. Ich entschuldige mich dafür.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Mittag steif. »Habt Ihr noch weitere Befehle, Sir?« »Ich will, dass Sie persönlich die Leitung der Verteidigung der äußeren Bastionen übernehmen«, erklärte Arthur. »Ich werde versuchen, Zeit zu gewinnen, indem ich die Gespräche in die Länge ziehe, aber vielleicht klappt das nicht, und offensichtlich bereiten sich die Neuen Nichtlinge schon wieder auf einen Angriff vor.« Mittag blickte über die Zinnen der Brustwehr. »Binnen einer Stunde, würde ich sagen«, schätzte er. »Bei Sonnenuntergang.« »Ich nehme an, ich sollte mir etwas Imponierenderes anziehen«, überlegte Arthur laut. Er sah an seinem staubigen Kürass herab und bedachte die unordentliche und stellenweise zerrissene Uniform mit einem kritischen Blick. »Du trägst den Schlüssel, und der Vierte Teil des Vermächtnisses ruht auf deinem Arm«, erinnerte ihn die Schlange. »Es bedarf keiner weiteren Zierde, um deine Autorität kundzutun. Und nun, Lord Arthur, denke ich, dass du zehn Minuten Zeit finden wirst, um zu Gericht zu sitzen und Sir Donnerstag zur Verantwortung –« »Hören Sie bitte endlich auf, über eine Gerichtsverhandlung für Sir Donnerstag zu faseln!«, rief Arthur erbost. »Ich habe genug andere Sorgen!« »Wenn der Gerechtigkeit Genüge geschehen muss«, verwahrte sich das Vermächtnis pikiert, »dann sollte das nach meiner Erfahrung schnell und deutlich geschehen.« Arthur hörte nicht mehr hin. Einer der Offiziere hatte beiläufig eine Bleikugel oder einen kleinen Stein aufgehoben und warf ihn über die Mauer. Die Fallkurve jedoch machte Arthur stutzig; er fragte sich plötzlich, ob er die Schachtel mit der Hemdtasche weit genug geworfen und tatsächlich ins Nichts befördert hatte. Wenn sie zu kurz gefallen war, was ihm mittlerweile nur zu wahrscheinlich vorkam, dann würde er versuchen müssen, sie vom Pfeifer zurückzubekommen, um sie endgültig zu zerstören. »Sir Donnerstag wird vor Gericht gestellt werden«, versicherte er und konzentrierte sich wieder auf das Nächstliegende. »Er hat Feinalt und Jazebeth ermordet. Aber im Moment haben wir dafür keine Zeit. Lasst uns zu den äußeren Bastionen hinuntergehen. Marschall Mittag, würden Sie bitte vorangehen?« Wie bei Arthurs Ankunft in der Zitadelle führte der Weg auch jetzt über eine verwirrende Vielzahl von Tunneln, Toren, Verbindungsstegen und Wachhäuschen. Diesmal war es jedoch anders. In einem fort wurde vor ihm salutiert, und sein Arm erlahmte allmählich vom ständigen Heben des Marschallstabs. Die Marschälle sprachen die Soldaten mit Namen an, ermutigten sie und gratulierten ihnen zu den großen Leistungen, die sie während der Belagerung bereits vollbracht hatten. Arthur konnte es ihnen nicht gleichtun; jedes Mal, wenn er ihre Moral heben wollte, kamen ihm die geplanten Worte unaufrichtig vor. Also schwieg er, schritt in der Mitte der Marschälle und anderen Offiziere und war dennoch seltsam allein; jedermann hielt respektvoll Abstand, gleich wie eng die Wege waren. Er kam sich noch einsamer vor, als eine kleine Ausfallpforte geöffnet wurde und ein Feldwebel ihm den Stock mit der entrollten weißen Fahne reichte. Sie war riesig und hätte ohne Weiteres ein Laken für ein großes Doppelbett abgegeben, doch Arthur stellte fest, dass er sie wie eine Pike tragen konnte, indem er den Stock auf der Schulter balancierte. »Viel Glück, Sir«, wünschte der Feldwebel, als er Arthur durch die Pforte hinausließ. »Viel Glück, Sir«, wünschten auch Marschall Abenddämmerung und das Dutzend Stabsoffiziere, die nichts weiter zu tun schienen, als höherrangigen Offizieren nachzulaufen. Arthur machte einen Schritt auf die verbrannte Erde und hob die Flagge. Hinter ihm schloss sich die Ausfallpforte. Nach ein paar Schritten blickte er zurück nach oben. Die Zinnen der Bastion ragten fünfzehn Meter über ihm empor, und durch die Schießscharten beobachteten ihn die Soldaten. Arthur richtete sein Augenmerk wieder auf die feindlichen Linien und ging weiter über die von Feuerwellen verwüstete Fläche, die zwischen der Bastion und den vordersten Gräben des Feindes lag. »Ich hoffe, das klappt«, zischte das Vermächtnis. »Das ist eine tollkühne Aktion von dir, Lord Arthur. Ich vermute, dass die ersten drei Teile des Vermächtnisses dir nicht die guten Ratgeber gewesen sind, die sie hätten sein sollen. Wahrscheinlich sind sie aus dem Gleichgewicht geraten, weil sie nur drei von sieben Teilen sind. Mit der Hinzufügung meiner selbst werden wir zu viert sein, sodass die Karten ein wenig besser verteilt sind.« »Ich will, dass Sie still sind, falls es zu einem Treffen mit den neuen Nichtlingen kommt«, erklärte Arthur. »Ich will keine Unterbrechungen. Und bitte greifen Sie auch niemanden an; das Letzte, was wir gebrauchen können, ist ein vergifteter Bote.« »Ich kann wahlweise giftig sein oder nicht«, teilte ihm das Vermächtnis mit, »je nach Erfordernis der Situation. Ich habe sogar die Wahl bei der Art meines Giftes.« »Nun, dann sparen Sie Ihr Gift, bis ich etwas anderes befehle«, sagte Arthur energisch. Er sah an seiner Fahnenstange entlang. Ein Ölzweig war nicht aufzutreiben gewesen, aber auch die weiße Flagge allein müsste eigentlich eine unmissverständliche Bitte um Waffenruhe und Verhandlungen sein, dachte Arthur. Er hatte halb befürchtet, das Niemandsland könne eine grauenhafte Fundstätte toter Nichtlinge sein, doch waren keine Leichen, ja nicht einmal Blutspuren zu sehen. Nur eine feine, graue Asche, die zentimeterdick den Boden bedeckte und unter jedem Schritt aufstob, den er auf die Gräben zuging. Als er etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, fand Arthur einen Flecken aufgelockerter Erde, wo wahrscheinlich im frühen Stadium der Belagerung eine Kanonenkugel eingeschlagen war, und steckte den Stab dort in den Boden. Dann stellte er sich unter die Fahne und wartete. Er konnte die vordere Grabenreihe ganz genau erkennen und auch die Köpfe der Neuen Nichtlinge, die ihn aufmerksam beobachteten. Soweit ihm bekannt war, benutzten seine Gegenüber keine Musketen oder sonstige weit reichenden Waffen, dennoch kribbelte seine Haut vor Anspannung, als ob jeden Moment ein Schuss fallen oder ein Pfeil die Sehne verlassen könnte. Eine ganze Weile lang geschah gar nichts. Die Sonne zog ihre Bahn am Horizont und sank tiefer. Arthur fing sogar an, sich zu langweilen, was ihn überraschte. Die Neuen Nichtlinge liefen in den Gräben hin und her, trugen Leitern und anderes Kriegsgerät und schoben weiter hinten größere Belagerungsmaschinen. Aber keiner machte Anstalten, seinen Graben zu verlassen und auf ihn zuzukommen. Arthur hätte es beinahe verpasst, als sich schließlich etwas tat. Das Muster der Nichtlingsbewegungen veränderte sich, und jegliches Hantieren mit großem Gerät hörte auf. Auch wurde es viel stiller. Eine große Gestalt kletterte aus dem vordersten Graben und schritt auf Arthur zu. Ein bürgergroßer Bote in einem bauschigen gelben Armeemantel mit Napoleonhut und Stahlmaske. Er führte keine sichtbare Waffe mit sich, aber der Armeemantel konnte nahezu alles verbergen, und wahrscheinlich hatte er eine Pfeife dabei. Die Bote kam bis auf zwei Meter an Arthur heran und blieb stehen. Dann bedachte er ihn mit einem flüchtigen militärischen Gruß. Ohne nachzudenken, erwiderte Arthur hackenknallend und nahm Habtachtstellung ein. »Ihr seid höflich«, stellte der Pfeifer fest. Seine Stimme war hell und irgendwie eigenartig und ließ Arthur etwas verträumt dastehen. Er verstand nicht, wie es geschah, aber er verspürte das überwältigende Bedürfnis, dem Pfeifer in allem zuzustimmen. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, und umfasste den Vierten Schlüssel fester. »Ich sehe, dass Ihr geschützt seid«, sagte der Pfeifer. Seine Stimme klang noch genauso, doch hatte sie nicht mehr dieselbe Wirkung. »Ich nehme an, das war zu erwarten.« »Warum sind Sie hier?«, fragte Arthur barsch. Im Vergleich zu dem Wohlklang des Pfeifers krächzte er wie ein Rabe. »Ich meine, warum greifen Sie die Armee an?« »Sollten wir uns nicht zuerst einmal miteinander bekannt machen?«, schlug der Pfeifer vor. »Obwohl mir mittlerweile berichtet worden ist, wer Ihr zu sein behauptet. Man nennt mich den Pfeifer, und ich bin der Sohn der Architektin und des Alten. Ich bin der Rechtmäßige Erbe des Hauses.« Kapitel Achtundzwanzig »Oh«, sagte Arthur. »Ah, das ist jetzt aber ein bisschen vertrackt. Sehen Sie, ich bin Arthur Penhaligon, und obwohl ich mich nicht darum gerissen habe, bin ich der Herrscher des Unteren Hauses und der Fernen Weiten, der Herzog der Grenzsee und der Oberbefehlshaber und Oberherr des Großen Labyrinths, und all das, weil das Vermächtnis Ihrer Mama … das Vermächtnis der Architektin mich als Rechtmäßigen Erben erwählt hat.« »Das Vermächtnis hat Euch ausgewählt, weil ich zu der Zeit nicht verfügbar war«, erwiderte der Pfeifer. »Das ist bedauerlich, kann aber leicht korrigiert werden.« »Aha«, sagte Arthur. »Und wo sind Sie gewesen?« »Ich war im Nichts«, sagte der Pfeifer und klang ein wenig verbittert. »In das mich vor siebenhundert Jahren mein abtrünniger Bruder Lord Sonntag geworfen hat.« »Im Nichts? Hätte Sie das nicht –« »Zersetzen müssen?«, ergänzte der Pfeifer Arthurs Satz. »Nur wenig ist von meinem leiblichen Fleisch noch übrig. Doch ich bin der Sohn der Architektin. Selbst als das Nichts mein Fleisch und meine Knochen fraß, formte ich das Nichts. Ich erschuf mir einen Ort, ein kleines Weltchen, wo ich mich erholen konnte, und dort lag ich die ersten hundert Jahre und erlangte meine Stärke wieder. In meinem zweiten Jahrhundert vergrößerte ich das Weltchen. Ich erschuf Diener, die sich um mich kümmerten, und begann, Verbindungen zum Haus zu knüpfen. In den dritten hundert Jahren fing ich an, eine Armee aufzubauen, nicht aus geistlosen Nichtlingen, sondern aus meinen Neuen Bürgern. Besseren, als Mutter gemacht hat. Sie sind mehr wie Sterbliche. Schlauer und anpassungsfähig. Mehr in Einklang mit der Vision meines Vaters. Im vierten Jahrhundert machte ich den Stachel, und im fünften begann ich zu planen, wie ich das Haus durch das Große Labyrinth betreten würde –« Er hielt inne und schöpfte Atem. »Aber wir sind nicht hier, um über meine Vergangenheit, sondern über meine Zukunft zu reden. Bis vor kurzem wollte ich noch nicht glauben, dass mein Teil des Vermächtnisses meiner Mutter befreit worden ist, Arthur, bis meine Ratten schließlich die Neuigkeit bestätigt haben. Jedoch bin ich nicht unerfreut über Eure Fortschritte. Ihr müsst mir nur einfach die Schlüssel übergeben, und ich werde meinen Feldzug gegen meinen verräterischen Bruder und seinen Lakaien Samstag fortführen. Ihr dürft auf Eure eigene Welt in den Sekundären Reichen zurückkehren und das Leben leben, das Euch zusteht – ich glaube, das ist auch in Eurem Sinne.« Arthur machte den Mund auf und dann wieder zu. Er wusste nicht, was er sagen oder denken sollte. Man bot ihm an, ihn von der schrecklichen Verantwortung, die ihm aufgebürdet worden war, zu befreien. »So einfach ist das nicht«, zischte eine Stimme neben seinem Ellbogen. »Und was, sagt an, habt Ihr damit zu tun?«, wollte der Pfeifer wissen und beugte sich mit seiner Metallmaske dicht zum Kopf der Schlange hinunter, so dicht, dass er die wirbelnden Reihen der Buchstaben erkennen konnte, die die Illusion von Schlangenhaut erzeugten. »Ich bin Teil Vier des Vermächtnisses der Architektin, wie Ihr sehr wohl wisst«, erwiderte die Schlange. »Und Arthur ist der Rechtmäßige Erbe. Er kann Euch nicht einfach die Schlüssel geben, denn Ihr seid nicht der Rechtmäßige Erbe.« »Ich bin der Erbe durch das Recht der Abstammung und der Erbfolge!« »Wenn es nur darauf ankäme, dann wäre Sonntag der Erbe«, meinte das Vermächtnis. »Er ist der Älteste.« »Ich habe bewiesen, dass ich Ihr Erbe bin«, erklärte der Pfeifer. Er breitete die Arme weit aus und bezog das gesamte Heer der Neuen Nichtlinge in diese Geste ein. »Schaut, was ich aus dem Nichts geschaffen habe!« »Sehr beeindruckend, aber unwesentlich«, stellte die Schlange fest. »Arthur ist der Rechtmäßige Erbe. Jetzt, da er den Vierten Schlüssel besitzt und Oberbefehlshaber ist, rebelliert Ihr nicht mehr gegen den Verräter Sonntag, sondern gegen die legitime Autorität des Hauses. Was Euch nun selbst zum Verräter macht, wenngleich Eure Loyalität ohnehin nicht immer so deutlich erkennbar war, wie man es sich gewünscht hätte.« »Euer Ton ist allzu sehr vertraut«, bemerkte der Pfeifer. Er klang weniger verärgert als vielmehr verwirrt. »Wer seid Ihr, dass Ihr meine Loyalität in Frage stellt?« »Ihr seid ebenso sehr Eures Vaters wie Eurer Mutter Sohn«, sagte die Schlange. Sie entringelte sich und reckte sich bis über Arthurs Kopf. »Ihr habt nie danach getrachtet, selbst das Vermächtnis zu befreien, bis Ihr Euch vor nicht allzu langer Zeit, wie sie im Haus gemessen wird, mit Eurem Bruder überworfen habt. Liege ich falsch, wenn ich annehme, dass Sonntag Euch ins Nichts geworfen hat, weil Ihr wieder einmal versucht habt, entgegen seinen Wünschen den Alten zu befreien?« »Das ist nicht von Belang«, wiegelte der Pfeifer ab. »Arthur, entweder Ihr gebt mir die Schlüssel, beginnend mit dem Vierten, den Ihr bei Euch führt, oder ich werde sie mir von Euch oder wer sie auch haben mag holen.« »Was werden Sie tun, wenn … falls Sie sie bekommen?«, fragte Arthur. »Ich werde das Haus regieren.« »Ich meine, werden Sie wieder alles regeln und Ordnung schaffen, sodass das Haus die Sekundären Reiche nur beobachtet und Aufzeichnungen darüber anfertigt und sich nicht einmischt?« »Es ist keine Einmischung, wenn man einen Baum beschneidet, der krumm gewachsen ist«, erklärte der Pfeifer. »Meine Mutter war diesbezüglich verwirrt. Im Wesentlichen wollte sie nicht, dass andere sich in das einmischten, was sie geschaffen hatte, aber sie selbst mischte sich in den Reichen ein, wann immer sie gerade Lust dazu hatte. So wie ich es tun werde.« Arthur schüttelte den Kopf. »All das Leben dort draußen ist Ihnen völlig gleichgültig, nicht wahr? All die Sterblichen. Wir sind doch nur das Endprodukt des großen Experimentes der Architektin.« »Nein«, widersprach der Pfeifer. »So denkt mein Bruder Sonntag. Ich denke nicht so. Ich liebe meine Sterblichen, die Kinder, die ich hergebracht habe, um das Haus interessanter zu machen, und die Ratten, die mir als Spione dienen. Ich habe meine Neuen Bürger nach ihrem Vorbild erschaffen. Vielleicht ist mir die Ähnlichkeit zu gut gelungen, denn sie wären lieber Bauern oder Handwerker, obwohl sie exzellente Soldaten sind und danach streben, mir gut zu dienen. Nun, genug geredet! Wie ist Eure Entscheidung, Arthur? Ich muss Euch vorher sagen, dass, solltet Ihr mein großzügiges Angebot ablehnen, wir attackieren werden, sobald wir beide dieses Aschenfeld verlassen haben.« »Was ist mit den Pfeiferkindern geschehen, die bei unserem Angriff auf den Stachel bei mir waren?«, wollte Arthur wissen. »Zwei wurden von Sir Donnerstag ermordet, ich konnte ihnen nicht mehr helfen. Die übrigen dienen mir jetzt, so wie es sich geziemt.« »Aus freien Stücken?« »Sie existieren, um mir zu dienen«, erwiderte der Pfeifer. »Das ist ihr Daseinsgrund.« Arthur sah auf seinen Marschallstab hinab. Er konnte die Macht des Vierten Schlüssels spüren: eine ununterbrochene Vibration und eine Wärme, die sich herrlich anfühlte. Ich frage mich, ob ich von den Schlüsseln abhängig werde, dachte er. Ich frage mich, ob ich nicht einen wirklich großen Fehler begehe. Einen mit unerhörten Konsequenzen für alle, für die Bürger hier im Haus und die Milliarden von Menschen und Außerirdischen und das Leben in den Sekundären Reichen … »Ich würde nur zu gerne mit Ihnen zusammen gegen Lord Sonntag vorgehen«, sagte Arthur langsam. »Und ich bin sicher, dass wir Ihrer Armee Teile des Großen Labyrinths als Weide- oder Ackerland überlassen könnten. Es gibt sogar schon fertige Dörfer, in denen sie sich niederlassen könnten. Aber ich kann Ihnen die Schlüssel nicht geben. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich bin der Rechtmäßige Erbe, und ich glaube, ich muss meinen Weg weitergehen. Um alles wieder in Ordnung zu bringen. Um das Universum wieder sich selbst zu überlassen, ohne … ohne dass Leute wie Sie … mit unser aller Leben herumspielen.« »Das war es dann also«, sagte der Pfeifer. »Ich werde bei Eurem Begräbnis aufspielen, Arthur. Ihr verdient es nicht anders, denn es fehlt Euch an Weisheit. Es wird schon bald sein, fürchte ich, denn die Zitadelle wird sich nicht lange halten können gegen die Macht, die ich –« Arthur konnte später nicht mehr genau sagen, was dann geschah. Entweder spie das Vermächtnis Gift in die Mundöffnung der Maske oder es stieß so schnell zu, dass die Bewegung wie ein Giftstrahl aussah. Was es auch war, der Pfeifer taumelte und stieß vor Schmerz und Zorn einen Schrei aus, der Arthur wie Feuer in den Ohren brannte, selbst nachdem er sich schützend die Hände darauf presste. Der Junge raste zurück zur Bastion. Hinter ihm setzten die großen Kesselpauken des Gegners mit harten Trommelschlägen ein, und Zehntausende Neuer Nichtlinge schrien ihre Empörung ob des Verrats heraus und machten neuen Lärm wie ein Gewittersturm, nur noch viel Furcht einflößender. Arthur sprintete zur Ausfallpforte und durch die offen stehende Tür, die hinter ihm zugeworfen und mit sechs starken Riegeln verschlossen wurde; anschließend wurde ein gewaltiger Stein davorgerollt und mit Ketten verankert. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen nichts unternehmen!«, schrie Arthur das Vermächtnis an, das sich wieder um seinen Unterarm geringelt hatte und den Kopf gesenkt hielt. »Das war ehrlos und töricht! Die Neuen Nichtlinge werden Amok laufen!« »Du hast mir nur gesagt, niemandem einen Giftbiss zuzufügen«, verteidigte sich das Vermächtnis. »Das habe ich auch nicht getan. Es war Säure. Unglücklicherweise wird das den Pfeifer nur etwa einen Tag lang außer Gefecht setzen, allerhöchstens. Falls ich seinen Mund getroffen habe. Falls er noch einen Mund hat.« Schritte und Rüstungsgeklapper kündigten das Eintreffen von Marschall Abenddämmerung und seiner Entourage an. »Was ist geschehen, Sir Arthur?«, erkundigte sich Abenddämmerung. »Wir konnten es nicht genau erkennen, aber der Angriff hat jedenfalls begonnen!« »Das Vermächtnis hat den Pfeifer mit Säure bespuckt«, erklärte Arthur verbittert, »aus irgendeinem unehrenhaften Grund, den nur es alleine kennt.« »Der Pfeifer ist ein Verräter am Rechtmäßigen Erben«, verteidigte sich die Schlange. »Und ein sehr mächtiger Feind, der einen Tag lang nicht gegen uns ins Feld rücken wird. Außerdem waren die Unterhandlungen beendet.« »Machen Sie sich von meinem Arm runter«, befahl Arthur kalt. »Und gehen Sie mir aus den Augen!« »Wie du wünschst«, erwiderte das Vermächtnis. Es glitt von Arthurs Arm und schlängelte sich über den Boden davon, bis es schließlich in einer Lücke zwischen den Steinen verschwand. »Ist schon irgendwelche Unterstützung aus dem Unteren Haus eingetroffen?«, fragte Arthur, während man ihn zurück durch die äußeren Befestigungen führte. Selbst durch die vielen dicken Steinmauern, die sich jetzt zwischen ihm und dem Feind befanden, konnte er die Trommeln und Schreie hören. »Bis jetzt noch nicht, Sir«, verneinte Marschall Abenddämmerung. »Von wo aus wünscht Ihr die Schlacht zu leiten, Sir Arthur? Ich schlage das Sternfort vor.« »Nein«, widersprach Arthur. »Lieber von irgendwo auf der zweiten Linie der Bastionen, wo ich näher am Geschehen sein kann.« »Die zentrale westliche Bastion ist die höchste in der zweiten Linie«, informierte Abenddämmerung ihn. »Normalerweise wäre dieser Platz zu laut und zu rauchverhangen, denn da sind zwei Kartaunen und vier Basilisken stationiert. Aber ohne Nichtspulver …« »Ja, ich weiß«, winkte Arthur ab. »Wird das Telefon dort funktionieren?« »Ich denke, dass es im gesamten Großen Labyrinth funktioniert«, meinte Abenddämmerung, während sie in die frische Luft hinaus und auf einen hohen Laufsteg traten, der zwei der Zweitlinien-Bastionen verband. »Vorausgesetzt es wird mit genau der richtigen Geschwindigkeit gekurbelt. Glücklicherweise ist Hauptmann Drury hier ein Experte.« »Dann werde ich Dame Primus noch einmal anrufen und zur Eile –« Seine Worte gingen in einem gewaltigen Donnern unter; eine Druckwelle erschütterte den Laufsteg und brachte mehrere Offiziere aus dem Gleichgewicht. »Was war das?«, fragte Arthur. »Eine Mine«, antwortete Abenddämmerung grimmig. Er sah zurück zur äußeren Linie der Bastionen. Die südwestliche von ihnen war in einer Wolke aus Staub und Rauch verschwunden, die sich Hunderte von Metern in die Luft erhob und auch horizontal ausbreitete. »Offenbar haben sie in den letzten paar Tagen einen Tunnel gegraben … und offenbar mangelt es ihnen auch nicht an Nichtspulver.« Jenseits der gigantischen schwarzen Wolke nahmen Tempo und Lautstärke der Trommelschläge zu. »Sie greifen durch die Bresche an!«, sagte Abenddämmerung. »Wir müssen uns beeilen!« Er rannte voraus, Arthur dicht hinter ihm. Schnell hatte die Wolke sie eingeholt und überzog sie mit ihrer stickigen Masse wie ein Leichentuch, während man ihnen Einlass in die zweite Verteidigungslinie gewährte. Hinter ihnen warfen die übrig gebliebenen Bastionen der ersten Linie ihre Brücken hinunter, verrammelten sämtliche Türen und Verbindungstore und wappneten sich gegen den Ansturm von fünfundsiebzigtausend Soldaten. Kapitel Neunundzwanzig »Keine Antwort, Sir«, sagte die Vermittlung. »Wir können im Tagraum des Unteren Hauses niemanden an den Apparat bekommen.« Arthur gab Hauptmann Drury das Telefon zurück und schüttelte den Kopf. »Keine Antwort! Ich verstehe nicht, was da los ist. Irgendjemand muss doch da sein! Und außerdem sollte die Unterstützung mittlerweile eingetroffen sein!« Marschall Abenddämmerung schwieg. Sie befanden sich jetzt in der zentralen westlichen Bastion der dritten Linie. Es gab immer noch einzelne Bastionen, die in der ersten und zweiten Linie durchhielten, aber die Verteidigung war an zahlreichen Stellen durchbrochen worden, alles innerhalb einer einzigen Stunde. »Wird es in der Nacht schlimmer werden?«, wollte Arthur mit einem Blick auf die sinkende Sonne wissen. »Oder besser?« »Ich fürchte, die Tageszeit wird keinen Unterschied machen«, meinte Abenddämmerung. »Der Mond wird hell leuchten, und es brennen genug Feuer, um ihnen den Weg zuweisen.« Unter ihnen brannten tatsächlich zahlreiche Feuer. Die Neuen Nichtlinge hatten eine neue Waffe zum Einsatz gebracht, ein Rohr, das in einem dichten Strahl hochkonzentrierte Feuerwellen verspritzte. Sie hatten diese ›Glühlanze‹, wie sie schnell getauft worden war, benutzt, um sich durch Tore und selbst durch dicke Steinmauern zu brennen. Was die dritte Verteidigungslinie allein vor dem Untergang bewahrt hatte, war die Tatsache, dass der Feind diese Rohre, die nur einmal benutzt werden konnten, scheinbar schon aufgebraucht zu haben schien. »Ist der Meldegänger schon aus dem Sternfort zurückgekehrt?«, erkundigte sich Arthur. »Nein, Sir«, antwortete einer der Stabsoffiziere. Sein Kopf war bandagiert, eine Folge des jüngsten Nichtlingsversuchs, die zentrale Bastion mit Sturmleitern zu erobern. Bis zum letzten Augenblick hatten die Leitern zu kurz ausgesehen, doch als die Neuen Nichtlinge sie gegen die Mauern warfen, aktivierten sie einen Mechanismus, durch den beide Enden um mehrere Meter ausgefahren wurden. Arthur hatte selbst mitgekämpft, um diesen Angriff zurückzuschlagen; es waren entsetzliche Minuten gewesen, während derer die Neuen Nichtlinge sich wie Wasser über die Mauern ergossen. Arthurs Soldaten hatten die Flut abgewehrt, doch unten sammelte der Feind bereits wieder seine Kräfte. Tausende und Abertausende, die den ganzen Raum zwischen den Verteidigungslinien einnahmen und sich dort sicher wähnen durften, weil den Verteidigern die Feuerwellen und sogar die Trümmerteile ausgegangen waren, um sie unter Beschuss nehmen zu können. »Sie formieren sich!«, warnte Abenddämmerung. »Haltet euch bereit!« Sein Befehl hallte die Mauern entlang und pflanzte sich bis zu den Bastionen zu den benachbarten Bastionen fort, wo er von den Offizieren aufgegriffen und weitergegeben wurde. »Ihr solltet Euch jetzt am bestem ins Sternfort begeben, Sir«, riet Abenddämmerung. Er sprach sehr leise, den Mund dicht an Arthurs Ohr. »Ich glaube nicht, dass wir sie dieses Mal aufhalten können.« »Ich werde nicht gehen«, sagte Arthur. Er blickte auf den Krokodilring an seinem Finger und dachte an zu Hause. Das alles schien jetzt so weit weg, so unwirklich zu sein. Er konnte sich nicht einmal ohne Schwierigkeiten an die Stimmen oder die Gesichter seiner Familie erinnern. »Ich werde den Schlüssel gegen sie einsetzen. Wir werden uns behaupten.« Er hielt den Marschallstab hoch, und als der letzte Strahl der untergehenden Sonne sich darauf brach, verwandelte er sich – nicht in das unhandliche Schwert Sir Donnerstags, sondern in ein schlankes, nadelspitzes Rapier, welches das Sonnenlicht einfing und blitzend zurückwarf, sodass es in sämtlichen Bastionen durch allen Rauch und Staub hindurch strahlend hell war. »Die Armee und Sir Arthur!«, rief Abenddämmerung. Und erneut wurde sein Ruf auf den Bastionen aufgegriffen, doch geschah es jetzt lauter und kam von Herzen. »Sir Arthur! Sir Arthur!« Die Neuen Nichtlinge unten antworteten mit Trommeln und Schreien. Reihe um Reihe rückte auf die Bastionen vor, mit Unmengen von Leitern und Wurfklauen und qualmenden Feuertöpfen, die als Wurfgeschosse dienten. »Sir Arthur!« Das war kein Schlachtruf. Hauptmann Drury zerrte ihn am Ellbogen. Aber er hielt ihm kein Telefon hin; er zeigte in die Ferne nach Westen, wo die Scheibe der Sonne endgültig verschwunden war und nur noch ein milder Schein den Horizont erhellte. »Sir! Schaut!« Arthur blinzelte und blinzelte noch einmal. In dem düsteren Zwielicht und durch die Rauchschwaden konnte er zuerst nicht erkennen, worauf Drury zeigte. Dann sah er es. Die Horizontlinie hatte sich verändert. Genau im Westen, vielleicht drei Meilen entfernt, ragte ein Gebirgszug in den Himmel. Freudenschreie mischten sich unter die Sir-Arthur-Rufe, wilde Schreie neu erwachter Hoffnung. »Der Stachel«, sagte Marschall Abenddämmerung. »Sir Donnerstag hat gelogen. Er hat ihn doch zerstört!« »Nein«, widersprach Arthur. »Ich glaube, das könnte ich getan haben … ich habe eine verzauberte Tasche hineingeworfen.« »Eine was?«, fragte Abenddämmerung. »Ist nicht wichtig«, meinte Arthur. Einen Augenblick lang genoss er ein intensives Gefühl der Erleichterung. Die Hemdtasche war vernichtet und der Skelettjunge mit ihr. Seine Familie war wieder sicher. Doch die Entspannung währte nur kurz. Arthur blickte durch die Schießscharte und stellte ohne große Überraschung fest, dass die Neuen Nichtlinge, wenngleich sie etliche Einheiten durch die tektonische Strategie verloren hatten, unbeirrt weiter vorrückten. Ich frage mich, was ich mit dem Schlüssel machen kann, grübelte Arthur, während er seine Blicke über die feindlichen Scharen schweifen ließ. Wahrscheinlich kann er mich stärker, schneller und zäher machen als jeden Nichtling oder Bürger. Aber es sind so viele – am Ende fällt es gar nicht ins Gewicht. Sie werden uns einfach überrollen … es ist, als ob man mitten in einer Naturkatastrophe steckt. Man kann einfach nichts tun … und dabei wollen diese Neuen Nichtlinge einfach nur Bauern sein. Das ist doch alles verrückt - Jemand zerrte Arthur plötzlich so heftig hinter die Mauerzacke zurück, dass er hinfiel. »Verzeihung«, sagte eine vertraute Stimme, und gleich darauf flog ein Fass über die Zinnen, dessen zwei brennende Lunten eine Funkenspur hinter sich herzogen. Vier Sekunden später erfolgte eine gewaltige Explosion in der Nähe der Mauersohle. »Eine Granate«, erklärte Sonnenstich, Mittwochs Mittag, mit breitem Grinsen. »Die größte, die wir machen konnten. Und wo die herkommt, gibt es noch jede Menge mehr davon.« »Sonnenstich!«, rief Arthur aus. »Sie sind gekommen!« »Aye, ich und ein paar andere«, bestätigte Sonnenstich. Arthur setzte sich auf, als weitere Explosionen den Boden erschütterten. Plötzlich wimmelte es auf der Bastion von Bürgern. Da waren Matrosen mit blauen Jacken an Nichtspulverfässern, die Lunten anzündeten und mit klobigen, hölzernen Mörsern, die sie im Hintergrund aufgebaut hatten, feuerten. Portiersfeldwebel und Metallportiers formierten sich neben den Soldaten. Mitternächtliche Besucher zogen ihre Kreise über den Zinnen und ließen lange Metallwurfspeere auf die Neuen Nichtlinge herabregnen. Ein Pulk Artilleristen in Ledermänteln hastete mit Schubkarren vorbei, auf denen sie kleine Pulverfässer und stapelweise Kartätschen transportierten, und erörterten begeistert, wie tief sie die Geschützrohre senken sollten, die sie nun endlich wieder benutzen konnten. »Dame Primus bereitet unten einen Ausfall vor«, berichtete Sonnenstich. »Sie wird die Schlüssel benutzen, und sie hat die drei hohen Montagsbürger und Mittwochs Morgengrauen und den alten Scamandros bei sich und alle möglichen Leute, die schon einmal gegen einen Nichtling gekämpft haben oder es getan zu haben behaupten. Ungefähr fünftausend, alles in allem, und es kommen immer noch welche hinterher.« Sonnenstich hielt inne und warf einen Blick durch die Schießscharte. »Dieser Haufen sieht mir aber nicht sehr nach Nichtlingen aus.« »Es sind Neue Nichtlinge«, klärte Arthur ihn auf. »Fast schon Bürger …« »Du klingst nicht besonders fröhlich, Arthur. Lord Arthur, meine ich.« »Nennen Sie mich einfach Arthur«, forderte der Junge ihn auf. Er betrachtete sein Rapier, und langsam verwandelte es sich wieder zurück in einen Marschallstab, den er in seinen Gürtel schob. Dann stand er auf und blickte ebenfalls durch die Schießscharte. Die Neuen Nichtlinge hatten einen geordneten Rückzug angetreten. Dame Primus hatte zwar noch nicht angegriffen, doch war sie durch die Ausfallpforte stolziert; ihr buntes Gefolge schwärmte fächerförmig hinter ihr aus. Es war nicht die Gegenwart ihrer Truppen, die die Nichtlinge zum Rückzug veranlasste. Es war Dame Primus selbst. Zweieinhalb Meter groß, gekleidet in einen Armeemantel, der in Farbe und Schnitt dem des Pfeifers überraschend ähnlich war, hatte sie sich mit einem magischen Nimbus wirbelnder blauer und grüner Funken umgeben, die alle paar Sekunden bis zu fünfundzwanzig Meter weit davon schossen und Nichtlinge niederstreckten. Und dabei stand sie nur reglos da. Als sie ihre Fäuste hob, die in den Panzerhandschuhen des Zweiten Schlüssels steckten, und zusammenschlug, wurde eine große Schar Nichtlinge plötzlich in die Luft gehoben und gegen die Mauer der nächstliegenden Zweitlinien-Bastion geschmettert. Zum ersten Mal sah Arthur, was es wirklich bedeutete, die Schlüssel zu tragen. Er schrie auf, als Dame Primus den Dreizack des Dritten Schlüssels aus ihrem Gürtel zog und nachlässig schwenkte, denn sogleich lösten sich mehrere Hundert Nichtlinge in eine gespenstische Gischt auf, die auf einen brennenden Laufgang niederregnete und die Flammen löschte. »Lasst sie sich zurückziehen!«, schrie Arthur. »Lasst sie gehen!« Niemand konnte ihn hören. Selbst Sonnenstich, der nur ein paar Meter von ihm entfernt stand, war eifrig damit beschäftigt, den Mörsermannschaften Feuerbefehl zu geben. Arthur nahm den Marschallstab des Vierten Schlüssels aus seinem Gürtel und hielt ihn hoch. »Verstärke meine Stimme!«, sagte er. »Und wirf Licht auf das Schlachtfeld!« Der Marschallstab tat Letzteres zuerst. Er leuchtete bloß schwach auf, doch der neu aufgegangene Mond strahlte plötzlich heller, so hell, dass es Schatten warf. »Lasst die Neuen Nichtlinge sich zu ihrer Grabenlinie zurückziehen!«, befahl Arthur in normaler Lautstärke. Doch als die Worte seinen Mund verließen, wurden sie viel, viel lauter, lauter selbst als die donnernden Mörser und Kanonen. »Lasst sie gehen und stellt das Feuer ein!« Sein Befehl wurde sogar von dem neuen Gebirgszug zurückgeworfen, der bei Sonnenuntergang erschienen war. »Ein … ein … ein … ein …« Der helle Mond verblasste, und plötzlich herrschte Stille. »Sie gehen«, sagte Marschall Abenddämmerung, und in seinen Worten schwang Erleichterung mit. »Ob sie wohl wiederkommen werden?« »Es hängt alles vom Pfeifer ab«, meinte Arthur und klang vor lauter Erschöpfung dumpf und matt. »Aber jetzt, wo außer mir noch Dame Primus und alle vier Schlüssel hier sind, dazu unsere zusätzlichen Truppen … Ich schätze, er wird entweder Frieden schließen oder sich dorthin zurückziehen, wo er hergekommen ist, und sich auf einen neuen Versuch vorbereiten.« »Aber die wandernden Platten …« »Er hat eine Ephemeride«, sagte Arthur. »Ich habe eine Ecke davon aus der Tasche seines Mantels ragen sehen. Und wir sind nicht unbedingt in der Verfassung, sie zu verfolgen, nicht wahr?« Passend zu seinen Worten ließ sich Arthur zu Boden sinken und lehnte den Kopf gegen die Mauer. Viele folgten seinem Beispiel, doch Marschall Abenddämmerung blieb stehen, und Sonnenstich gab den Kanonieren Anweisung, ihre massiven, hölzernen Geschützrohre auszuwischen und zu reinigen. »Nur einen Moment des Friedens«, murmelte Arthur, »bevor Dame Primus hier auftaucht. Nur einen Moment des Friedens, das ist alles, was ich will …« Seine Stimme erstarb, und das Kinn sank ihm auf die Brust; der Schlaf hatte ihn übermannt. An seinem Finger glitzerte der Krokodilring im Mondlicht. Er war jetzt genau zur Hälfte aus reinem Gold. Kapitel Dreisig Blatt wachte in Panik auf, sie war dem Ersticken nahe. Bevor ihr klar wurde, wo sie war und was ihr die Luft nahm, schoss ein Schwall klarer Flüssigkeit aus ihrer Nase und in einen Eimer, über den ihr Kopf gehalten wurde. »Halt still!«, ermahnte sie eine ruhige weibliche Stimme. »Das wird ungefähr fünf Minuten dauern.« »Eerggh, ick, eurch«, spuckte Blatt, als das Zeug nicht aufhören wollte zu fließen und so kräftig durch ihre Nase schoss, dass etwas in den Rachen gelangte und sie zum Husten brachte. »Du bist gerade aufgewacht«, fuhr die Stimme fort. »Du hast unter Sedierung gestanden. Diese Flüssigkeit ist ein Gemisch aus einem Agens, mit dem wir einen fremden … nun ja, Pilz aus dir herausspülen, und dem denaturierten Pilz selbst. Sobald erst einmal alles draußen ist, wird es dir wieder gut gehen.« »Oh isch scho schecklisch«, keuchte Blatt. Sie fühlte sich schwach und zittrig und völlig desorientiert, und ihre Nebenhöhlen taten echt weh. Sie lag in einem Bett, so viel war klar, aber das Dach war grün und sehr niedrig und irgendwie durchhängend, und überall waren transparente Plastikwände. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, dass es eine Krankenschwester war, die ihn festhielt. Eine Krankenschwester in einem Viren-Schutzanzug, deren Gesicht hinter einem doppelten Visier nur undeutlich zu erkennen war. »Du bist in einem Feldlazarett, das auf dem Sportplatz, ich glaube, deiner Schule steht«, klärte die Schwester sie auf. »Alles wird wieder gut.« »Wie lang schier?« »Wie lange du hier bist?« Blatt nickte. »Ich glaube, seit einer Woche. Einer sehr hektischen Woche, aber mittlerweile geht es wieder. Immerhin haben sie die Terroristen erwischt, die dieses Ding verbreitet haben.« »Schwas?« »Naja, nicht exakt erwischt, denn bei der Erstürmung ihres Hauptquartiers sind sie alle ums Leben gekommen.« Blatt schüttelte ungläubig den Kopf, bis ein noch festerer Griff diese Bewegung unterband. »Tu das bitte nicht. Lass es ins Gefäß laufen.« Eine Woche, dachte sie und konnte es nicht fassen. Eine Woche habe ich unter Sedierung gestanden! Aber Susi muss es gelungen sein, die Tasche zu Arthur zu bringen, sonst wäre ich jetzt nicht hier … »O schind eine Eltern?« »Wo deine Eltern sind?« Blatt nickte – vorsichtig, damit nichts von der Flüssigkeit den Eimer verfehlte. »Das müsste ich erfragen. Hier sind selbstverständlich keine Besucher zugelassen. Ich könnte mir denken, dass sie womöglich zu Hause sind.« »Schie warn in Oschteschirkschkrankenhausch.« Die Hand der Schwester, die den Eimer festhielt, zitterte. »Sie waren im Ostbezirkskrankenhaus?« Blatt nickte langsam. »Ich werde dafür sorgen, dass sich ein Arzt für dich erkundigt«, sagte die Schwester behutsam. »Ich bin sicher, dass es ihnen gut geht, aber es gab da eine … eine Reihe von Opfern. Nach dem Hubschrauberabsturz und dem Ausbruchversuch hat die Armee … die meisten Leute dort drin … den meisten ging es gut.« »Welsche Ag isch?«, fragte Blatt, und zwei Tränen rannen ihre Wangen hinab und fielen unbemerkt in den Eimer. »Welcher Tag heute ist? Freitag, mein Liebes. Es ist Freitagmorgen. Ah, da kommt endlich die Ärztin, sie wird dich untersuchen wollen. Weißt du, das Lustige ist, dass sie auch Freitag heißt und nur an Freitagen arbeitet! Doktor Freitag, stell dir nur vor! Wir nennen sie Lady Freitag auf den Stationen, weil sie so … so schön und vornehm ist … oh, halt doch still!«