Mark Stichler Rapunzelturm Kriminalroman Impressum Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 info@gmeiner-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Sven Lang Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © Rado-Stilist – Fotolia.com ISBN 978-3-8392-4374-9 Prolog »Yeah.« Garcia lag im Gras, die Arme weit ausgebreitet. Im Hintergrund stand schweigend dieser riesige Klotz und vor ihm hing groß und rund, geheimnisvoll, der gelbe, fette Mond am nachtblauen Himmel. Dort breiteten sich die Landschaften der Zukunft aus, die Krater und Hänge, die leuchtenden Berge und die Roquefort-farbenen Täler. Meine Güte, diese Wissenschaftler. Garcia lachte leise. Jahrzehnte, ach was, Jahrhunderte, wenn nicht gar seit tausend Jahren oder mehr zerbrachen sie sich den Kopf darüber, was sich wohl auf der anderen Seite des Monds befinden würde. Der dunklen Seite. Dabei war es so einfach. Garcia lächelte und im diffusen Licht glänzten seine Zähne perlmuttfarben in seinem schmalen, fein geschnittenen Gesicht. Man musste doch nur seine Hand ausstrecken und dem Mond einen kleinen Schubs geben, um auf die andere Seite sehen zu können. So war es mit allem. Nur er wusste davon oder zumindest kannte er niemanden außer sich selbst, der davon wusste. Außer vielleicht McCarthy. Aber der war gerade nicht hier. »Yeah.« Auf einmal fing Garcia an zu schwitzen. Er musste sich konzentrieren, sonst würde er Angst bekommen. Noch nie, selbst in seiner Kindheit am Pascagoula River nicht – kam er wirklich von diesem Fluss? –, war der Mond der Erde so nahe gekommen wie jetzt. »Pascagoula. Pascagoula.« Er sagte den Namen vor sich hin, wie um den Klang zu probieren, die stickige, feuchte Luft des Sommers, das Gras zu riechen, die Zikaden, all die Zeichen unausgesprochener Liebe … Der Mond kam immer näher. Es schien, als wolle er Garcia mitsamt seinem überdimensionalen Gehirn zwischen sich und der Erdoberfläche zerreiben. Jetzt wusste er, warum er hier lag, warum er sich so flach an Mutter Erde presste. »Oh, Mann«, flüsterte Garcia. »Mann.« Was würde aus dieser Vereinigung zwischen Erde, Mond und ihm hervorgehen? Wes Geistes Kind würde dieser neugeborene Planet sein, wie viele neue Galaxien würde ihr gemeinsames Genmaterial hervorbringen? Was für eine Reise würden sie antreten? Durchs Universum, soviel war sicher. Garcia sah Blumen vor sich, in Farben, die es noch gar nicht gab. Er ließ seine Finger durchs Gras gleiten. Er musste sich konzentrieren. Es fiel ihm schwer, seinen Blick weg von diesem magischen Mond zu bewegen, er legte den Kopf in den Nacken und sah hinter sich auf den großen Kasten, der von einigen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Die Mauern des Schlosses reflektierten das Licht gelb wie Sand. Da war noch etwas anderes. Ein Geräusch, das vorhin noch nicht da gewesen war. Ein Kratzen oder Scharren und leise Stimmen, die den Weg entlang kamen. Garcia knurrte wie eine kleine Katze. Mühsam, als wäre sein Hals ein seit Jahren eingerostetes Scharnier, drehte er den Kopf nach rechts. Schräg über ihm ragte der Turm der Emichsburg wie ein mahnender Zeigefinger in die schwarze Nacht. Flackernd ging in einem kleinen Fenster eine Lampe an, und sie fügte sich unnatürlich in den Chor des unendlichen Lichts der Sterne am Himmel. Poltern und Stimmen. Ein Schrei drang durch die Nacht. Das war genug. Garcia schnaubte unwillig und versuchte, sich zu erheben. Der Mond hatte wieder die unendliche Entfernung eingenommen, eine miese milchige Murmel am Himmel. Garcia fühlte Zorn in sich aufsteigen. Er musste sich konzentrieren, denn so viel war sicher: Es war nicht gut, wenn er wütend wurde. Es war ja nicht mehr wichtig, aber es war einer der Gründe, warum er damals zur Armee gegangen war. Garcia sah wieder hinüber zum Turm und dachte an etwas anderes. Die sollten ihn kennenlernen, falls er in der Lage sein sollte, aufzustehen. Doch dann nahm auf einmal etwas anderes seine Aufmerksamkeit in Anspruch. An seinen Waden machten sich Käfer oder Ameisen zu schaffen, die ihm wohl in die Hosenbeine gekrabbelt waren. Und hörte er in dem Gestrüpp neben sich nicht überdeutlich die Mäuse rascheln? Würde er noch eine andere Erfahrung machen in dieser Nacht? Der Mond war vergessen, er musste Prioritäten setzen. Nur: Was war wirklich wichtig? Die Ameisen loswerden oder sie akzeptieren? Den Frieden dieser Nacht wiederherstellen oder auf ihn pfeifen? Der Mond, würde er wiederkommen, auch wenn er sich jetzt um andere Dinge kümmern musste? Garcia lag im Gras, gelähmt, und starrte hinauf in den nachtblauen Himmel, angestrengt, als würde die Lösung des Rätsels irgendwo dort oben geschrieben stehen. Die Sonne stieg unaufhaltsam höher und erhob sich über die Bäume und Häuser der Stadt in den Himmel, der an den Rändern noch in diffuses Weiß getaucht war. Der Schatten des Turms und des Krankenhauses fiel lang über den Rasen, der von schmalen Wegen durchzogen war und kunstvoll angelegte Blumenbeete umschloss. Der Morgenverkehr – auf der Ausfallstraße am Schloss vorbei – machte sich durch ein stetiges Rauschen bemerkbar. Besonders hartnäckig war das Brummen wie von einem altersschwachen Frachtflugzeug, das in Intervallen leiser und lauter wurde. Garcia versuchte, es zu ignorieren, aber schließlich schlug er die Augen weit auf. Über ihm baumelte eine blassviolette Blüte, in deren Schlund sich sein Blick beinahe verlor. Tief darin bewegte sich etwas, arbeitete sich mühsam nach oben, aus dem Geheimnis der Blüte zum Licht und wuchtete sich ohne Eile über den Rand des Kelchs. Es war das Frachtflugzeug, eine Hummel, die jetzt mit Pollen bestäubten Beinen zur nächsten Blüte brummte, völlig unbeeinflusst vom zusätzlichen Gewicht. Garcias Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, das ihm erstarrt im Gesicht stehen blieb, als sein Blick langsam nach unten wanderte, über sein nicht mehr ganz frisches, verwaschen graues T-Shirt mit dem kaum lesbaren Aufdruck ›The …ones Tour 1…6‹ glitt und auf seine ausgelatschten Sandalen fiel. Dort unten schlossen sich gerade zwei Hände um seine Fußknöchel und zerrten ihn aus dem Blumenbeet, in dem er lag. Kapitel 1 Der Wecker schrillte. Der Raum erzitterte, erbebte, als sei der Ton ein Frevel, der das Universum aus Bett, Nachttisch, Schrank und Stuhl, das Roccos Schlafzimmer ausmachte, in seinen Grundfesten erschütterte. Dumpf kam Rocco an die Oberfläche seiner Träume oder wo immer er sich gerade aufgehalten hatte. Mit schwerfälliger Hand tappte er nach dem Wecker. Warum hatte er sich keinen Radiowecker zugelegt? Es dauerte einen Moment, bis er feststellte, dass nicht der Wecker, sondern das Telefon klingelte. Als Rocco es gefunden hatte, waren Welten zusammengestürzt, aber er war einigermaßen wach. »Ja?«, sagte er in den Hörer und knipste seine Nachttischlampe an. Das gelbe Licht reichte kaum bis in die schummrigen Ecken des kleinen Schlafzimmers. »Wir haben ’nen Toten«, sagte Anna am anderen Ende ungewohnt schnoddrig. Sie sagte nie Leiche. Das klinge so nach Moder und Fäulnis, hatte sie Rocco einmal erklärt. Toter, das hatte etwas düster Geheimnisvolles, wie ein Bild, auf dem nicht mehr alles zu erkennen war oder das sich in dunkle Räume erstreckte, die hinter einem Vorhang verborgen waren. Ein Toter, das raschelte wie trockenes Laub. »Besser gesagt, eine Tote«, verbesserte Anna sich. »Mhm«, machte Rocco und rieb sich müde die Augen, als der Wecker erneut klingelte. Er zuckte zusammen und schlug heftig auf den Ausschaltknopf. »Und wo?«, fragte er gereizt. »Alles klar. Bis gleich.« Er legte auf, warf das Telefon auf die Bettdecke und blieb ein, zwei Minuten bewegungslos liegen. Dann schwang er seine Beine über die Bettkante und stand auf. Es war kurz nach sechs. Kurz nach halb sieben klingelte es an der Tür. Rocco nahm einen letzten Schluck aus seiner Espressotasse und ging die Treppe hinunter. Draußen war noch alles ruhig, nur auf der Hohenzollernstraße fuhr ab und zu ein Auto vorbei. Die Sonne kam gerade hinter den Dächern hervor und beschien die Spitzen der Bäume des kleinen Hohenzollernplatzes. Anna, seine Kollegin, saß dort auf einer Bank beim Auto. Rocco spürte die Frische der Luft an diesem Morgen. Und doch würde es ein heißer Tag werden. »Commissario Marino«, rief Anna und winkte. Neben ihr standen zwei Becher Kaffee. »Morgen«, sagte er mürrisch. Anna sah frisch aus wie immer, obwohl auch sie bestimmt aus dem Bett geklingelt worden war. Rocco nippte am Kaffee und verbrühte sich beinahe den Mund. »Steig ein«, sagte Anna knapp. »Wir müssen zum Schloss.« »Was genau ist passiert?«, fragte Rocco, während sie auf die Stuttgarter Straße bogen, die Ludwigsburg in zwei ungleiche Teile schnitt. »Es gibt eine Tote im Märchengarten. Mehr weiß ich auch noch nicht. Sie haben sie gerade erst gefunden.« »Wer ist ›sie‹?« »Was weiß ich«, sagte Anna gereizt. »Ich hab doch gesagt, dass sie gerade eben erst gefunden wurde.« Rocco war um diese Uhrzeit einfach unerträglich. »Im Märchengarten.« Rocco schnaufte und blickte mit einem gewissen Wohlbehagen auf das Schloss, das nach Westen lange Schatten warf. Das Licht war klar und frisch, und die Konturen zeichneten sich scharf ab. Die Wiesen der Parkanlagen leuchteten golden in der Morgensonne. Sie bogen in die Einfahrt zum Schloss ein. Im Innenhof am Brunnen stand ein Polizist mit drei Männern, die auf sie zu warten schienen. »Guten Morgen«, sagte der Polizist, als sie ausgestiegen waren. »Herr Lohhausen, das sind Hauptkommissar Marino und Kommissarin Behr. Hauptkommissar Marino, das ist Herr Lohhausen von der Betreiberfirma des Märchengartens.« Die beiden anderen Männer schienen ihm keine Erwähnung wert. Einer davon trug ebenfalls Uniform. Rocco nahm an, dass es sich um einen Parkwächter handelte. Er musterte ihn kurz, das saubere, etwas aufgedunsene Gesicht und den akkurat gestutzten Oberlippenbart. Der andere trug Gummistiefel, eine blaue, grobe Hose und einen zerschlissenen und farblich undefinierbaren, fleckigen Pullover. Er sah die beiden Kommissare mürrisch an, dann drehte er sich weg und beachtete sie nicht weiter. »Lohhausen. Guten Morgen«, sagte Lohhausen, und streckte Rocco und Anna die Hand entgegen. »Ich bin der Manager hier.« »Manager?«, sagte Rocco und schüttelte seine Hand. »Wie soll ich das verstehen? Werden das Schloss und der Märchengarten nicht von der Stadt und vom Land verwaltet?« »Das war bis vor Kurzem so. Bis man sich entschloss, die Verwaltung in die Hände einer externen Betreiberfirma zu geben, die etwas vom Geschäft versteht.« Lohhausen lächelte unverbindlich. »Seitdem manage ich den Märchengarten. Mit dem Schloss haben wir aber nichts zu tun.« »Ach ja«, sagte Rocco. »Ich erinnere mich …« »Hm. Und das haben wir jetzt davon«, sagte Anna leise. »Was sagten Sie?«, fragte Lohhausen und runzelte die Stirn. »Ist Ihnen aus früherer Zeit ein ähnliches Vorkommnis bekannt?«, fragte Anna zurück. Lohhausen zuckte mit den Schultern. Er mochte um die 40 sein, schütteres, blondes Haar, dunkle Augenringe und gerötete Lider. Er sah nicht schlecht aus, groß, schlank, korrekt gekleidet, leger. Markante Falten zogen sich zwischen den Brauen zur Nasenwurzel. Er dachte nicht über die Frage nach, da war Rocco sicher. Ihm gingen andere Dinge durch den Kopf. »Mir ist jedenfalls nichts bekannt«, mischte sich der Mann in Uniform ein. »Gestatten Sie, ich bin Herr Gerhardt und für die Parkwächter zuständig.« »Haben Sie die Tote gefunden?«, fragte Anna ihn. Gerhardt schüttelte den Kopf. »Das war er.« Er deutete mit dem Daumen auf den Arbeiter, der unbeteiligt etwas abseits am Brunnen lehnte und sich eine Zigarette drehte. »Der Franzose.« Anna sah Rocco an. »Ich weiß gar nicht mehr, wie er richtig heißt, ich glaube, Schaminsky. Jeder sagt ›der Franzose‹ zu ihm.« Gerhardt winkte ihn herbei. Der Franzose zündete die Zigarette an, blies den ersten Zug in die Strahlen der Sonne, die bereits über den Ostflügel des Schlosses geklettert waren, und setzte sich langsam in Bewegung. Mit der linken Hand fuhr er sich durch sein dichtes, strubbeliges Haar. »Jaa?«, fragte er gedehnt, als ob man ihm eine völlig abwegige Aufgabe zugeteilt hätte. »Ihr Name?«, fragte Anna. »Sagen Sie einfach Franzose zu mir.« Anna verzog den Mund. »Dann ist ›Einfach‹ wohl der Vorname und ›Franzose‹ Ihr Nachname?« »Genau.« Der Franzose sah sie an und grinste. Anna kniff ihre grauen Augen zusammen und fixierte ihn unverwandt. Rocco erkannte an der Art, wie ihre Augenbraue kaum merkbar zuckte, dass jetzt nicht mit ihr zu spaßen war. »Sie haben da drüben eine tote Frau gefunden«, sagte sie leise und ihr Pferdeschwanz wippte leicht. »Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als Scherze wegen Ihres Namens zu machen? Sie sind ein äußerst charmanter Bursche und wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich Sie sicher gerne mit Ihnen verbringen, um lustige Namensrätsel zu lösen. Aber ich habe keine Zeit. Und wenn Sie mir nicht auf der Stelle Ihren Namen nennen, dann sind Sie der Erste heute Morgen, dem ich Handschellen anlege und von meinem Kollegen hier ins Präsidium bringen lasse. Ist das klar?« Ganz langsam, als müsse er die Information, die möglicherweise hinter Annas Worten verborgen lag, erst mühsam entschlüsseln, schwand das Grinsen aus dem Gesicht des Franzosen. »André Schaminsky«, sagte er schließlich. »Sie haben die Tote gefunden?« »Ja.« »Wo genau?« »Da hinten hängt sie.« »Hängt sie?« Anna sah Rocco an. Der zuckte mit den Schultern. »Na, kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.« Der Franzose ging mit Gerhardt voraus durch ein zweites Tor, von dem eine lange, schmale Allee zum hinteren Teil des Schlosses und zum Märchengarten führte. »Kennen Sie die Tote?«, fragte Rocco, ohne jemand Bestimmtes anzusprechen. »Nicole Dahm«, sagte Gerhardt über die Schulter. »Eine Erzieherin …« »Sie war eine Angestellte«, unterbrach ihn Lohhausen, der neben Anna und Rocco herging. »Sie werden verstehen, dass ich …« Er brach ab und faltete seine Hände ineinander. Er war nervös und Rocco fragte sich, ob es wegen der Toten war oder weil er ans Geschäft dachte. »Ja …?« »Ach, nichts.« Lohhausen winkte ab. »Es ist nur … schlechte Publicity können wir zurzeit nicht brauchen, wissen Sie?« Business. Rocco nickte. »Das kann man wohl nie.« Sie bogen hinter Gerhardt und dem Franzosen nach links ab und gingen den Weg entlang auf eine Burg zu, die hinter den Bäumen in Sicht kam. Die Sonne beschien die Südostseite des Turms, dessen gelbe Steine im klaren Licht leuchteten. Rocco befiel auf einmal eine ungute Vorahnung. Das war eigentlich nicht seine Art. Als sie auf den Turm zugingen, erinnerte er sich, dass er als Kind diesen Turm bereits gesehen hatte, wie fast jedes Kind, das in der Gegend aufgewachsen war. Es war der Rapunzelturm. Seine Eltern hatten ihn und seine Schwester hierher geschleppt, obwohl sein Vater nichts mit deutschen Märchen anfangen konnte. Aber als Italiener war er für Märchen, die mit vielerlei Mythen und Aberglaube durchzogen waren, sehr empfänglich. Rocco erinnerte sich dunkel an die Versuche, den Zopf im Schatten des Turms zu beschwören. Die piepsende Stimme seiner Schwester neben ihm, er selbst, der stumm mit schwarzen Knopfaugen nach oben blickte, auf eine Reaktion des Mädchens wartete, die da wohl seit langer Zeit am Fenster saß … »Ach, du Scheiße«, hörte er Anna sagen, und fast zeitgleich den Franzosen: »Hier ist es.« Sie waren halb um den Turm herumgegangen, als der Franzose wie ein Fremdenführer hinaufdeutete. Dort, auf der Schattenseite, baumelte Rapunzels Zopf aus einem Turmfenster, ein grobes, hanffarbenes Etwas mit einer schmutzigen Schleife. Rocco kamen der Turm und der Zopf viel kleiner, irgendwie schäbiger und abgewetzter vor als in seiner Erinnerung. Und am Ende des Zopfs hing eine Frau. Das Gesicht war verzerrt und weiß wie Marmor, die Augen starrten scheinbar in verschiedene Richtungen. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr bis auf die Schulter. Ihre hellblaue Bluse leuchtete unnatürlich vor der Turmwand. Rocco und Anna waren stehen geblieben und starrten auf das Bild, das sich ihnen bot. Plötzlich begann sich die Tote zu bewegen wie eine Strohpuppe im Wind, obwohl nicht die leiseste Brise zu spüren war. Rocco hielt unwillkürlich den Atem an, doch gleich darauf erschienen zwei Köpfe am Fenster und machten sich am Rapunzelzopf zu schaffen. Erst jetzt realisierte er die Kollegen von der Spurensicherung, die schon unten am Turm standen und wie er und Anna nach oben blickten. »Ach, du Scheiße«, flüsterte Anna noch einmal, dann gingen sie zu der Gruppe am Turm hinüber. »Ja, traurig«, sagte Lohhausen unverbindlich. »Hören Sie, ich muss natürlich auch ans Geschäft denken.« Er sah Rocco an, der etwas blass geworden war. »Schlimm genug, was uns das für einen Image-Schaden verpassen könnte. Sie wissen schon, die Presse: ›Tod im Märchengarten‹, ›Rapunzel erwürgt Rivalin‹, ›Zopf des Grauens‹ und das ganze Gewäsch.« Er deutete die Schlagzeilen mit abrupt in die Luft gehobener Hand an. »Meinen Sie, dass Sie den Garten wegen dieses Vorfalls komplett sperren müssen? Sie könnten doch einfach …« »Jetzt halten Sie mal die Luft an«, zischte Anna. »Wir informieren Sie, sobald Sie den Garten wieder öffnen können. Heute wird das ganz sicher nicht sein.« Der Manager sah sie stirnrunzelnd an und scharrte unentschlossen mit einem Schuh im Sand. »Heute nicht?«, murmelte er. »Ja, okay. Auch gut. Ich werde dann meine Partner informieren.« »Partner?«, fragte Anna. »Ich dachte, Sie sind der Manager?« Lohhausen lachte kurz und unlustig. »Tja, was man alles so denkt.« Damit ließ er sie stehen und ging den Weg zurück zum Schloss. Anna sah ihm wütend nach. Am Fuß des Gemäuers wartete die Gerichtsmedizinerin Dr. Mahler auf die Leiche. Die Polizisten oben hatten mithilfe von Herrn Gerhardt inzwischen den Mechanismus für den Zopf in Gang gesetzt und die Tote glitt an der Mauer des Turms herunter. Die letzten Meter zum Boden mussten mit einer Leiter überbrückt werden, denn der Zopf reichte nicht bis ganz unten. Dr. Mahler war neben der Bluse der Toten der zweite Farbfleck am Tatort. Sie trug eine grelle Stola und hatte sich eine Sonnenbrille in ihr tiefschwarz gefärbtes Haar gesteckt, um den Geruch des Todes, der ihr ständig anhaftete, zu überdecken. Dass sie damit jedoch die Morbidität ihres Auftritts noch verstärkte, traute sich niemand, ihr zu sagen. »Givenchy«, flüsterte Anna überzeugt, bevor sie sich Dr. Mahler und der Toten näherten. Rocco bewegte zweifelnd den Kopf hin und her und zuckte mit den Schultern. Anna und ihre Freundin Julia, mit der sie zusammenwohnte, versuchten jedes Mal, Dr. Mahlers Duft herauszufinden, wenn sie im Kaufhaus an der Parfumabteilung vorbeikamen. Bisher hatten sie, abgesehen davon, dass sie nach fünf Minuten ganz unglaublich stanken, allerdings keinen Erfolg gehabt. »Hallo, Frau Doktor«, sagte Rocco. »Marino«, schnaufte Dr. Mahler und drehte sich halb um, was einen Duftschwall verwelkter Hortensien in seine Richtung trieb. »Was für eine nette Überraschung so früh am Morgen.« Anna würdigte sie mit einem Seitenblick. »Ja. So früh am Morgen«, sagte Rocco. Und schon in voller Kriegsbemalung, dachte er und hielt kurz die Luft an. In der Tat hatte Dr. Mahler ihrem flächigen Gesicht schon das volle Programm angedeihen lassen. Da waren Kajal, Lidschatten, Lippenstift, Tönungscreme und einige andere Kosmetika im Einsatz, von denen sich Rocco keine Vorstellung machen konnte. Die Polizisten hatten den Körper inzwischen auf den Boden gelegt. Die Leiche war mit einem Kabelbinder an den Zopf gebunden gewesen. Tieflila schillernde Striemen zogen sich um den Hals. Auch an den Handgelenken waren auf den ersten Blick blaue und grüne Flecke zu sehen. Der Fotograf schoss Bilder, bis Dr. Mahler ihn unsanft beiseite schob. »Und? Was sagen Sie?«, fragte Anna, nachdem die Gerichtsmedizinerin die Tote eine Weile regungslos betrachtet hatte. Dr. Mahler zog die Augenbrauen hoch. Ihre Bluse raschelte, als sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die ausgefranste, blaue Linie am Hals der blassen Toten zeigte. »Sieht so aus, als sei sie mit dem Kabelbinder erdrosselt worden. Allerdings …« Sie streckte die Hand aus und ein Mann von der Spurensicherung reichte ihr ein paar Latexhandschuhe, die sie über ihre lackierten Finger zog. Dann hob sie den Kopf der Leiche etwas an. »Allerdings gibt es hier am Hinterkopf Blutspuren und eine ziemlich tiefe Verletzung. Könnte auch die Todesursache sein. Könnte aber auch sein, dass sie sich beim Sturz von dort oben den Kopf an der Wand angeschlagen hat. Obwohl es eigentlich nicht nach einer Abschürfung aussieht. Mit Sicherheit kann ich das noch nicht sagen. Aber ich glaube weniger, dass sie an dem Sturz gestorben ist. Möglicherweise war sie schon vorher tot.« Dr. Mahler sah die Wand des Turms entlang nach oben. »Meine Güte«, seufzte sie und stand auf. Rocco trat unwillkürlich einen Schritt zurück. »Trotzdem lassen Sie die Wand am besten auf Blutspuren untersuchen, Marino.« Und zu den Leichenträgern: »Sie können sie mitnehmen.« Angewidert zog sie die Handschuhe von ihren Fingern und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. Es begann, heiß zu werden, obwohl es erst früher Vormittag war. »Sie benachrichtigen uns, sobald sie Näheres wissen«, sagte Rocco. »Ich rufe Sie an.« Dr. Mahler nickte. Sie schob ihre Sonnenbrille vor die Augen und sah noch einmal am Turm hinauf. »Und? Welches ist Ihr Lieblingsmärchen?« »Mein … Lieblingsmärchen?«, fragte Rocco irritiert. »Na ja.« Dr. Mahler sah ihn an, lächelte milde und er wusste, dass sie hinter der schützenden Sonnenbrille ihre Augen zusammenkniff. »Ist doch der Märchengarten hier, nicht? Ein passender Ort für einen Mord.« Rocco verzog missbilligend den Mund. »Auf was die Leute alles kommen.« Die Leichenträger waren bereit und wollten den Sarg zu ihrem Wagen tragen, als plötzlich zwei Polizisten aus dem Gebüsch kamen. Im Schlepptau hatten sie einen verwahrlosten Kerl. »Sehen Sie mal, Herr Kommissar«, rief der eine, »wen wir hier im Gestrüpp gefunden haben.« »Na, so was«, sagte Dr. Mahler und trat einen Schritt zurück. »Na, so was«, seufzte Rocco und zog die Augenbrauen hoch. »Garcia.« Anna runzelte die Stirn. »Du kennst den?« »Kennen klingt mir in diesem Fall zu vertraulich. Aber ich weiß ziemlich genau, wer das ist, wenn du das meinst.« »Das meine ich«, sagte Anna genervt. »Und? Wer ist das?« »Garcia«, sagte Rocco einfach und winkte den Beamten. »Bringt ihn mal her.« »Na, so schnell haben Sie jedenfalls noch nie einen Mord aufgeklärt, Marino«, sagte Dr. Mahler und ging den Leichenträgern hinterher zum Parkplatz. »Rotkäppchen«, rief sie über die Schulter und schwenkte zum Abschied ihre Handschuhe. »Rotkäppchen?« »Mein Lieblingsmärchen.« »Oh, Mann.« Anna sah ihr nach. »Auf ihrem Tisch will ich nicht landen.« »Das will keiner«, sagte Rocco. Er wedelte sich mit der Hand Frischluft zu. »Junge, Junge. Was für eine Frau.« Anna knuffte ihn in die Seite. »Spinnst du?« »Garcia. Was machst du denn hier?« Die Beamten hatten den spindeldürren Mann vor Rocco und Anna aufgestellt. Er hielt sich leicht schwankend vor ihnen und schien zu überlegen. Zumindest verzog er das Gesicht zu seltsamen Grimassen, kniff die Augen zusammen und blies seine Backen auf, als würde er nachdenken. »Pffhh«, machte er schließlich. »Mhm«, machte Rocco. »Wenn du mich fragst, der Typ ist vollkommen stoned«, flüsterte Anna ihm ins Ohr. Rocco nickte. »Ganz sicher.« Er sah sich um. Die Leichenträger und Dr. Mahler waren weg. Unter dem Turm standen nur noch ein paar Beamte der Spurensicherung. Auf der sonnenzugewandten Seite lehnte der Franzose an der Mauer, neben ihm stand Herr Gerhardt von der Parkaufsicht. Die beiden sahen neugierig herüber. »Herr Gerhardt?«, rief Rocco. »Kommen Sie bitte? Und bringen Sie Ihren Franzosen mit.« »Ja, bitte?«, fragte Gerhardt höflich. Der Franzose sagte gar nichts. Er starrte nur zu Garcia. »Haben Sie diesen Mann schon früher einmal hier gesehen?«, fragte Rocco. Gerhardt musterte Garcia eingehend. Garcia sah ihn seinerseits genau an, aber keiner konnte ermessen, was er wirklich sah. Kurz weiteten sich seine Pupillen in erschreckendem Ausmaß, sodass Rocco befürchtete, er würde im nächsten Moment aus purer Angst laut schreiend davonlaufen. Aber dann beruhigte er sich offenbar wieder. Alle seine Kämpfe schienen innerlich abzulaufen, in seinem Gesicht waren nur die Ausläufer der Beben zu sehen. Seine lockigen Haare hingen ihm in Zotteln übers hagere Gesicht, in dem eine große Hakennase das hervorstechendste Merkmal war, sah man einmal von seinen schwarzen, schwimmenden Augen ab. Sein T-Shirt war nicht mehr ganz sauber und er strömte einen erdigen Geruch aus. In seiner Brusttasche steckte eine Pfeife und aus seinem Mundwinkel rann Speichel in seinen schmalen Bart, der sich über die Oberlippe bis unter die Mundwinkel erstreckte. »Nein, ich kann mich nicht erinnern«, sagte Gerhardt nach einer eingehenden Inspektion. »Und ich glaube nicht, dass der mir entgangen wäre.« Rocco verzog die Mundwinkel. »Das habe ich mir gedacht«, brummte er. Der Franzose schien aus einer Art Trance zu erwachen. Er schob den Unterkiefer vor und schluckte leer. »Herr Gerhardt. Klar. Der hat sich doch schon öfter hier herumgetrieben.« Er starrte Garcia an und nickte bedächtig. »Chef, der war schon hier. Weiß ich ganz genau. Ist immer hier und an den Hütten unten im Märchengarten rumgeschlichen.« Er zeigte mit seinem muskulösen Arm nach unten, wo die Hütten stehen mussten. Dann nickte er wieder und sah Garcia prüfend ins Gesicht. »Ganz sicher war der das.« Gerhardt schüttelte den Kopf. »Also, ich hab den hier noch nicht gesehen. Und ich habe euch gesagt, ihr sollt mich informieren, wenn hier so was rumläuft.« Er warf einen angewiderten Blick auf Garcia. »Der war schon oft hier«, wiederholte der Franzose und sah Anna an, ohne auf seinen Chef zu achten. Anna zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. Garcia schnaufte und besah sich den Franzosen aus halb geöffneten Augen. »Ich schlag dir alle Zähne ein«, flüsterte er ohne erkennbare Regung. Trotzdem schien die Anstrengung ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er schwankte zur Seite und stützte sich auf einen der Uniformierten. Der Franzose lachte. »Jederzeit, Mann. Jederzeit.« Er krempelte seinen Pullover hoch und zeigte seine kräftigen Unterarme. »Oh, Mann. Mir reicht es. Können wir dieses Horrorkabinett jetzt aufs Revier mitnehmen?« Anna zeigte in die Runde und sah Rocco genervt an. »Garcia? Warum?« Rocco schüttelte den Kopf. Er traute Garcia alles Mögliche zu, aber keinen Mord. »Na, hör mal. Wir haben ihn hier aus dem Gebüsch gezogen, direkt neben dem Tatort …« »Nicht ganz«, mischte sich einer der Beamten ein, die ihn gefunden hatten. »Er lag da unten.« Er zeigte den Hang hinunter auf ein Blumenbeet. »Wir haben ihn nur hier heraufgebracht, weil es der kürzeste Weg war.« »Anna. Wir könnten ihn wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz drankriegen, da bin ich sicher. Aber das ist auch schon alles. Was sollen wir mit dem Vogel?«, fragte Rocco. »Spinnst du?« Anna traute ihren Ohren nicht. »Immerhin … immerhin konnte er was gesehen haben, oder nicht?« »Na gut, dann lassen wir uns seine Adresse geben. Wenn er wieder klar ist, soll er im Präsidium vorbeikommen. Gut?« Anna verdrehte die Augen. Manchmal konnte sie Rocco auf den Mond schießen. »Was soll das? Der Mann war ziemlich sicher Zeuge in einem Mordfall. Mindestens ein Zeuge, wenn nicht mehr.« »Ach was«, sagte Rocco. »Ich kenne doch Garcia. Der würde keiner Fliege was zuleide tun.« »Ich glaube es nicht«, zischte Anna. Sie packte Rocco am Arm und zog ihn ein paar Meter weiter weg. Beide standen einen Augenblick schweigend nebeneinander und sahen die Allee entlang auf einen Mann, der ein Fahrrad schob und vom anderen Ende her langsam auf sie zukam. »Sag mal, was ist los mit dir?«, fragte Anna. »Gerade eben hast du noch gesagt, du kennst den Kerl nicht gut, und jetzt tust du so, als wärt ihr zusammen in die Grundschule gegangen. Warum willst du den Typ nicht mitnehmen? Das ist doch Quatsch.« »Schau ihn dir doch an. Ich kenne ihn schon eine Weile, der streunt seit einer Ewigkeit hier herum. Sollten wir ihn brauchen, entkommt er uns nicht. Wo sollte er schon hin? Und ich bin sicher, dass er nichts mit dem Mord zu tun hat. Mit Garcia vergeuden wir nur unsere Zeit. Wenn er wieder unter uns weilt, können wir ihn meinetwegen verhören.« Anna atmete tief durch. Sie hatte sich an die Art gewöhnt, mit der Rocco seine Ermittlungen durchzuführen pflegte. Aber manchmal platzte ihr der Kragen. »Ich weiß nicht, Rocco. Ich weiß nicht, was ich machen soll. In anderen Dienststellen wäre so was eine grobe Verletzung der Vorschriften. Und hier komme ich mir vor, als würde ich einen Aufstand machen wegen einer Lappalie.« Inzwischen war der Mann mit dem Fahrrad näher gekommen, was er durch ein unregelmäßiges Klingeln mit der Fahrradglocke kundtat. Rocco und Anna sahen ihm zu, während Rocco leise sagte: »Anna, ich bitte dich. Vielleicht ist es besser, wenn wir den Spuren nachgehen. Du untersuchst den Tatort. Den Turm, dieses Gemäuer und so weiter, während ich ein Wörtchen mit Lohhausen rede. Was sagst du?« Er zeigte auf den Mann mit dem Fahrrad. »Da kommt McCarthy. Das ist der Kumpel von Garcia. Vielleicht kann der ja Licht in die Geschichte bringen.« Er sah McCarthy zu und wiegte bedächtig den Kopf. »Sag mal, bei dem ist auch nicht klar, ob er das Fahrrad oder das Fahrrad ihn schiebt, oder?« »Nicht ganz«, sagte Anna und starrte auf den rundlichen Mann, dessen buntes Hawaii-Hemd an ihm klebte. Er schien zu wenig mehr fähig, außer die Klingel zu betätigen und sich gerade eben so auf den Beinen zu halten. Rocco musste grinsen. »Hallo«, rief er und winkte dem Mann zu. Der stoppte kurz vor Garcia. »Ich bin Arzt«, sagte er, nachdem er sich mit dem Unterarm mühsam den Schweiß von der Stirn gewischt hatte. »Ich soll diesen Mann abholen. Er muss zur …« Er sah sich um, schien zu überlegen und zog die Nase hoch. »Untersuchung«, fuhr er schließlich fort. »Jaha«, prustete Rocco. »Guter Witz, McCarthy. Guter Witz. Der Mann ist Zeuge in einem Mordfall. Warst du vielleicht heute Nacht auch hier im Garten?« »Ich muss weg«, sagte Anna plötzlich. »Ich muss hier weg, bevor noch die gesamte geschlossene Abteilung der Stadt aufmarschiert. Herr Gerhardt, Herr Schaminsky, ich will in den Turm. Würden Sie mich bitte begleiten? Rocco, wir sehen uns später. Ich bin überzeugt, du kommst hervorragend ohne mich aus mit deinen … Bekannten.« »Das sind nicht meine Bekannten«, rief Rocco hinter ihr her und breitete die Arme aus. »Was kann ich denn dafür?« Er sah die Beamten an, die beide die Schultern hochzogen und ihre Handflächen ausbreiteten. Kapitel 2 Rocco musste sich zu Lohhausens Büro durchfragen. Nachdem die Fairy Tale GmbH die Geschäftsführung des Märchengartens übernommen hatte, war die Verwaltung von der Mömpelgardstraße in ein umgebautes Kasernengebäude mit sanierten und restaurierten Büroräumen in die Friedrich-Ebert-Straße gezogen. Lohhausens Firma war also fast Nachbar der Polizeidirektion. Eine Sekretärin begleitete ihn schließlich ins Büro. Es war ein langer Raum mit hohen Decken, die Glasfasertapeten waren weiß gestrichen worden und an einer Wand hingen ein paar dezente Grafiken, die bei der Größe kaum ins Auge fielen. Die gesamte gegenüberliegende Front war verglast und zeigte hinaus auf einen Parkplatz mit neu angepflanzten Bäumen. Lohhausen hatte allerdings die Jalousien nahezu komplett heruntergelassen, sodass im Raum Zwielicht herrschte. Er saß hinter seinem gläsernen Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm seines Notebooks. »Ich bin gleich soweit«, murmelte er und wies mit einer Geste auf einen Lederstuhl. Rocco ging hinüber zum Fenster, klappte die Jalousie mit zwei Fingern auseinander und sah hinaus. Es war nichts los auf dem Parkplatz, grelle Stille in der Mittagshitze, Bäume und Autos schwitzten matt oder glänzend vor sich hin. Er wanderte hinüber zu einem Sideboard, auf dem Entwürfe, Skizzen und Flyer lagen. »Ho, ho, ho«, rief Lohhausen und stand von seinem Stuhl auf. Rocco fühlte sich an den Weihnachtsmann erinnert. »Ich glaube nicht, dass das relevant für Ihre Ermittlungen ist, Herr Kommissar. Das sind Firmeninterna.« Lohhausen lächelte. »Aber unsere Marketing-Kampagne startet bald. Da können Sie dann alles sehen. Setzen Sie sich doch.« Er deutete wieder auf den Stuhl vor ihm. »Herr Lohhausen, ich brauche die Personaldaten von Nicole Dahm. Die können Sie mir doch sicher geben, nicht wahr?« »Natürlich. Kein Problem.« Lohhausen drückte auf einen Summer. Rocco setzte sich und sie warteten einen Augenblick, bis die Sekretärin in der Tür erschien. »Suchen Sie mir doch bitte die Personalakte von Frau Dahm heraus«, sagte Lohhausen. »Der Kommissar benötigt sie für seine Untersuchungen.« Die Dame nickte und verschwand wieder. Rocco und Lohhausen saßen sich wieder schweigend gegenüber. Rocco lächelte und ließ ihn nicht aus den Augen. Warum soll ich die erste Frage stellen, dachte er und hörte, wie Lohhausen tief Luft holte. »Und?«, fragte er. »Wie sieht’s aus?« »Wie sieht was aus?«, fragte Rocco zurück. »Na ja, was gibt’s Neues? Haben Sie den Täter?« Lohhausen war irritiert. Rocco lachte. »Herr Lohhausen«, sagte er sanft. »Wir haben die Tote gerade eben erst gefunden. Wie sollen wir da schon den Mörder haben? Er stand ja nicht daneben. Hoffe ich.« Garcia kam ihm in den Sinn. »Ich habe ein paar Fragen an Sie.« »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich kurz halten könnten«, erwiderte Lohhausen. »Ich habe nicht viel Zeit und …«, er sah auf sein Notebook, »gleich noch einen Termin.« »Sicher«, sagte Rocco. Sein Blick fiel auf die gläserne Schreibtischplatte, durch die er Lohhausens übereinander geschlagene Beine und seine braunen Lederslipper sehen konnte. Er trug hellbraune Socken. Rocco verzog keine Miene. »Eine Ihrer Angestellten ist auf dem … Firmengelände ermordet worden. Es tut mir leid, aber Sie werden sich die Zeit nehmen müssen, meine Fragen zu beantworten.« Lohhausen spielte mit einem Kugelschreiber und sah zum Fenster hinaus. »Tja, richtig. Nicole war eine meiner Angestellten«, sagte er, als hätte er es vergessen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich die geröteten Augen. Für einen kurzen Moment wirkte er müde. »Wissen Sie, ich stehe unter ziemlichem Druck. Unsere Firma ist dabei, den Märchengarten von Grund auf zu modernisieren. Deshalb wurde das Management des Parks in unsere Hände gegeben. Es ist viel zu tun und da kann ich so etwas natürlich nicht brauchen.« »Nicole?«, fragte Rocco. »Haben Sie sich geduzt?« Er bemerkte ein kurzes Zögern bei Lohhausen. »Mit den Mädels schon«, sagte er und zwinkerte Rocco zu. »Wo ist eigentlich Ihre Kollegin?« »Die sieht sich den Tatort an und unterhält sich mit den Parkwächtern. Was hat Nicole … Was hatte Nicole Dahm eigentlich genau für eine Funktion in Ihrem Betrieb?« »Sie war für die Kindersammelstelle zuständig, zusammen mit zwei weiteren Mädchen. Sie wissen schon, an einem Tag wie heute besuchen viele Eltern mit ihren Kindern den Märchengarten. Da geht das eine oder andere verloren und muss wieder eingesammelt werden. Außerdem veranstalten wir spezielle Führungen und Spiele für Kinder und Eltern. Das werden wir noch weiter ausbauen.« Lohhausen legte den Stift auf die Glasplatte seines Schreibtischs, als müsse er genau an dieser Stelle liegen. »Nicole … Frau Dahm war Erzieherin bei uns.« »Und die beiden anderen?« »Noch eine Erzieherin und eine Studentin von der PH. Ingrid … Schmidtgarten und Mindy Schneider.« Mindy. Rocco schwieg und sah auf den Innenhof hinaus. Ein Geländewagen versuchte vergeblich, einzuparken. Wie eine Fliege gegen das Fenster stieß er immer wieder vor und zurück, ohne sichtbares Ergebnis. Es war warm, Rocco hatte schon lange seine Jacke ausgezogen und krempelte nun die Ärmel seines Sporthemds hoch. Auch Lohhausen stand jetzt auf, zog sein Jackett aus und lockerte die Krawatte. »Seit wann kennen Sie Frau Dahm?«, fragte Rocco. »Na, seit sie bei uns angefangen hat. So ungefähr vor einem Jahr.« Wie aufs Stichwort betrat die Sekretärin das Büro und legte Lohhausen die Personalakte auf den Tisch. Er nahm sie, warf einen Blick hinein und gab sie an Rocco weiter. »Hier steht alles Wissenswerte über Nicole Dahm drin«, sagte er. »Wir brauchen auch noch die Adressen der anderen Angestellten, die mit Nicole zusammengearbeitet haben.« Lohhausen verdrehte die Augen und nickte. »Kein Problem. Meine Sekretärin wird sie Ihnen beim Hinausgehen aushändigen.« Rocco lehnte sich zurück und betrachtete das Sideboard, auf dem die Layouts für Prospekte und Plakate lagen. »Sagen Sie, Herr Lohhausen, diese Modernisierung, von der Sie vorhin sprachen … Ich habe schon davon gehört, aber um was geht es da genau?« Lohhausen runzelte die Stirn. »Was hat das mit dem Fall zu tun?« »Das weiß ich noch nicht.« Der Manager schüttelte den Kopf. »Das sind streng vertrauliche Pläne. Der Märchengarten soll … hm, wie soll ich sagen … sozusagen entstaubt werden. Ach, das führt nicht weit genug. Das wird eine ganz neue Dimension von Entertainment. Aber ich kann Ihnen dazu noch nichts sagen. Mit Nicoles Tod steht das ganz sicher nicht in Verbindung.« »Sie sind nicht sehr hilfreich, Herr Lohhausen.« »Das ist nicht meine Aufgabe«, erwiderte Lohhausen verbissen. »Ich muss ein Unternehmen führen und kann es mir nicht leisten, meine Zeit zu vergeuden, nur weil eine überkandidelte Mitarbeiterin am Zopf von Rapunzel erhängt wurde.« Er starrte Rocco mit zusammengekniffenem Mund an und wartete. Rocco hob die Augenbrauen. »Wieso überkandidelt?« »Ich weiß nicht. Sie war vielleicht ein bisschen überdreht, aber eigentlich hat es nichts zu bedeuten«, erwiderte Lohhausen und zuckte mit den Schultern. Rocco stand auf und ging hinüber zum Sideboard. »War Nicole Dahm verheiratet? Oder hatte sie einen Freund?«, fragte er nebenbei. »Ich weiß nicht. Das geht wohl niemanden was an«, erwiderte Lohhausen barsch. »Jetzt schon«, sagte Rocco und drehte sich abrupt um. »Kommen Sie …« »Ich weiß nicht«, sagte Lohhausen widerwillig. Er stand auf und ging hinüber zu Rocco. »Verheiratet war sie jedenfalls nicht. Das geht ja auch aus ihren Unterlagen hervor.« Er zögerte. »Ab und zu wurde sie mal von so einem Burschen abgeholt. Ich glaube, er war Student, wahrscheinlich an der PH. Ich bin mir aber nicht sicher.« Lohhausen nahm die Skizzen vom Sideboard und legte sie auf seinen Schreibtisch. Rocco seufzte. »Herr Lohhausen. Glauben Sie wirklich, ein Projekt dieser Dimension lässt sich in einer Stadt wie Ludwigsburg lange geheim halten? Die Spatzen pfeifen Ihre Pläne doch von den Dächern.« »So? Heute Morgen schienen Sie noch recht überrascht, dass die Fairy Tale die Leitung des Märchengartens übernommen hat.« »Ja. Ich bin ja auch nicht Ihre Zielgruppe. Aber meine Schwester hat eine Tochter. Und die beiden sind erstaunlicherweise schon lange darüber informiert, dass der Märchengarten zu einem sogenannten Event-Park umgestaltet werden soll.« »Event-Park«, sagte Lohhausen abfällig. »Das ist doch völlig veraltetes Wording.« Er stemmte die Hände in die Seiten und blies Luft an die Decke. »Wie auch immer.« Rocco zog geringschätzig die Mundwinkel nach unten. »Die Mütter der Stadt sitzen Ihnen längst im Nacken, nicht wahr? Sie haben ihre Informanten im Stadtrat, richtig?« »Die Mütter der Stadt … Diese bescheuerten Weiber«, knurrte Lohhausen. Lauter sagte er: »Ist sonst noch was?« »Nee«, sagte Rocco. »Bis bald. Ich denke, wir sprechen uns noch.« »Ja, ja.« Lohhausen wandte sich wieder seinem Notebook zu. »Ach, sagen Sie: Wann kann ich den Märchengarten wieder öffnen? Jeder Tag bedeutet verlorenes Geld, das ist Ihnen doch klar?« Rocco sah ihn ausdruckslos an. »Ja. Das ist mir klar.« Anna saß auf einem zerschlissenen Ledersofa vor einem Couchtisch und sammelte mit spitzen Fingern Zigarettenkippen aus einem Aschenbecher. Es war stickig in dem kleinen Zimmer, obwohl die Luke offen stand. An einer Art Kabelrolle baumelte der Zopf von Rapunzel hinaus. Verschiedene andere Personen, die dank ihrer weißen Ganzkörperanzüge nicht näher zu definieren waren, nahmen ebenfalls Proben, packten Kleidungsstücke und Werkzeuge ein, und nahmen Fuß- und Fingerabdrücke, die sich auf dem Boden, dem Tisch und dem Mechanismus, der den Zopf in Gang setzte, befinden mochten. »Hier bist du.« Rocco sah durch die schmale Tür hinein. »Uff, ist hier eine Hitze drin.« »Wie lief es im klimatisierten Büro des Chefmanagers?« Rocco zuckte mit den Schultern. »Wie zu erwarten war, macht er, was er muss, aber nicht mehr. Er nennt seine weiblichen Angestellten ›Mädchen‹.« »Pffh.« Anna rümpfte die Nase. »Das reicht leider nicht, um ihn einzusperren.« Rocco lachte. »Während du dich mit Herrn Märchengarten amüsiert hast, habe ich vielleicht die erste brauchbare Spur«, fuhr sie fort. »Herr Märchengarten. Sehr originell. Ich weiß nicht, ob es besser gewesen wäre, wenn du ihn befragt hättest.« Manchmal ging Anna ihm ziemlich auf die Nerven und Rocco fragte sich, ob sie immer noch wegen der Sache mit Garcia eingeschnappt war. »Auf jeden Fall hätte ich dann in seinem klimatisierten Büro gesessen und du hättest hier im Rapunzelturm im Dreck wühlen dürfen.« »Das ist ehrliche Polizeiarbeit. Du bist doch sonst immer auf der Seite des Proletariats.« »Sehr witzig, Rocco.« Sie gab den Beutel mit den Zigarettenkippen einem der weiß bekleideten Mitarbeiter und schnalzte die Latexhandschuhe von den Händen. »Lass uns rausgehen. Ich brauche frische Luft.« Sie gingen eine schmale Wendeltreppe nach unten. Die Sonne stand fast senkrecht über ihnen und ließ auf dem Platz vor der Burg kein Fleckchen Schatten zu, in das sie sich hätten flüchten können. Die Steine der Burg reflektierten gnadenlos das Sonnenlicht. Sie stand auf einem steil abfallenden Fels, von dem man einen Blick auf den unteren Teil des Schlossgartens hatte. Ein Teich, der von Pflanzen umgeben war, lag dort unten. Das dumpfe Grün in der Tiefe sah aus, als würde es alles Licht aufsaugen, das in seine Nähe kam, irgendwie dunkel, gierig. Über dem Abgrund schwirrte ein Schwarm Mücken in der Sonne. Rocco blieb einen Augenblick am Geländer stehen, schloss die Augen und hielt sein Gesicht in die Sonne. »Was habt ihr gefunden?«, fragte er. »Jede Menge. Ein Paar angekokelte Handschuhe, Fingerabdrücke, Kippen … Ich glaube, die stellen hier nur Raucher ein. Einen Stofffetzen, der zu der Bluse der Toten gehören könnte, Werkzeug …« »Wo ist Gerhardt?« »Keine Ahnung. Er musste weg. Ich glaube, er wollte irgendwelchen Leuten Bescheid geben, dass sie heute nicht kommen müssen, und dann die Eingänge sperren.« Anna machte eine Pause und sah Rocco gespannt an. »Kaum war er weg, ist unser freundlicher Franzose plötzlich redselig geworden.« Rocco hob die Augenbrauen. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Lass uns irgendwie aus der Sonne gehen«, sagte er. »Erzähl weiter.« »Na ja. Er kam auf einmal an und machte vage Andeutungen, dass hier nicht immer alles mit rechten Dingen zugehen würde … Ich glaube, so ähnlich hat er es formuliert.« Sie schlenderten die Allee entlang zurück zum Schloss. Die Bäume warfen ein fleckiges Muster auf den hellen Weg. »Das würde ich eine starke Untertreibung nennen«, sagte Rocco und sah Anna mit einem Seitenblick an. Sie schaute abwesend geradeaus, durch das Tor, durch die Wände des Schlosses, das jetzt vor ihnen auftauchte, und weiter. An ihren Schläfen trocknete ein leichter Schweißfilm, der eine blonde Strähne an ihre Stirn klebte, und für einen Moment wünschte er sich, er würde einfach nur so neben ihr her gehen, nur zum Vergnügen. Er stellte sich vor, sie hätten sich verabredet. Er würde ihre Hand nehmen und sie würde es zulassen. Aber das würde sie nicht. Anna war wieder zurück. Sie lachte. »Das habe ich auch gesagt. Jedenfalls hat er mir einen Namen genannt. Tommy. Aber er wollte auf keinen Fall, dass ich Gerhardt erzähle, wo ich das her habe. Tommy, einer der Hilfsarbeiter, hätte die weiblichen Angestellten schon einige Male belästigt, sagte er. Er könne sich gut vorstellen, dass der was mit dem Mord zu tun habe.« Rocco seufzte. »Na, klar. Das ist jetzt der Zweite, den er anschwärzt. Und es klingt eher so, als ob er seinem Kollegen eins auswischen will. Was meinst du?« Anna zuckte mit den Schultern. »Wir werden uns Tommy wohl mal anschauen müssen.« »Mhm. Aber zuerst fahren wir zur Wohnung von Nicole Dahm.« Auf dem Parkplatz trafen sie Gerhardt. Er stand vorn am Eingang und diskutierte mit einer Familie, die offensichtlich nicht einsehen wollte, dass der Märchengarten geschlossen war und verzweifelt versuchte, Einlass zu erlangen. An der Hand der Mutter hingen zwei heulende Kinder. Sie versuchte, sie zu beruhigen, während der Vater auf Gerhardt einredete. Anna und Rocco warteten am Auto, bis der Parkwächter die Familie abgewimmelt hatte. »Oh, Mann«, stöhnte Gerhardt, als er schließlich zu ihnen kam, und knöpfte einen Knopf seiner Uniformjacke auf. Im Dienst das äußerste Zugeständnis an die Hitze, sollte der Blick wohl besagen, den er dabei zum Himmel warf. »Herr Gerhardt. Wir haben noch ein paar Fragen«, sagte Rocco. »Ja?« Rocco betrachtete ihn. Er war sich über Gerhardts Haltung nicht im Klaren. Keine Frage, er war hilfsbereiter als sein Chef. Jedoch sagte er nicht mehr als nötig. Vielleicht änderte sich das, wenn er ihn mit der Aussage des Franzosen konfrontieren würde. »Wie haben Sie das gemacht?« Rocco wies mit dem Daumen auf die Familie, die durchs Tor abzog. Gerhardt sah ihn verdutzt an. »Ich habe ihnen Freikarten für einen anderen Tag versprochen.« »Herr Kaminsky hat ausgesagt, dass es Belästigungen der weiblichen Angestellten gegeben hat«, fuhr Rocco zusammenhanglos fort. »Stimmt das?« »So viel zum Umgang mit vertraulichen Aussagen«, sagte Anna und schüttelte den Kopf. »Herr Kaminsky?«, fragte Gerhardt und fächelte sich vergeblich frische Luft zu. »Der Franzose«, erklärte Anna. »Ach so. Schaminsky.« Gerhardt sah die beiden mit großen Augen an, als würde erst der Name, dann die Aussage in seinem Hirn ankommen. »Der Franzose hat gesagt, die weiblichen Angestellten würden … Das ist gut.« Er schüttelte den Kopf und lachte ein kurzes, trockenes Lachen. »Ausgerechnet … Wer soll das wohl gewesen sein?« »Haben Sie schon mal davon gehört? Ist jemand mit Beschwerden diesbezüglich zu Ihnen gekommen?«, fragte Anna, ohne auf seine Frage einzugehen. »Nein, es ist noch niemand diesbezüglich auf mich zugekommen«, sagte Gerhardt ärgerlich. »Aber ich habe sehr wohl mitbekommen, dass so etwas vorgekommen ist.« »Sie haben einen Mitarbeiter namens Tommy. Ist der heute hier?«, fragte Rocco. »Aha. Daher weht der Wind. Das ist ein starkes Stück.« Gerhardt kratzte sich den kahlen Hinterkopf. Er nickte Anna und Rocco zu, als seien sie in sein Geheimnis eingeweiht. »Ja?«, fragte Anna gedehnt. »Tommy habe ich heute noch nicht gesehen«, sagte Gerhardt und seine Miene nahm einen erbosten Ausdruck an. »Aber wenn man jemanden in der Nähe der weiblichen Belegschaft findet, dann ist es der Franzose. Der Kerl hält sich für unwiderstehlich. Explizite Klagen sind noch keine gekommen. Aber ich weiß, dass alle drei Frauen genervt waren von seinen ständigen Annäherungsversuchen.« Anna warf Rocco einen bedeutungsvollen Blick zu. Rocco blieb unbeeindruckt und behielt Gerhardt im Auge, bis er sicher war, dass er nichts weiter zu sagen hatte. »So«, sagte er. »Sollten Sie Tommy sehen … Er soll sich zu unserer Verfügung halten.« Gerhardt sah ihn verblüfft an. »Na, und …«, stammelte er, »und das reicht, dass man verdächtigt wird? Wenn ein Typ wie der Franzose eine abfällige Bemerkung fallen lässt?« Er schüttelte den Kopf. »Das hat man nun davon … das ist Verleumdung … das sind ja Methoden.« »Herr Gerhardt, bleiben Sie ruhig«, sagte Rocco. »Es wird sich alles aufklären.« Sie stiegen ins Auto und fuhren los. »Na toll«, sagte Anna. »Den hast du ja prima beruhigt.« Kapitel 3 Es war jetzt sengend heiß. Der Himmel hatte die Farbe von Stahl angenommen. Irgendwo in der Ferne schwebte eine kleine Wolke, unsichtbar für Anna und Rocco. Der Rest des Universums schien in diese undefinierbare Farbe geschmolzen zu sein. Im Auto hatte Anna die Scheibe heruntergelassen und streckte ihren Arm hinaus. Der Fahrtwind war warm wie Wüstensand. »Mach mal zu. Ich schalte die Klimaanlage ein«, sagte Rocco. Anna ließ das Fenster hoch. »Aber dreh das Ding nicht so weit auf, bitte.« Rocco drehte am Temperaturregler, bis eiskalte Luft sie umwehte. Anna verdrehte die Augen. »Nicht so weit.« Sie drehte den Knopf zurück. »Es gibt übrigens noch eine Spur. Die ist wahrscheinlich interessanter als diese Sache mit dem Hilfsarbeiter. Ganz unnütz war mein Besuch bei Lohhausen nämlich nicht. Nicole Dahm hatte wohl einen Freund, der an der PH studiert. Vermutet Lohhausen … Allerdings weiß er nicht, wie er heißt.« »Mhm«, machte Anna. »Müssen wir den Freund nur noch finden.« »Die Dahm hatte zwei Kolleginnen im Märchengarten. Eine Erzieherin und eine Studentin. Vielleicht wissen die ja was.« Anna drückte sich in den Sitz, presste die Lippen aufeinander und starrte zur Vorderscheibe hinaus. »Wir haben auch noch eine dritte Spur«, sagte sie leise. »Kannst du mir jetzt mal erklären, warum diese seltsamen Vögel heute Morgen einfach gehen durften? Ein Typ, der wahrscheinlich die ganze Nacht neben dem Rapunzelturm im Park gelegen hat, und sein zugedröhnter Kumpel … Warum hast du die gehen lassen?« Rocco seufzte. »Die beiden sind harmlos. Garcia hätte es im Leben nicht geschafft, diese Frau an den Zopf zu binden und aus der Luke zu werfen.« »Meinst du aus moralischen oder aus körperlichen Gründen?« »Beides … vermutlich«, sagte Rocco. »Ich tippe eher auf Nicole Dahms Freund. Eifersuchtsdrama oder so was. Oder der Täter kommt aus dem Umfeld des Märchengartens. Immerhin ist der Park nachts ja abgeschlossen. Man muss erst mal reinkommen. Vielleicht war es auch der Hilfsarbeiter. Oder der Franzose …« »Oder Lohhausen oder Dr. Mahler oder der Bürgermeister. Der hat bestimmt auch einen Schlüssel. Es können alle gewesen sein, nur diese Drogenheinis nicht, oder?« Anna schüttelte den Kopf. Sie schwiegen. Rocco fuhr über die Brücke am Bahnhof. Unter ihnen donnerte ein Güterzug, aber sie hörten ihn nicht. Anna spielte am Fensteröffner herum. »Lass das Fenster zu. Die Klimaanlage läuft.« »Na und?« »Da soll man das Fenster zu lassen.« »Bist du sicher?« »Nein.« Rocco holte tief Luft und sah Anna von der Seite an. Diese Frau trieb ihn zum Wahnsinn. Sie saß neben ihm und starrte nach wie vor stur nach vorne, die Lippen vorgeschoben, als würde sie schmollen. War sie beleidigt? Oder zog sie ihn lediglich auf? Bei Anna wusste er nie, woran er war. »Also gut«, sagte er schließlich. »Ich kenne Garcia und McCarthy schon ewig. Kennen ist vielleicht übertrieben, aber sie sind schon sehr lange in der Stadt. Die beiden sind Amerikaner, mit der Armee hierhergekommen. Ich weiß, die Armee ist seit Jahren weg. Aber McCarthy und Garcia sind eben hier hängen geblieben. Oder man hat sie vergessen. Sie waren wohl GIs.« Er sah Anna an und lächelte. »Kollegen, sozusagen.« Anna schnaubte bloß. »Jedenfalls wohnen sie irgendwo in Pattonville. Sie haben eine Pilzzucht, heißt es. Als ich noch in der Schule war, haben wir ab und zu ein bisschen Gras von ihnen gekauft. Das ist alles. Die beiden tun keiner Fliege was zuleide.« Rocco fuhr die Ausfallstraße zur Autobahn entlang. Sie war lang, gerade, breit und staubig. Zäh wie geschmolzener Teer floss der Verkehr vierspurig aus der Stadt und in sie hinein. Rechts und links säumten etwas zurückgesetzte Fabrik- und Verwaltungsgebäude den Weg. Wer auf dieser Straße fuhr, der wollte wirklich fort, selbst wenn er vor einigen Augenblicken noch gar nicht daran gedacht hatte. Diese Straße war wie zum Wegfahren gemacht, Rocco kannte kaum eine trostlosere. Und wenn die Sonne schien, kam einem zwangsläufig der Gedanke an Flucht. Weiter hinten schimmerten Seen auf dem Asphalt, daneben warteten matte Wiesen und Felder, dort konnte es nur besser werden … Er bog rechts ab. »Bist du jetzt zufrieden?«, fragte er. Anna setzte sich aufrecht in ihren Sitz. »Zufrieden?« Sie sah Rocco ungläubig an. »Ist dir klar, was du mir gerade eben erzählt hast? Offensichtlich nicht. McCarthy und Garcia waren vielleicht so was wie GIs. Wir wissen nicht genau, wo sie wohnen. Sie haben an der Schule Drogen an Jugendliche verkauft. Du hast die Drogen genommen. Rocco, du bist Polizeibeamter. Was erzählst du mir da? Und damit soll ich zufrieden sein? Die beiden gehören hinter Gitter, und zwar so schnell wie möglich. Denen traue ich alles zu. Und du lässt sie laufen.« Anna wurde immer lauter, zum Schluss klang sie fast schrill. Rocco warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie sank in ihren Sitz zurück. Seine Geschichte und die Hitze gaben ihr anscheinend den Rest. »Sie züchten vielleicht Pilze«, flüsterte sie. »Ich hab nur gezogen, nicht inhaliert.« Rocco lachte und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Komm schon.« Anna versuchte, ihm auszuweichen und verzog den Mund. Rocco stoppte den Wagen vor einem biederen, blassgrünen Mehrfamilienhaus in einem Wohngebiet in der Weststadt. Es stammte aus den 60er- oder 70er-Jahren. Zwei Reihen grauer Balkone hingen an der Front, rechts und links der gläsernen Eingangstür. »Das gab es bei euch doch bestimmt auch«, sagte er, als sie den schmalen, mit Platten gelegten Fußweg entlang zum Haus gingen. Anna drückte auf die Klingel ganz oben. ›Dahm‹ stand in gedruckten Großbuchstaben darunter. »Nein«, sagte sie bestimmt. Anna stammte aus einem kleinen Kaff in Norddeutschland. In Bezug auf Drogen beschränkten sich ihre Erfahrungen auf Bacardi-Cola in der Disco und ein paar Züge an einer filterlosen Reval, nach denen sie sich übergeben musste und die Bacardi-Cola im Gebüsch des Disco-Parkplatzes gelandet war. Rocco konnte sich den Namen des Ortes, von dem Anna kam, nie merken. Sie hatte sich, wie sie sagte, wegen einer privaten Angelegenheit nach Ludwigsburg versetzen lassen, aber er hatte bis jetzt nicht aus ihr herausbekommen, um was genau es sich dabei gehandelt hatte. Soweit er gehört hatte, war es keine rein private Sache gewesen, sondern eine dienstliche. »Sie wird wohl kaum öffnen«, meinte Rocco und zeigte auf die Klingel. Anna kramte in ihrer Tasche. »Ich hab doch den Beutel mit dem Schlüsselbund mitgenommen. Hier …« Sie zog einen Plastikbeutel von der Spurensicherung heraus, in dem ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln steckte. Sie wollte den ersten ausprobieren, als die Haustür von innen geöffnet wurde. Ein junger Mann kam heraus, stutzte und betrachtete sie neugierig. Rocco musterte ihn ebenfalls und zog die Augenbrauen hoch. Der junge Mann machte einen Schritt zur Seite und hielt ihnen die Tür auf. Dann ging er eilig weiter. »Danke«, sagte Rocco. Sie stiegen die Treppe hoch bis ins oberste Stockwerk. Vor der Tür wollte Anna wieder die Schlüssel zücken, aber Rocco hob die Hand. »Warte mal«, sagte er leise. »Ich glaube, da ist offen.« »Warum habe ich den blöden Schlüsselbund überhaupt mitgenommen? Hier wird wohl nicht abgeschlossen?«, flüsterte Anna. Sie zogen ihre Waffen und betraten vorsichtig die Wohnung. Rocco war nicht der Typ, der sich viele Gedanken über seine Haltung zu Religion, Gott und Spiritismus machte. Er hatte in dieser Hinsicht nichts zu klären. Er lebte, dankte jedoch niemandem explizit dafür. Er schloss allerdings nicht aus, dass ihn jemand absichtlich als denjenigen geschaffen hatte, der er war. Und er nahm es als selbstverständlich hin, dass Natale, sein Vater, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit Santo Michele, Pater Pio und Jesus Christus anrief, und seine Schwester Laura, eine moderne, junge Frau, Kreuze aufhängten und regelmäßig den Gottesdienst besuchten. Rocco hatte seine eigene Art von Spiritismus: Er war überzeugt davon, spüren zu können, wenn etwas nicht stimmte. Dann gab es eine Kraft … Bei Gefahr lag etwas in der Luft, das seine Wahrnehmung veränderte. Er hatte oft vergeblich versucht, Anna die Sache zu erklären, aber sie winkte jedes Mal ab. Und doch war das Gefühl da, es war wie ein Knistern an den äußeren Enden seiner Nerven, als bestünde eine leichte elektrische Spannung. Und dann war äußerste Vorsicht geboten. Als sie jetzt in Nicole Dahms Wohnungsflur standen, die Waffe in der Hand und an die Wand gepresst, spürte er davon allerdings nichts. Ohne weitere Umstände steckte er deshalb seine Pistole wieder ein und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. »Spinnst du?«, zischte Anna, die an die Wand gedrückt dastand. »Hier ist niemand«, sagte Rocco überzeugt. Er betrachtete den Raum vor sich. »Aber es war jemand da. Verdammt.« Auf dem Boden des großen, hellen Zimmers breiteten sich über das Parkett und den Teppich wahllos verstreut Fotos, Notizen und die heruntergeworfenen Kissen des Sofas aus. Klamotten und aus einem Schrank herausgerissene Schubladen lagen in der Ecke. Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. So konnte man doch nicht vernünftig zusammenarbeiten. Mit gezogener Waffe überprüfte sie die restlichen Räume. Es war niemand da. »Scheiße«, rief Rocco, als Anna zurück ins Wohnzimmer kam. Er hatte ein Foto in der Hand. »Der Kerl von der Haustür …« Er rannte auf den Balkon und beugte sich über die Brüstung. Auf der Straße war niemand zu sehen, abgesehen von ein paar Autos, die den Berg in Richtung Stadtmitte hinunterfuhren. »Er ist weg.« »Der Kerl unten an der Tür?«, fragte Anna. Rocco nickte. Er hätte es wissen müssen. Der junge Mann, der ihnen die Tür aufgemacht hatte, musste Nicoles Freund gewesen sein. Rocco konnte es nicht erklären, aber er hatte ein leichtes Kribbeln gespürt, als er an ihm vorbeigegangen war. Er hatte dem keine Bedeutung beigemessen, doch jetzt fiel es ihm wieder ein. Er sollte jedes Mal auf sein Gefühl hören. Und nie im Leben würde er zugeben, dass er sich dieses Kribbeln, sein untrügliches Gespür, vielleicht nur im Nachhinein einbildete. »Wahrscheinlich hat er dieses Chaos hier angerichtet«, sagte Anna. Tatsächlich fanden sie weitere Fotos, auf denen Nicole mit dem jungen Mann zu sehen war, dem sie unten an der Haustür begegnet waren. Auffällig war jedoch noch etwas anderes: Aus einigen Bildern war offensichtlich jemand herausgeschnitten worden. Vielleicht hatten sie Nicoles Freund gestört, als sie geklingelt hatten. Wahrscheinlicher war allerdings, dass es sich um jemand anderen handelte. Auf manchen Bildern sah man einen Arm oder eine Hose, aber das Gesicht war immer entfernt worden. »Tja«, sagte Rocco«, nachdem sie eine Weile in den Fotos und Notizen gewühlt hatten und er die Handschuhe auszog. »Das soll sich die Spurensicherung genau ansehen. Vielleicht finden die ja noch ein Bild von diesem Herrn, der lieber unerkannt bleiben will. Auf jeden Fall wäre es ziemlich unsinnig von ihrem Freund, wenn er diese Bilder zerschnitten hätte.« Anna zuckte mit den Schultern. »Eifersucht?« »Glaube ich nicht. Wenn er Nicole Dahm auf dem Gewissen hätte, dann hätte er doch seine Fotos zerschnitten, und nicht irgendwelche anderen. Und wer weiß, wann die Fotos zerschnitten wurden.« »58 Prozent aller Tötungsdelikte lassen sich auf eine Beziehungstat zurückführen. Aus Eifersucht stellt man die seltsamsten Dinge an. Warum nicht? Es sieht alles danach aus.« »58 Prozent …«, sagte Rocco leise. »Woher weißt du das?« Er wartete eine Weile, aber Anna sagte nichts. »Na ja, auf jeden Fall sollten wir den Kerl dringend ausfindig machen.« Er sah sich um. Nicole hatte ihre Wohnung geschmackvoll eingerichtet. Über der Couch hing eine großflächige Grafik in dezenten Farben, gegenüber ein Flachbildfernseher. An der Fensterfront stand ein langer, schwerer Holztisch mit Lederstühlen. Ein hoher, antiker Eichenschrank stand geöffnet im Eck. Sie begutachteten das Schlafzimmer und schließlich die Küche. Als sie wieder im Wohnzimmer standen, sagte Anna: »Man scheint nicht so schlecht zu verdienen als Erzieherin.« »Das sind verdammt teure Möbel.« Rocco nickte. »Entweder hat sie geerbt, jede Menge Schulden oder es hat jemand ein bisschen was draufgelegt.« Anna sah ihn mitleidig an. »Ein bisschen was draufgelegt. Ja, klar.« Sie nahm ihr Handy und rief die Spurensicherung an. »Kommst du noch mit?«, fragte Rocco, als sie wieder unten auf der Straße standen. »Wohin?« »Na, zu mir. Mein Vater kocht heute. Meine Schwester und Maria sind auch da.« Maria war die Tochter von Roccos Schwester. Er wusste, dass Anna sie gern mochte. Anna zögerte. »Heute nicht«, sagte sie dann streng. »Du hast mich heute zu sehr geärgert. Dieser Kerl im Park … und die Aktion in der Wohnung …« Rocco sah sie an. »Ach, komm schon. Ich wusste einfach, dass niemand mehr in der Wohnung ist.« »Du arbeitest nicht allein. Wir sind ein Team. Das dachte ich bisher jedenfalls. Und es hat ja lange genug gedauert, bis das funktioniert hat. Aber solche Aktionen machen es nicht einfacher.« Rocco lehnte sich ans Auto, sah zu Boden und holte tief Luft. »Es tut mir leid«, sagte er und sah sie an. »Du hast wahrscheinlich recht. Ich werde versuchen, in Zukunft mehr darauf acht zu geben.« Er öffnete die Tür. »Okay?« »Okay«, sagte Anna. »Also, wie sieht’s aus?«, fragte Rocco und sah sie verschmitzt an. »Spaghetti bei Natale?« Anna lachte und schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Fahr mich ins Präsidium. Julia kocht für mich.« Kapitel 4 Als Anna zu Hause ankam, hatte sich die kleine Wolke am Himmel zu einem mächtigen Turm ausgewachsen. Noch schien die Abendsonne mit unverminderter Kraft, noch trotzte der Himmel dem drohenden Wolkenband. Doch es ragten immer mehr hohe Wolkensäulen aus ihm hervor, die sich streckten und Vorsprünge ausbildeten, als wollten sie den glühenden Ball mit ihren substanzlosen Fingern fassen, langsam, als wäre irgendwo dort hinten am Horizont ein Raumschiff in Zeitlupe explodiert. Anna sah einen Augenblick lang sorgenvoll zum Himmel hinauf, dann dachte sie, dass sie das eigentlich nichts angehe und stieg das Treppenhaus hinauf. Sie bewohnte zusammen mit ihrer Freundin Julia hinter der Kirche am Marktplatz eine Dreizimmerwohnung unter dem Dach. Das große Wohnzimmer nutzten sie gemeinsam und jede hatte ein Schlafzimmer. Zwischen Küche und Bad führte eine schmale Tür hinaus auf einen kleinen, überdachten Balkon mit Blick auf die umliegenden Dächer. Anna warf ihre Tasche und ihre Schuhe unter die Garderobe. Die kurze Zeit, die sie benötigt hatte, um die Treppen nach oben zu gehen, hatte den Wolken genügt, um sich nahezu vollständig vor die Sonne zu schieben. Ein Strahlenkranz intensiven Lichts brach sich an der Kante der mächtigen Wolkenberge. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis das Gewitter losbräche. Andererseits war es auch schon vorgekommen, dass der Augenblick kurz bevor stand, man quasi das Knistern der Blitze spüren konnte, und dann passierte gar nichts. Die Wolken zogen vorbei und hinterließen nichts als drückend schwüle Luft. Und dieses Mal …? Anna zuckte mit den Schultern. »Hallo?«, rief sie, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und verwischte feine Perlen von Schweiß. »Hallo«, antwortete Julia aus der Küche. »Ich bin schon am Kochen. Dauert aber noch eine halbe Stunde.« »Ja, ja, kein Problem. Ich muss sowieso erst unter die Dusche.« Anna kippte das Fenster. Im Halbschatten des Badezimmers vermeinte sie, die Hitze des Tages noch einmal in ihrem Gesicht aufwallen zu spüren. Sie stellte sich unter die Dusche und drehte das Wasser auf. Wie ein Schock traf sie die Kälte des Strahls auf den Schultern, wie eine unerwartete, glückselige Berührung. Sie hatte das Gefühl, als müsse erst eine Hitzeschicht auf ihrer Haut verdampfen, bevor die Kühle sie langsam durchdringen konnte. Sie hielt ihr Gesicht direkt in den Wasserstrahl, als das Gewitter mit einem einzigen, gewaltigen Schlag losbrach. Vor Schreck fiel Anna das Duschgel aus der Hand. Sie hob es auf und warf einen Blick durch den Spalt des Fensters. Draußen war der Himmel schwarz geworden, dazwischen hingen hellgraue Fetzen, die aussahen wie die Überbleibsel der Explosion, die gerade eben stattgefunden hatte. Wind hob an und dann kam der Regen wie ein Vorhang, vom Wind schräg über die Dächer geblasen. Automatisch drehte Anna das Wasser etwas wärmer. Ihr Blick blieb starr am Fensterspalt hängen und verlor an Schärfe, sie sah weit in die Ferne. Sie spürte den Regen und das Gewitter und erinnerte sich: Ein Regenguss hatte sie draußen auf den Feldern überrascht, gelber Weizen und gelber Raps, zwischen dem ein paar Kornblumen standen. Sie waren den staubigen Feldweg gegangen, viel zu weit eigentlich in dieser Hitze, ohne jeden schützenden Schatten. Es war sehr still, kein Lüftchen regte sich und die Sonne stand unbeweglich am Himmel. Nur sie beide bewegten sich über das Land. Die Felder lagen an einem langgezogenen Hang und beim Aufstieg vom weidengesäumten Bach ging Anna schräg hinter Tom. Sie kam ins Schwitzen und er drehte sich ab und zu um, lächelte ihr zu und wartete. Dann waren sie oben, aber es hatte sich nichts verändert. Die Felder zogen sich einfach immer weiter und über ihnen lag die flirrende Hitze. Also gingen auch sie immer weiter. Eigentlich wollte Tom ihr an diesem Tag etwas Wichtiges sagen. Das war der eigentliche Grund gewesen, spazieren zu gehen, doch dann wurden sie vom Regen überrascht. Die Front war hinter ihnen aufgezogen, und sie waren zu beschäftigt gewesen, um nach vorn zu sehen, die trockene Zunge am Gaumen zu spüren oder an etwas anderes zu denken. Anna hatte die ersten warmen Tropfen, die ihre dünne Sommerbluse durchdrangen, wie Nadeln auf ihrer Haut gespürt und Sekunden später waren sie beide klatschnass gewesen. Sie hatten gelacht und waren durch den Regen zurückgerannt. Tom hatte ihr später, viel später, gesagt, über was er mit ihr sprechen wollte. Zu dem Zeitpunkt wollte sie es schon nicht mehr wissen. Das Wasser der Dusche war nur lauwarm und Anna spürte erst jetzt, wie die Kälte sie langsam durchdrang. Schnell drehte sie es ab und trocknete sich mit dem Handtuch. Draußen war nach wie vor der Donner zu hören, ab und zu erhellte ein Blitz das Fenster. Das Gewitter war beinahe vorbeigezogen. Der Regen ließ nach und man konnte das Rauschen des Wassers in den übervollen Regenrinnen hören. Sie kam mit gekämmten Haaren aus dem Bad, die durch die Nässe und im Halbdunkel des Wohnzimmers dunkler erschienen als sonst. Julia hatte den Tisch gedeckt. »Ich wollte ja eigentlich auf den Balkon«, sagte sie, als Anna in ihr Zimmer ging. »Aber da ist es zu nass.« Sie legte das Besteck neben die Teller. »Essen ist gleich fertig.« »Oh«, sagte Anna. »Einen Moment. Ich bin gleich so weit.« Sie schloss ihre Zimmertür hinter sich und zog sich an. Kurz blieb sie auf ihrem Bett sitzen, gedankenverloren. Warum hatte sie ausgerechnet heute an Tom gedacht? War es das Gewitter? Oder der Fall? Nein, wie sollte die Geschichte mit Tom und der Fall im Märchengarten zusammenhängen? Es gab keine Parallelen. Vielleicht war es einfach die Vermutung gewesen, es könne sich um eine Beziehungstat handeln. Denn – sie rief sich ihre Statistik wieder in Erinnerung – das waren im Schnitt 58 Prozent aller Tötungsdelikte. Anna stand auf, ging ins Wohnzimmer und stellte Weingläser auf den Tisch. Julia kam mit einer Flasche aus der Küche. »Italienisch«, sagte sie. »Im Gedenken an deinen süßen Kollegen. Mach mal auf. Ich bringe das Essen.« Anna verdrehte die Augen. »Von wegen ›süßer Kollege‹. Rocco hat mich heute ganz schön genervt.« »Ach, komm. Das kann nicht sein. Wie das?« Julia und Anna kamen aus dem gleichen Dorf und waren seit ihrer Kindheit befreundet. Ihre Freundin war einer der Gründe gewesen, sich nach Ludwigsburg versetzen zu lassen. Julia arbeitete dort als Referentin beim Kulturamt. Auf den ersten Blick konnten die beiden allerdings nicht unterschiedlicher sein. Anna war schmal und zierlich und sah mit ihren hellen Augen und den blonden Haaren, nun ja, bei dem Licht, das in der Wohnung herrschte, fast ätherisch aus. Julia dagegen war größer und kräftiger. Sie hatte dunkelbraunes Haar, dunkle Augen und wirkte lebhafter als Anna. Und sie hatte etwas für Rocco übrig … Anna erzählte Julia von der Wohnungsdurchsuchung heute Nachmittag. »Und dann steckt der einfach seine Waffe wieder ein und spaziert ins Wohnzimmer, als sei es seins. Und ich stehe da …« Julia lachte. »Italiener …«, sagte sie, als sei es ein hervorstechendes Merkmal von Italienern, sich unnötig in Gefahr zu begeben. »Ja, klar«, schnaubte Anna. »Italiener … Du würdest Rocco auch noch verzeihen, wenn er hier …«, Anna überlegte, aber ihr fiel nichts ein, »im Handstand reinkommen würde.« Julia sah sie verdutzt an. »Auf jeden Fall würde ich ihm das verzeihen«, sagte sie und beide lachten. Anna spießte ein paar Nudeln auf die Gabel. »Auf jeden Fall ist das kein Witz. Irgendjemand hat das Opfer, eine gewisse Nicole Dahm, an den Zopf von Rapunzel gebunden und aus dem Fenster geworfen.« »Hat sie noch gelebt?« Anna zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Das erfahren wir hoffentlich morgen. Dr. Mahler ist der Meinung, dass sie schon tot war, als sie rausgeworfen wurde.« »Und so was in Ludwigsburg.« Julia schüttelte den Kopf. »Das klingt nach irgendwelchen obskuren Sexspielchen.« »Obskure Sexspielchen? Na ja. Wir denken jedenfalls an eine Beziehungstat.« »Sex muss ja nicht unbedingt etwas mit Beziehung zu tun haben«, gab Julia zu bedenken. »Das stimmt«, bekräftigte Anna. »Zumindest gab es keine offensichtlichen Anzeichen von sexueller Gewalt.« Sie schenkte die Gläser nach. »Morgen wissen wir mehr. Auf jeden Fall gehört ein kranker Geist zu einer solchen Inszenierung. Ich muss mir mal das Märchen näher ansehen. Vielleicht hat es ja damit was zu tun. Aber ich habe das Gefühl, als hat sich da jemand einen makabren Scherz erlaubt. Da steckt was anderes dahinter.« Julia öffnete noch eine Flasche Wein. »Ach, Anna«, seufzte sie. »Ich muss mich immer nur mit Investoren, Vereinen, Banken und Ausstellern rumschlagen.« »Na hör mal.« Anna tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Ich ziehe ja nicht nur mit Rocco in der Gegend rum. Zuvor ist meistens jemand ermordet worden. Das ist wirklich kein Anlass zur Freude.« »Sterben muss jeder irgendwann«, sagte Julia leichthin. Anna verdrehte die Augen. »Du bist unmöglich.« Rocco war dem Gewitter nur knapp entronnen. Die ersten Tropfen erwischten ihn, als er vor der Haustür seines Vaters stand. Natale Marino besaß ein Häuschen unterhalb des Marstall-Centers, mit einem handtuchbreiten Garten, der sich an die Küche anschloss. Er sei eben schlau gewesen, sagte er, wenn man ihn nach dem Haus fragte. Er hatte früh erkannt, dass er nicht mehr nach Apulien zurückkehren würde, von wo er in den Siebzigern mit einigen Freunden in einem klapprigen Wagen nach Deutschland gekommen war. Und nach ein paar Jahren, während viele seiner Kollegen noch in Wohncontainern übernachteten, hatte er von seinem Lohn als Schweißer dieses Häuschen angezahlt. Rocco und seine Schwester Laura waren darin groß geworden. Oben gab es zwei Zimmer, das elterliche Schlafzimmer und ein Kinderzimmer, das Rocco sich mit seiner Schwester geteilt hatte. Als seine Frau gestorben war, zog Natale ins Wohnzimmer im Erdgeschoss, die Kinder hatten jedes ein Zimmer, und die Küche wurde zum Treffpunkt für alle. So blieb es, bis Laura und Rocco auszogen. Laura saß schon am Küchentisch und schnippelte Tomaten. Natale stand am Herd und rührte in seiner Soße, als der Regen kam und Donner die Luft zerriss. Das Fenster zum Garten vibrierte. »Wo ist Maria?«, fragte Rocco und schüttelte sich. Er hatte eine Gänsehaut von den Tropfen, die ihn erwischt hatten. Laura zuckte mit der Schulter. »Ciao«, sagte sie. »Hallo.« »Sie ist oben, glaube ich«, sagte Natale und sah nach draußen, besorgt um seine Tomaten, die unter dem kleinen Schutzdach standen, das er gebaut hatte. Maria, Lauras Tochter, machte es Spaß, in den oberen Zimmern und auf dem Speicher herumzustöbern. Dort lagerten die verschiedensten Dinge aus der Vergangenheit, die ihr weit weg und mystisch vorkam. Zeiten, in denen sie noch nicht gelebt hatte, wie ihr Großvater ab und zu sagte. Als ob es so etwas gäbe, dachte Maria dann immer. Sie legte stets den Kopf leicht schräg und sah ihren Großvater mit dunklen, unergründlichen Augen abschätzend und streng an, wenn er so einen Unfug erzählte. Aber manchmal dämmerte etwas in ihr wie eine dunkle Ahnung, und ein nebelverhangenes Bild entstand, das möglicherweise diese Vergangenheit darstellte, in der sie noch nicht am Leben gewesen war. »Mama.« Maria stand mit großen, tränengefüllten Augen in der Tür. Sie hatte Angst bekommen dort oben, allein im Halbdunkel der staubigen Zimmer, als das Gewitter loskrachte. »Ach, meine Kleine«, sagte Laura, wischte sich die Hände am Küchentuch ab und nahm sie auf den Arm. Maria war sechs und sollte nach den Sommerferien in die Schule kommen. Rocco grinste und Maria, die ihn angestarrt hatte, drehte schnell den Kopf weg. »Essen ist fertig«, meldete Natale vom Herd. »Wascht euch die Hände und setzt euch hin. Vor allem du, Rocco.« Maria warf Rocco einen Blick zu, als sei er ein Schwerverbrecher. Wahrscheinlich wusch er sich einfach nie die Hände ohne besondere Aufforderung. »Laura, was ist mit dem Salat?« Laura durfte den Salat machen, aber die Nudeln waren Natales Angelegenheit. »Fertig. Fehlt nur noch Essig und Öl«, sagte Laura. »Maria. Setz dich neben deinen Onkel.« Maria sah schräg zu Rocco hinauf, sagte jedoch nichts. Rocco sah zu ihr hinunter und schwieg ebenfalls. »Was macht die Arbeit?«, fragte Natale. Er fragte immer so, als würde Rocco, wie er früher, in der Fabrik arbeiten. Da war er nach Hause gekommen und hatte erzählt, was dieser Kollege zu jenem Capo gesagt und was der wiederum geantwortet hatte. Er hatte berichtet, wenn die Auftragslage gut war und wenn sie schlecht war, auch wenn Rocco irgendwann klar wurde, dass er von der Auftragslage keinen blassen Schimmer hatte. Seine Mutter hatte ihm immer zugehört und ab und zu ein »So, so« oder »Aha« oder »Na, so was« eingestreut. Natale hätte es gern gesehen, wenn Rocco ein Handwerk gelernt hätte. Etwas Solides nannte er das. Schreiner oder Mechaniker … Doch sein Sohn hatte stets mit dem Kopf geschüttelt, egal was er ihm vorgeschlagen hatte. Rocco wollte zur Polizei gehen. An manchen Tagen fragte er sich, ob er das nur aus Trotz seinem Vater gegenüber getan hatte. Aber ihm gefiel seine Arbeit, sah man einmal von den düstersten Seiten ab, den Besuchen in der Gerichtsmedizin … »Wir hatten eine …« Rocco fiel ein, dass seine sechsjährige Nichte neben ihm saß. »Wir hatten heute im Märchengarten zu tun«, sagte er. Maria warf ihm wieder einen schnellen Blick zu. »Im Märchengarten?«, fragte Laura. »Ist einer der sieben Zwerge gestorben?«, fragte Natale und kicherte heiser. Rocco verdrehte die Augen. »Die können nicht sterben, Opa«, piepste Maria. »So? Warum denn nicht? Warum sollten Zwerge nicht sterben können?« Natale wickelte genüsslich Spaghetti um seine Gabel. »Die leben immer weiter«, sagte Maria statt einer Erklärung. »Das ist keine Begründung«, sagte Rocco. »Doch«, behauptete Maria. »Hm«, brummte Rocco. »Jedenfalls habe ich ein längeres Gespräch mit Lohhausen gehabt, dem Chef der neuen Betreiberfirma. Du kennst ihn vielleicht?« Er sah Laura an. »Pffh«, machte sie. »Ich kenne ihn nicht persönlich. Gott sei Dank. Aber ich weiß, was er macht, dieser Schuft.« »Was macht er denn?«, fragte Natale. »Seine Firma will den ganzen Märchengarten dem Erdboden gleichmachen und stattdessen so einen elenden Event-Park bauen.« Natale war nicht ganz klar, was ein ›Event-Park‹ sein sollte, also beschränkte er sich darauf, abfällig zu brummen. »Die Stadt wird schon ein Auge drauf haben, dass da nichts schiefläuft«, sagte Rocco leichthin. »Die Stadt.« Laura schnaubte verächtlich. »Die wollen doch nur mitverdienen. Lohhausen hat sie alle um den kleinen Finger gewickelt mit seinen Besucherzahlen und Gewinnprognosen. Der hat doch Narrenfreiheit. Wenn es nicht noch ein paar Stadträte gäbe, die den Namen verdienen, dann wüssten wir noch nicht mal was davon. Lohhausen … bei dem würde ich gerne mal den Knüppel aus dem Sack holen.« Rocco lachte. »Na, na, na«, sagte Natale ruhig. »So was sagt man nicht.« »Was?«, fragte Laura entrüstet und breitete die Handflächen aus. »Knüppel aus dem Sack?« »Ich habe ihm gesagt, dass ich von seinen Plänen bereits weiß«, unterbrach Rocco. »Lohhausen? Das hättest du nicht tun sollen. Jetzt wird er um jeden Preis versuchen herauszubekommen, wer das verraten hat.« »Na und?« Rocco zuckte mit den Schultern. »Wenn die Stadt hinter ihm steht, verstehe ich den ganzen Geheimhaltungszirkus sowieso nicht. Wir sind doch hier nicht bei der Mafia.« »Mafia ist das richtige Wort für diese Leute.« »Psst. In meiner Küche wird nicht über die Mafia geredet«, sagte Natale. »Wir reden ja eben nicht von der Mafia.« »Ruhe.« Natale warf seine Gabel in den Teller. Das Gewitter war vorüber und hinterließ auch in der Küche der Marinos ein unwirkliches, seifiges Licht zwischen Dämmer und Dunkel. Ab und zu grollte der Himmel aus der Ferne, aber er vermochte niemanden mehr ernstlich zu beunruhigen. Weiter weg auf der Durchgangsstraße war die Sirene eines Feuerwehrautos zu hören, das durch den nachlassenden Regen fuhr. Nicht weit entfernt saß Lohhausen im Restaurant Post-Cantz und wartete auf einen Unternehmer aus dem Hotelgewerbe. Er hatte so weit alles unter Dach und Fach, was die zukünftigen Fahrbetriebe und Verkaufsstände, Buden und Souvenirläden anging, die den Märchengarten aufpeppen und, wie er seinen Investoren gern sagte, ins 21. Jahrhundert katapultieren sollten. Für die Gastronomie und vor allem für das sich nach seinen Plänen erst entwickelnde Geschäft mit Übernachtungsgästen suchte er potenzielle Geldgeber aus der Branche. Es sollte lediglich ein Sondierungsgespräch sein. Lohhausen klärte die Positionen und Geschäftskonditionen mit seinen Teilhabern gerne, bevor er sie der Stadt und dem zuständigen Bau- und Kulturamt präsentierte. Entsprechend vorbereitet konnten sie eine eventuelle Ausschreibung dann locker für sich entscheiden. Lohhausens Vorgehen war nicht immer ganz legal: Er hatte eine zweite Firma gegründet, die einzig den Zweck hatte, für ihn als Betreiber des Märchengartens geeignete Investoren zu suchen. Er steckte das Geld ein, das die Stadt dafür locker machte, und kassierte bei den Interessenten in Form von Prämien und Beteiligungen noch einmal ab. Was war schon dabei, hatte er sich anfangs gefragt? War es nicht völlig legitim, Geld zu verdienen? Die Stadt würde die bereitgestellten Mittel ansonsten für irgendwelchen Unsinn ausgeben. Außerdem war er doch nur ein kleiner Fisch. Peanuts, was er da nebenbei einsackte. Bei anderen, größeren Projekten flossen doch, stillschweigend toleriert von Stadt und Land, Millionen, wenn nicht gar Milliarden, unter der Hand in diverse Taschen. In einer Stadt wie dieser, die ihre eigenen Qualitäten gerne übersah und ewig damit haderte, scheinbar im Schatten der nahen Landeshauptstadt zu stehen, waren der Bürgermeister und große Teile des Gemeinderats auf Lohhausens Vorschläge bezüglich des Märchengartens geflogen wie die Wespen auf warmes, abgestandenes Bier. Dementsprechend unaufmerksam und großzügig waren sie bisher bei der Auslegung bestimmter Gesetze und Auflagen. Und wo kein Kläger, da kein Angeklagter, sagte sich Lohhausen. Allerdings war ihm im Gegensatz zu den Honoratioren der Stadt klar, dass sich Widerstand formiert hatte. Ganz deutlich war ihm das wieder an diesem Vormittag geworden, nach dem Besuch des Kommissars, der über seine Pläne Bescheid zu wissen schien. Natürlich gab es auch andere Stimmen im Gemeinderat, die er mit seinen Versprechungen nicht hatte locken können, und natürlich wusste er von einer Bürgerinitiative, die sich formiert hatte. Aber das waren bislang alles kleine, unbedeutende Details. Er musste schnell handeln, um die Unterschriften unter seine Pläne zu bekommen, bevor jemand genauer nachforschte und das Ganze sich auswuchs. Diesen und ähnlichen Gedanken hing Lohhausen nach, während er an einem Tisch in der Ecke des Restaurants wartete, als die Tür aufflog und der Wind seinen zukünftigen Investor hereintrieb. »Sie wären also dabei?«, fragte Lohhausen. Sie hatten während des Gewitters bestellt. Das Essen kam, als das Gewitter ging, und Lohhausen hatte seinem Gast die Möglichkeiten in bunten Farben ausgemalt und ihn dezent auf die Verbindlichkeiten ihm gegenüber im Falle eines Abschlusses hingewiesen. Jetzt saßen sie bei Kaffee und Cognac an ihrem Tisch in der Ecke des Restaurants, das von den Lichtverhältnissen draußen völlig unbehelligt blieb, da die Fenster verdunkelt waren und schummrige Lampen den Raum beleuchteten. Lohhausen hatte dem Investor seinen Plan erläutert, soweit es ihm nötig schien, er hatte mit seinen Zahlen jongliert, das Potenzial aufgezeigt, die 100.000 Besucher mehr im Jahr vor ihm vorbeiflanieren lassen und auf der Serviette die Millionenumsätze errechnet, mit denen durch den Betrieb neuer oder den Ausbau vorhandener gastronomischer Infrastruktur zu rechnen war. »Sie wären also dabei«, sagte er, nachdem der Hotelier bestätigend genickt hatte. »Zu den gegebenen Konditionen. Wir sprechen das noch mal in Ruhe durch, dann sehe ich keine Probleme. Es wird für die Gastronomie-Sparte wahrscheinlich ein weiterer Investor dazukommen. Das will die Stadt so.« In Wirklichkeit kümmerte sich die Stadt nicht darum, Lohhausen wollte nur sichergehen, sich nicht von einer Partei abhängig zu machen. »Sie werden in dieser Sache nur mit mir verhandeln, nachdem die Stadt Ihnen den Zuschlag erteilt hat. Die Pläne für den Bau von zwei Restaurants auf dem Gelände liegen bereits vor. Über mindestens ein Hotel in Gehweite zum Park habe ich bereits mit dem Bürgermeister und dem Leiter des Bauamts gesprochen. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch dafür in kurzer Zeit mit den ersten Entwürfen rechnen können.« Sein Plan würde diese Stadt nachhaltig verändern, das war klar. Seit den 70er-Jahren mit dem Bau des Marstall-Centers und der Durchgangsstraße B 27 hatte es keinen größeren Umbruch als den von ihm geplanten mehr gegeben. Er wusste noch nicht, wie er es anstellen sollte, aber für dieses Hotel würde ein Teil des Favorite­parks geopfert werden müssen. Als Lohhausen später am Abend mit einem Whisky zu Hause auf seinem Sofa saß, sah er es vor sich: Er hatte eine ganze Stadt zur Verfügung, um seine Vorstellungen zu verwirklichen. Alle fraßen ihm aus der Hand, und das zu Recht. Er schuf Arbeitsplätze. Er brachte Geld, nicht nur für sich, auch andere würden an seinen Projekten verdienen. Was sollte daran falsch sein? Der erste Schritt würde der Umbau des Märchengartens sein. Ab morgen sollte seine Werbe-Kampagne für ein märchenhafteres Ludwigsburg anrollen. Er lachte leise und nahm einen großen Schluck. Plötzlich zuckte er zusammen, als hätte er etwas gehört. Lohhausen stand auf und sah durch die Vorhänge nach draußen auf die Straße. Da unten, außerhalb des Lichtscheins, den die Straßenlaterne warf, stand ein Mann. Eine gedrungene Gestalt, unmöglich zu erkennen, wer das war. Aber als Lohhausen die Vorhänge zur Seite schob, um das Fenster zu öffnen, verschwand er mit eiligen Schritten. Einen Moment lang stand Lohhausen unbeweglich da, die Hand am Vorhang, und starrte auf die Straßenlaterne, deren schmutziges weißes Licht die Bäume im Umkreis grau aus dem Dunkel holte. Dann schüttelte er unwirsch den Kopf, ging zurück zur Couch und goss sich einen weiteren Schluck ein. Kapitel 5 Rocco hatte – aus seiner Sicht der Dinge – nur eine Schwäche, und das war die Gerichtsmedizin. Er konnte es schwer ertragen, durch die neonbeleuchteten Gänge zu gehen, in Dr. Mahlers Saal mit den auf Hochglanz polierten Metalltischen, und sogar ihr Büro zu betreten war ihm zuwider, obwohl oder weil es kaum an ein nüchternes, mit Glas und Metall ausgestattetes Büro erinnerte. Vielmehr lag ein in die Jahre gekommener, räudiger Perserteppich auf dem Boden und in der Ecke schimmelte eine Topfpflanze undefinierbarer Gattung vor sich hin, deren große Blätter eine Art eigenständige Sensoren zu haben schienen, nach denen sie sich ausrichteten. Rocco vermutete, die Pflanze könnte fleischfressend sein. Allein diese karnivorische Vorstellung genügte, um zeitweilige Übelkeit bei ihm zu verursachen. Und er hatte die völlig absurde Vorstellung, dass unter einem der weißen Laken, mit denen die in den Gängen geparkten Bahren bezogen waren, vielleicht ein Zeh herausragen könnte oder, noch schlimmer, eine Hand nach ihm greifen. Hinter jedem Seitengang, hinter jeder Tür, in jedem Eck vermutete er das undefinierbare, dunkle Grauen. Natürlich war das alles Unsinn und vertrug sich nicht mit seinem Bild von Männlichkeit. Aber genau das machte es noch schlimmer. »Ich weiß nicht, ob es ein Fehler war, heute Morgen zu frühstücken«, sagte er. Anna, die neben ihm ging, grinste. »Vielleicht.« Sie waren auf dem Weg zu Dr. Mahler, die sich am Telefon nicht hatte überreden lassen, zu Rocco ins Büro zu kommen. Er klopfte an die cremefarbene Tür und sie traten ein. Dr. Mahler sah kurz auf und ließ ein langsam rollendes, glucksendes Lachen hören. »Sieh da, die Märchenforscher.« »Sehr witzig. Guten Morgen«, sagte Anna. Rocco starrte erst gebannt hinüber zur Topfpflanze, dann wanderte sein Blick weiter zu Dr. Mahler. Seine Augen wurden größer. »Guten Morgen«, sagte er leise. Dr. Mahler schien sich auch an diesem Tag vorgenommen zu haben, alle sie umgebenden Farben in den Schatten zu stellen. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig von Haarspray-Wolken, deren Friseurgeruch schwer durch die Luft waberte. Ihre Augen waren mit einem dunkelvioletten Lidschatten und schwarzem Kajalstift geschminkt, die sie aussehen ließen, als habe sie eine durchwachte Nacht mit dem geöffneten Körper von Nicole Dahm verbracht oder in einer Depro-Wave-Disco durchgetanzt. Einen Kontrapunkt setzten das malvenfarbene Rouge und die dunkelrot geschminkten Lippen. »Bevor Sie fragen«, sagte sie ungerührt und sich ihrer Ausstrahlung offensichtlich bewusst, »Nicole Dahm wurde nicht vergewaltigt. Aber sie hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr.« Roccos Blick wanderte wieder hinüber zur Topfpflanze. Er spürte ein mulmiges Gefühl im Magen aufsteigen. »Aha«, sagte Anna. »Wir können also davon ausgehen, dass sie den Täter kannte.« Dr. Mahler zuckte mit den Schultern. »Hm. Es soll ja auch schon zu sexuellen Handlungen zwischen völlig Unbekannten gekommen sein. Aber dazu dürfen Sie mich nicht fragen. Ich bin Wissenschaftlerin und halte mich an die Fakten.« »Wie viel Zeit liegt denn zwischen dem Geschlechtsakt und ihrem Tod?« »Ganz exakt kann ich das nicht sagen. Dazu wären weitere Untersuchungen nötig. Aber der Vollzug von Sex und der Eintritt des Todes lagen nicht sehr weit auseinander.« Dr. Mahler schien zufrieden mit ihrer Formulierung und schmunzelte. »Also liegt der Schluss nahe …?«, versuchte Anna, ihr ein Einverständnis abzuringen. »Ich bin Wissenschaftlerin, Frau Behr«, entgegnete Dr. Mahler gelassen und faltete ihre Finger auf dem Schreibtisch. Die Nägel waren hellrot lackiert. »Ich liefere die Fakten. Die Schlüsse ziehen Sie.« Anna verzog den Mund und nickte ergeben. »Auf jeden Fall starb sie nicht an den Folgen der Kopfverletzung. Die ist allerdings tiefer als zuerst vermutet. Wahrscheinlich hatte sie dadurch bereits das Bewusstsein verloren. Die Flecke an den Händen sind Hämatome, die auf einen Kampf hindeuten. Die Male am Hals entstanden durch Würgen, aber daran ist sie nicht erstickt. Sie wurde von dem Kabelbinder stranguliert, mit dem sie der Täter am Rapunzelzopf festgemacht hat«, sagte Dr. Mahler. »Heißt das, der Täter ist davon ausgegangen, dass sie schon tot war?« Dr. Mahler sah Anna mitleidig an. »Nach der Art der Wunde zu schließen, ist sie gegen einen scharfkantigen Gegenstand geflogen oder sie wurde mit einem solchen Gegenstand geschlagen«, fuhr sie fort, ohne auf die Frage einzugehen. »Die erste Variante halte ich aufgrund des Wundmusters für plausibler.« »Der Kampf hat also gar nicht im Turm stattgefunden?« Dr. Mahler lächelte, als hätte sie Anna bei einem Wiederholungswitz ertappt. »Das kann ich nicht sagen. Allerdings gab es am Tatort relativ wenige Blutspuren.« »Es kann also sein, dass sie erst nachträglich dorthin geschleppt wurde.« Anna unterließ es, diese Vermutung als Frage zu formulieren, sondern schrieb sie lieber in ihr Notizbuch. Dr. Mahler gab noch einige Einzelheiten preis, was die Lage der Wunde – schräger, tiefer Riss am Hinterkopf – und die Beschaffenheit der Würgemale und Hämatome – Quetschungen und Schläge – anging. Sie schlug auch vor, die Wunden direkt am Objekt, welches sich nebenan im Seziersaal befand, zu erläutern. Sie wies mit dem Daumen in die Richtung, in der unweit Nicole Dahm auf einem Metalltisch liegen musste. Rocco winkte mit einem undefinierbaren Laut ab. »Mehr Luft«, stöhnte er, als sie endlich Dr. Mahlers Tür hinter sich schlossen. Anna musste beschleunigen, um mit ihm Schritt halten zu können. Sie sah erstaunt auf. »Ich wusste gar nicht, dass du so belesen bist.« Rocco antwortete mit einem Geräusch, das sich am besten mit ›Arrgh‹ beschreiben lässt. Als sie schließlich durch die Tür ins Sonnenlicht traten, atmete er auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich nach vorn, keuchend wie nach einem Halbmarathon. »Na, komm. Jetzt übertreib mal nicht«, sagte Anna. »Heute war es besonders schlimm. Findest du nicht?«, flüsterte Rocco und sah Anna sensibel an. »Wenn ich allein an diese Pflanze denke.« Anna beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen. In diesem Zustand war Rocco wie Butter in ihren Händen. Warme Butter … »Hör mal. Ich bin zwar inzwischen auch der Meinung, dass es sich um eine Beziehungstat handelt. Wir müssen unbedingt Nicoles Freund finden. Aber wenn wir die Erzieherinnen interviewt haben, will ich auf jeden Fall noch einmal deine zwei Freaks befragen. Die kommen mir so nicht davon. Auch wenn der eine mit der Tat möglicherweise nichts zu tun hat, könnte er doch zumindest was gesehen haben.« »Garcia. Ach komm …«, sagte Rocco lahm. »Okay?« Anna ließ nicht locker. »Ich weiß gar nicht, ob ich wissen will, was der gesehen hat.« »Rocco. Ich will nie wieder einen Fehler machen.« Anna war selbst nicht klar, warum sie das Problem verallgemeinerte. Es war aus Versehen passiert. Aus irgendeinem Grund musste sie wieder an Tom denken, und sie ärgerte sich darüber. Warum beschäftigte sie der Kerl immer wieder? Sie hatte gedacht, sie wäre so langsam über die Geschichte hinweg. »Das wirst du nicht schaffen.« Rocco sah sie einen Augenblick verdutzt an. Hatte diese doch eher existenzielle Aussage noch etwas mit dem Fall zu tun? Waren ihm bestimmte Details entgangen? »Aber ich kann es versuchen«, sagte Anna fest. »Okay«, seufzte Rocco und setzte hinzu: »Wenn wir sie finden … Sie wohnen wohl irgendwo in Grünbühl, in den ehemaligen Kasernen.« »Wir werden sie finden«, sagte Anna bestimmt. »Verlass dich drauf.« Die Vernehmung von Ingrid Schmidtgarten und Mindy Schneider, Nicole Dahms Kolleginnen, verlief eher monoton, sah man von dem aufsehenerregenden, weil ziemlich gewagt ausgeschnittenen Dekolleté von Mindy Schneider ab. Rocco jedenfalls war froh – zumindest im Hinblick auf die Verkehrssicherheit auf der Marbacher Straße, auf der sie nach der Vernehmung ins Freibad fahren wollte –, dass Mindy unter ihrer Bluse wenigstens ein Bikini-Oberteil trug. Die beiden bestätigten weitgehend, was sich Anna und Rocco schon gedacht hatten. Der junge Mann auf den Bildern war Nicoles Freund gewesen. Sein Name sei Petz, also wahrscheinlich Peter, meinte Ingrid Schmidtgarten, und Mindy Schneider hielt es durchaus für möglich, dass er, Petz, wie sie an der PH studierte. Sie habe ihn dort schon einmal gesehen, glaubte sie. Beide hatten keine Ahnung, wer der andere Mann sein könnte, der so sorgfältig aus den Fotos herausgeschnitten worden war, die sie bei Nicole in der Wohnung gefunden hatten. Sie wussten nichts von einem anderen Freund. Nicole hatte nicht sehr viel aus ihrem Privatleben erzählt, so schien es. »Sie war … ziemlich verschlossen«, sagte Mindy, die von Rocco vernommen wurde. »Anfangs eigentlich nicht«, erzählte Ingrid im anderen Zimmer Anna. »Aber irgendwann hat sie gar nichts mehr erzählt. Und wenn man sie mal nach Petz gefragt hat, hat sie nur abgewinkt. Also, es kann schon sein, dass sie einen anderen hatte, aber gesagt hat sie nichts.« »Nicole war nicht so viel unterwegs, glaube ich«, sagte Mindy. »Als ich im Märchengarten angefangen habe, sind wir alle abends ab und zu noch zusammen weggegangen. Das war eigentlich ganz nett, aber Nicole ist immer früh aufgebrochen. Und irgendwann ist sie nicht mehr mitgekommen.« »Wir haben eine Aussage, dass Sie und Ihre Kolleginnen öfter mal von einem der Arbeiter oder Aufseher belästigt wurden. Ist da was dran?« Mindy sah Rocco verdutzt an. »Wer soll denn das gewesen sein?« »Tommy? Einer der Hilfsarbeiter?«, fragte Rocco vorsichtig. Mindy schnaubte und warf ihre halblangen, rötlichbraunen Haare mit einer verächtlichen Kopfbewegung nach hinten. Rocco stieg der Duft eines Shampoos in die Nase, das in Kombination mit ihrer Sonnenmilch wie feuchtes Heu mit würzigen Blüten und einem Hauch Kokos roch und bei ihm eine Reihe von Assoziationen auslöste: Sonne, halb heruntergelassene Jalousien, weiß gestrichene Räume, ein verlassenes Haus im Sommer. Summende Bienen und Gras. Blinzelndes Blau. »Der? Der tut doch keiner Fliege was zuleide. Wer erzählt denn so einen Unsinn?« »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen.« Rocco räusperte sich und zögerte einen Moment. »Und wie steht es mit dem Franzosen?« Mindy zog die Augenbrauen hoch. »Das ist der mit dem Bürstenschnitt, so ein Kleiner, Untersetzter, oder? Ja, stimmt, die sagen alle immer ›der Franzose‹ zu dem, weiß der Henker, warum.« Sie warf Rocco einen schuldbewussten Blick zu. Er winkte lächelnd ab. Im selben Moment wurde er rot. Idiot, dachte er. »Der allerdings ist ziemlich aufdringlich. Der hält sich für unwiderstehlich, glaube ich.« Sie überlegte. »Belästigung … So weit würde ich jetzt nicht gehen, aber er kann schon anstrengend sein. Ganz witzig war das manchmal nicht mehr.« Anna und Rocco hatten versucht, den Franzosen zu sprechen, doch der war heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, hieß es in Lohhausens Büro. Keiner wusste, wo er war. Zu Hause war er nicht zu erreichen. Also hatten sie die Kollegen von der Streife informiert und sie gebeten, die Augen offenzuhalten. Die Befragung von Tommy konnte warten. Ausnahmsweise waren sie beide der Meinung, dass er wahrscheinlich nichts mit der Sache zu tun hatte. »Belästigung«, sagte Anna, als sie im Wagen saßen und die Ausfallstraße nach Pattonville entlangfuhren. Ingrid Schmidtbauer hatte Anna ungefähr das Gleiche erzählt wie Mindy Rocco. Sie war lediglich etwas zurückhaltender gewesen. »Glaube ich auch«, meinte Rocco. »Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Ganz sicher. Das ist doch typisch für so eine Geschichte. Nur, weil noch nichts passiert ist, verharmlost man das Ganze. Weil es sich um einen Kollegen handelt, hält man die Klappe und lässt sich weiter blöd anmachen.« »Na ja. Wir werden den Franzosen schon finden. Und dann nehmen wir ihn uns vor.« »Ach ja?«, fragte Anna spitz. »Da sind wir jetzt ganz korrekt? Aber bei deinen Kifferkumpels lassen wir mal fünfe gerade sein, wie?« »Anna …«, sagte Rocco genervt. Er setzte den Blinker und bog links ab nach Pattonville. Die Adresse, die McCarthy den Beamten gestern am Tatort gegeben hatte, war falsch. »Wie sollte es auch anders sein.« Anna schüttelte den Kopf. Irgendwie hatte niemand mit diesem Mord zu tun, aber alle fühlten sich bemüßigt, Falschaussagen zu machen. Sie wollten vom Boston-Ring in den Philadelphiaweg einbiegen und saßen jetzt ratlos im Wagen und starrten auf die Wiesen und Felder, die sich in langem Bogen an Pattonville anschlossen. »Philadelphiaweg. Von wegen. Scheiße«, flüsterte Rocco. Es war kein Philadelphiaweg da, oder zumindest nichts, das den Namen verdient hätte. Er steuerte den Wagen auf dem Boston-Ring im Rückwärtsgang zurück bis zum nächsten Wohnhaus. Als ihnen jemand auf dem Gehweg entgegenkam, ließ Rocco das Fenster herunter und fragte nach Garcia und McCarthy. »Nie gehört«, sagte der Mann und zuckte mit den Schultern. Die Nachfrage im Zentrum von Pattonville und im Supermarkt brachte immerhin ein, dass verschiedene Leute Garcia und McCarthy schon öfter hier gesehen hatten. Keine der Kassiererinnen konnte sich allerdings erinnern, den beiden jemals irgendwelche Lebensmittel verkauft zu haben. Bei den Lehrern und Kindern der nahe gelegenen Grundschule ging das Gerücht um, Garcia und McCarthy würden in den Kellern und Abwasserkanälen der Siedlung hausen. »Tja«, sagte Rocco. Sie befanden sich wieder auf dem Boston-Ring, an der Ecke zum Philadelphiaweg. Rocco lehnte sich gegen das Auto und sah hinüber auf die Wiesen, auf denen ein paar Obstbäume standen. In der Mittagshitze flirrte die Luft. Anna kniff die Augen zusammen. Sie sah in die andere Richtung, zu den Häusern, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen. Ein kleiner Erdwall hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich war es nicht mehr als eine minimale Erhebung im Rasen vor dem langgestreckten Gebäude, und trotzdem … Sie ging hinüber und umrundete das Rasenstück. Eine niedrige Tür war in die Erhebung eingelassen, ähnlich der eines gut getarnten Schutzbunkers oder Vorratskellers außerhalb des Hauses. Die Tür war mit einer grünen Farbe bestrichen, die an manchen Stellen bereits abgesprungen war. Anna drückte die Klinke und die Tür gab nach. Sie hielt Ausschau nach Rocco, der nach wie vor am Auto lehnte und auf die in der Hitze schwimmenden Bäume starrte. »He.« Rocco drehte sich um. »Ich glaube, ich habe was gefunden«, rief Anna und winkte ihm. Langsam kam er über die Straße. Anna öffnete die Tür einen Spalt. Mit einem seufzenden Geräusch ging sie auf. Dahinter war es stockdunkel. »Bring die Taschenlampe mit«, rief sie. »Sie ist, glaube ich, im Kofferraum.« Rocco drehte wieder um und holte sie. »Was gibt’s denn?«, fragte er, als er schließlich bei Anna ankam. »Hier ist eine Tür.« Anna streckte die Hand nach der Lampe aus und Rocco gab sie ihr. »Na und?« Er folgte mit dem Blick dem Strahl. Ein schmaler Gang aus nüchternem Beton zog sich in Richtung der Häuser und des zentralen Platzes von Pattonville. Von der niedrigen Decke hingen Staub und Spinnweben, in denen sich im Lauf der Zeit kleine Blätter gesammelt hatten. Ein paar Stufen führten zum staubigen Fußboden, durch den sich ein Rinnsal einer undefinierbaren Flüssigkeit zog. Wasser, hoffte Anna. Es roch nach feuchtem Kalk und alter Farbe. »Vielleicht hat McCarthy gar nicht gelogen«, sagte Anna. »Und vielleicht ist die Geschichte von den Kindern auf dem Schulhof ja wahr, und die beiden hausen hier unten irgendwo.« Rocco seufzte. »Vielleicht gibt es den Weihnachtsmann wirklich.« »Vielleicht.« Anna verzog den Mund. »Los, komm.« »Ach, nee«, stöhnte Rocco, stieg aber doch hinter Anna die Treppe hinunter und folgte ihr in den Gang. Vor ihnen lag erstickendes Dunkel, nur die Lampe warf ihren Lichtkegel auf den Boden und gegen die Wände. Nach einiger Zeit hatten sie das Gefühl, der Weg würde sich leicht nach links krümmen, aber das konnte täuschen. Der Orientierungssinn ging in diesem Schlauch aus Beton schnell verloren. Hinter Anna stolperte Rocco und fluchte leise vor sich hin. Sie hielten sich an der Hand, damit sie sich im Dunkel nicht verloren, obwohl bis jetzt keine einzige Abzweigung aufgetaucht war. Auf diese Weise konnte Rocco, der hinter Anna herging und weitaus weniger sah als sie, mit ihr Schritt halten. Gefühlt hatten sie bereits mindestens einen Kilometer in dem Tunnel zurückgelegt, realistisch betrachtet waren es wahrscheinlich nicht mehr als 150 Meter. Außer der leichten Biegung, deren Eindruck aber auch dem Kreisrund des Lichtstrahls geschuldet sein konnte, hatte sich der Gang in keiner Weise verändert. Staubig, ab und zu etwas Sickerwasser am Boden und schnurgerade Betonwände. Die Luft war stickig und lastete schwer in ihren Lungen, als würden sie Kreidestaub atmen. Dann kamen sie an eine Tür. »Da«, sagte Anna und ihre Stimme klang dumpf. Rocco antwortete mit einem erstickten Husten. Schwammiges Licht, gefiltert von einer metallenen Lochmatte irgendwo über ihnen. So diffus und unglaubwürdig es war, machte es doch den Strahl der Taschenlampe, der bisher ihre einzige Verlässlichkeit, die Führung durch das steinerne Bergwerkdunkel gewesen war, schlagartig bedeutungslos. Der Lichtkegel zeichnete sich blass, kaum zu erkennen, an der grauen Betonmauer ab. Anna schaltete die Taschenlampe aus. Das Tageslicht fiel durch ein Fenster in einem Schacht ein paar Meter über ihnen. Der Raum war nicht groß, die Wände bestanden aus demselben grauen Waschbeton wie der Gang, aus dem sie gekommen waren. An einer Wand war ein Wasserhahn angebracht, an dem ein langer Schlauch hing. Aus seinem Ende sickerte ein stetiges Rinnsal Wasser. An den anderen Wänden befand sich jeweils eine Tür, aus einer waren sie gekommen, also noch zwei weitere. Bevor Anna etwas sagen konnte, sagte Rocco: »Wenn du jetzt denkst, wir teilen uns auf, hast du dich geschnitten. Die Erfahrung lehrt, dass sich Gruppen in Labyrinthen, unbekannten Kellern oder fremden Villen niemals aufteilen sollten, geschweige denn, einer allein in der Gegend herumstolpern.« Seine Stimme klang dumpf, die Wände warfen sie trocken zurück. Anna lachte. »Welche Erfahrung?«, fragte sie. »Die Erfahrung, die einem die ungezählten und durchaus realistischen Teenie-Horrorfilme der 80er- und 90er-Jahre aus den USA vermittelt haben. Der Mensch ist deshalb so erfolgreich im Kampf gegen die feindliche Natur, weil er nicht nur aus eigenen Erfahrungen lernen kann. Und: Wir befinden uns quasi auf amerikanischem Boden.« »Nicht dass es bei deiner durchgängig schlüssigen Argumentation eine Rolle spielen würde, aber dieser Boden ist seit Jahren wieder deutsch. Die Amerikaner sind meines Wissens abgezogen.« »Aber ihre Geister und Dämonen haben sie mit Sicherheit in solchen Kellern wie diesem zurückgelassen.« Anna schüttelte den Kopf und öffnete eine der beiden Türen. Es war genauso stockdunkel wie in dem Gang, aus dem sie gekommen waren. Sie wollte es Rocco nicht zeigen, doch beim Gedanken, die Keller hier allein zu durchstreifen, wurde ihr ein bisschen mulmig zumute. Außerdem hatten sie keine zweite Taschenlampe dabei. »Wir haben sowieso keine zweite Taschenlampe dabei«, sagte sie und öffnete die zweite Tür. Sie führte in einen weiteren Gang, in dem allerdings diffuse Dämmerung herrschte. Weiter hinten musste eine zweite Lichtquelle sein. Anna beschloss kurzerhand, diesen Weg zu nehmen. »Komm«, sagte sie und ging voraus. Rocco seufzte gottergeben und folgte ihr. Sie gingen ein Stück, bis Anna bemerkte, dass sich etwas veränderte. Der Boden unter ihr wurde auf einmal glitschig, als würden sie auf Algen gehen. »Spürst du das?«, fragte sie über die Schulter. »Was?«, fragte Rocco zurück. »Der Boden ist so glitschig.« »Oh, mein Gott«, war alles, was Rocco antwortete. Es dauerte nicht lange, und der Gang wurde etwas breiter. Rechts ging eine Reihe von Türen ab, die in kleine, zellenartige Verliese führten, in die, ähnlich wie im ersten Raum, Tageslicht durch ein Lochgitter fiel. »Was ist das?«, fragte Anna leise, nachdem sie eins davon betreten hatten. »Wahrscheinlich Folterkammern der US-amerikanischen Streitkräfte«, sagte Rocco. Auf eine äußerst unangenehme Weise fühlte er sich an das gerichtsmedizinische Institut von Dr. Mahler erinnert. »Schon mal was von Waterboarding gehört?« »Ich habe so langsam das Gefühl, dass du auf unsere amerikanischen Freunde nicht so gut zu sprechen bist, Rocco.« Anna deutete in ein Eck des kleinen Verschlags, der in einem schwäbischen Mietshaus gerade noch so als Keller durchgegangen wäre. »Ich habe eigentlich das da gemeint.« Hinter der Tür lag ein beachtlicher Haufen vermodertes Holz, auf dem es schwach leuchtete. Es roch muffig und feucht in dem Raum, aber durchaus nicht unangenehm. Rocco war so, als kannte er den Geruch. »Wow«, sagte er, nachdem er die Gewächse, die phosphoreszierend und filigran aus Holz und Rinden sprossen, näher betrachtet hatte. »Das sind biolumineszierende Pilze.« Sie sahen in den anderen Räumen nach. In fast jedem fanden sie eine Anlage ähnlicher Art vor, die auf jeweils unterschiedlichen Unterlagen verschiedene Pilze beherbergte. In einem wuchsen braune Pilze auf einem schwarzen Erdboden, im nächsten standen vier Fliegenpilze im klassischen Rot mit weißen Sprenkeln zwischen Farnkraut. Manche schleimten sich auf purer Nährlösung am nackten Boden entlang, andere lebten in Reagenzgläsern und Petrischalen innerhalb kompliziert anmutender Versuchsanordnungen. Ihnen wurden über diverse Leitungen mit Pipettenöffnungen verschiedenartige Flüssigkeiten zugeführt. Es roch nach allen möglichen Ingredienzien, Fanta, Cola, Sprite und Nikotin, saure Lösungen, Alkohol, Benzole und vielem mehr. Mochten sie anfangs vielleicht gedacht haben, dass die Pilze ein Zufallsprodukt der Umgebung waren, die umhervagabundierenden Sporen sich eigenständig im feuchten Keller niedergelassen hatten, so war die Illusion durch die ausgeklügelte Anlage – Rocco nahm an, dass sie ausgeklügelt war – mit den Petrischalen, Glaszylindern, Reagenzgläsern und Pipetten gründlich widerlegt worden. Hier fanden Experimente statt. »Tja, eine Pilzzucht«, sagte Anna lapidar. »Ja«, sagte Rocco. Die einzelnen Kulturen waren sogar beschriftet. Die Namen der Pilze standen in lateinischen Bezeichnungen auf einem Schild, darunter waren verschiedene Zeichen und Abkürzungen notiert. Zum Beispiel stand bei den leuchtenden Pilzen, die Anna und Rocco zuerst gefunden hatten: Omphalotus illudens und darunter Holz + D./CT-3. An einer der Petrischalen klebte ein Zettel, auf dem wiederum die Pilzart notiert war: Lepiota clypeolaria und darunter L. m. Hum. + D./Dex. Rocco nahm eine Probe des Bodens und zerrieb sie zwischen Zeigefinger und Daumen. »Also, ich bin ja kein Experte«, sagte er, nachdem er eine Weile daran geschnüffelt hatte. »Aber diesem Waldboden hier ist ziemlich sicher Dope beigemischt worden. Und zwar nicht wenig.« »Dope?« Anna hob fragend den Kopf. »Dope, ja. Mary Jane, Gras, Shit. Dope.« Rocco verdrehte die Augen und fuchtelte mit den Händen vor Anna herum. »Marihuana.« »Sag mal, spinnst du?« Anna bückte sich und nahm ebenfalls eine Probe zwischen die Finger. »Hm, ja. Könnte sein.« Sie sah Rocco an. »Hast du irgendjemanden schon jemals Mary Jane zu Marihuana sagen hören?« Kapitel 6 »Hör mal, Rocco.« Anna blitzte ihn über ihre Kaffeetasse hinweg gefährlich an. »Für mich ist das ein ausgewachsenes Drogenlabor. Die beiden gehören hinter Gitter.« Rocco zuckte mit den Schultern. »Bin ich bei der Drogenfahndung? Garcia und McCarthy stehen bei denen auf keiner Liste, nicht mal auf irgendeinem Fresszettel. Außerdem wissen wir ja gar nicht genau, um was es sich bei den Nährböden und Pilzen tatsächlich handelt. Vielleicht ist alles ganz harmlos.« »Ich weiß nicht, was die mit dir in deiner Jugend gemacht haben.« Anna schüttelte den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Sie saßen in der Fußgängerzone in einem Café. Draußen waren alle Tische belegt gewesen, aber sie hatten beide keine Lust gehabt, eine andere Kneipe zu suchen. Ihre Kehlen waren ausgetrocknet und staubig vom unterirdischen Spaziergang in Pattonville. Anna wusste, dass Rocco die leise Hoffnung hegte, Louis hier zu treffen, einen alten Freund aus Schulzeiten. Also blieben sie und setzten sich nach drinnen an die verglaste Front des Cafés. Dort war es sehr ruhig im Gegensatz zu draußen. Nur zwei Tische waren besetzt. Vor der Scheibe summte das Leben, es wurden Stühle zusammengestellt, Tische verrückt, Kinderwagen möglichst so platziert, dass die Bedienungen keinen Weg mehr zu den hinteren Tischen fanden, Hunde an Stuhlbeine geleint, weinende Kinder beruhigt und Bestellungen aufgegeben. Fast erschrocken nahm Anna mit einem Mal die Diskrepanz wahr zwischen der unterirdischen Welt mit ihren schwach leuchtenden, quasi in sich ruhenden, fast hätte sie gedacht, selbstbewussten Bewohnern, aus der sie gerade kamen, und dieser oberirdischen mit ihrem wuselnden Trubel, dem chaotischen Verorten, den diffusen Befindlichkeiten und fraglichen Bedürfnissen. Sie sah hinaus und stellte sich die lapidare Frage, wer jetzt hinter und wer vor der Scheibe saß, also, wer Besucher und wer ausgestellt war, also … Ihre Gedanken verhedderten sich und einen Augenblick befürchtete sie, vielleicht zu viel Pilzsporen eingeatmet zu haben. Sie war auf dem besten Weg, auf einen psychedelischen Höhepunkt in ihrem Leben zuzusteuern, als Rocco sie unterbrach. »Da ist er«, sagte er und sah hinüber zum Eingang. »Wer?« »Louis.« Rocco zeigte mit dem Finger auf einen drahtigen, schwarzhaarigen Mann mit Dreitagebart. Er stand beim Eingang, eine Zigarette zwischen den Lippen, und wechselte ein paar Worte mit der Bedienung. Die Haare sahen fettig aus, das konnte aber auch Gel sein. Eher ölig, dachte Anna. Sie kannte Louis bisher nur aus Erzählungen. Eigentlich kam ihr der ganze Typ ölig vor, aber das lag vielleicht daran, dass Rocco ihr gesagt hatte, Louis’ Vater sei Portugiese. Seine Mutter kam aus der Schweiz. Was Anna wiederum dazu brachte, über ihre möglicherweise vorhandene, latente Ausländerfeindlichkeit nachzudenken. Sie kam zum Schluss, dass sie nicht vorhanden war und machte wieder die Pilzsporen für ihre Vermutung verantwortlich. Rocco und Louis hatten es in der Schule nicht immer leicht gehabt. Vielleicht waren sie nur deshalb Freunde geworden. Rocco stellte sich diese Frage nie, für ihn war es eben so. Die Ursachen waren ihm egal, und letztlich spielte es auch wirklich keine Rolle. Louis allerdings hatte sehr wohl darüber nachgedacht, vor allem, weil ihre Wege in so unterschiedlichen Bahnen verliefen, Rocco zur Polizei gegangen war, und die Freundschaft sich abkühlte. Insgeheim hegte er einen leisen Groll gegenüber Rocco, der ihm als der Glücklichere, im Leben Erfolgreichere erschien, weil er nicht in das Milieu abgerutscht war, in dem Louis sich bewegte. Aber das würde er nie zugeben. Louis hatte sich als alles Mögliche durchgeschlagen, war vom Barkeeper zum Rausschmeißer avanciert, weil er trotz seiner geringen Körpergröße und schmalen Statur unglaublich zäh war. Er hatte Drogen verkauft, kleinere Einbrüche, Autodiebstähle begangen, und im Knast gesessen. Inzwischen bewegten sich seine Geschäfte im halblegalen Rahmen, was Rocco, der sich nie besonders um seinen alten Freund gekümmert hatte, die Möglichkeit bot, ihn ab und zu für Spitzeldienste zu nutzen, und ihn ansonsten in Ruhe zu lassen. Louis hatte inzwischen den Weg zu ihrem Tisch gefunden und Rocco die Hand geschüttelt. Auch Anna gab ihm die Hand. »Anna Behr«, sagte sie. Louis zog seine dunklen, vollen Lippen auseinander, was wohl ein Lächeln sein sollte, und sah ihr tief in die Augen. »Louis«, sagte er, und berührte dabei mit der Zungenspitze leicht seine oberen, glänzend weißen Schneidezähne. Anna entzog ihm ihre Hand mit sanfter Gewalt. »Ja …«, sagte sie, leicht verwirrt. Louis schien das seinem unwiderstehlichen Charme zuzurechnen und setzte sich. »Rocco, du hast mir nie erzählt, dass deine Kollegin so entzückend ist. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vielleicht auch zur Polizei gegangen, anstatt …« »Ja, klar.« Rocco zog müde die Augenbrauen hoch. »Anna ist noch nicht so lange in Ludwigsburg.« Ölig, dachte Anna wieder. Sie konnte nichts dagegen machen und stellte nebenbei fest, dass die Pilze schon zu einer stehenden Rechtfertigung gegenüber ihren eigenen Gedanken geworden waren. Louis bestellte einen Espresso und sah der Bedienung nach, deren Beine vorn von einer Schürze verhüllt waren. Von hinten konnte man sehen, dass sie darunter nur einen kurzen Rock trug. Louis schnalzte mit der Zunge. »Und?«, fragte er leichthin, ohne den Blick von der Rückseite der Bedienung zu wenden, bis sie hinter der Theke verschwunden war. »Was gibt’s Neues in der Mordbranche?« Oh, du meine Güte, dachte Anna und überlegte, ob sie besser für ein paar Minuten aufs Klo gehen sollte. Was sollte sie sonst tun? Sie hatte wirklich keinen blassen Schimmer, was sie sagen könnte, und dieser Typ erinnerte sie … an jemanden aus einer Fernsehserie vielleicht? »Louis, jetzt lass es mal gut sein, ja?«, hörte sie Rocco sagen. Sollte das möglicherweise bedeuten, dass Louis auch anders sein konnte? Immerhin war er früher ein guter Freund von Rocco gewesen, und Anna konnte sich kaum vorstellen, dass er seine gesamte Jugend mit so einem Typen verbracht hatte. Louis lachte. »Was soll das heißen?« Er schien genauso verwundert zu sein wie Anna. »Ich meine, die Spatzen pfeifen euren Fund im Märchengarten schon von den Dächern. Ihr könnt mir ruhig erzählen, was los ist.« »So? Was erzählt man sich denn so?« Louis lehnte sich entspannt zurück und nippte an dem Glas Wasser, das mit seinem Espresso serviert wurde. »Man erzählt sich zum Beispiel, dass ihr mal wieder im Dunkeln tappt.« »Na, das ist ja eine Neuigkeit. Der Mord ist gestern passiert, und die Halbwelt dieser schönen Stadt erwartet einen Tag später die nahtlose Aufklärung?« Rocco sah Louis an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Ihr habt nur einen Handlanger in Verdacht, so einen Burschen, der seit Kurzem für den Chef der Betreiberfirma arbeitet, stimmt’s?« Anna wusste nicht, ob Louis sich durch Roccos Bemerkung provoziert fühlte, oder ob er ihm gezielt eine Information gab, um zu zeigen, dass er über die Ermittlungen im Bild war. Auf jeden Fall wunderte sie sich, dass er überhaupt von dem Franzosen wusste, falls er überhaupt von ihm sprach. »Wen meinst du?«, fragte er. »Einen Kerl, den sie den Franzosen nennen. Stimmt’s nicht?« Louis grinste. »Wir haben noch mehr, aber das werde ich dir nicht auf die Nase binden.« Rocco presste die Lippen zusammen und atmete tief ein. »Woher weißt du das von dem Franzosen?« Louis lächelte, legte seinen Unterarm auf die Lehne des Stuhls neben Anna und ließ seinen Blick durch den Innenraum des Cafés schweifen. Nur langsam kam sein Blick zurück zu Rocco und er tat so, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er auf eine Antwort wartete. In gespieltem Erstaunen sah er ihn an und schlenkerte mit dem Handgelenk. »Pffh«, machte er. »Louis. Hier geht es um Mord, das ist dir schon klar, oder? Die Tote hatte nichts mit deinen … Geschäftspartnern zu tun. Sie wurde erschlagen, an den Zopf von Rapunzel gehängt und aus dem Fenster geworfen.« »Etwas makabrer Humor«, sagte Louis. »Kein Witz«, erwiderte Rocco ernst. »Und ich finde es auch nicht witzig.« Louis sah Anna an. Seine Pupillen weiteten sich, er schien nachzudenken, mit den Gedanken abzuschweifen. Anna runzelte die Stirn und sah Rocco an. Plötzlich bemerkte sie, dass diese Pause wohl ihretwegen entstanden war, aber sie kam nicht gleich darauf, um was es ging. Sie hatte sich zu keinem Zeitpunkt eingemischt … dann fiel der Groschen. »Ich … ich gehe mal kurz.« Sie zeigte mit vager Handbewegung in Richtung der Toiletten. »Bin gleich wieder da.« Ob es so war oder nicht, Louis betrachtete sich als Informant und wollte Rocco zunächst unter vier Augen sprechen. »Und?«, fragte Rocco, nachdem Anna auf der Toilette verschwunden war. Louis hatte Anna wie zuvor der Bedienung nachgesehen. »Tolle Frau«, sagte er. »Und scheinbar nicht blöd. Warum glaubt sie an unser Rechtssystem?« »Du glaubst doch auch daran, sonst wärst du nicht hier. Also, woher weißt du von dem Franzosen?« Louis verzog den Mund, setzte sich auf und breitete die Handflächen aus. »Ich arbeite ab und zu für Lohhausen, den Chef der Betreiberfirma. Da hört man so dies und das.« Rocco schüttelte ungläubig den Kopf. »Was machst du denn für den?« »So dies und das … Leute vermitteln … Alles Mögliche.« »Und wo ist der Franzose?« »Das weiß ich nicht. Ehrlich.« Louis sah Rocco treuherzig an. Rocco rührte in seinem Kaffee und sah nach draußen. Sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Da draußen kamen ganz langsam zwei Männer mit einem Fahrrad die Straße entlang. Etwas unsicher die gerade Linie betreffend, aber doch zielstrebig, steuerten sie einen Laternenpfahl gegenüber dem Café an. Sie zogen eine Art unbewusste Aufmerksamkeit der Gäste an den Tischen draußen auf sich. »Er ist doch nicht wichtig für dich«, sagte Rocco, ohne Louis anzusehen. »Er ist ein kleiner Handlanger, nicht wahr? Hast du selbst gesagt. Also, was soll’s?« »Er hat früher für Bekannte von mir gearbeitet, okay? Aber jetzt arbeitet er bei dieser …« Er schnippte mit dem Finger. Rocco wartete ungerührt. Er kannte diese Geste von Louis lange genug, um zu wissen, dass Louis der Name von Lohhausens Firma nicht entfallen war. »Na?«, fragte er irgendwann, als Louis ihn mit leerem Blick ansah. »Na ja, Fairy irgendwas«, sagte Louis. »Fairy Tale GmbH.« Rocco schüttelte den Kopf. »Du musst mir nichts vormachen, Louis, das ist klar, oder? Sonst ändert sich unser Verhältnis schlagartig, und ich weiß nicht, ob du daran Spaß hast.« »Schon klar«, sagte Louis. »Jetzt reg dich nicht gleich auf, Alter.« Er klopfte Rocco leicht auf die Schulter. »Lass das.« Rocco warf wieder einen Blick nach draußen. Garcia und McCarthy hatten den Laternenpfahl erreicht und versuchten, ein Schloss am Hinterreifen ihres Fahrrads anzubringen. Die Leute draußen an den Tischen tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Garcia sagte etwas zu McCarthy. Der winkte ab, wischte sich mit einem Zipfel seines Hawaii-Hemds die Stirn und zeigte dabei seinen bleichen, beachtlichen Bauch. Schließlich gelang es ihm, das Schloss um den Pfahl und durch die Speichen des Hinterrads zu fädeln. Anna wird sich freuen, dachte Rocco. »Louis, wenn du weißt, wo sich der Franzose rumtreibt, dann gib mir Bescheid. Okay? Du hast meine Nummer.« Louis tastete seine Taschen ab. »Ja, ich weiß nicht …« »Lass den Quatsch. Du rufst mich an, ja?« »Ich ruf dich an. Mann, mach nicht so ein Theater. Ich ruf dich ja an«, sagte Louis. Er warf Rocco einen beleidigten Blick zu. »Tolle Sache. Mein bester Kumpel … wir könnten eigentlich mal wieder einfach so ein Bier trinken gehen. Wie wäre denn das?« »Bester Kumpel«, schnaubte Rocco. »Das ist schon lange her. Und vielleicht …«, aus den Augenwinkeln sah er Anna von der Toilette zurückkommen, »vielleicht können wir mal wieder ein Bier zusammen trinken. Wenn die Sache hier vorbei ist und ich mir im Klaren darüber bin, auf welcher Seite du gestanden hast.« Anna erreichte den Tisch in dem Moment, als Garcia und McCarthy zur Tür hereinkamen und Louis aufstand, um sich zu verabschieden. Er stand direkt vor ihr und war nur knapp größer als sie. Er nahm ihre Hand und sie sah in zwei schwarze, schwimmende Augen. »Ciao, bella«, sagte er, »ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Louis drehte sich zu Rocco um. »Allein ihretwegen geht das klar, oder?« Er hob den Daumen und Anna musste ihm ihre Hand wieder mit sanfter Gewalt entwinden. »Bis dann … Louis.« »Mein Gott«, stöhnte sie, als er gegangen war, und ließ sich auf den Stuhl fallen, und wiederholte lauter: »Mein Gott!« Sie hatte Garcia und McCarthy unentschlossen in der Tür stehen sehen. Louis schob die beiden energisch beiseite und ging hinaus. In diesem Augenblick entdeckte Garcia Rocco und Anna. Er sagte etwas zu McCarthy und wollte wieder nach draußen gehen. McCarthy blieb stehen. Seine Reaktionsfähigkeit schien stark eingeschränkt zu sein. »Hey, ihr zwei«, rief Rocco, ohne aufzustehen. »Nicht so eilig. Kommt mal her.« Die Ausbildung bei der Armee hatte tiefe Spuren in der Psyche der beiden Ex-GIs hinterlassen. Keine Droge der Welt konnte ihr Bewusstsein dermaßen erweitern, entstellen, geraderücken oder vernebeln – kurz gesagt, verändern –, dass sie nicht dem knappen Kommando eines hierarchisch über ihnen rangierenden und ihnen bekannten Offiziers, sprich offiziellen Vertreters des Gesetzes, Folge geleistet hätten. Garcia blieb abrupt stehen, machte kehrt und beide kamen, auf umständlichen Bahnen die im Weg stehenden Tische und Stühle umkurvend, auf Anna und Rocco zu. »Leute«, sagte Rocco, als sie sich gesetzt hatten, »wir sind noch lange nicht fertig mit euch. Vor allem mit dir, Garcia.« Anna stellte verärgert fest, dass seine Stimme nach wie vor einen gütigen, sozusagen streng väterlichen Unterton hatte. So, als müsse er die beiden zwar zurechtweisen, allerdings auch beschützen, weil sie immer wieder Unfug anstellten. »Noch lange nicht«, wiederholte sie deshalb und versuchte, ihrer Stimme etwas schneidend Metallisches zu geben. »Ihr könnt euch auf was gefasst machen. Die Herstellung und der Vertrieb von Rauschmitteln sind strengstens untersagt. Aber das dürfte euch ja geläufig sein.« McCarthy sah Rocco an. »Herstellung? Vertrieb?« »Tja, Jungs«, sagte Rocco. »Wir haben euer Versteck entdeckt.« »Wer sagt denn, dass es ein Versteck ist?« »Von was redet er?«, fragte Garcia. »Er redet von einem Versteck.« »Ich sage, dass es ein Versteck ist«, sagte Rocco. »Wir waren dort, im Keller«, ergänzte Anna. »Jede Menge … ihr wisst schon … Rauschgift.« Die Kellnerin erschien und Garcia bestellte einen Kaffee. McCarthy winkte ab. Es war nicht festzustellen, ob es der Kellnerin oder dem Rauschgift galt. »Rauschgift? Das ist ein großes Wort. Diese Pilze stellen unsere Nahrungsgrundlage dar.« Rocco lachte. »Das glaube ich euch, aber das macht die Sache nicht besser. Mal zum Thema: Was ist das für Zeug?« Garcia sah Rocco mit einem leeren Blick an, oder so, als fixiere er weit hinter Rocco einen Punkt oder eine Person, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. »Verschiedene Kombinationen von Eukaryoten auf Basis unterschiedlicher Nährböden, angereichert mit Tetrahydrocannabinol in diversen Formen und Derivaten davon. Dabei will ich von Anfang an klarstellen, dass unsere Versuche rein medizinischen oder ernährungswissenschaftlichen Zwecken dienen.« »Was?« Rocco tippte Garcia leicht an die Schulter, um seinen Blick auf sich oder zumindest etwas Naheliegendes zu fokussieren. Dann sah er McCarthy an, der bestätigend nickte. Die Bedienung brachte den Kaffee. Der Duft schien Garcia mental schneller an den Tisch zurückzubringen als Roccos Antipperei. Er nahm einen Schluck. »In Amerika ist der Kaffee nicht so stark«, sagte er zweideutig. »Das sagst du immer«, meckerte McCarthy. »Aber ist das besser oder schlechter?« »Das sollte in unserem Dasein keine Kategorie darstellen«, erwiderte Garcia und pustete in den heißen Kaffee, den er mit zitternden Händen hielt, als sei es Winter und er müsse sich an der Tasse wärmen. Als er sie zurückstellte, schwappte etwas Flüssigkeit auf den Unterteller. »Mir reicht es«, sagte Anna. »Entweder, ihr redet jetzt Klartext, oder ihr wandert beide in eine Zelle und vegetiert dort so lange vor euch hin, bis ihr Lamellen ansetzt.« McCarthy starrte eine Weile auf die Kaffeepfütze auf Garcias Unterteller. »Pilze.« Er sagte es düster, als würde er beginnen, den Weltuntergang zu prophezeien. »Verschiedene Arten von Pilzen, manche mit psychotropen Wirkstoffen, andere biolumeniszierend oder einfach Speisepilze, die auf Kombinationen von Nährboden und Marihuana oder medizinischen Derivaten wachsen …« »Saftling … Hygrocybe cantharellus«, platzte Garcia heraus, »gereift auf Moorboden mit Gras und echtem Marihuana, plus eine minimale Dosis Omphalotus illudens für den Mond … jede Tages- und Nachtzeit hat ihren Pilz, meine Lieben.« Er sah Anna an und seine Pupillen waren wie schwarze Löcher, die alle Energie aufsaugten und nutzlos verpuffen ließen. Als ob Zeit und Galaxien nie existiert hätten. »Leute, was ihr uns hier erzählt, ist schlicht und ergreifend … erschreckend.« Rocco fiel nichts Passenderes ein. Sein Blick wanderte von McCarthy zu Garcia und zurück. Er schüttelte langsam den Kopf. »Was soll ich mit euch machen?« »Alte Quatschtasche«, stieß McCarthy gepresst hervor und warf Garcia einen giftigen Blick zu. Garcia ließ seine schwarzen Löcher kurz auf McCarthy ruhen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Vielleicht sind die Pupillen einfach implodiert, dachte Anna. »Er meint Quarktasche«, erläuterte Garcia. »Wenn ich Quarktasche meine, sage ich auch Quarktasche«, sagte McCarthy langsam und nicht ohne Gereiztheit in der Stimme. Rocco konnte ihn sich einen Augenblick lang gut als feisten, durchgedrehten GI vorstellen, der mit seinem weißen Knüppel auf einen ausgebüxten Soldaten eindrischt. Text zur Zeitlupe: »Wenn ich stehen bleiben sage, meine ich auch stehen bleiben.« Ende der Vision. Anna würde die Schuld den eingeatmeten Sporen geben, und nach allem, was sie gehört hatten, war das ja durchaus möglich. »Hey«, sagte Rocco. »Ihr steht so kurz vor einer Verhaftung, klar?« Er deutete mit seinem Daumen und dem Zeigefinger an, wie weit die beiden vor eben jener Verhaftung standen. »Okay, okay«, beschwichtigte McCarthy, der urplötzlich von einem sintflutartigen Schweißausbruch heimgesucht wurde und aus dem Serviettenspender Unmengen weißer Papiertücher zog, um sich Stirn, Gesicht und Hände zu trocknen. Rocco konnte sich nicht vorstellen, dass der Anfall von seiner Drohung herrührte. Aber im Zusammenhang mit psychedelischen Drogen war sicher vieles möglich. »Unsere Versuchsanordnungen sind rein wissenschaftlicher und experimenteller Natur. Wir haben keinen finanziellen Vorteil davon …« McCarthy sah Rocco und Anna von unten her an. Es sollte vertrauensbildend wirken, aber die Sturzbäche aus Schweiß machten den ohnehin kaum vorhandenen Effekt zunichte. Er pappte sich neue Servietten aufs Gesicht. »Okay, okay«, sagte auch Garcia. »Keine Angst. Wir wollen euch nur helfen. Ihr wisst schon, Rotkäppchen … die Fliegenpilze … in Zusammenhang mit dem Mord der reine Horrortrip …« Keiner wusste genau, was er sagen wollte. »Rapunzel«, warf Anna vorsichtig ein. »Es handelt sich um Rapunzel.« Garcia winkte ab. »Okay, okay«, sagte er wieder. »Wir wollen euch nur helfen. Wir haben eine Kugel, mit der wir die ganze Stadt überwachen. Wie Batman …« »Batman hat keine Kugel, mit der er die Stadt überwacht.« Roccos Einwand kam wie aus der Pistole geschossen und outete ihn als Kenner von Marvel-­Comics. Er fürchtete im selben Augenblick, als er das aussprach, dass Anna das gar nicht toll finden würde. Ach was, fürchtete … Er wusste es. »Wie soll er denn sonst wissen, wo in der Stadt Verbrechen geschehen?«, fragte Garcia. »Er hört den Polizeifunk ab.« »Ja, klar.« Jetzt tippte sich Garcia an die Stirn. »Mit dieser Kugel können wir alles sehen. Alles.« McCarthy starrte Anna eindringlich an. Sie starrte zurück. »Idiot«, sagte sie schließlich und fragte sich, ob ab jetzt eigentlich jeder Tag in einer Art subtilem Wahnsinn enden sollte. Kapitel 7 Sie hatten Garcia und McCarthy dann doch noch in die Zange genommen. Nicht im Café, sondern auf dem Revier. Anna bestand darauf, dass die beiden eine Haar- und eine Urinprobe abgaben. Bei der anschließenden Vernehmung brachten sie aus Garcia außer einigen schwer belegbaren Thesen zur Umlaufbahn des Mondes allerdings nicht viel heraus. Wo McCarthy die Nacht verbracht hatte, würde allen Beteiligten wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Rocco und Anna kamen jedenfalls spät nach Hause. Anna ging gleich zu Bett und fiel in einen schweren Schlaf, der ihr bizarre Bilder vor Augen führte, von denen sie morgens zwar noch wusste, dass sie existierten, aber nicht, was sie dargestellt hatten. Garcia und McCarthy verbrachten die Nacht in einer Zelle und wurden morgens entlassen, kurz bevor Rocco ins Präsidium kam. Anna tauchte etwas später auf und sah ziemlich mitgenommen aus. »Garcia und McCarthy sind wieder draußen«, begrüßte Rocco sie. »Toll«, erwiderte Anna lustlos. »Und jetzt?« Rocco zuckte mit den Schultern. »Keine Spur vom Franzosen, und der Freund oder Exfreund von Nicole ist auch noch nicht aufgetaucht. Wir sollten vielleicht noch mal Lohhausen auf die Nerven gehen.« »Es kann doch nicht sein, dass wir diesen Kerl nicht finden. Der studiert an der PH, oder? Da muss er seine Adresse angegeben haben.« »Ohne Nachnamen wird’s schwierig. Und weder Lohhausen, noch Mindy, noch Frau …«, Rocco blätterte in der Akte, »Schmidtgarten haben sich an einen Nachnamen erinnert. Aber wir können jemanden mit den Fotos dorthin schicken.« »Mindy«, sagte Anna spöttisch. »Sind wir jetzt schon beim Du?« »Wir schon lange«, gab Rocco zurück. »Was ist dir denn heute Morgen über die Leber gelaufen? Hast du zu viel von Julias italienischem Rotwein erwischt?« »Ich glaube eher, ein bisschen zu viel fungiziden Wahnsinn«, sagte Anna und rieb sich die Stirn. »Ich habe vielleicht einen Blödsinn zusammengeträumt.« »Na, das interessiert mich aber brennend.« Das Telefon klingelte. »Das Telefon klingelt«, sagte Anna. Rocco machte jedoch keine Anstalten, den Hörer abzunehmen. »Lass es klingeln. Ich will erst deinen Traum hören.« Anna tippte sich an die Stirn und nahm den Hörer ab. »Polizeipräsidium Ludwigsburg, Mordkommission, Anna Behr?«, meldete sie sich. Dann sah sie überrascht auf Rocco, der versuchte, möglichst lässig auf seinem Schreibtischstuhl auszusehen, wurde rot und schüttelte unwillig den Kopf. »Ja … ja … natürlich.« Sie streckte Rocco den Hörer hin. »Für dich.« »Für mich? Und du wirst rot?« Rocco beugte sich neugierig vor und nahm den Hörer. Gleich darauf lächelte er Anna boshaft an. »Ach, du bist es … Um was geht es denn? Wir haben gerade wenig Zeit.« Anna versuchte, aus den dumpfen Tönen, die aus dem Hörer an Roccos Ohr drangen, ein paar Worte herauszuhören, aber es war unmöglich. Louis bat sie, noch einmal ins Café zu kommen. Er hatte Informationen, die sie interessieren würden. Woraufhin Anna sagte, Louis habe wohl den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als im Café herumzuhängen. Gleich darauf ärgerte sie sich darüber, weil es möglicherweise so geklungen hatte, als wolle sie aus Rocco herausbekommen, mit was sich Louis den lieben langen Tag so beschäftigte. Doch bevor Rocco reagieren konnte, klingelte das Telefon erneut, und ihr Chef bestellte sie zu sich. »Roth will uns sehen«, sagte Rocco, nachdem er aufgelegt hatte. »Jetzt? Das passt aber schlecht.« Rocco lachte. »Sag du es ihm.« Roths Sekretärin winkte sie gleich durch ins Büro. Roth stand hinter seinem Schreibtisch und nahm gerade die Krawatte ab. Er war ein großer, untersetzter Mann mit schmalen Schultern und dünnen, blonden Haaren, die ihm an den Schläfen klebten. Er hatte tiefe Augenringe, und Rocco vermutete, dass er sich mit einem Leber- oder Gallenleiden herumplagte. Nicht unbedingt wegen der Augenringe, eher wegen der gelblichen Färbung seiner Augen. Natale hatte ihm einmal einen Artikel vorgelesen, in dem stand, dass gelbe Augen und gelbe Haut auf einen Leberschaden zurückzuführen sei. Die Ursachen konnten vielfältig sein, von Alkoholismus bis Hepatitis. Rocco hatte damals mit Natale alle möglichen Tests durchführen müssen, die in der Zeitschrift beschrieben waren. Natürlich wollte sein Vater unter keinen Umständen zum Arzt gehen. Das Wetter machte Roth zu schaffen, das war zu sehen, und Anna und Rocco hofften, dass ihm nicht noch mehr zu schaffen machte. Roth war im Allgemeinen ein sehr korrekter Beamter, allerdings waren seine Ambitionen in Bezug auf eine Karriere in der Stadtverwaltung mit dem Posten des Chefs der Mordkommission längst nicht befriedigt. Einerseits war er nicht mehr jung. Um genau zu sein, zählte er 48 Jahre. Genau das richtige Alter andererseits, um ein bis zwei weitere gewaltige Karrieresprünge zu machen. Das war zumindest Roths Ansicht. Er hielt sich für durchaus geeignet, dieser Stadt vorzustehen, sie zu führen … Rocco hatte Anna bereits zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gewarnt, denn es galt, ihren Chef mit Vorsicht zu genießen, schließlich war er immer auch Politiker. Nachdem Roth sich seines Jacketts entledigt hatte, sagte er: »Setzen Sie sich. Guten Morgen.« Er setzte sich selbst ebenfalls, stützte die Ellbogen auf seinen Schreibtisch und sah beide einen Augenblick mit geschürzten Lippen stumm an. »Und? Wie weit sind wir?«, fragte er und nagte an seiner Unterlippe, als versuchte er, ein Häutchen mit den Zähnen zu entfernen. Er ließ sie weiterhin nicht aus den Augen. »Sie meinen mit dem Fall Dahm?« Roths Augen blieben an Rocco hängen. »Ich meine den Mordfall im Märchengarten. Sollten sich diese Fälle decken, sprechen wir vom selben«, sagte Roth ohne besondere Betonung und Emotion. Es war erstaunlich, wie er es trotz dieser monotonen Stimme innerhalb kürzester Zeit schaffte, den Eindruck von zunehmender Gereiztheit zu erwecken. »Die Fälle decken sich. Nicole Dahm wurde vorgestern tot aufgefunden, am Rapunzelturm aufgehängt. Laut den Obduktionsergebnissen von Dr. Mahler ist sie durch Strangulation ums Leben gekommen. Zuvor wurde sie höchstwahrscheinlich geschlagen, ist als Folge des Kampfs mit dem Hinterkopf gegen eine scharfe Kante geprallt und hat das Bewusstsein verloren«, erwiderte Anna. Ihr Blick fiel auf Roths Krawatte, die über der Lehne seines Schreibtischstuhls hing. Sie fragte sich, wie man mit einem eierschalenfarbenen Hemd und einer hellrot-blau gestreiften Krawatte aus dem Haus gehen konnte. »Also, was haben wir?«, fragte Roth und legte seine Fingerspitzen aneinander. »Ja …, wir sind dabei, den Täterkreis einzuengen«, sagte Rocco. »Es kommen zurzeit mehr oder weniger vier Personen infrage, die zur Tatzeit bis jetzt kein Alibi vorweisen können, und die in mehr oder weniger naher Beziehung zur Toten standen.« »Die wären?« »Ein Mann, den sie den Franzosen nennen.« Anna hob die linke Hand und streckte den Daumen aus, um anzudeuten, dass eine Aufzählung folgte. »Er hat die weiblichen Angestellten laut Aussage von Nicole Dahms Kolleginnen – Exkolleginnen – des Öfteren belästigt. Er ist nicht auffindbar. Der Exfreund der Toten, Paul …«, Anna hob den Zeigefinger und dehnte ihn mit dem der anderen Hand nach hinten, »ein Student an der Pädagogischen Hochschule …« »58 Prozent der Morddelikte sind laut Statistik Beziehungstaten«, unterbrach Rocco Anna. »Wir gehen auch hier davon aus …« »Verschonen Sie mich mit Ihren veralteten Statistiken. Hat er gestanden? Eine Aussage gemacht?« »Wir … sind auf der Suche nach ihm«, sagte Rocco kleinlaut. »Und wir haben zwei offensichtlich drogensüchtige Ex-GIs aus Pattonville, von denen zumindest einer nachweislich die Nacht auf dem Gelände in unmittelbarer Umgebung des Rapunzelturms verbracht hat«, ergänzte Anna, bevor Roths latente Ungehaltenheit in offen zur Schau gestellte schlechte Laune umschlagen konnte. Sie erreichte genau das. Roth hielt die Luft an. Sein Kopf wurde rot wie sein Name und die wässrigen, gelblichen Augen traten leicht hervor. »Sie wollen mir doch nicht sagen, dass die einzigen Verdächtigen, derer sie habhaft werden konnten, Garcia und McCarthy sind?«, platzte er schließlich heraus. »Diese Typen wurden schon wegen jedem Mist verhaftet, als ich noch Streife gelaufen bin. Würde man ihnen jede Nacht in der Ausnüchterung und U-Haft anrechnen, könnten die beiden zehn Morde begehen und wären trotzdem sofort wieder auf freiem Fuß. Marino.« Empört sah er Rocco an. »Ich muss Ihnen hoffentlich nicht sagen, dass dieser Fall die allergrößte Brisanz besitzt. Der Märchengarten ist eines der Wahrzeichen der Stadt.« Er strich sich über die dünnen, blonden Haare, löste sie von seinen Schläfen aus ihrem vom Schweiß festgeklebten Zustand und atmete tief durch. Nach einem Augenblick fuhr er ruhiger fort: »Der Märchengarten ist ein brisantes Sujet. Es ist ein … gewissermaßen empfindliches Projekt im Gange, von dem Sie sicher schon gehört haben dürften. Wie soll ich sagen? Auch wenn der Fall Dahm keinen spezifischen Zusammenhang mit den … Projekten um den Märchengarten aufweist, ist allein der Fundort der Leiche und die Tatsache, dass Frau Dahm im Märchengarten gearbeitet hat, nun ja, delikat. Wir wollen keine scheuen Pferde wecken, wie man so schön sagt. Die Spekulationen könnten ins Unendliche gehen …« Scheue Pferde wecken? Anna hielt immer noch ihre Finger zur weiteren Aufzählung hoch. Sie sah Roth aufmerksam an und versuchte zu ergründen, auf was er hinaus wollte. »Kurzum: Holen Sie sich diesen Franzosen und den Studenten. Klären Sie den Fall auf, möglichst ohne Aufsehen und behandeln Sie die Sache … vorsichtig, dezent, diskret und mit Fingerspitzengefühl.« Roth presste die Finger seiner rechten Hand aufeinander wie ein Italiener, der ›Espresso‹ sagt, und sah Anna und Rocco eindringlich an. »Fingerspitzengefühl.« Als sie im Auto saßen und die Schorndorfer Straße entlang fuhren, wurde ihnen schnell klar, was Roth gemeint hatte. Lohhausens Werbemaschinerie war angelaufen und jede Bushaltestelle und Litfaßsäule war zugepflastert mit der Fairy-Tale-Kampagne. Auf den meisten Plakaten dominierten helle Sternschnuppen und Figuren in magischen Umhängen oder leuchtend weißen Ballkleidern, die einen Zauberstab schwangen, der wiederum kleine Sterne in den nachtblauen Hintergrund reihte. Darunter standen Slogans wie: ›Ludwigsburg – A Fairy Tale comes true‹ oder ›LB – Stadt der Wunder‹ oder auch ›Märchenhaftes Feenland‹, übrigens das einzige Plakat, das in saftigem Irischgrün gehalten war. Aber auch hier schwang jemand den Zauberstab übers Land der Trolle und Elfen, von einem aus dem Bild ragenden Burgturm herab. Es war auf Anhieb Roccos Lieblingsmotiv. »Alles klar«, sagte er zu Anna. »Es war der Zwerg.« Er deutete auf das Plakat. Anna reagierte nicht einmal. »Okay, okay.« Rocco zuckte mit den Schultern. »Der Märchengarten ist ein Politikum. Deshalb macht Roth so einen Aufstand.« Anna nickte. »Scheue Pferde wecken«, seufzte sie. »Der hat sie doch nicht mehr alle. Und jetzt?« »Was und jetzt? Wir gehen zu Louis, wie ausgemacht.« »Aber Roth …« »Phhh.« Rocco winkte ab. »Roth vergisst schnell, wenn wir ihm den Mörder bringen. Den kann er dann wunderbar für seine ›Ich halte die Stadt sauber‹-Kampagne einsetzen.« »Sofern er nichts mit dem Märchengarten zu tun hat«, ergänzte Anna. »Ich tippe auf den Freund«, sagte Rocco. »Abwarten.« Anna wackelte mit dem Kopf. Es gab da ja noch diese Fotos, aus denen jemand herausgeschnitten worden war. Es wäre doch interessant zu erfahren, wer der- oder diejenige war und wer sie ausgeschnitten hatte. Louis saß draußen vor dem Café und rauchte. Er starrte vor sich hin und drehte die Zigarette nervös in seinen Fingern. Vor ihm stand ein großer Milchkaffee. Er nahm die Tasse mit gespreizten Fingern und schlürfte den Schaum ab. Um diese Zeit war noch nicht viel los in der Fußgängerzone. Die Geschäfte hatten gerade erst geöffnet und die Verkäuferinnen schoben die Waren nach draußen und kurbelten Markisen heraus. Ein paar Frauen mit Kinderwägen waren unterwegs, einige Post- und Lieferdienste brachten Päckchen und Umschläge. Ihre Lieferwagen mit eingeschaltetem Warnblinklicht und offenen Türen standen nicht weit entfernt. Von der Wilhelmstraße konnte man leise das Rauschen des Verkehrs hören. Louis stand auf, als er Anna und Rocco kommen sah. Mit unkonzentriertem Blick lächelte er Anna an. »Und? Was gibt es so Wichtiges, dass du uns in aller Herrgottsfrühe von der Arbeit abhältst?«, fragte Rocco laut. »Kommt, wir gehen rein«, sagte Louis und nahm die Tasse. Seine Kippe warf er gezielt am Aschenbecher vorbei auf den Boden. Im Café saß niemand, nur hinter der Theke füllte eine der Bedienungen die Kühlschränke auf. Sie setzten sich an einen abgelegenen Tisch. »Und?«, fragte Rocco noch einmal. Louis warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. »Ist ja gut«, sagte Rocco. »Ich glaube nicht, dass sie Wanzen angebracht haben. Und wir sind nicht verkabelt. Mann, was ist los?« »Also, passt auf. Ich meine … euch muss klar sein, dass ich geliefert bin, wenn rauskommt, von wem ihr den Tipp habt. Ich bin Geschäftsmann und meine Geschäfte sind astrein. Koscher … Trotzdem, so was tut man eigentlich nicht, und ich helfe euch nur, weil es um Mord geht …« Rocco nahm einen Zahnstocher aus einem kleinen Behälter auf dem Tisch, riss das Papier ab und steckte ihn in den Mund. »Bei Mord hört für mich der Spaß auf …« Louis hielt inne und dachte nach. »Für uns auch«, sagte Rocco gelangweilt. »Ich kann mich auf euch verlassen, dass meine Informationen diskret behandelt werden?« Louis versuchte, beide zu fixieren. Anna sah Rocco an und hob die Schultern. »Also, von mir aus …«, sagte sie. Rocco verdrehte die Augen. »Mann, nun sag schon, was du zu sagen hast.« »Na gut.« Louis gab sich einen Ruck. »Vielleicht ist es ja gar nicht wichtig, aber … wer weiß. Also, Lohhausen und seine Fairy Tale GmbH schmeißen mal wieder eine Party. Für die Investoren.« Rocco und Anna blieben stumm und warteten. »Wie, das war’s schon?«, fragte Rocco irgendwann, als Louis keine Anstalten machte, fortzufahren. »Sag bloß, ihr habt noch nie von Lohhausens Partys gehört.« Anna und Rocco schüttelten den Kopf. Louis spielte nervös mit seiner Zigarettenschachtel. »Na …«, machte er und schmatzte unzufrieden. »Das gibt’s doch nicht. Die ganze Stadt redet davon. Und ihr …« Rocco nahm seinen Zahnstocher aus dem Mund, knickte ihn in der Mitte und legte ihn in Ermangelung eines Aschenbechers an den Tischrand. Er hoffte insgeheim, ihn zu vergessen und nachher mit einer unbedachten Bewegung vom Tisch zu wischen. »Jetzt pass mal auf«, sagte er. »Entweder, du rückst jetzt mit der Sprache raus, oder wir gehen wieder. Was soll denn der Mist? Es ist doch völlig egal, ob wir von Lohhausens Partys was gehört haben oder nicht. Es sei denn, es wurde jemand umgebracht. Wurde dort jemand umgebracht?« »Nein, nein«, sagte Louis eilig. »Um Gottes willen. Aber vielleicht ist das trotzdem interessant für euch. Lohhausen hat schon zwei, drei Mal eine Party für seine potenziellen Investoren veranstaltet. Die finden immer an verschiedenen Locations statt und haben immer ein bestimmtes Motto. Bei den letzten beiden Partys war ich sozusagen für die … Sicherheit und die Bar verantwortlich.« So wie Louis das sagte, war das wahrscheinlich nicht alles, aber Rocco unterbrach ihn nicht. Wenigstens fing er an, etwas zu erzählen. Louis trommelte mit Zeige- und Mittelfinger einen kurzen Wirbel auf seiner Zigarettenschachtel, bevor er fortfuhr. »Es geht da ziemlich hoch her. Die Herren Investoren sind nicht zimperlich. Dieses Mal steigt die Sache im Schloss Monrepos, unter dem Motto: ›Der Wolf und die sieben Geißlein.‹« Er sah Anna und Rocco mit gesenktem Kopf an. »Es sind auch Damen anwesend. Wenn ihr wisst, was ich meine. Bei den letzten Partys waren auch Angestellte dabei, unter anderem Nicole Dahm und eine ihrer Kolleginnen.« Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch und warf den beiden einen flüchtigen Blick zu, der sich sofort wieder an seiner Zigarettenschachtel festsaugte. »Es gab da ein paar ziemlich unschöne Szenen … Na ja, durchaus möglich, dass sich da etwas angebahnt hat, dass etwas vorgefallen ist … muss aber nicht sein. Auf jeden Fall findet die nächste Party am Wochenende statt. Das wollte ich euch sagen. Vielleicht ist das ja was für euch.« »Ich glaube es nicht«, sagte Rocco in diesem Augenblick. Er hatte durch die Glasscheiben nach draußen geschaut, während Louis erzählte. Einen Moment lang saß er wie erstarrt, sodass Louis annehmen musste, das sei auf die Wirkung seiner Geschichte zurückzuführen. Allerdings war Rocco früher kein Kind von Traurigkeit gewesen. Sie hatten einige Partys gefeiert, bei denen es auch nicht immer ganz gesittet zugegangen war. Und mit Details war Louis ja noch gar nicht rausgerückt … Mit einem Satz sprang Rocco auf und rannte nach draußen. »Da ist er, Anna«, rief er und verfolgte einen Fahrradfahrer die Fußgängerzone hinunter. Anna sah Louis an, dann sprang sie auf und lief hinter Rocco her. Rocco hatte kurz gestutzt, aber es gab keinen Zweifel. Da war gerade eben Petz oder Peter oder Paul, der Freund oder Exfreund von Nicole, vorbeigeradelt. Er rannte hinter dem Rad her, was die Beine hergaben. Rocco spürte seine Muskeln, seinen Körper, er fiel schnell in einen kurzschrittprasselnden Lauf, den Blick starr auf den Rücken von Petz gerichtet, der einen kleinen Rucksack trug. Petz drehte sich um. Er kniff die Augen zusammen, schien Rocco zu erkennen und trat mit voller Kraft in die Pedale. Die beiden rasten hintereinander her, die Fußgängerzone hinunter. Rocco konzentrierte sich, er war ganz nah, er streckte schon die Hand nach dem Rahmen des Rennrads aus, es konnten nur noch Zentimeter sein … als Petz endgültig Fahrt aufnahm und sich schnell immer weiter entfernte. Roccos anfangs so müheloser Lauf wurde unvermittelt schwerer, sein Rhythmus holperte und er hatte auf einmal mit seinem Hirn zu kämpfen, das ihm aus heiterem Himmel einreden wollte, es hätte keinen Zweck mehr, das Rennen wäre verloren. Obwohl er höchstens hundert Meter gerannt war, machten sich plötzlich seine Oberschenkelmuskeln bemerkbar, seine Fußsohlen brannten auf dem harten Steinboden durch die dünnen Sohlen seiner Leinenschuhe. Er sah sich so plötzlich mit seinem eigenen Körper als Gegner konfrontiert, dennoch rannte Rocco weiter. Aber es hatte keinen Zweck, Petz war bereits zu weit weg, da war nichts mehr zu machen. Rocco fiel in einen leichten Trab. Petz war am Ende der Fußgängerzone angekommen und würde in wenigen Sekunden in die Mathildenstraße einbiegen, um dann in einer der kleinen Gassen zu verschwinden. Triumphierend drehte er sich auf dem Sattel um und hob mit einer wenig freundlichen Geste seinen Arm in Richtung Rocco, als an der Einmündung zur Mathildenstraße das Vorderrad eines Fahrrads sichtbar wurde. Als Petz sich wieder umdrehte, war es zu spät. Er raste ungebremst in das andere Rad, hob trotz seiner beachtlichen Körpergröße und des Rucksacks leicht und unbeschwert vom Sattel ab und machte einen halben Salto in der Luft. Seine Reise war noch nicht vorbei. Auf der Straße rutschte er einige Meter über den brüchigen und an mehreren Stellen reparaturbedürftigen Asphalt – ein nicht unwichtiger Punkt in Roths politischem Programm –, um dann vor der Stoßstange eines großen, nachtblauen Autos zu landen, das gerade noch rechtzeitig bremsen konnte. Petz regte sich nicht mehr. Eine gnädige Besinnungslosigkeit ließ ihn seine Schmerzen, die er allein aufgrund der erlittenen Schürfwunden und Prellungen ohne Zweifel haben musste, vergessen. »Ach, du Scheiße«, sagte Rocco und beschleunigte wieder. Er wunderte sich, wo in aller Welt die ganzen Leute herkamen, die innerhalb kürzester Zeit die eben noch fast menschenleere Straße bevölkerten und einen Halbkreis um Petz’ Körper bildeten. Der Fahrer des Wagens stieg aus, bleich wie eine Kalkwand. Rocco beugte sich über Petz und fühlte seinen Puls. Er drehte sich um und sah Anna, die die Straße heruntergetrabt kam, das Handy am Ohr, um einen Notarztwagen zu rufen. Und dann hörte er eine schleppende, näselnde Stimme hinter sich, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Mann, hey.« Garcia stand leicht schwankend auf der Straße und sah auf Rocco und den Verletzten hinunter. Dicht bei ihm klammerte sich McCarthy an das Rad, das Petz zum Verhängnis geworden war. Rocco erhob sich. »Ihr schon wieder.« Er nahm Garcia bei den Schultern, um ihn ein Stück vom Unfallort wegzuführen, und war überrascht, wie viel Kraft der Ex-GI ihm entgegenbrachte. Rocco war immer davon ausgegangen, dass ein mittlerer Windstoß Garcia von der Straße fegen würde, so dürr und klapprig erschien sein ausgemergelter Körper. Aber er war zäher, als man dachte. Schließlich folgten beide seiner Aufforderung, McCarthy das Rad am Sattel schiebend. Es war eines dieser alten Rennräder mit Metallrahmen. Es hatte bei dem Zusammenprall nicht mehr als eine leichte Acht und ein paar Kratzer abbekommen. Anna hatte den Unfallort inzwischen ebenfalls erreicht und sorgte dafür, dass die Leute entweder weitergingen oder zumindest gebührenden Abstand hielten. Ein Streifenwagen, der wahrscheinlich dafür abgestellt gewesen war, die Kinder und Jugendlichen der um die Ecke liegenden Schulen auf ihren Schulhöfen im Auge zu behalten, war auch vor Ort. »Der wacht schon wieder auf. Aber das muss ein ganz schöner Schlag gewesen sein«, sagte ein Sanitäter, zündete sich eine Zigarette an und deutete auf den Rettungswagen, in dem sein Kollege Petz auf einer Trage anschnallte. »Mhm. Und was machen wir mit seinem Fahrrad?« Der Sanitäter zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass jemand das Rad klaut. Das Vorderrad ist komplett demoliert. Stellen Sie es doch einfach hier an den Straßenrand.« Rocco schüttelte den Kopf. »Nee. Wir müssen es mitnehmen. Anna, holst du mal das Auto? Wir laden es in den Kofferraum und nehmen es mit aufs Revier.« Er drehte sich um. »Und euch zwei auch.« »Schon wieder?«, fragte McCarthy ungehalten. »Wir sind doch erst vor … Kurzem wieder entlassen worden.« »Dieses Mal nur für eine kurze Aussage fürs Protokoll.« Rocco betrachtete das Fahrrad. »Das war gute Arbeit, Jungs.« McCarthy sah ihn stoisch an. »Nichts ist wie es scheint«, sagte er. »Mhm«, machte Rocco. »Was soll mir das jetzt sagen?« »Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Platz. Dank unserer Kugel. Ich habe dir davon erzählt.« »Erzähl keinen Quatsch«, sagte Rocco und tippte sich an die Stirn. »Der Mann ist noch nicht tot«, ließ sich auf einmal Garcia vernehmen. Er starrte dem Rettungswagen nach, der die Mathildenstraße hinunterfuhr. »Aber es wird noch jemand sterben.« »Das ist anzunehmen«, erwiderte Rocco. »Wenn man davon ausgeht, dass ein Großteil der Menschheit sterblich ist, und vor allem nicht so gut konserviert wie ihr beide.« Anna kam mit dem Wagen und Rocco schob das Rad zum Kofferraum. McCarthy folgte ihm. »Wir konservieren uns nicht«, flüsterte er. »Wenn du die ganze Wahrheit wissen willst: Wir durchlaufen eine Testreihe …« »CIA.« Auch Garcia flüsterte. »Wir dürfen nichts darüber sagen, klar?« Rocco sah ihn mit einem leeren Blick an und wartete, bis Anna den Kofferraum öffnete. »Psychedelische Drogen, du weißt schon …«, fuhr Garcia fort und versuchte, ein Auge zuzukneifen. McCarthy zupfte Rocco am Hemd. »Es gibt hier einen riesigen, unterirdischen Pilz. Keiner weiß, welche Auswirkungen das auf die Bevölkerung hat, aber … gut möglich, dass alle langsam irre werden.« Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Rocco darüber nach, ob die beiden wirklich für die CIA arbeiteten. Dann lächelte er milde. »Was heißt hier langsam?«, fragte er und wuchtete das Rad in den Kofferraum. Kapitel 8 Es war Mittag. Die Skulptur – eine über den Ast geworfene Schlange – an der Kreuzung Wilhelmstraße schien zu zerlaufen, ein geschmolzener Ast, der in der Hitze des Tages seine Konsistenz und Integrität eingebüßt hatte und Stück für Stück auf den Teer zu tropfen drohte. Wie der Himmel, in dessen Mitte ein unersättliches, gleißendes Loch brannte, von dem das Licht senkrecht herabfiel, bemüht, jeglichen Rest von Schatten zu tilgen. Es war wenig los auf der Straße, und umso unwirklicher erschien die Prozession aus in knalliges Rot und Grün gekleideten Zwergen mit spitzen Hüten, die mit Schildern und Rasseln bewaffnet den Fußgängerweg vor dem Schloss kreuzten und sich mit viel Lärm auf den oberen Eingang des Schlossgartens zubewegten. Sie wurden eingekesselt von mehreren jüngeren Frauen, die in der Vorhut des Zuges dafür sorgten, dass alle Zwerge sich um das Kassenhäuschen scharten, und in der Nachhut darauf achtgaben, dass die Nachzügler möglichst rasch über die Fußgängerampel kamen. Rocco und Anna waren auf dem Weg ins Krankenhaus, auf dem Rücksitz lümmelten Garcia und McCarthy, die ihr Fahrrad nur unter Protest zurückgelassen hatten. »So langsam glaube ich an die Story mit dem Zauberpilz unter der Stadt«, sagte Rocco und wies mit dem Finger auf die Zwerge. »Rocco. Das sind Kinder«, erwiderte Anna. »Ich hab’s euch doch gesagt«, meinte Garcia von der Rückbank und versuchte, sich aufzusetzen. Die Zwerge versammelten sich vor dem Kassenhäuschen, hielten auf Kommando ihre Schilder hoch, auf denen mit bunten Farben größtenteils unkenntliche Zeichnungen und Schriftzeichen gemalt waren. Die Frauen verteilten Flugblätter an die Besucher. Dann wurde die Ampel grün und Anna gab Gas. »Ich habe nichts lesen können«, protestierte Rocco. »Was wird das schon sein«, sagte Anna. »Wahrscheinlich eine Demonstration gegen die Pläne deines Herrn Lohhausen.« »Das ist nicht mein Herr Lohhausen. Was soll denn das heißen?« Rocco schüttelte den Kopf. Roth erschien persönlich in Roccos und Annas Büro, um sich zu erkundigen, wie die Ermittlungen verliefen und ihnen die Meinung zu sagen. »Ich bitte Sie in aller Form darum, diesen Fall schnell und diskret zu erledigen, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als eine halbe Stunde später in der Innenstadt eine Treibjagd auf Studenten zu veranstalten. Vor dem Märchengarten finden Demonstrationen statt, obwohl die Werbekampagne und die Pläne für den Umbau erst heute Morgen öffentlich gemacht wurden. Wie kann das sein? Es muss eine undichte Stelle in der Verwaltung oder in Lohhausens Firma geben. Und zu guter Letzt schleppen Sie mir schon wieder diese bekifften GI-Affen aus Pattonville ins Haus. Wollen Sie mir ans Leder? Haben Sie es auf mich abgesehen? Ist das tatsächlich Ihr Ernst? Wenn Sie nämlich so weitermachen, werde ich innerhalb kurzer Zeit an Herzversagen sterben. Den Löffel abgeben. Krepieren. Die Radieschen von unten betrachten.« Rocco hatte Roth noch nie so viele Redensarten aneinanderreihen gehört. Abgesehen davon wunderte er sich darüber, wie die Demonstration ins Bild der Anklagepunkte passen sollte. Dafür konnten sie ja nun wirklich nichts. Er zog es jedoch vor, nicht zu erwähnen, dass seine Schwester an der Kampagne gegen den Umbau des Märchengartens maßgeblich beteiligt war. »Bei dem Studenten handelt es sich um den bisher flüchtigen Exfreund der Toten«, sagte er stattdessen. »Dass er in ein anderes Fahrrad gerast ist, war von mir nicht beabsichtigt, hat ihn aber immerhin an der Flucht gehindert. Er ist im Krankenhaus, aber noch nicht vernehmungsfähig.« »Aber Sie waren nicht in der Lage, Ihre Klappe zu halten, oder?« Roth war nicht zu besänftigen. »Ich hatte vor einer halben Stunde einen Anruf von der Presse. Die haben sofort versucht, den Mord im Märchengarten mit Lohhausens Umbauplänen in Verbindung zu bringen. Aus den Reihen der Bürgerinitiative würden solche Vermutungen kommen. Möglicherweise, so heißt es, hat Nicole Dahm für sie gearbeitet. Ich konnte ihnen das noch einmal ausreden – hoffe ich. Wie lange wird das halten, solange der Mord nicht aufgeklärt ist? Was ist mit dem Franzosen?« »Flüchtig«, sagte Anna nur. »Flüchtig«, wiederholte Roth. »Wollen Sie sagen, Sie könnten keinen Franzosen finden? Er muss irgendwo gemeldet sein. Er muss irgendwo arbeiten …« »Soweit wir wissen, arbeitet er für Lohhausen«, unterbrach ihn Rocco. »Lohhau…« Roth schwieg einen Augenblick. »Na gut, dann fragen Sie ihn doch. Ich bitte Sie nur, diskret vorzugehen. Diskret.« Er hob seinen gestreckten Zeigefinger in die Luft. »Bürgerinitiative«, murmelte er, als er die Tür öffnete. »Bürgerinitiative. Wenn ich dieses Wort schon höre. Das ist der blanke Hohn. Als ob die Bürger uns gegenüber Initiative ergreifen müssten. Wir vertreten die Rechte der Bürger.« Er drehte sich noch einmal um. »Oder?« »Nun ja, formal gesehen …«, setzte Anna an. »Ach.« Roth winkte heftig ab. »Verschonen Sie mich mit Ihren Spitzfindigkeiten.« Er warf die Tür hinter sich zu. Es war warm, die Jalousien waren heruntergelassen, und Rocco schaltete einen Ventilator an, der viel Krach machte und wenig Luft in Bewegung setzte. Anna starrte auf ihren Bildschirm, als könne der ihr sagen, wo der Franzose sich aufhielt. Rocco setzte auf die weniger arbeitsintensive Variante. »Ich glaube, der Exfreund war es«, sagte er und legte die Beine auf seinen Schreibtisch. »Besteht deine weitere Polizeiarbeit jetzt darin zu warten, bis er wieder aufwacht?«, zischte Anna. »Hey, hey. Reg dich bloß nicht so auf. Ich habe nur gesagt, dass ich glaube, dass er es war. Warum sollte er sonst vor uns fliehen?« »Dieser Arsch.« Anna starrte weiter auf ihren Bildschirm. »Petz, oder wie er heißt?« »Quatsch. Roth.« Sie stieß sich von der Schreibtischplatte ab, sodass ihr Stuhl ein Stück nach hinten rollte, und stand auf. »Willst du auch einen Kaffee?« »Okay.« Anna ärgerte sich nicht nur über Roth, sondern auch über sich selbst. Irgendetwas hatte sie vergessen. Sie wusste zwar, dass es etwas mit dem Fall zu tun hatte, doch was? Auf dem Weg zum Kaffeeautomaten grübelte sie darüber nach. Allerdings lenkte sie der Gedanke an Kaffee ab. Eigentlich hatten sie eine eigene Kaffeemaschine – Espressomaschine, würde Rocco sagen – in ihrem Büro. Aber es war kein Espressopulver mehr da. Rocco war an der Reihe, es zu besorgen, vergaß es jedoch seit mehreren Tagen. Dafür bezahlte er Anna den Kaffee, den sie auf dem Gang holte. Na, klar, dachte sie, als sie für Rocco auf den Knopf ›Espresso, schwarz, mit Zucker‹ drückte und dem mechanischen Geräusch lauschte, das der Apparat fabrizierte, um den Becher in die richtige Position zu bringen. Louis. Sie hatten ihn einfach im Café sitzen lassen, und er war ihnen auch nicht gefolgt. Kein Wunder, schließlich war ihm sowieso nicht wohl in seiner Haut gewesen, weil er – so wie er das sah – seine Geschäftspartner quasi verpfiff. Jedenfalls gab es eventuell eine Verbindung zwischen Nicole und Lohhausen, die über das normale Angestelltenverhältnis hinausging. Vielleicht hatte sie für diese Bürgerinitiative gearbeitet, die dann allerdings sehr organisiert sein musste, und wohl nicht nur aus einer Handvoll protestierender Jungmütter bestand. Rocco winkte ab, als sie ihm zusammen mit dem Espresso ihre Überlegungen präsentierte. »Vielleicht«, sagte er, »vielleicht. Aber es ist sehr unwahrscheinlich. Und selbst wenn was dran ist … Wie sollen wir das machen? Wenn wir bei der Party auftauchen, dann bekommt Lohhausen sofort mit, dass wir ihn und sein Umfeld beobachten. Dann wird dort nichts passieren. Und mal ehrlich, selbst wenn es bei der letzten Party Ärger gegeben hat … was sollen wir da schon rausfinden?« Allerdings musste er zugeben, dass es mehr als Ärger gewesen sein musste, wenn Louis es bemerkenswert genug fand, um es ihm als Tipp zu verkaufen. Aber sie würden von Roth nie einen verdeckten Ermittler bewilligt bekommen, um Lohhausens Party zu überwachen. Was sollten sie tun? Vorerst blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis Petz wieder zu Bewusstsein kam. Rocco ging zum Essen zu Natale. Laura kochte Risotto, von dem Natale sagte, sie könne es fast ebenso gut wie ihre Tante, und die habe es von ihrer Mutter gelernt. Maria war draußen im Garten, Rocco konnte sie vom Fenster aus sehen. Sie grub Löcher und steckte etwas hinein. Rocco zupfte an seinem Hemd, das aufgrund der Hitze, trotz offener Tür in der Küche, an seinem Körper klebte. »Was macht sie da draußen in der prallen Sonne?«, fragte er und wischte sich über die Stirn. »Kinder spüren so was nicht«, sagte Natale. Er saß am Tisch und schälte Zwiebeln für den Salat. »Sie pflanzt Parmesan«, sagte Laura. Rocco stutzte. »Was?« »Sie pflanzt Parmesan.« »Ihr habt das Kind ver… ihr habt dem Kind erzählt, Parmesan würde aus dem Boden wachsen?« Natale mochte es nicht, wenn man – wie er das nannte – Kraftausdrücke benutzte. »Ja, klar.« Laura wischte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Ich werde meiner Tochter erzählen, Parmesan wächst auf Bäumen. Sie hat es sich ausgedacht, oder was weiß ich. Jedenfalls ist sie nicht davon abzubringen, also soll sie es von mir aus versuchen.« »Streitet euch nicht.« Natale drehte sich zu den beiden um. Sein Gesicht war schwarz-weiß gestreift vom Muster der Jalousie, die halb heruntergelassen vor dem Fenster hing. »Rocco, soll ich mal erzählen, was du so alles angestellt hast, als du klein warst?« Rocco überlegte einen Augenblick, aber ihm fiel nichts ein. »Nein«, sagte er prophylaktisch. Wer wusste schon, welche unzähligen Peinlichkeiten, die er bereits in seiner Jugend erfolgreich verdrängt hatte, für Natale vielleicht schöne Erinnerungen waren. Maria kam herein. Sie musterte Rocco. »Was machst du?«, fragte er. Maria hielt seinem Blick stand, sagte nichts und ging ins Badezimmer. Sie weiß es, dachte Rocco. »Wir haben den Betrieb kurzzeitig lahmgelegt«, sagte Laura. Sie saßen am Tisch, vor sich das dampfende Risotto. Natale achtete nicht auf Lauras Geschichte, er genoss das Essen. Natürlich war Laura bei der Demonstration heute Mittag am oberen Eingang zum Schlossgarten dabei gewesen. Die Mütter hatten ihre Kinder Protestplakate malen lassen und Flugblätter gedruckt, um die Besucher des Märchengartens auf die Vorhaben von Lohhausens Fairy Tale GmbH aufmerksam zu machen. ›Im September ist Schluss‹, stand darauf. Darunter prangten acht gläserne Särge, die nicht nur Schneewittchen, sondern auch die sieben Zwerge beinhalteten, und ein längerer Text, den Rocco sich nicht durchlas. »Die instrumentalisieren ihre Kinder. Da demonstrieren Zwerge, Papa«, sagte er. Natale sah von seinem Teller auf und nahm einen Schluck Wein. »Das hätte es früher nicht gegeben.« Er trank noch einmal, seufzte, schüttelte den Kopf und sah seine Tochter an. »Man soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, Laura. Frauen sowieso. Politik ist nichts für euch. Es ist kein Wunder, dass dir der Mann weggelaufen ist.« Laura warf ihre Gabel in den Teller. »Sag mal, was soll das denn jetzt? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Du redest, als würdest du auf der Piazza eines Hinterwäldlerkaffs in Apulien hocken.« »Na, na, na«, sagte Natale. »Also wirklich, Papa«, mischte sich Rocco halbherzig ein. »Wir haben uns einvernehmlich getrennt«, sagte Laura und Tränen stiegen in ihre Augen. »Und es geht uns sehr wohl was an, wenn die Stadt oder diese bescheuerte GmbH eines der Wahrzeichen der Stadt abreißen will. Sollen wir immer nur zusehen und Ja und Amen zu allem sagen?« »Man sagt nicht bescheuert.« Natale runzelte die Stirn und senkte den Blick wieder auf seinen Teller, wie immer, wenn er sich nicht mehr sicher war, ob er recht hatte. »Und es gibt Wahlen, um seine Meinung auszudrücken.« »Das reicht eben nicht immer. Manchmal laufen die Dinge aus dem Ruder, und dann muss man eingreifen.« »Sie hat recht«, sagte Rocco. »Es ist ihr gutes Recht, gegen die Politik der Stadt zu demonstrieren. Aber Kinder als Zwerge verkleiden … ich weiß ja nicht.« »Ja, danke«, fauchte Laura ihn wütend an. »Aber selbst machst du nichts.« »Ich … ich versuche, einen Mord aufzuklären. Ist das vielleicht nichts?« Rocco hob abwehrend die Hände. »Du hängst die ganze Zeit im Märchengarten rum, da könntest du wenigstens mal deine Nichte mitnehmen.« Rocco sah sie konsterniert an. »Sag mal, was glaubst du, was ich da mache? Boot fahren? Die Lebkuchen vom Hexenhaus futtern, oder was? Ich suche einen Mörder. Da kann ich nicht mit kleinen Kindern spazieren gehen. Oder wie siehst du das, Maria?« Maria stocherte mit der Gabel in ihrem Risotto. Mit der anderen Hand drehte sie an einem ihrer kurzen Zöpfe. »Ich will mit«, sagte sie leise, aber bestimmt. »Nein.« Rocco verdrehte die Augen. »Grrr«, machte Maria und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Rocco zeigte seine Handflächen und zog die Schultern hoch. »Wo hat sie das her?«, fragte er. Anna wollte eigentlich früh schlafen gehen, aber sie saß noch auf dem Sofa, als Julia nachts heimkam. Der Fernseher lief. Anna hatte gar nicht auf das Programm geachtet. Sie war in Gedanken versunken. »Ich war mit Kollegen noch was trinken«, sagte Julia und warf ihre Schlüssel auf das Sideboard neben der Wohnungstür. Anna zuckte mit den Schultern. »Was ist los?«, fragte Julia. Sie ging in die Küche und kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern wieder. »Sag mal, du warst doch was trinken«, sagte Anna. Jetzt zuckte Julia mit den Schultern. »Und? Absacker?« Sie schenkte ein. »Erzähl mal. Gibt’s Neuigkeiten?« Bevor Anna etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Bei mir im Büro waren heute alle ganz aufgeregt. Es gab eine Demonstration gegen den geplanten Umbau des Märchengartens. Du kannst dir ja vorstellen, wie empfindlich alle beim Thema Bürgerinitiative reagieren. Das waren ein paar Mütter mit ihren Kindern, und mein Chef vermutet gleich Propaganda einer außerparlamentarischen Opposition. Linke Terrorgruppen, wirtschaftsfeindliche Linke, linksradikale Planwirtschaftler, subventionierte Gewerkschaftler und was weiß ich nicht. Hauptsache, alles Linke.« »Die Rechten haben in der Regel kein Problem, Profit auf der Prioritätenliste vor einigen anderen Themen anzusiedeln«, sagte Anna. »Wie zum Beispiel Nostalgie«, meinte Julia. »Zum Beispiel. Da würden mir aber auch noch einige andere einfallen.« »Und? Seid ihr weitergekommen? Wir hatten im Kulturamt schon Anrufe wegen des Opfers. Ob sie bei der Stadt angestellt war oder bei der Fairy Tale GmbH.« »Du meine Güte«, sagte Anna. »Da rufen die im Kulturamt an?« Sie nahm einen Schluck Wein. »Wir haben den Freund oder Exfreund von Nicole gefunden.« »Wow. Na dann …« »Er war heute Nachmittag noch nicht bei Bewusstsein.« Anna erzählte Julia von dem missglückten Fluchtversuch. »Und jetzt hoffen wir, dass er morgen vernehmungsfähig ist.« Sie sah nachdenklich zum Fenster hinaus. Der Himmel war nachtschwarz, aber der Mond tauchte die umliegenden Dächer der Altstadt in ein fahles, flüssiges grausilbernes Licht. Lauwarmes Mondlicht, von dem sie gerne eingehüllt wäre, das eine Sehnsucht in ihr weckte, von der sie nicht wusste, ob sie aus ihr kam oder vor ewigen Zeiten von irgendeinem Werbespot implantiert worden war. Gott bewahre, dachte sie –, eine Sehnsucht, die ganz leicht, aber physisch spürbar, an ihrem Hirn zog, zum Fenster hinaus … Aber sie saß hier auf der Couch unter der Stehlampe, die lampenschirmbegrenzte, ockerfarbene Gemütlichkeit ausstrahlte. Und Julia saß neben ihr. »Weißt du, wir haben noch einen anderen Hinweis«, sagte Anna und unterdrückte eine aufkommende Traurigkeit. »Louis …« »Ist das dieser halbseidene Portugiese?«, unterbrach Julia. Anna nickte. »Ich glaube, seine Mutter ist Schweizerin, oder so. Jedenfalls hatte er einen Tipp bezüglich Lohhausens Firma. Das Thema ist allerdings etwas heikel, wie du ja schon bemerkt hast. Mein Chef ist deswegen heute auch schon ziemlich deutlich geworden. Lohhausen und seine Fairy Tale GmbH genießen sozusagen staatliche Immunität. Es sei denn, wir hätten etwas Handfestes gegen ihn … Haben wir aber nicht.« »Du meinst, dass Lohhausen was mit dem Mord zu tun hat?«, fragte Julia. Anna zuckte mit der Schulter. »Nein, nicht unbedingt. Aber es gibt ein paar Ungereimtheiten bei ihm. Er hat den Franzosen angestellt, der zur Fahndung ausgeschrieben ist und unauffindbar zu sein scheint. Außerdem veranstaltet Lohhausen Partys für Sponsoren und Investoren, bei denen es nicht ganz astrein zugehen soll, wenn man Louis glaubt. Es gab das letzte Mal wohl einen ziemlich heftigen Streit, und wahrscheinlich war Nicole Dahm darin verwickelt. Möglicherweise finden wir den Mörder in diesen Kreisen. Und am Wochenende ist wieder so eine Party. Aber Rocco und ich können da nicht so einfach reinplatzen. Das gäbe ziemlich Ärger.« Sie schwiegen beide. In der Stille spürte Anna wieder diese Traurigkeit aufsteigen, besser gesagt kroch sie langsam aus ihrem Bauch, hinterhältig und gemein, wie ein Biest. Einen Anflug davon hatte sie bereits heute Nachmittag gespürt und sie wusste, dass sie heute nicht gut schlafen würde. Schon wieder … Julia schenkte die Gläser nach. »Ich sage dir, was wir machen«, sagte sie. »Ihr lasst einfach mich auf die Party gehen. Ihr gebt mir ein Mikrofon oder so was, Louis soll mich einschleusen, und ich erstatte anschließend Bericht. Wenn da krumme Dinger gedreht werden, dann bekommen wir das raus. Das ist doch die Idee, oder?« Anna sah sie lange an. »Quatsch«, sagte sie und trank ihr Glas in einem Zug aus. Kapitel 9 »Er ist aufgewacht.« Rocco kam ins Büro und hielt eine Packung Espresso-Kaffee in der Hand. Anna deutete darauf und zog die Augenbrauen hoch. »Von Natale«, sagte er und warf die Packung in die Ecke, neben die Elektroplatte, auf der sie ihren Espresso kochten. »Er hat noch welchen übrig gehabt. Los, komm schon. Wir müssen ins Krankenhaus.« Krankenhäuser waren Annas wunder Punkt, von dem Rocco nichts wusste. Sie hatte es ihm wohlweislich verschwiegen. Die Toten waren tot, und Anna hatte keine Angst vor ihnen, egal in welcher Form. Die hatte sie vor langer Zeit überwunden. Aber Krankenhäuser mit ihren langen, vermeintlich sterilen Gängen, den dicken Türen, die immer zum falschen Zeitpunkt nur angelehnt waren und damit das Stöhnen, Schnarchen und Röcheln der Siechenden und Kranken nicht in dem Raum hielten, in das es gehörte, konnte sie nur schwer ertragen. Die dezenten Geräusche, die aus den verschiedenen Zimmern durch die Gänge waberten, durchmischt mit den forschen Stimmen des Pflegepersonals und die pseudohygienischen, zwischen grau, beige und gelb changierenden Farben der Flure, machten sie krank. Beim Anblick von Ärzten, die auf professionelle Weise Zuversicht vermitteln wollten, bekam sie ein flaues Gefühl im Magen, wusste sie doch, dass von den meisten keinerlei Mitgefühl, keine Empathie zu erwarten war. Die Männer und Frauen in Weiß waren außerhalb der Operationssäle eher armselige Gestalten, wie gestrandete Wale oder Pinguine an Land. Im besten Fall taten sie einem leid. Dilettanten der Trauer und des Schauspiels. Gut gespieltes Mitfühlen hätte ihr ja schon genügt … vielleicht … damals. Aber mit solchen Hoffnungen war man an diesem Ort verloren. Mit aufeinandergepressten Lippen ging Anna neben Rocco über die Gänge, sah stur geradeaus und ignorierte alle Stirnverbände, blau unterlaufenen Augen und verbundenen Nasen, die ihnen entgegenkamen. Im Schwesternzimmer fragten sie nach Peter Paul und bekamen die Zimmernummer. »Jetzt ist mir klar, warum ich mit dem Namen Schwierigkeiten habe. Der heißt Paul mit Nachnamen«, sagte Rocco. »Mhm«, machte Anna. »Ist dir eigentlich klar, dass es ziemlich viele Leute gibt, die einen Vornamen als Nachnamen haben?« Rocco überlegte kurz. »Dieser Parkwächter hatte auch einen Vornamen … Wie hieß der gleich noch?« »Gerhardt«, sagte Anna und nickte ergeben. Ausgerechnet jetzt musste Rocco einen Quatschanfall bekommen. Andererseits würde ihm so nicht auffallen, dass sie ungewöhnlich still war. »Genau. Gerhardt. Wieder ein Vorname. Woher das wohl kommt? Ich meine, normale Nachnamen, so wie Marino oder …«, er sah Anna von der Seite an, »Behr, kann man ja nachvollziehen. Marino kommt von Meer, also war einer meiner Vorfahren Seefahrer oder so was. Bei dir … vielleicht Jäger oder Beerensammler.« Anna verdrehte die Augen. »Was denn?« Rocco zuckte mit den Schultern. »Das kann doch sein, nicht? Aber bei Vornamen als Nachnamen? Da fällt mir nur ein, dass die vielleicht keinen Job hatten und keine Wohnung, und deshalb haben sie den Kindern einfach ihren Vornamen als Nachnamen verpasst.« »Wir sind da«, sagte Anna und riss die Tür auf, bevor Rocco noch mehr Unsinn erzählen konnte. Peter Paul lag in einem Einzelzimmer. Er vereinte fast alles, was Anna an diesem Ort so fürchtete: Verband um den Kopf und um die Nase, sowie ein blutunterlaufenes Auge. Zudem waren ein Arm und der Knöchel bandagiert. Als Rocco und Anna eintraten, drehte er langsam den Kopf. »Guten Morgen«, sagte Anna. »Wie geht’s?« »Pffh«, machte Peter Paul. »Herr Paul, wir sind von der Polizei. Das ist Kriminalkommissarin Behr, mein Name ist Marino. Wir haben ein paar Fragen an Sie.« »Um was geht es?«, fragte Paul. Bestimmt wird er von seinen Freunden PP genannt, dachte Rocco. Dann fiel ihm wieder ein, dass Mindy gesagt hatte, er heiße Petz. Trotzdem beschloss er, bei PP zu bleiben. »Na, um was wird es wohl gehen? Sie dürften inzwischen mitbekommen haben, dass Ihre Freundin Nicole Dahm gestorben ist. Sie wurde umgebracht«, sagte Anna grob. »Wir haben Sie überall gesucht, und Sie sind zwei Mal geflohen.« »Ich bin nicht geflohen«, sagte PP. »Woher sollte ich wissen, dass Sie von der Polizei sind?« »Sie haben sich nicht bei uns gemeldet, obwohl Sie von Frau Dahms Tod wussten. Wir sind uns zwei Mal begegnet. Sie haben uns nicht gesagt, wer Sie sind. Und der Vorfall in der Fußgängerzone … ich weiß nicht, wie ich das bezeichnen soll, wenn nicht als Flucht …«, sagte Rocco verärgert. »Ihnen ist hoffentlich klar, was das bedeutet?« »Darauf pfeife ich«, sagte PP und machte eine wegwerfende Handbewegung. Gleich darauf verzog er das Gesicht und fasste sich vorsichtig an die Rippen. Anna ging zum Fenster und sah hinunter auf das Parkhaus. Gegenüber ließen ein paar Bäume die Blätter in der Sonne hängen. Wenn man den Kopf an die Scheibe lehnte, konnte man einen Teil des Eingangsbereichs überblicken. Es war nicht viel los da unten … ein Rot-Kreuz-Wagen brachte einen Rollstuhlfahrer … Es war schwül im Zimmer und roch nach Essen, irgendeiner mehligen Krankenhaus-Bratensoße, vermischt mit Antiseptikum. Anna drehte sich wieder um. »Das bedeutet, dass Sie unser Hauptverdächtiger sind, Herr Paul«, sagte sie. »Was?« PP war ehrlich verblüfft. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Ich … ich habe Nicole geliebt. Ich … warum sollte ich sie umbringen, um Himmels willen?« »Den Grund würden wir auch gern erfahren«, sagte Rocco. Paul angelte sich den Griff, der am Bettgalgen über seinem Kopf baumelte, und zog sich ächzend höher. Anna sah schnell wieder zum Fenster hinaus. »Es gibt keinen«, sagte er, als er sich aufgesetzt hatte, und starrte verbissen auf seine Finger, mit denen er nervös auf die weiße Bettdecke trommelte. »Na ja«, sagte Rocco nachlässig. »Sie hat Sie verlassen. Sie hatte einen anderen.« PP sah ihn giftig an. Rocco taxierte ihn kurz und verzog den Mund zu einem geringschätzigen Lächeln. Peter Paul war ziemlich groß und athletisch, er machte einen durchtrainierten Eindruck. Aber in diesem Zustand … »Wir haben uns getrennt, ja«, sagte PP düster. »Aber Nicole hatte keinen anderen. Es war … anders.« »Ja, wie war es denn?«, fragte Anna und wunderte sich über ihre plötzliche Gereiztheit. Sie schob es aufs Thema, es war immer das gleiche: Wer hat wen verlassen und warum. Rocco versuchte, PP zu provozieren und Anna musste zugeben, dass es gut funktionierte. Paul dachte nach, das war deutlich zu sehen. In seinem Kopf arbeitete es, er starrte mit zusammengekniffenen Augen vor sich hin und schlug wieder einen nervösen Rhythmus auf die Bettdecke. »Ich … wir … hatten einen Plan«, sagte er schließlich. »Mhm«, machte Rocco. Er hatte sich einen Stuhl ans Bett gezogen, stützte seine Ellbogen auf die Knie, sein Kinn in seine Hände und sah PP erwartungsvoll an. Anna lehnte sich gegen das Fensterbrett. Die Sonne schien ihr warm auf den Rücken. »Na ja.« PP zuckte mit den Schultern. Er schien zum Schluss gekommen zu sein, dass es ihm nicht sonderlich schaden konnte, seinen und Nicole Dahms Plan zu verraten. »Vor gut einem Jahr haben wir mitbekommen, dass die Leitung des Märchengartens an die Fairy Tale GmbH abgegeben wurde. Ich habe früher als Schüler und anfangs als Student in den Sommerferien manchmal bei den Puppenspielern im Kasperletheater des Märchengartens mitgemacht. Die Leute dort haben mir davon erzählt und sich ziemlich viele Sorgen um die Zukunft gemacht. Nicole und ich haben das erst nicht so ernst genommen. Die Leute fürchten sich oft, wenn Veränderungen anstehen. Dann wird getratscht, die Sache wird aufgebauscht … Aber dann kamen Informationen über angebliche Umbaupläne von einer Stadträtin und wir dachten, das wollen wir jetzt doch genauer wissen …« PP überlegte und formte kleine, parallel laufende Wellen in die Bettdecke. Mit dem Daumennagel strich er sie wieder glatt. »Ja …«, fuhr er gedehnt fort. »Nicole hat zu der Zeit sowieso einen Job gesucht, und von der Fairy Tale GmbH waren ein paar Stellen für Erzieherinnen ausgeschrieben. Also dachte sie, warum nicht? Sie hat sich beworben … Wir wollten herausfinden, was es mit diesem Umbau auf sich hat.« Also hatten die Pressefritzen, von denen Roth erzählt hatte, nicht so unrecht gehabt. Nicole ist vielleicht eine Spionin gewesen, dachte Rocco. »Sie hätten sich einfach ans zuständige Amt wenden können«, warf er ein und sah Anna an. »Das … Kulturamt, vermute ich?« Anna nickte. »Das haben wir natürlich versucht. Die ganze Sache hat sich ja über längere Zeit hingezogen. Aber es waren kaum Informationen zu bekommen. Selbst der Stadtrat wurde nur sporadisch über die Pläne informiert. Es war offensichtlich, dass die Stadt und … Herr Lohhausen von der Fairy Tale sich bewusst darüber waren, dass der Märchengarten und ihre Umbaupläne zu einem heiklen Thema werden könnten.« Die Art, in der er Lohhausen erwähnte, ließ Anna aufhorchen. »Und Lohhausen hat Nicole eingestellt?«, fragte sie. PP nickte. »Es war ganz leicht. Er hat sie eingestellt und ist sofort auf sie abgefahren.« Er presste die Lippen aufeinander und schwieg, als müsse er seine aufkommende Wut bezähmen und Tränen zurückhalten. »Sie hat mir immer davon erzählt und gelacht«, fuhr er fort, als er sich wieder unter Kontrolle hatte. »Natürlich hat sie so getan, als wäre sie interessiert an Lohhausen. Das war ja Teil unseres Plans. Sie ist mal mit ihm ausgegangen, was trinken, auch mal zum Essen … Und er hat fröhlich geplaudert.« PP lachte bitter. »Hat ihr jede Menge davon erzählt, was er aus dem Märchengarten machen würde, die Stadt aus dem Dornröschenschlaf wecken und solchen Quatsch.« Rocco und Anna sahen sich an. Wenn in dieser Geschichte auch nur ein Fünkchen Wahrheit steckte – und keiner der beiden glaubte, dass Paul sie sich in dieser kurzen Zeit komplett aus den Fingern gesaugt hatte –, dann war es gut möglich, dass Lohhausen der herausgeschnittene Mann auf den Bildern war – Nicoles ominöser Freund, der gerne unerkannt bleiben wollte. Und er hätte ein Motiv für den Mord … Aber es gab da noch eine andere, gravierende Sache, und die hielt PP im Spiel … Die Statistik der Beziehungstaten. »So ganz platonisch ist Nicoles Verhältnis zu Lohhausen nicht geblieben, oder?«, fragte Anna. PPs Kopf zuckte hoch. Er sah sie scharf an. »Was soll das heißen?« »Na ja, Sie beide haben sich getrennt …« »Das hatte nichts mit Lohhausen zu tun.« Rocco wartete einen Moment, aber es kam nichts weiter. PP starrte wieder vor sich hin und kaute auf der Unterlippe. Trommelwirbel auf die Bettdecke. »Sie hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr«, sagte Rocco. PPs Finger stoppten, er wurde blass, seine Wangenknochen traten hervor. Er atmete langsam ein und aus, seine Nasenlöcher weiteten sich. Anna stieß sich leicht vom Fensterbrett ab und ging zum Fußende des Betts. In der Sonne war ihr zu heiß geworden. »Sie meinen, sie wurde …?«, fragte PP stockend. Anna schüttelte den Kopf. »Sie wurde nicht vergewaltigt«, sagte Rocco. »Sie hatte Sex.« Er schnippte leichthin mit den Fingern und Anna bewunderte ihn fast für diese einfache Geste. Sollte Nicole sich in Lohhausen verliebt haben? Warum nicht? Anna dachte an Tom und ihr wurde kurz übel. Emotionaler Schmerz ist einer der hinterhältigsten. Immer wieder schleicht er aus seiner Ecke und es kostet Kraft, ihm dauerhaft standzuhalten. Sie verdrängte den Gedanken an Tom und ans Krankenhaus und konzentrierte sich auf den Ausdruck auf Pauls Gesicht, während Rocco ihn nach seinem Alibi und einer Speichelprobe fragte. PP hatte allein ferngesehen. »Nicole hatte einen anderen Liebhaber, wenn Sie es nicht waren, mit dem sie zuletzt geschlafen hat«, fuhr Rocco fort. »Geben Sie uns die Speichelprobe, dann steht Lohhausen doch ganz oben auf der Liste.« Widerstrebend und mit versteinerter Miene willigte PP ein. Anna hatte nicht den Eindruck, als wäre es eine Neuigkeit für ihn, dass Nicole einen Liebhaber gehabt hatte. Sie stellte sich die Frage, ob er nicht eher gehofft hatte, sie und Rocco hätten nichts davon gewusst. Sein Verhalten seit Nicoles Tod ließ sie darauf schließen, dass er sich wieder einen Plan gemacht hatte. Möglicherweise hat er zu viele amerikanische Action-Filme gesehen, dachte sie und schmunzelte. Und jetzt hielt er es für legitim, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Vielleicht hatte er Nicole Dahm in einem Anfall von Eifersucht erschlagen und wollte die Spur auf jemand anderen lenken, indem er sie am Rapunzelzopf erhängte. Und jetzt war er hinter ihrem Liebhaber her … Nichts von dem, was er erzählt hatte, entlastete ihn, auch wenn es glaubhaft klang. Als sie das Zimmer verließen und den Flur entlang zu den Aufzügen gingen, kam das Gefühl wieder, die Erinnerung an das Krankenhausgrau, das Anna damals aus der Klinik mit nach draußen genommen und das sie lange nicht mehr verlassen hatte. Die verschlossenen Mienen der Ärzte, die überdecken sollten, dass sie mit Leid genauso wenig umgehen konnten wie andere Menschen auch. Wie Tom … Sie holte tief Luft. »Lohhausen«, sagte Rocco und drückte auf den Knopf für den Aufzug. »Lohhausen also«, wiederholte sie mechanisch. Rocco sah sie stirnrunzelnd an, wie um zu überprüfen, ob sie bei der Sache war. »Was meinst du?«, fragte er. »Sagt er die Wahrheit?« Er deutete mit dem Daumen hinter sich in den Gang, vage in die Richtung, wo PP lag. »Es klang glaubhaft, wenn auch nicht unbedingt plausibel. Dass Nicole den Job nur angenommen hat, um Lohhausen auszuspionieren – ich weiß nicht … Das nehme ich ihm nicht ab.« Anna versuchte krampfhaft, ihre lähmende Erinnerung loszuwerden, die sie träge gemacht hatte. Die Zeit schien langsamer abzulaufen, und alle Gedanken flossen zäh dahin. Sie schüttelte unwirsch den Kopf und versuchte, sich daraus zu befreien. »Du hast mit Lohhausen gesprochen. Nach dem, was du mir über ihn erzählt hast, kann ich mir schon vorstellen, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Er hat Nicole geduzt …« Rocco verzog abschätzig den Mund. »Das hat nicht viel zu bedeuten. Mir kam es eher so vor, als würde PP seine eigenen Absichten verfolgen«, sagte er. »PP?« »Peter Paul.« »Hm.« Anna lächelte. Sie sah es genauso und war manchmal doch erstaunt darüber, dass Rocco und sie in relativ kurzer Zeit die gleichen Gedanken entwickelten. Zumindest solange Rocco nicht dieses untrügliche, spirituelle Etwas überkam, das ihn jegliche Logik und Vorsicht in den Wind schießen ließ … »So lädiert, wie er ist, wird er in den nächsten Tagen jedenfalls nichts unternehmen«, sagte sie. »Und auf jeden Fall müssen wir Lohhausen richtig auf den Zahn fühlen.« War es zu erwarten gewesen? Als Rocco mit Anna vor Lohhausen stand, kam es ihm vor, als hätte er schon vorher gewusst, dass Lohhausen alles abstreiten würde. Mehr noch. Lohhausen war überhaupt nicht nervös. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah Rocco und Anna entgeistert an. »Und deshalb kommen Sie zu mir?«, fragte er, stand in aller Ruhe auf und schenkte sich an dem Sideboard ein Glas Wasser ein, das er in einem Zug hinunterstürzte. Dann setzte er sich wieder. »Sie haben nichts Besseres? Das darf doch nicht wahr sein.« Er bot ihnen keinen Stuhl an, und die beiden standen vor ihm wie zwei Schulkinder vor dem Rektor. Zumindest kam Rocco sich so vor. Lohhausen hatte etwas an sich, so eine verdammt humorlose, erwachsene Art, sein Gegenüber spüren zu lassen, dass er jederzeit etwas viel Wichtigeres, Bedeutenderes zu tun hatte, als sich mit ihm und den Belanglosigkeiten seines Daseins abzugeben. Rocco konnte sich seinem aufreizend ausdruckslosen Gesicht und den leeren, blauen Augen kaum entziehen und musste sich zusammenreißen, um das Büro nicht wieder zu verlassen, Luft zu holen und einen neuen Anlauf zu starten. Lohhausen legte den Stift mit Nachdruck auf die Tischplatte, genau an die Stelle, an die er offensichtlich gehörte. Er legte die Fingerspitzen aneinander und blickte vor sich durch die gläserne Schreibtischplatte auf seine Hosen oder die darunter hervorlugenden Socken. Braun, konstatierte Rocco. Braune Socken, hellbraune Schuhe. »Frau Dahms Freund hatte offensichtlich ein Problem mit ihrer Treue«, hörte er Lohhausen sagen, während sich sein Blick unfokussiert an den braunen Schuhen vorbei streute. »Wie ich höre, ist außerdem einer meiner Angestellten seit dem Mord an Frau Dahm unauffindbar. Es gibt darüber hinaus Hinweise, sie sei möglicherweise sexuell belästigt worden … hört man aus gut unterrichteten Kreisen. Aber sie beide haben nichts Besseres zu tun, als mich von meiner Arbeit abzuhalten, um irgendwelchen völlig haltlosen Anschuldigungen nachzugehen? Warum suchen Sie nicht den Mörder?« Er stand auf, stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte und sah Rocco und Anna eindringlich an. »Es mag sein, dass Sie meine Arbeit nicht sehr schätzen. Aber ich habe viel zu tun und wenig Zeit. Und ich hoffe nicht, dass Sie Ihre Ermittlungen dazu ausnutzen, um in irgendeiner Weise kommunalpolitisch Stimmung gegen die Fairy Tale GmbH zu machen und gegen ein Projekt, das von der Stadt längst abgesegnet wurde. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich informieren würden, sobald der Fall aufgeklärt ist. Bis dahin möchte ich Sie bitten, mich in Ruhe zu lassen. Andernfalls, das verspreche ich Ihnen, werde ich mich an übergeordneter Stelle über Sie beschweren.« Anna und Rocco kannten solche Tiraden. Es war nicht das erste Mal, dass sie wegen Mordes in sogenannten Kreisen mit guten Beziehungen ermittelten. Diese Drohungen waren nicht besonders originell und ziemlich abgedroschen. Und doch benutzte sie jeder, der sich auch nur entfernt in der Lage dazu sah, eine Beschwerde nicht über den offiziellen Dienstweg, sondern über persönliche Beziehungen einzureichen. Trotz allem: Lohhausens Darlegung entbehrte nicht einer gewissen Logik. Was hatten Rocco und Anna gegen ihn vorzubringen außer den Anschuldigungen eines Mannes, der selbst dringend tatverdächtig war? Genau das mussten sie sich wieder in Erinnerung rufen. »Herr Lohhausen, wir sind lediglich hier, um ein paar Vermutungen abzuklären. Das ist Routine und hat nichts mit Ihrem Projekt zu tun«, sagte Anna ruhig. »Natürlich suchen wir nach Herrn …«, sie musste kurz überlegen, wie der Franzose wirklich hieß, »Herrn Schaminsky, um ihn zu befragen. Und Sie … behaupten also, kein Verhältnis mit Frau Dahm gehabt zu haben und niemals in ihrer Wohnung gewesen zu sein?« Lohhausen ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Er nahm den Stift in die Hand und drehte ihn zwischen den Fingern. Dann seufzte er und bot Anna und Rocco mit einer Geste einen Platz an. Sie setzten sich. »Das ist richtig«, sagte Lohhausen. »Aber: Ich behaupte nichts. Sie behaupten, ich hätte ein Verhältnis mit Frau Dahm gehabt. Das hatte ich nicht. Ich war ein oder zwei Mal in ihrer Wohnung, weil wir eine geschäftliche Besprechung hatten. Ich habe Frau Dahm als Mitarbeiterin geschätzt und deshalb ihre Meinung zu den geplanten pädagogischen Einrichtungen des neuen Märchengartens eingeholt. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir dabei auch etwas getrunken. Das ist alles.« Rocco betrachtete wieder die braunen Socken, die unter Lohhausens Hosenbeinen zum Vorschein kamen und stellte sich vor, es wären dieselben, die er auch bei seinem letzten Besuch getragen hatte. Erstaunlicherweise half es ihm, seine kurzfristig verloren gegangene Kaltblütigkeit wiederzuerlangen. »Wären Sie bereit, uns eine Speichelprobe zu überlassen? Wir könnten sie mit Proben aus der Wohnung von Frau Dahm vergleichen«, sagte er. »Warum?« Lohhausen rückte sich auf seinem Stuhl in eine aufrechte Position. »Ich habe Ihnen gerade eben erklärt, dass ich dort gewesen bin. Also könnten Sie auch genetische Spuren von mir finden. Ich weiß nicht, wie reinlich Frau Dahm war.« »Sie sind also nicht dazu bereit.« »Nein. Warum?« Lohhausens Nacken lief leicht rot an. »Ich bin dazu nicht verpflichtet. Ich habe keine Zeit für solche Sachen. Nehmen Sie eine Speichelprobe von Frau Dahms Freund, wenn es Ihnen Spaß macht …« »Wir wissen schon, dass er in der Wohnung gewesen ist. Logischerweise«, sagte Anna. »Das ist absurd«, rief Lohhausen und warf den Stift zurück auf den Tisch, definitiv nicht auf den Platz, an den er gehörte. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich ebenfalls in der Wohnung gewesen bin. Also, was soll das? Ich habe keine Zeit, und ich bin meines Wissens nicht dazu verpflichtet, eine solche Probe abzugeben. Ist das richtig?« »Das ist richtig«, sagte Rocco. »Es würde uns lediglich die Arbeit erleichtern.« Er konnte es nicht erklären, aber er wollte Lohhausen nicht sagen, dass Nicole Dahm noch kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt hatte. »Mir würde es die Arbeit erleichtern, wenn Sie diese Leute entfernen würden, die vor den Eingängen des Märchengartens herumlungern und Propaganda gegen mein Projekt betreiben. Das wäre gelungene Polizeiarbeit. Sogenannte Bürger, die sich übergangen und entmündigt fühlen.« Lohhausen machte eine wegwerfende Handbewegung. Das Rot seines Nackens breitete sich sanft über sein Gesicht aus. »Zuerst entmündigen die Leute sich selbst, sie wählen Volksvertreter, die Entscheidungen fürs Allgemeinwohl fällen sollen, um dann hinterrücks Demonstrationen anzuzetteln und gegen diese Entscheidungen zu protestieren. Was soll das? Ich meine, wozu gibt es Verwaltungen und Regierungen, die sich um den ganzen Kram kümmern?« »Eine etwas eigenwillige Auffassung von Demokratie, finden Sie nicht?«, fragte Anna. »Es ist möglicherweise nicht ganz abwegig, einige kleinere Mechanismen gegen Machtmissbrauch einzubauen. Schließlich sollte ja, wenn ich mich richtig erinnere, die Regierung für den Bürger da sein, nicht der Bürger für die Regierung.« »Herr Lohhausen, wir sind von der Mordkommission und nicht dazu da, Demonstrationen aufzulösen oder mit Ihnen über Demokratie und Lokalpolitik zu sprechen«, sagte Rocco. »Und ich hoffe inständig, dass sich die Gegner Ihres Umbauprojekts nicht dazu hinreißen lassen, einen Mord zu begehen.« »Das hofft keiner«, sagte Anna überzeugt. Lohhausen sah sie einen Moment lang mit geschürzten Lippen an, dann atmete er tief ein und nickte leicht. Als sie hinausgingen, eilte Rocco vor Anna her und nahm Lohhausens Glas vom Tablett. Er versuchte, es unter seinem Hemd verschwinden zu lassen und so auszusehen, als stecke er lässig seinen Daumen in den Gürtel. »Puh«, sagte Anna, als sie draußen auf der Straße standen. »Danke.« Rocco sah sie überrascht an. »Danke wofür?« »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich hätte mich von diesem … Kerl tatsächlich in eine Diskussion über Politik verwickeln lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist mir noch nie passiert.« »Siehst du, wenn man sich nicht für Politik interessiert, kann einem das nicht passieren.« Rocco lachte. Anna verdrehte die Augen. »Na, toll. Jedenfalls sind wir jetzt auch nicht weiter. PPs Aussage ist, bei Licht betrachtet, nicht viel wert. Ich glaube, er will nur von sich selbst ablenken.« Sie sah an Rocco hinunter. »Sag mal, wieso stehst du eigentlich so … bescheuert da?« »Ich würde zu gern noch mal ein Wörtchen mit diesem Franzosen wechseln«, sagte Rocco, ohne darauf einzugehen. Er wollte nicht, dass Anna von dem Glas erfuhr. Sie hätte mit Sicherheit etwas dagegen. »Ja. Aber mit Lohhausen stimmt trotzdem etwas nicht. Irgendwas war komisch, ich komme nur gerade nicht drauf.« Anna war unkonzentriert, sie spürte, wie etwas in ihren Geist schlich und ahnte schon, was es war. Sie sah nachdenklich und hoffnungslos die schnurgerade Straße hinunter. Nur wenige Autos waren unterwegs und kein einziger Fußgänger zu sehen. Sie standen im Schatten, aber von den Fenstern des Fabrikgebäudes gegenüber wurde das Sonnenlicht grell reflektiert. Anna spürte einen körperlichen Schmerz, als sie in die Spiegelung blickte, und trat einen Schritt zurück. Ihr Handy klingelte. »Ich könnte mir vorstellen, dass er Dreck am Stecken hat wegen seines Projekts«, sagte Rocco. »Laura hat so was gesagt. Wahrscheinlich ist er deshalb so nervös.« Anna nickte, ohne zu sagen, dass Lohhausen eigentlich nicht nervös gewirkt hatte. Sie nahm ab. »Wie bitte?«, fragte sie nach einem Moment und sah Rocco ungläubig an. »Das gibt’s doch nicht.« »Was?«, flüsterte Rocco. Anna legte den Finger an die Lippen. »Ja, okay«, sagte sie ins Telefon. »Wir kommen gleich.« Sie legte auf. »Was?«, fragte Rocco gereizt. »Nicoles Freund ist aus dem Krankenhaus abgehauen. Nach dem Mittagessen war er nicht mehr da. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat.« Kapitel 10 Anna konnte dem Grau nicht entkommen. Sicher, sie funktionierte, war noch einmal mit Rocco ins Krankenhaus gefahren, hatte dort kopfschüttelnd den Fluchtweg PPs inspiziert und das Personal befragt. Sie kehrte mit Rocco zurück ins Präsidium und hatte sich den Tadel von Roth abgeholt. Er fragte, warum sie keine Wache vor Peter Pauls Tür platziert hatten und behauptete, so eine bodenlose Sauerei – er sagte tatsächlich Sauerei, was Anna in diesem Zusammenhang für ziemlich deplatziert, zumindest für sinnbildlich fragwürdig hielt – sei ihm noch nicht untergekommen. Danach die üblichen Drohungen. Plattitüden, die Anna zum einen Ohr hinein- und zum anderen hinausgingen. Sie wusste noch, dass sie die Frage, ob sie diesen mangelnden Respekt und die Gleichgültigkeit gegenüber Vorgesetzten von Rocco übernommen hatte, kurzfristig von ihrem Gefühl, ihrer aufkommenden Traurigkeit ablenkte. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, um nicht wieder abzusinken in die Tiefe … oder was hieß schon Tiefe … Es war ein pelziges Kribbeln im stumpfen Raum und weniger der Verlust von Farbe, als das Abhandenkommen von Strahlkraft jedes einzelnen Dings, das der Gesamtheit der Objekte den Anschein von dumpfem Grau gab. Hoffnungslos Grau und hoffnungslos, ihm entkommen zu wollen. Das Gefühl schwappte nicht von irgendwoher, rollte den Raum beispielsweise von links nach rechts auf, sondern entzog den Dingen in allen Ecken und Enden gleichzeitig die Lebenskraft. Später saß Anna auf ihrem Bett und fragte sich, ob das jemals vorbeigehen würde. Sie hatte schon lange nicht mehr an Tom und ans Krankenhaus denken müssen, und wenn, dann hatte sie eine quasi professionelle Art gefunden, damit umzugehen. Sie lebte ein neues Leben, das die existenzielle Notwendigkeit der Verdrängung beinhaltete. Allerdings war das in jedem Leben so, ohne Selektion lief nichts. Und doch: Ab und zu erwischte es sie immer noch kalt, und in diesen Momenten wusste sie, dass sie nie ohne ihre Erinnerungen würde leben können, und dass sie nie entkommen konnte. Das Einzige, was half, war die Hoffnung und die Erfahrung, dass der Zustand nicht von Dauer war. Nicht mehr. Er würde vorübergehen. Aber auch wieder kommen, und davor hatte sie womöglich noch mehr Angst als vor dem gerade tatsächlich existenten Grau. Es musste einen anderen Weg geben … Den plötzlichen Drang zu weinen kannte sie, er schlich sich ab einem gewissen Zeitpunkt immer ein, verflog jedoch schnell wieder. Man wusste nie, wie lange der Zustand anhielt. Dieses Mal erlöste sie der Schlaf. Am nächsten Morgen wachte sie verschwitzt und kaputt auf, aber es ging ihr besser. Die Sonne schien durch das Dachfenster links neben ihr und zeichnete ein langgezogenes Rechteck auf den Fußboden, das ihre Hausschuhe, einen Teil des unteren Bettendes und ein Bein des Stuhls einrahmte. Alle anderen Gegenstände im Zimmer dösten in einem bläulichen, erwartungsvollen Halbdunkel. Anna lächelte und bewegte ihren Fuß in die Ecke des Betts, die von der Sonne angestrahlt wurde. Sie musste sich strecken, um es zu erreichen. Das Stuhlbein warf glänzende Reflexe, denen sie eine Zeit lang mit den Augen folgte. Dann stand sie auf. PPs Flucht war eigentlich nicht so sehr spektakulär gewesen, sie war eher lächerlich zu nennen. Er hatte es geschafft, sich mit seinem kaputten Fuß ins Schwesternzimmer zu schleppen, eine grüne Pflegerkluft und eine Krücke mitgehen zu lassen und sich so quasi als Pfleger und Kranker in Personalunion unerkannt aus dem Krankenhaus verabsentiert. Rocco lachte bei dem Gedanken daran. Ein an Krücken humpelnder Pfleger. Ein Besuch in PPs Wohnung blieb erfolglos. Er war wohl da gewesen, aber längst wieder weg. Es gab drei Möglichkeiten: Entweder betrachtete PP Lohhausen als den wahren Schuldigen an Nicoles Tod. In diesem Fall würde er mit einiger Wahrscheinlichkeit versuchen, Lohhausen zu treffen und ihm womöglich an den Kragen gehen. Und bereits übermorgen bot sich dazu eine glänzende Gelegenheit. Dann würde nämlich Lohhausens Party für seine Sponsoren und Investoren steigen. Oder PP war selbst der Mörder Nicoles. Dann würden sie ihn früher oder später schnappen. Humpelnd und lädiert wie er war, würde er nicht weit kommen. Die dritte Möglichkeit, dass nämlich der Franzose seine Finger im Spiel haben könnte, ließ Rocco erst einmal außer Acht. Er blieb verschwunden und ihre Informationen über diesen Kerl beschränkten sich bisher darauf, dass er die Erzieherinnen belästigt hatte. Also beschäftigte Rocco sich mit Lohhausen. Sollte Lohhausen auch nur ein Haar gekrümmt werden, dann würde er Probleme bekommen, das war spätestens seit dem Desaster von PPs Flucht klar. Roth würde ihn teeren, federn und aus der Stadt jagen. Und es war klar, dass Lohhausen auf seiner Party nicht ständig von der Polizei überwacht werden wollte. Zu diesem Zeitpunkt seines Nachdenkens – es war spät am Abend, Anna war gerade in einen unruhigen, aber letztlich erlösenden Schlaf gefallen – fiel ihm Julia ein. Und plötzlich sah er die Chancen von Variante eins: Julias Angebot, den Spitzel auf Lohhausens Party zu spielen. Anna hatte ihm davon mehr im Scherz erzählt, doch jetzt erschien ihm ihr Vorschlag gar nicht mehr so abwegig. Sie könnte Lohhausen unauffällig überwachen und gleichzeitig versprach Rocco sich einige Informationen über die Fairy Tale GmbH. Es war ja nicht unwahrscheinlich, dass auf so einer Party übers Geschäft geredet wurde, und Julia könnte einige Brocken hier und da aufschnappen. Er nahm den Telefonhörer in die Hand und rief sie an. Am nächsten Abend trafen sie sich in einer Kneipe neben dem Kino in der Mathildenstraße, nur einige Meter entfernt von der Kreuzung, auf der PP zwei Tage vorher seinen Unfall gehabt hatte. Im blauen Licht der untergehenden Dämmerung sah Rocco unwillkürlich nach den Kreidezeichnungen der Verkehrspolizei, als er mit Anna vorbeikam. An solchen Sommerabenden hatte das Licht eine verwirrende Wirkung auf ihn. Anna hatte unverkennbare Schatten unter den Augen. Ihre Haut erschien ihm durchscheinend, lumineszierend wie die Pilze in ihren schattigen Behausungen unter der Erde oder der Mond. Anna war alles andere als begeistert gewesen, als Rocco ihr von seiner Idee erzählt hatte, aber schließlich hatte sie sich dazu breitschlagen lassen, mit Julia wenigstens über einen eventuellen Einsatz zu reden. Dass Rocco auch gleich Louis zu der Unterhaltung gebeten hatte, verschwieg er wohlweislich. Anna war sowieso immer so durcheinander, wenn sie Louis begegnete. Sie setzten sich auf die Terrasse, an einen Tisch, der etwas abseits stand. Das Stimmengewirr von den anderen Tischen – besetzt mit wartenden Kinogängern, durstigen Studenten und Dozenten, einfach nur Essenden oder einfach nur Trinkenden, Trinkenden aus Geselligkeit, Trinkenden des Trinkens wegen und Trinkenden, die eigentlich gar nichts trinken wollten, sich aber einer lange hinausgeschobenen Verabredung nicht mehr entziehen konnten – prallte ab an der Stimmung dieser blauen Abenddämmerung, die zwar von oben abgeschirmt wurde durch die weißen Sonnenschirme, die ein unromantischer Wirtshausbetreiber hatte aufstellen lassen, aber seitlich hereinquoll und Roccos Zustand weiter nachhaltig beeinflusste. Da sah er, wie Julia sich einen Weg durch das Gewirr der Gäste bahnte, weiße schimmernde Bluse und blauer Rock, die dunkelbraunen Haare lose zu einem Zopf gebunden, der ihr über die Schulter fiel, schweißglänzende Stirn, die sie sich mit dem Handrücken abwischte, bevor sie Rocco lächelnd die Hand reichte. Er stand auf und begrüßte sie mit einem Kuss links und rechts auf die Wange, was sie erröten ließ. Das stand ihr ausgezeichnet, worüber Rocco den Anlass ihres Treffens vergaß. Aber Anna nicht. »Sag mal, spinnt ihr eigentlich?«, fragte sie Julia zur Begrüßung. »Das kann doch unmöglich dein Ernst sein.« Julia lächelte einfach weiter, versonnen, die Augenlider leicht niedergeschlagen, und setzte sich. »Sorry, es ist ein bisschen später geworden«, sagte sie. »Immer kommt noch jemand auf den letzten Drücker und will was.« Rocco interessierte es nicht die Bohne, wer auf den letzten Drücker kam und etwas wollte. Aber er musste etwas sagen, um nicht nur dazusitzen und Julia anzustarren. »Was war denn los?«, fragte er. »Ach«, winkte sie ab. »Es ist wegen der Demonstrationen …« Sie überlegte einen Augenblick. »Stellt euch vor: Da stehen jetzt schon jeden Tag kleine Gruppen vor den Kassen am Schloss und verteilen Flugblätter, die über den Umbau des Märchengartens informieren. Mein Chef ist völlig aus dem Häuschen, der Bürgermeister ruft dauernd an, alle sind am Rotieren. Wir müssen jetzt wahrscheinlich eine Gegendarstellung ausarbeiten, die dann jeder Eintrittskarte beigelegt werden soll oder irgend so was.« Sie sah in die Karte und bestellte ein Glas Rotwein. Rocco blickte Anna an. Die zuckte mit den Schultern. »Die Zwerge«, sagte Rocco tonlos. Er fand, es passte zur Stimmung des Abends, es möglichst tonlos zu sagen und hinaus auf die Straße zu schauen. Julia grinste amüsiert. »Die Zwerge«, erwiderte sie bestätigend. »Und ratet mal, wie sie sich nennen.« Anna sah sie mit gerunzelter Stirn an. Sie hielt die Luft an. »Jetzt sag bloß nicht …« Sie wagte nicht, es auszusprechen. »Wir verstehen uns«, sagte Julia und lachte. »Ja, ja. Zwergenaufstand.« »Oh, Mann. Klingt wie beim Treffen der Krabbelgruppe.« Aus Anna entwich schleichend Luft wie aus einem Ballon mit einem sehr kleinen Loch. Rocco fand die Bezeichnung gar nicht so schlecht, aber die beiden lachten ihn aus. »Als ob ›A fairy tale comes true‹ besser wäre«, sagte er schließlich beleidigt, in Anspielung auf Lohhausens Slogans für seinen neuen Event-Märchengarten. »Hör mal.« Anna wurde wieder ernst. »Das ist mir eigentlich ziemlich egal. Rocco hat erzählt, dass du auf diese Party von Lohhausen willst. Geht’s noch? Ich dachte, das wäre so eine Spinnerei.« Es dauerte ziemlich lange, bis Rocco und Julia sie davon überzeugen konnten, dass es weder besonders gefährlich noch extrem regelwidrig wäre, wenn Julia sich dort einschmuggeln würde. Irgendwann schüttelte Anna resigniert den Kopf und stimmte zu. Es war ja hoffnungslos. Und wenn sie mitmachte, könnte sie wenigstens ein paar Bedingungen aushandeln und im Notfall eingreifen. Als die Dämmerung wirklich zwielichtig wurde und das Auge die Umgebung wie auf einem grobkörnigen Ilford-Schwarz-Weiß-Film wahrnahm, erschien Louis. Anna erkannte ihn erst, als er, kurz bevor er ihren Tisch erreichte, an seiner Zigarette zog. Die Glut hinterließ eine rote Spur in der körnigen Luft. Es war, als hätte er die schwarzen Stellen des belichteten Bilds ausgenutzt, um unbemerkt heranzukommen. Die Kinogänger hatten sich inzwischen über den Parkplatz hinüber ins Caligari begeben und es war etwas ruhiger geworden. »Guten Abend«, sagte Louis ruhig und doch vibrierte seine Stimme in der beginnenden Nacht, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Oh, Mann, dachte Anna. Öl. Er nahm ihre Hand und hielt sie, bis sie sie ihm sanft wieder entzog. Julias Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Sie riss ihre Augen weit auf, sodass das Weiß im Licht der Straßenlaternen aufblinkte. »Louis«, sagte Rocco, als hätte er nichts bemerkt, »das hier ist Julia, eine Freundin von Anna. Sie wird uns helfen.« »Hallo.« Louis nahm Julias Hand und machte keine Anstalten, sie wieder loszulassen. »Freut mich.« Vorsichtig und mit einem ungewissen Lächeln zog Julia ihre Hand zurück. Louis erklärte sie erst einmal für verrückt, als sie ihm ihren Plan auseinandersetzten. Allerdings waren seine Gründe anders gelagert als die Annas. Er hatte schlicht und einfach Angst, dass Lohhausen dahinterkommen könnte, dass Julia von ihm eingeschleust werden würde. »Wisst ihr, was mich das kosten kann?«, sagte er in leicht singendem Tonfall. »Kopf und Kragen. Ich bekomme in der Branche nie wieder einen Fuß auf den Boden, wenn das rauskommt.« Er schüttelte den Kopf. »Als ob ich nichts Wichtigeres zu tun hätte …« »Welche Branche?«, fragte Julia. Anna überlegte, ob der Singsang in Louis’ Stimme die angeborene Neigung zu traurigen Liedern widerspiegelte. Sie kam im Augenblick nicht auf den Namen, aber es gab da einen Stil in Portugal … »Es wird nicht rauskommen«, sagte Rocco. »Schau sie dir an. Sie ist hübsch, oder nicht? Was soll passieren? Dass sie mit dem Tablett stolpert?« Louis ignorierte Julias Frage und schüttelte den Kopf. Er sah Rocco zweifelnd an. »Komm mal mit.« Er stand abrupt auf und ging mit ihm einige Meter hinüber auf den Platz zwischen Kneipe und Kino. Kurz darauf sah Anna dort drüben ein Streichholz entflammen und dann die Glut einer Zigarette. »Klingt wie Fado, wenn der redet«, sagte Julia. Das war’s. »Er ist halb Portugiese«, erklärte Anna und fürchtete gleich darauf, dass es wirkte, als wolle sie Louis in Schutz nehmen. Julia lächelte. »Der steht auf dich«, sagte sie. »Pffh. Der steht, glaube ich, auf jede.« »Hör mal, Rocco, dir ist schon klar, was das für eine Party ist, oder?«, fragte Louis, starrte in die Ferne oder ins lichtlose Dunkel, und zog heftig an seiner Zigarette. »Jetzt lass mal diesen Harvey-Keitel-Scheiß«, sagte Rocco. »Was wird schon sein? Die werden deine Bedienungen nicht gleich lynchen, oder?« »Das vielleicht nicht. Aber das ist eine Party, zu der die Ehegattinnen nicht ausdrücklich eingeladen werden, wenn du verstehst, was ich meine. Hier werden weniger Bedienungen gebraucht, als Mädchen, die ordentlich … zupacken können. Alles klar?« Rocco starrte eine Weile in Louis’ Richtung, konnte ihn aber nur undeutlich erkennen. Louis zog noch einmal an seiner Zigarette und warf sie dann energisch auf den Boden, als wolle er da unten etwas mit seinem Wurf töten oder zumindest schwer verletzen. »Oh, Mann«, flüsterte Rocco. »Lass uns rübergehen und das besprechen.« Louis hielt ihn an der Schulter fest. »Ich nehme sie mit, wenn du das willst. Aber ich kann nichts versprechen …« »Na, sag mal. Das sind doch keine Tiere«, sagte Rocco, aber in dem Moment, als er es sagte, klang es sogar in seinen eigenen Ohren ziemlich lahm. Erstaunlicherweise lachte Julia bloß, als Louis ihr erzählte, um was es auf der Party ging. »Du wirst mich schon beschützen, stimmt’s?«, fragte sie. Louis sah sie überrascht an. »Ich … ich werde mein Möglichstes tun«, stotterte er. Annas Einwände wurden nicht mehr gehört. »Also, pass auf …« Louis begann, Julia zu erklären, was sie zu tun hatte, und dass sie sich immer möglichst in seiner Nähe aufhalten sollte. Falls einer der Herren Interesse bekunden würde, so würde ihm schon etwas einfallen. Während er erklärte, taute Louis immer mehr auf. Er schien so langsam Gefallen an der Sache zu finden. »Das Motto der Party lautet: ›Der Wolf und die sieben Geißlein‹«, erzählte er. »Ich dachte mir, die Mädchen tragen weiße Plüschkostüme und kleine Hörner auf dem Kopf. Wie findet ihr das?« »Die Mädchen«, sagte Anna abfällig. »Wie würdest du denn deine Freundin bezeichnen?«, fragte Louis. »Frau? Hör mal, das ist das Letzte.« Sie schwiegen. »Ich finde es eigentlich ganz sexy«, sagte Julia schließlich leise in die Stille und lächelte. Louis und Rocco sahen sie einen Augenblick lang verliebt an. »Siehst du?« Louis wies mit der Handfläche auf Julia, als würde das alles klären. »Außerdem war das Motto Lohhausens Idee.« Er klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Leute, ich muss los. Ich hab noch jede Menge zu erledigen. Komm morgen Nachmittag zu mir«, wandte er sich an Julia und reichte ihr zwischen Zeige- und Mittelfinger seine Karte über den Tisch. »Da wirst du die anderen kennenlernen.« Er reichte Anna die Hand. »Und ihr beide kommt zum Monrepos-Schloss, aber frühestens um sieben Uhr, okay? Die Party steigt um acht.« Rocco und Anna nickten, und sie entzog ihm mit sanfter Gewalt ihre Hand. »A bientôt«, sagte Louis. »Selber Idiot«, erwiderte Rocco und sah ihm nach, wie er sich zwischen den Tischen und Lampen hindurch zum Ausgang schlängelte. Louis ließ den Motor seines Wagens an und wählte eine Nummer. »Lohhausen«, sagte eine Stimme am anderen Ende, nachdem es eine Weile geklingelt hatte. »Hier ist Louis.« »Louis. Ist alles klar für morgen?« Louis zögerte. Die Ampel schaltete auf grün und er bog in die Stuttgarter Straße ein. »Mhm«, machte er. »Louis? Ist alles in Ordnung? Gibt es Schwierigkeiten?« Lohhausen klang besorgt. »Nein, nein«, sagte Louis schnell. »Alles in Ordnung. Wirklich.« Er lachte. »Was soll schon sein? Ganz Ludwigsburg und Umgebung ist morgen auf Ihrer Party. Jeder, der wichtig ist …« Auch Lohhausen lachte. Es klang etwas gekünstelt. »Ja, dann sehen wir uns morgen.« Stille. »Louis, ich will, dass alles glattgeht. Ich habe gerade genug um die Ohren, klar? Deshalb habe ich Sie.« »Geht klar, Chef«, sagte Louis zackig. »Bis morgen.« Er wartete, bis Lohhausen auflegte und warf das Handy auf den Beifahrersitz. Er musste sich noch über einiges klar werden, und bis morgen war nicht mehr viel Zeit. Lohhausen saß in seinem Wohnzimmer und sah nachdenklich auf die Fensterscheibe, die seine Einrichtung widerspiegelte. Vor ihm stand ein Glas Whisky. Er legte das Telefon auf die Polster der Couch und ging hinüber zum Fenster. Täuschte er sich oder stand da unten, knapp neben dem Lichtkegel, den die Straßenlaterne auf den Gehweg warf, ein Mann? Es war dieselbe gedrungene Gestalt, die schon vor ein paar Tagen da gestanden und nach oben geschaut hatte. Lohhausen überlegte kurz, dann leerte er sein Glas, griff sich die Schlüssel und ging hinunter. Kapitel 11 Es war, als würde der Sommer den Atem anhalten. Wie auf dem Scheitelpunkt einer Parabel, in dem Moment, an dem das Aufsteigen ein Ende, der Fall aber noch nicht eingesetzt hatte und niemand, der nicht den Newton’schen Naturgesetzen anhing, eigentlich sagen konnte, was passieren würde. Die Luft lag still und in Erwartung, der Verkehr rauschte gedämpft über einen schwimmenden Asphalt, die Fenster der dreckigen, barocken Häuser an der Stuttgarter Straße sahen im Licht und in der Hitze des beginnenden Tages mit halb geöffneten Rollläden demütig zu Boden und die Pflanzen ließen bereits am frühen Morgen ihre Blätter hängen. Nur einige Insekten, die sich um menschliche Schicksale und die Lufttemperaturen einen Dreck scherten, brummten und paddelten ungerührt durch die Luft. Auch in Roccos stickigem Schlafzimmer durchmaß eine Fliege die Weiten des Raums. Ab und zu legte sie einen Zwischenstopp ein, um kurz darauf ihren Erkundungsflug erneut aufzunehmen. Von den unregelmäßigen Unterbrechungen, die Rocco wahrnahm wie die Aussetzer eines Motors, erwachte er. Zielsicher landete die Fliege auf seiner Stirn, was ihn zu einem unmotivierten Wedeln mit dem Arm veranlasste, der allerdings ausgestreckt und viel zu weit weg von seinem Kopf lag, um die Fliege zu stören. Anstatt den Arm zu heben, versuchte er es mit Pusten, was in Art und Effektivität an den glupschäugigen Cowboy in ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ erinnerte. Nach mehreren Versuchen schüttelte er ärgerlich den Kopf, schwang seine Beine aus dem Bett und zog den Rollladen hoch. Intuitiv erkannte er das beginnende Ende des Sommers, das ihn nicht sonderlich interessierte. Da war er wie die Insekten. Rocco wollte auf einen Kaffee zu Natale, bevor er sich auf den Weg zu Anna und Julia machte. Sie hatten verabredet, Julia auf jeden Fall ein verstecktes Mikrofon mitzugeben. Das war eine der Bedingungen gewesen, ohne die Anna der Aktion niemals zugestimmt hätte. Auch Rocco hielt es für vernünftig. Louis würde nicht rund um die Uhr auf Julia achten können, und wie sollten sie sonst mitbekommen, was im Schloss Monrepos los war? Louis hatten sie diese kleine Sicherheitsmaßnahme wohlweislich verschwiegen, denn unter diesen Umständen hätte wiederum er der Aktion keinesfalls zugestimmt. Das Mikrofon musste also so platziert werden, dass Louis es auf keinen Fall auffiel – und den anderen Herren natürlich auch nicht –, nachdem sich Julia in das dürftige Geißlein-Outfit gezwängt hatte, das den ›Mädchen‹ zugedacht war. Ungeachtet der sommerlichen Agonie hatte Rocco gute Laune, als er das Haus seines Vaters verließ. Sie hatten in der Küche gesessen. Natale behauptete stets, sie sei bei dieser Hitze der kühlste Ort im Haus, was natürlich Unsinn war. Der Espresso war gut gewesen und sie hatten nicht viel geredet, bis Rocco gesagt hatte, er hätte noch etwas zu tun. Natale hatte sich beschwert. Was sei denn das für ein Job, an dem man nicht mal am Samstag Zeit für die Familie habe. Daraufhin hatte er ein bisschen mit den Händen in der Luft herumgefuchtelt. Ob es bei der Polizei etwa keine Gewerkschaft und so weiter gebe. Rocco hatte nur müde abgewinkt. Als er sich auf den Weg machte, war die heiße Straße menschenleer, und als er einmal den Blick hob, kam sie ihm länger vor als sonst, so dünn und ausgezehrt, als hätte die Sonne sie komplett ausgetrocknet. Das Holz der Fensterläden wirkte wie Papier. Rocco dachte an Julia, ihre warme, weiche Haut und ihr Lächeln. Im Halbdunkel hinter Julia stand Anna und versuchte, das Mikrofon an ihrem BH zu befestigen. Rocco blieb stehen und hielt schützend die Hand über die Augen. Die Straße war gebleicht wie ein überbelichtetes Foto und wurde nicht kürzer. Am späten Nachmittag trieb Louis die Geißlein wie eine kleine Herde über den Platz vor dem Monrepos-Schloss und die Freitreppe hinauf. Die Frauen waren gesprenkelt vom fleckigen Schatten, den die Blätter der Bäume warfen. Louis war nervös, es gab noch einiges zu tun, bevor die ersten Gäste erscheinen würden. Außerdem ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, es würde auffliegen, dass er gemeinsame Sache mit der Polizei machte. Er wäre gerne kaltblütiger gewesen, aber er war es nicht. Das ließ ihn noch nervöser werden und er hüpfte wie ein aufgeregter Hütehund um die Frauen herum, bis sie im Saal verschwunden waren. Die meisten kannten ihn schon lange genug, um sich nicht um ihn zu kümmern. Ärgerlich warf Louis einen Blick auf Julia, die sich das weiße Strumpfband zurechtzupfte, das jedes Geißlein am linken Schenkel trug. Unwillkürlich musste er schmunzeln. Ich werde nachher einiges zu tun haben, um die alten Knacker von ihr fernzuhalten, dachte er und trat an die Fensterfront, die zum See zeigte. Draußen waren vereinzelt Spaziergänger unterwegs, auf dem See paddelten einige Boote. Weiter hinten, bei der kleinen Insel, auf der die Ruine einer winzigen Kapelle stand, lagerten ein paar kiffende und biertrinkende Jugendliche mit schwarzen Klamotten und bleichen Gesichtern, die sich ausgerechnet den letzten heißen Sommertag ausgesucht hatten, um aus ihrer PC-Spiele-Höhle in den Häusern ihrer Mamas und Papas herauszukommen. Louis holte einen Tabakbeutel aus der Innentasche seines Anzugs und drehte sich eine dünne Zigarette. Vorsichtig öffnete er die Glastür und trat auf die große Terrasse hinaus. Er schwang sich mit dem Hintern auf die steinerne Balustrade, zündete die Zigarette an und atmete tief ein. Er hielt die Luft an, bis seine Augen glasig wurden. Dann blies er den Rauch nachdenklich, in Intervallen, nach oben. Er dachte an die zwei, drei goldenen Schalen mit dem weißen Pulver, die er in den Zimmern im ersten Stock verteilen musste. Er gedachte, sich auch eine kleine Prise zu genehmigen, wenn die Gelegenheit günstig war. »Was soll’s«, sagte er leise und schüttelte sich aus einer blauen Flasche eine kleine Überdosis Thiamin-Tabletten in die Hand. »Wird schon schiefgehen.« Lohhausen war mit einer Gruppe älterer Herren gekommen und stand mit ihnen etwas abseits im Saal. Zur Begrüßung hatte er kurz die Hand gehoben und gezwinkert, und Louis nickte ihm von hinter der Bar zu, als Zeichen, dass alles in Ordnung war. Man erkannte Lohhausen sofort an seinem leichten, grau in grau karierten Sommeranzug, der tadellos saß. Die anderen Herren trugen die handelsübliche Kaufhaus-Standardware, Jacketts aus billig wirkendem Tuch, schlecht sitzend, meist mit den etwas zu hohen Hosen, an denen man den Mann von Land erkannte. »Ist doch klar«, hatte Louis zu mancher Gelegenheit erklärt, »der ländliche Geldadel muss für schlechtere Wege und eventuelle Pfützen gewappnet sein. Außerdem wird in diesen Kreisen das Tragen hochwertiger Kleidung schon mit Eitelkeit und Maßlosigkeit gleichgesetzt, und das sind immerhin die Attribute von gleich zwei Todsünden. Geld ist schließlich dazu da, um es auf die Bank zu legen, und nicht, um es zu verschwenden.« Lohhausen outete sich in seiner Umgebung allein durch die bessere Qualität seines Anzugs als Außenseiter. Er war noch nicht dahintergekommen, warum, er spürte allerdings, dass er nicht dazugehörte. Vielleicht konnte er sich aber auch einfach nur nicht dazu durchringen, die Nullachtfünfzehnanzüge der High Society zu tragen. Er war ein Emporkömmling, na gut. Aber er würde ihnen schon zeigen, dass man auch in kleineren Städten mit einem guten Anzug Erfolg haben konnte. Louis beobachtete ihn vom anderen Ende des Saals aus, wo sie die Bar aufgebaut hatten, und er einige Martinis mixte, während Julia Gläser mit Champagner füllte. Seine diversen biochemischen Aufheiterungsversuche hatten voll durchgeschlagen. Er war ruhig, entspannt und grinste etwas botoxhaft in die Gegend. Die anderen Mädchen standen nicht weit von ihm, fächelten sich mit flaumbesetzten, weißen Fächern Luft zu, kicherten und kümmerten sich im Übrigen nicht um die in kleinen Gruppen durch die Glastüren des Schlosses hereinkommenden Damen und Herren. Louis kannte das schon. Um die Ehefrau oder den Beruf der sieben Geißlein zu vergessen, brauchten die Herrschaften erst einmal ein paar Drinks. Außerdem waren diejenigen, die auf solchen Gesellschaften immer über die Stränge schlugen, noch nicht anwesend. Wenn die Party später richtig in Gang kam, würden die Herren in eins der Separees verschwinden, die Louis mithilfe seiner Mitarbeiter eingerichtet hatte. Dort konnten sie ihr Geißlein diskret erlegen. Schließlich war man ja im eigenen Wahlkreis unterwegs, und wer wusste schon, was möglicherweise am nächsten Tag in der Zeitung stand. In Zeiten, in denen sogar die Vergnügungsreisen höherer Versicherungsangestellter in den Schmierblättern der Republik verhandelt wurden, konnte man nicht vorsichtig genug sein. Alkohol und Drogen machten der Vorsicht zu vorgerückter Stunde dann doch oft genug einen Strich durch die Rechnung. Doch daran wollte und konnte jetzt noch keiner der Herren auch nur im Entferntesten denken. Neue Gäste blieben zunächst an den Türen des Schlösschens stehen und sahen sich im Saal um, geblendet durch das sich in den Kristallen der Leuchter brechende Licht der roten Abendsonne, das den Schachbrettboden flutete und sich in den Scheiben spiegelte. Meistens erkannten sie schnell ein bekanntes Gesicht und steuerten zielstrebig darauf zu. Das Getränk der Stunde waren weder Martinis noch Champagner. Die meisten Gäste bevorzugten zu Beginn ein kühles Bier. Nur die wenigen Frauen der Gesellschaft und die Geißlein griffen zu Champagner. Louis grinste botoxhaft. Das Licht schwand langsam und hinterließ zwischen den alten Bäumen um das Schloss herum noch eine Ahnung des Tages, einen violett- und orangefarben Streifen. Auf der anderen Seite stieg bereits das dunkle, satte Blau der Nacht empor. Die Kronleuchter flackerten auf und tauschten das goldene Abendlicht gegen das silberne der Nacht. Ein leichter Wind setzte ein. Es war nur eine leichte Brise, und sie war noch heiß wie der Tag. Sie wehte Mindy Schneider herein in einem halblangen Etuikleid, das ein bisschen an die Charleston-Kleider der Zwanziger erinnerte. Sie ließ ihren Blick über die Gruppen im Saal schweifen und steuerte zielstrebig auf Lohhausen zu, der sie lächelnd begrüßte, sich jedoch wieder einem anderen Gast zuwandte. Mindy wollte sich nicht so einfach abweisen lassen und blieb an seiner Seite. Über die Freitreppe traf eine lärmende Gruppe jüngerer Männer ein, die ihren Aperitif augenscheinlich schon anderswo eingenommen hatte. Als Lohhausen sie bemerkte, löste er sich aus seiner Runde und ging eiligen Schritts auf sie zu, Mindy im Schlepptau. Er nahm einen von ihnen, einen massigen jungen Mann mit strohigen Haaren, Brille und teigigem Gesicht, am Arm und zog ihn zur Bar. »Pass mal auf, Julia«, sagte Louis beiläufig, als er sie kommen sah, und stieß sie mit dem Ellbogen an. »Nimm das Tablett hier mit den Gläsern und verteile sie unter den Gästen draußen auf der Terrasse. Da sind einige Neuankömmlinge, die noch nichts zu trinken haben.« Julia warf ihm einen verwunderten Blick zu, nickte und ging mit dem Tablett hinaus. Louis sah ihr nach, dann machte er sich daran, ein paar Flaschen zu öffnen. »Das ist Louis«, hörte er Lohhausen rufen. »Mein Barkeeper und Mädchen für alles …« Louis hasste es, wenn Lohhausen ihn Barkeeper nannte, oder Mädchen. »Wendet euch an ihn, wenn ihr irgendwas braucht, okay? Und ich meine irgendwas«, betonte er und klopfte Louis auf die Schulter. »Das ist Charly Schimmler. Merk dir sein Gesicht. Du gibst auf die Jungs hier acht, okay? Alles klar?« Louis nickte und lächelte. »Na, dann schenk uns mal eine Runde ein.« Louis nickte wieder und ließ eine Champagnerflasche gekonnt über den Gläsern kreisen. Er konnte nicht umhin, Lohhausen zu bewundern. Er wusste, wie man Leute beeindruckte, so viel war klar. Louis ging davon aus, dass Schimmler auch keine größere Nummer war als die Jungs mit den schlecht sitzenden Anzügen. Er brauchte wahrscheinlich nur ein bisschen mehr großspuriges Getue, um sich wichtig zu fühlen. Und Lohhausen gab jedem das seine. Für einen kurzen Moment fühlte er sich dem Manager sehr nah. Waren sie nicht beide irgendwie Schauspieler, Trickbetrüger, die den Leuten ihre Spiegelfechtereien vorführten, um ihnen ein paar Cent aus der Tasche zu ziehen? Lohhausens Show war einige Nummern größer. Aber Louis’ Zeit würde noch kommen, keine Frage … Er hatte die Kerle, die Lohhausen angeschleppt hatte, schon ab und zu in verschiedenen Etablissements gesehen, wusste jedoch nicht, warum sie hier eingeladen waren. Es interessierte ihn auch nicht sonderlich. Das herauszufinden, war Julias Job. Dummerweise hatte er eine Art Beschützerinstinkt für sie entwickelt. Das hieß, er musste versuchen, sie vor Begegnungen mit Typen wie diesen zu bewahren, was ihr den Job, Informationen zu sammeln, wiederum so gut wie unmöglich machen würde. Kurz fürchtete Louis, aufgrund dieses Dilemmas beim Einschenken aus dem Rhythmus zu geraten. Glücklicherweise war in diesem Augenblick die Flasche leer. »Danke, Louis«, sagte Schimmler. »Gerne«, sagte Louis. »Und Louis.« Schimmler fixierte ihn mit dunklen Augen, in denen die wässrig blaue Retina kaum zu sehen war. Das Licht tat seinem Teint nicht gut. »Hör auf, so blöd zu grinsen.« »Na, klar«, sagte Louis und grinste botoxhaft. Verdammter Drecksack, dachte er und spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. Das war nicht gut. In Gedanken machte er eine Kerbe in ein Holzstück oder einen Pistolengriff oder … scheißegal, wohin, verdammt noch mal. Der Kerl war vorgemerkt. Bei Louis hieß das für immer. Für solche Sachen hatte er ein Gedächtnis wie ein Elefant. Er war kein Idiot, er konnte warten. Irgendwann würde sich eine Gelegenheit ergeben. »Louis?«, sagte Lohhausen und fasste ihn am Arm. Schimmler lehnte mit dem Rücken an der Bar. Er und seine Jungs sahen sich im Saal um. Einer davon, ein kleiner, untersetzter Typ mit niedrigem Haaransatz und ungleichmäßigen Augen, in Jeans und schlabbrigem Jackett, ließ Mindy, die etwas gelangweilt neben Lohhausen stand und Champagner schlürfte, nicht aus den Augen. Als sie es bemerkte, lächelte sie und streckte ihm die Zunge raus. Nur ganz kurz, aber doch so, dass Louis es bemerkte. »Es ist jetzt so langsam Zeit, dass deine Mädchen hier mal ihre Ärsche in Bewegung setzen. Die sind jetzt lange genug rumgestanden und haben sich einen potenziellen Junggesellen ausgegafft. Okay?« »Alles klar. Ich mach ihnen Beine.« Louis sah von Weitem, dass Julia wieder von der Terrasse zurückkam. Scheiße, dachte er. »Was für eine Schnapsidee«, sagte Anna und stieß Rocco ärgerlich gegen den Oberarm. »Das ist doch ein Scheißplatz hier. Und dann auch noch diese spätpubertierenden Depro-Freaks mit ihrem Gequatsche da am Ufer neben uns. Ich würde am liebsten rübergehen und sie verhaften. Die sind doch völlig stoned.« »Wenn es nach dir geht, ist die ganze Welt immer völlig stoned. Meine Güte, das sind Jugendliche, die mal ein bisschen Spaß haben wollen. Sieh dir die Burschen doch an, oft kommt das nicht vor.« »Das sind frustrierte, hochgradig gefährdete junge Erwachsene, die später mal bei den Anonymen Alkoholikern landen oder in einer Entzugsklinik, wenn du mich fragst. Außerdem ist es immer noch ein Scheißplatz.« Rocco hatte es für eine gute Idee gehalten, ihr Hauptquartier in der Kapelle auf der kleinen Insel im Monrepos-See aufzuschlagen. Dass im Ernstfall ihr Weg zum Schloss ziemlich weit wäre, war ihm entgangen. Allerdings hatte er zu keinem Zeitpunkt überhaupt damit gerechnet, dass es einen solchen Ernstfall vielleicht geben konnte. Deshalb hatte ihn Annas Argument mit der Entfernung zum Schloss ziemlich überrascht. Sie war nur in Unkenntnis der örtlichen Verhältnisse auf seinen Vorschlag eingegangen. Seit dem späten Nachmittag saßen sie jetzt nebeneinander auf dem steinigen, staubigen Boden, ausgerüstet mit zwei Ferngläsern und einem Empfänger, der ständig leise rauschte und das, was in Julias Nähe gesprochen wurde, nur undeutlich übertrug. Außerdem war sie bislang kein einziges Mal an Lohhausen herangekommen, und Rocco befürchtete, dass das vielleicht an Louis lag, der seinen Job als Beschützer zu ernst nahm. Sie hatten gehört, wie er Julia auf die Terrasse geschickt hatte. Dort war absolut nichts los, außer ein paar Damen und Herren, die versonnen dem weichenden Tag nachblickten und vermeintlich tiefschürfende Gespräche über die Zeit und das Sein führten. Und was steckte dahinter?, fragte sich Rocco ärgerlich, wahrscheinlich weil er verschwitzt und staubbedeckt in einer ehemaligen Kirche lag. Nachher geht’s eh nur darum, wer mit wem in der Kiste landet. Das war für seine Verhältnisse ein bisschen zynisch, aber es nervte ihn, dass noch kein einziger brauchbarer Satz über den Äther geströmt war. Und dann auch noch die nörgelnde Anna … Er sah zu ihr hinüber. Sie warf ihm einen Blick zu und grinste. Rocco ging von einem Moment zum anderen das Herz auf. Sie fühlte wie er, er hatte es ganz deutlich gesehen, und zum ersten Mal in seinem Leben machte er sich Gedanken darüber, dass und warum es möglich war, jemandem anzusehen, was er dachte, sozusagen ohne Worte der gleichen Meinung zu sein. Wow, dachte er. Anna sah gleich wieder weg und schimpfte über die Typen draußen, die wahrscheinlich rätselten, wo sie das nächste Piece herbekommen könnten. Aber Rocco ließ sich nicht täuschen. Er war entschlossen, sich den Moment zu merken, auch wenn er nicht für ein Elefantengedächtnis à la Louis bekannt war. Der Empfänger rauschte. »Moment mal.« Knistern. Anna hielt den Atem an. Das war nahe bei Julia gewesen. »Darf ich Ihnen noch was bringen?«, hörten sie ihre Stimme. Lautes Lachen. »Sie …«, johlte eine Männerstimme. Wieder Lachen. »Ja, klar. Nimm die Flasche da und komm mit.« Eine Weile war nur der Lärm aus dem Saal zu hören, Gläserklirren, Stimmen, vermischt mit geringfügigen atmosphärischen Störungen. »Entschuldigung, aber sie muss mir an der Bar helfen.« Das war Louis’ Stimme von weiter weg. Rocco sah wieder Anna an und verdrehte die Augen. Er sollte lediglich ein Auge auf Julia haben. Wenn er so weitermachte, würde er alles vermasseln. Der nächste Satz war nicht zu verstehen, weil zwei der Jungs drüben auf der Wiese sich in die Haare gekriegt hatten, wer denn jetzt losfahren solle, um noch Bier zu holen. Aber es war Lohhausens Stimme gewesen, da war sich Rocco sicher. Anna biss sich auf die Lippen. »Rocco. Ich bring dich um«, flüsterte sie. »Psst«, machte Rocco. »Hey, hör mal«, drang eine dritte Stimme aus dem Lautsprecher, verwischt und undeutlich, als würde sich jemand beim Sprechen mit der Serviette den Mund abwischen. »Verpiss dich bloß oder ich schlag dir alle Zähne ein.« »Au weia«, entfuhr es Rocco. »So was sagt man nicht ungestraft zu Louis.« »Sag mal.« Anna packte ihn am Arm. Rocco fiel auf, dass sie flüsterte, obwohl dazu eigentlich kein Grund bestand. »Diese Stimme, die kenne ich. Das ist doch dieser Idiot, der Franzose. Oder?« Rocco zuckte mit den Schultern. Aber es war durchaus möglich. Er brauchte einen Augenblick, um sich im Klaren darüber zu werden, was das bedeutete. Kapitel 12 Vor den Fenstern wartete die schwarze Nacht, im Saal des Schlosses spiegelte der Schachbrettboden das silberne, helle Licht der Glaslüster, die von der Decke hingen. Die Geräusche der Party verschwammen. Louis starrte den Typen mit dem schäbigen Jackett an, als würde er sich fragen, ob der Kerl wohl lebensmüde geworden sei. Lohhausen atmete tief ein und war sich nicht sicher, ob und wie er eingreifen sollte. Schimmler sah den beiden interessiert zu, während er sich wie beiläufig bei Julia unterhakte. Ihr lidschlagschneller Blick changierte zwischen Überraschung und Entsetzen, ansonsten blieb sie bis auf einen kleinen Schauder, der ihren Körper von oben bis unten durchlief, scheinbar ungerührt. Ihre braunen Augen hatten auf einmal einen violetten Schleier. Sie spürte den Farbwechsel, er kam vom Champagner, mutmaßte sie, aber es war ihr gar nicht recht, machte er sie ihrer Meinung nach noch attraktiver. Damit Schimmler es nicht gleich bemerkte, starrte sie zu Boden. Louis blieb bei seinem beinahe kindlich verwunderten, überraschten Blick, obwohl er schon genau wusste, was er tun würde. Er wartete nur auf den ersten Schritt des Franzosen. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, er war hellwach und auf jede Bewegung, jeden Handgriff oder Fußtritt gefasst. Er spürte seine Glieder bis in die Spitzen der Zehen und Finger, so deutlich, dass es fast wehtat und er sich beherrschen musste, um nicht mit blitzartiger Geschwindigkeit vorzuschnellen, eine Kombination loszuwerden, zurückzutänzeln und mit locker hängenden Fäusten zu warten, ob der andere noch einmal hochkommen würde. Der Franzose stand nur da, mit ausdruckslosem Gesicht und leicht geöffnetem Mund, in dem undeutlich die blau schimmernden Schneidezähne zu sehen waren. Mitleidlos wie ein Tier starrte er seinerseits Louis an. Wenn Louis auch nur einen Gedanken daran zugelassen hätte, dass der Franzose ihm augenblicklich ohne jegliche menschliche Regung die Halsschlagader durchbeißen und sein Fleisch von den Knochen nagen würde, hätte er schon verloren. Aber dieser Gedanke kam ihm nicht. Die Party um sie herum ging weiter, als wäre nichts geschehen. Und tatsächlich war ja noch nichts geschehen. Louis nahm die Geräusche, das Lachen der Mädchen, die Musik, die Gespräche, die klirrenden Gläser und Flaschen wie gedämpft wahr. Unendlich war der Augenblick, er hätte nicht sagen können, wie lange er dauerte, aber Galaxien gingen darin unter. Dann änderte sich etwas in der Haltung des Franzosen. »Louis. Haben Sie gehört? Louis?« Lohhausen tippte ihm auf die Schulter. Eine Schlägerei auf seiner Party – zumindest unter den Augen aller Anwesenden – wollte und konnte er sich nicht leisten. »Kümmern Sie sich bitte um die Gäste?« Ganz langsam ließ die Anspannung nach und, den Franzosen nicht aus den Augen lassend, ging Louis zurück hinter die Bar. Erst dort sah er sich um und kam sich vor, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen, dessen Traum noch nicht zu Ende geträumt war. Er bemerkte ein paar Leute an der Bar, die auf etwas zu trinken warteten. Als er sich umwandte, sah er den Franzosen lachen. Lohhausen und Schimmler gingen neben ihm, und Lohhausens Hand lag auf einer Pobacke von Mindy Schneider. Schimmler hatte sich nach wie vor bei Julia untergehakt. Zielstrebig steuerten sie die Treppe zum ersten Stock an. »Reicht’s dir jetzt? Können wir?«, fragte Anna gereizt. Rocco sah sie verwundert an. »Können wir was?« »Na, los. Das war der Franzose. Wir suchen den Mann seit Tagen. Und jetzt spaziert er hier auf Lohhausens Party herum und du willst nichts unternehmen?« »Warum sollte er schon gehen?«, fragte Rocco arglos. »Er ahnt doch nicht, dass wir wissen, dass er hier ist.« »Und Julia?« »Die passt schon auf sich auf.« Anna schüttelte ärgerlich den Kopf. »Deine Nerven möchte ich haben. Sogar Louis hat sich Sorgen gemacht, das war ja wohl deutlich zu hören.« Rocco zuckte mit den Schultern. »Louis«, sagte er abfällig. »Der kriegt es leicht mal mit den Nerven.« »Na, da musst du dir jedenfalls keine Sorgen machen.« Sie lagen immer noch in der kleinen Kapelle auf der Insel. Die Jugendlichen am Ufer waren wieder friedlich. Sie hatten sich offensichtlich geeinigt, wer den Nachschub für die nächste Ration Drogen übernehmen sollte. Rocco drehte sich um und starrte nach oben zu den Sternen. Er wollte Anna etwas fragen, doch auf einmal spürte er ein Kribbeln in seinem Rückenmark. Langsam, aber unaufhaltsam stieg es nach oben, verteilte sich über den Rücken und zog hoch zum Haaransatz. Scheiße, dachte er, und ein kalter Schauder durchlief ihn. Es war das Gefühl. Das Gefühl meldete sich, und das konnte nichts Gutes heißen. Gespannt sah er zur Seite, übers schwarze Wasser des kleinen Monrepos-Sees, das sich unter einer Brise kräuselte und die Lichter vom Schloss reflektierte. Der dunkle Himmel knurrte wie ein großer Hund, der weit weg war. Rocco sah Anna an. »Was?«, fragte sie bissig. Rocco verzog den Mund. Irgendetwas stimmte nicht. Als er wieder hinüber zum Schloss sah, fuhr jemand mit dem Fahrrad auf den Platz. An der Treppe stieg er ab, lehnte das Fahrrad an einen Pfeiler und humpelte mühsam, sich in der Hüfte drehend und mit steifem Bein die Treppe nach oben. Wie sollte Rocco Anna das erklären? Das Gefühl täuschte ihn nie. »Ich glaube, es ist PP«, flüsterte Rocco. »Das glaube ich auch, und jetzt reicht es ja wohl wirklich, Rocco. Wenn der da drin auf Lohhausen trifft, gibt es Mord und Totschlag.« »Ich fürchte, du hast recht«, sagte Rocco und rappelte sich auf. »Da haben wir sie alle auf einem Haufen. Wir müssen los.« »Na endlich.« Nachdem sie ihre Geräte eingepackt hatten, schlichen sie aus der Kapelle. Auf der anderen Seite der Insel hatten sie wie Touristen ihr Boot festgemacht, mit dem sie jetzt zurückpaddeln wollten. Eine gute Tarnung, hatte Rocco Anna bei ihrer Ankunft heute Nachmittag klarzumachen versucht, woraufhin sie ihn darauf hingewiesen hatte, dass das Betreten der Kapelle verboten war. »Verboten, Rocco.« »Bitte paddle einfach den direktesten Weg zum Ufer, Rocco«, sagte Anna jetzt. »Wir müssen ja wohl nicht über den ganzen Teich planschen, oder?« »Ja, ja«, sagte er, hatte aber keine Eile. Im Gegenteil. Sicher, eine Sache war die, dass Gefahr drohte. Aber andererseits ergaben solche Konstellationen oftmals blankliegende Nerven. Rocco versprach sich einige Aufklärung davon, wenn Peter Paul auf Lohhausen traf. Das wollte er ungern dadurch stören, dass sie zu früh auf der Party ankamen. Er paddelte also weiter quer über den See und hielt auf das Bootshaus vor dem Schloss zu. »Mann«, sagte Anna mit mühsam unterdrücktem Ärger. »Leg wenigstens einen Zahn zu.« Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte auf die schwache Bugwelle, die das kräuselnde Wasser schnitt. Paul hatte sich die Mühe gemacht und sich in einen schwarzen Anzug gezwängt, der ihn beim Gehen beinahe ebenso behinderte wie seine unzähligen Verletzungen. Er drehte sich durch die offenstehende Glastür der Terrasse, gestützt von einem Stock, dessen Knauf er so fest umklammerte, dass seine Knöchel weiß zum Vorschein kamen. Im Saal blieb er stehen, geblendet vom Licht und von einem stechenden Schmerz, der ihm ins Knie fuhr. Sein Gesicht sah irgendwie wächsern aus, unter seinem rechten Auge schillerte es dschungelgrün und feine Schweißperlen drängten sich auf seiner Stirn. Nur einige wenige Gäste, die in der Nähe der Tür standen, nahmen die Ankunft der seltsamen Gestalt wahr, kümmerten sich jedoch bald wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Im Saal begannen Hemmungen und Hüllen zu fallen, Schuhe flogen neben die Bühne, auf der eine Band spielte. Der Bandleader grinste kontinuierlich, während er im Rhythmus lässig ein Paar Samba-Rasseln in seine Handfläche klatschen ließ. Er und auch einige der Gäste, die vor der Bühne tanzten oder Champagner, Wein und Schnaps an der Bar orderten, hatten sich sicher schon an einer der drei goldenen Schalen gütlich getan, die Louis auf Geheiß von Lohhausen im oberen Stockwerk an strategisch günstigen Standpunkten – kurze Laufwege aus den Separees – verteilt hatte. Es war laut und die Luft feucht und getränkt vom Schweiß- und Alkoholgeruch der Menschen. Ein Luftstoß wehte durch die geöffnete Tür, eine Ankündigung des Wetterumschwungs. Die kleinen Spiegelplatten des Balls an der Decke drehten sich in monotoner Gleichgültigkeit dessen, was sie reflektierten. Es war heiß, und der Morgen war erst am Morgen zu erwarten. Oben an der Treppe erschien Mindy Schneider. Sie sah nicht mehr ganz so ätherisch aus. Der linke Träger ihres Kleids war ihr über die Schulter gerutscht, sie schwankte und lachte laut, es klang irgendwie hämisch, gleichzeitig hysterisch, eine Mischung aus Unverschämtheit und Angst. Ihr Lidschatten und ihr Kajal waren etwas verschmiert. In Louis’ Augen spiegelte sich das Licht des Kronleuchters. Alles schien sich um seine Bar zu drehen und er bemerkte Mindy wie eine Linie im Kreis, zog die Augenbrauen hoch und wirbelte mit einer Flasche Gin. Lohhausen tauchte hinter ihr auf, sie wollte etwas sagen, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, zog er sie grob wieder zurück in eins der Zimmer. Louis lachte laut über eine anzügliche Bemerkung eines Gasts. Was gingen ihn schon Mindy Schneider oder Julia an? Zuerst hatte er sich geärgert, in Gedanken winkte er jedoch ab. Er würde die Sache mit Schimmler nicht vergessen, so viel war klar. Allerdings war das seine Angelegenheit. Warum sich wegen dieser Clowns den Abend verderben lassen? Also trank und schenkte er Champagner aus. Er würde diese ganze Bande hier abfüllen bis zum Umfallen. Dazu war er ja schließlich da. Im silbernen Licht der Party sah Paul alles andere als gut aus, daran hatte auch die Pause an der Tür nichts geändert. Mühsam humpelte er zur Bar. Louis prallte erschrocken zurück, als er in sein bleiches, schweißnasses Gesicht und das grüne, blutunterlaufene Auge sah. »Du meine Güte«, sagte er. »Sie brauchen unbedingt was zu trinken.« Ohne abzuwarten, zauberte er eine Flasche Wodka unter dem Tisch hervor und goss ein Wasserglas halb voll. Paul schüttete es in einem Zug hinunter. »Uuuuh«, stöhnte er. »Das ist ja Schnaps.« »Wodka. Das ist das Einzige, was hilft … Es sei denn … ach, egal. Es ist das Einzige.« »Ich trinke eigentlich keinen Alkohol«, sagte Paul und japste nach Luft. »Ich suche Lohhausen.« »Lohhausen?« Louis sah ihn genau an. An ihm vorbei jagten drei ältere Herren hinter einem Mädchen in weißem Plüsch her. Er vergewisserte sich, dass es nicht Julia war und machte sich kurz Sorgen. Diese Sache mit den Geißlein-Kostümen … er war sich nicht mehr sicher, ob das eine so gute Idee gewesen war. Es schien in älteren Herren etwas auszulösen, eine Art Psychose oder einfach den steinzeitlichen Jagdtrieb, na ja, etwas stupides Männliches jedenfalls. Alkohol und ein bisschen weißes Pulver genügten, um die Zivilisation in all ihrer Lächerlichkeit bloß als hauchdünne Schicht über dem Tier zu entlarven … »Ja, Lohhausen«, sagte Paul. Louis schenkte ihm noch einmal ein und Paul trank. Irgendetwas an diesem Partygast kam ihm seltsam vor, und es war nicht allein die Tatsache, dass er mehr als blass war, sich nur unter großen Schmerzen – so schien es – bewegen konnte und trotz seines angeblichen Antialkoholismus’ schon das zweite Glas Wodka hinunterstürzte. Seine linke Anzugtasche war leicht ausgebeult. Mit der Linken umklammerte er krampfhaft einen Stock. Andererseits war er eingeladen und es stand ihm, Louis, nicht zu, Lohhausens Auswahl der Gäste zu kritisieren. Außerdem gab Paul ihm die Möglichkeit, im oberen Stockwerk nach dem Rechten zu sehen. Er hatte ja keinen blassen Schimmer, wo Julia mit diesen komischen Typen abgeblieben war. »Kommen Sie«, sagte er und grinste botoxhaft. »Ich bringe Sie hin.« »Wisst ihr«, sagte Louis Monate später zu Rocco und Anna, als sie bei einem Bier zusammensaßen. »Das war wie eine dieser ganz großen Szenen … Die Verschwörung des Catilina oder so … Don Karlos.« Er blickte versonnen in sein Bier. »Ja, ja«, erwiderte Rocco trocken. »Du warst total durch.« »Das ist wahrscheinlich das Einzige, was er mit Catilina gemeinsam hat«, ergänzte Anna und lachte. Die beiden anderen sahen sie verständnislos an. »Wo durch?«, fragte Louis. »Durch den Wind.« Jetzt lachten Rocco und Louis. Anna sah resigniert zur Decke. Aber so weit war es noch nicht. Im Augenblick musste Louis im ersten Stock am Treppengeländer warten, bis Paul sich mühsam hochgeschleppt hatte. Er war noch bleicher, als er oben ankam, wenn das überhaupt möglich war. »Sagen Sie mal«, sagte Louis eher neugierig als besorgt. »Möchten Sie nicht lieber nach Hause gehen? Sie sehen nicht ganz fit aus …« »Ich bin extra hergekommen«, keuchte Paul, als wäre das eine Erklärung, und setzte sich auf eines der Sofas, die im Flur standen. »Ich kann jetzt nicht gehen.« Er nahm die Krawatte und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn. Louis warf einen Blick nach unten in den Saal. Dort wimmelte es von Leuten wie auf einem der Gemälde Moshkovs von der Leipziger Völkerschlacht. Im Moment sah es so aus, als drohten die sieben Geißlein mit fliegenden Fahnen unterzugehen. Sie hatten sich auf diverse Sofas verteilt und wurden von verschiedensten Abteilungen halbnüchterner bis volltrunkener Männer belagert. Louis kannte sie alle schon ziemlich lange und wusste, dass das lediglich Teil des Spiels war, eine taktische Niederlage sozusagen. Die Verlierer standen immer erst am Ende fest. Er sah sich nach Paul um. Der schien ganz mit sich selbst beschäftigt und kam nur langsam wieder zu Atem. Louis zog eine Digitalkamera aus der Tasche und schoss in schneller Folge ein paar Bilder von dem Tableau, das sich unten auftat. Wer wusste, zu was das später einmal gut sein konnte … Dann drehte er eine sehr dünne Zigarette, zündete sie an, zog lange daran und gab sie an Paul weiter. »Danke, ich rauche nicht«, sagte Paul und sah Louis unsicher an, als erwarte er eine Bestätigung von ihm. »Da ist kein Tabak drin«, sagte Louis und drückte sie ihm in die Hand. »Das tut Ihnen gut. Na los.« Paul zog daran und inhalierte. Er bekam glasige Augen und einen Hustenanfall, der ihn von oben bis unten durchschüttelte. Louis wollte ihm auf den Rücken klopfen, aber mit letzter Kraft wehrte Paul ihn ab. »Nicht schlagen«, keuchte er. Louis lachte. »Ich will Ihnen doch nur helfen.« »So langsam bin ich mir da nicht mehr so sicher«, stöhnte Paul. Er hatte sich auf dem Sofa zusammengekrümmt und sah Louis von unten herauf misstrauisch an. »Doch, doch. Sobald Sie bereit sind, gehen wir. Ich bringe Sie zu Lohhausen.« Er hakte Paul unter und zog ihn weiter. Der Gang war mit Teppichen ausgelegt. Barocke Tapeten und Leuchter, die ein sanftes, irgendwie krankes gelbes Licht aussandten, zierten die Wand. Schmal führte er nach hinten ins Dunkel, wo sich der Gang zu gabeln schien. Louis lehnte Paul neben eine Tür und öffnete sie vorsichtig. Paul versuchte, einen Blick zu erhaschen, und konnte flüchtig einen älteren Mann mit heruntergelassener Hose erkennen, der vor einem Spiegel stand. Louis zückte die Digitalkamera. Für ihn war es eine Frage der Ehre, diese Fotos zu schießen, genauso wie es für andere eine Frage der Ehre gewesen wäre, sie nicht zu schießen. Louis betrachtete sich als Revolutionär. Ein Revolutionär, der das Establishment mit genau den schmutzigen Methoden und ohne die Skrupel bekämpfte, ohne die es das Volk regierte. Das würde ihn natürlich nicht davon abhalten, diese Fotos gegebenenfalls für seinen persönlichen Profit einzusetzen. Er revoltierte sozusagen im eigenen Namen. Louis öffnete noch zwei Türen und zückte seine Kamera, bevor sie einen größeren Salon erreichten, in dem Lohhausen mit Schimmler, Mindy, Julia und dem Franzosen saß. Das Licht der Leuchter schimmerte dezent, die mit grüner Seide bespannten Wände schienen es in mattgoldenem Glanz zu absorbieren. Als Louis Paul vor sich her in den Raum schob, sahen alle zur Tür und erstarrten. Sie hatten sich eine der goldenen Schalen ins Zimmer geholt. Julia drückte sich in die äußerste Ecke eines Sofas, das sie mit Schimmler teilte. Wobei das Sofa-Teilen hier nicht der richtige Ausdruck war. Schimmler war ihr so nah gerückt, dass sie eher denselben Platz auf dem Sofa einnahmen, und neben ihnen leicht weitere drei Personen hätten Platz finden können. Mindy befand sich auf Lohhausens Schoß, bei den beiden war nicht ganz ersichtlich, ob sie ihre Positionen ganz freiwillig eingenommen hatten, sie schienen in eine Art Ringkampf verstrickt. Der Franzose hing über der Schale. »Besuch«, sagte Louis und ließ einen flüchtigen Blick über alle schweifen. Julia sprang auf, bevor Schimmler sie festhalten konnte, und Louis war geistesgegenwärtig genug, fortzufahren: »Julia, kannst du mal mitkommen? Ich brauche dich kurz unten an der Bar.« Er schob ein gekünsteltes Lachen ein. »Ich schicke sie Ihnen sofort wieder nach oben.« Damit packte er Julia am Handgelenk und knallte die Tür hinter Paul wieder zu. Auf seinem Weg nach unten legte er einen kleinen Stopp an der nächsten goldenen Schale ein. »Du auch?«, fragte er höflich. »Nein, ich glaube nicht«, sagte Julia und lächelte gezwungen. »Alles okay?« Louis sah sie besorgt an. Er machte sich nichts aus ihr, aber er konnte den Anschein wahren, als ob. »Ja … aber sehr viel später hättest du nicht auftauchen dürfen.« Sie atmete tief ein. »Freddy ist eine unglaubliche Kanaille … Wenn ich das gewusst hätte …« Louis lachte, es klang teilweise belustigt und teilweise resigniert. »Was gewusst hätte? Dass Männer auf Partys leicht bekleideten Mädchen an die Wäsche gehen? Na, hör mal …« Julia sah ihn ihrerseits wütend an. Der Typ ging ihr auf die Nerven. Sie wusste nicht, ob es dieser Anschein von Lebensweisheit war, den Louis sich geben wollte, oder das etwas gehässige Sich-Ergeben in die Umstände. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. Immerhin hatte er sie aus einer brenzligen Situation gerettet. »Und die Kleine von Lohhausen … Ich weiß nicht recht. Leider konnte ich nicht genau verstehen, über was sie geredet haben. Es ging um den Märchengarten und die haben sich, glaube ich, ziemlich gezofft. Vielleicht ist ja auf der Aufnahme von Anna und Rocco was zu hören.« Sie gingen nach unten. Julia zupfte notdürftig ihr Kostüm zurecht und zog auf der Treppe einige Blicke auf sich. »Scheißding«, flüsterte sie. Louis sah sie aus den Augenwinkeln an. Aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wegen der Kostüme oder weil er sich zu wenig um Julia gekümmert hatte. Aufnahme?, dachte er. Welche Aufnahme? »Du weißt schon, dass ich dich nachher wieder da raufschicken muss«, sagte er wie aus Trotz, als sie hinter der Bar standen. Ihm schwante plötzlich, dass er von Rocco übers Ohr gehauen worden war. »Wie bitte?« Julia sah ihn entgeistert an. Von draußen drang ziemlicher Radau herein, eine Metallschüssel, ein Sektkühler oder etwas Ähnliches flog klirrend zu Boden. Die Musik brach abrupt ab. Julia sah hinüber zur Balkontür. »Rocco«, flüsterte sie entsetzt. Lohhausen löste seine Finger aus denen von Mindy und stieß sie ziemlich unsanft von sich. Er sah zerzaust aus und strich sich mit den Fingern durch die Haare. Sein Jackett war etwas in Mitleidenschaft gezogen worden und hatte am Ärmel einen Riss entlang der Naht. »Na«, sagte er gedehnt. »Wen haben wir denn da?« Der Franzose nahm die Nase aus der goldenen Schüssel und lehnte sich unauffällig an die Wand. Mindy wankte weiter zum Spiegel. Paul machte ein paar unsichere Schritte in den Raum. Er war so wütend gewesen, hatte sich genau zurechtgelegt, was er sagen und tun würde, wenn er Lohhausen endlich gegenüberstünde. Und nun … war er beinahe sprachlos, die Luft war raus. Das Bild verschwamm ihm vor Augen, er schwankte leicht. Dieser Scheiß-Barkeeper, dachte er. »Das hätten Sie nicht gedacht, wie?«, fragte er lahm. Lohhausen lachte lustlos. Er sah sich nach Schimmler um, der die Champagnerflasche einer eingehenden Untersuchung unterzog. »Na ja«, sagte er. »Was wollen Sie?« »Sie machen einfach weiter, als wäre nichts gewesen, nicht wahr?« Paul nickte in Richtung Mindy. »Die eine ist …« Es fiel ihm schwer, das Wort ›tot‹ auszusprechen, was Lohhausen mit einem schiefen Lächeln konstatierte. »Und Sie machen einfach mit der nächsten weiter. Mindy, hast du sie noch alle?« »Lass mich in Ruhe«, lallte Mindy, mitgenommen von einigen Drinks und mehr. Sie starrte angestrengt in den Spiegel und versuchte, ihre Garderobe und ihr Make-up einigermaßen wiederherzustellen. »Was wollen Sie?«, fragte Lohhausen noch einmal. »Schicken Sie die Leute weg. Das geht nur Sie und mich etwas an.« »Ich wüsste nicht, was ich mit Ihnen zu klären hätte.« Lohhausen drehte sich gelangweilt zu Schimmler um. Der glotzte ihn aus blassen, tränenden Augen an, in denen in der Mitte der kohleschwarze Fleck der Pupille schwamm. »Die Buddel is leer. Un wo is die blöde Kuh?«, lallte er und erhob sich schwerfällig. Lohhausen zuckte mit den Schultern. »Such sie«, sagte er grob. Schimmler würde am nächsten Morgen sowieso keine Erinnerung mehr an den späteren Abend haben. Jetzt erhob er sich schwerfällig und hielt die leere Champagnerflasche in den Armen wie ein Baby. Paul sah zu, wie Schimmler an ihm vorbei zur Tür hinausschwankte, um Nachschub zu organisieren und Julia zurückzuholen. Er atmete tief durch. Langsam hatte er seine Haltung wiedergefunden, auch wenn es ihm schwer fiel, sich zu konzentrieren. »Sie haben Nicole auf dem Gewissen und das werden Sie büßen«, sagte er langsam. Lohhausen verzog gelangweilt das Gesicht. »Das werde ich sicher nicht tun.« »Sie geben es also zu?«, fragte Paul erstaunt. »Was?« »Dass Sie Nicole auf dem Gewissen haben.« »Ich gebe gar nichts zu und ich wüsste nicht, warum. Was wollen Sie denn jetzt tun? Mich der Polizei übergeben?« Lohhausen stieß ein Glucksen aus. »Ist denn gar nichts mehr zu trinken da?« Paul zog eine kleine Pistole aus der Tasche seines Jacketts. »Die Polizei hat damit nichts zu tun … Das ist eine Sache zwischen uns. Und ich erledige sie heute ein für alle Mal.« Lohhausen stutzte. Er sah Paul mit einem langen, ausdruckslosen Blick an. »Ähm«, machte er und zeichnete eine fragende Handbewegung in die Luft. Ansonsten zeigte er sich relativ unbeeindruckt. Paul war verunsichert. Er hatte gedacht, das Ziehen der Waffe würde mehr Eindruck machen. »Nicole wollte Ihre Pläne publik machen, und das hat sie Ihnen gesagt«, fuhr er fort. »Deshalb musste sie sterben. Sie hat …« »Sie musste sterben, weil sie sich nachts im Märchengarten rumgetrieben hat, das verrückte Stück. Kein Mensch weiß, was sie da verloren hatte. Aber ich weiß, dass die Polizei dort zwei Penner aufgegriffen hat. Für mich ist die Sache klar, und ich empfehle Ihnen, Ihren Feldzug gegen mich und mein Projekt nicht mit dem Tod von Nicole zu verknüpfen. Das könnte ganz böse Folgen für Sie haben. Knallen Sie von mir aus die Penner ab, wenn Sie wollen. Die Polizei hat die beiden bereits wieder entlassen, Sie haben also freie Bahn.« Er lächelte hämisch. »Was für ein Interesse sollte ich haben, Nicole zu ermorden? Schließlich war sie mit mir zusammen. Wir waren glücklich.« Paul atmete scharf ein und zitterte mit der Pistole in Richtung Lohhausen. »Alles Farce«, stammelte er. Eine kleine Träne lief ihm aus dem Augenwinkel herunter. Es war nicht zu sagen, ob körperlicher Schmerz oder der Verlust von Nicole sie hervorgebracht hatte. Vielleicht war es auch der Schnaps von Louis gewesen. »Nicole hat sie ausspioniert. Wir haben in aller Ruhe Material gegen Sie gesammelt. Ihre Machenschaften, Ihre kleinen, schmutzigen Tricks, um Ihre Pläne für den Umbau des Märchengartens durchzubekommen … Die Bestechungen und Zugeständnisse …« Paul hatte sich langsam in Rage geredet und fuchtelte wild mit der Pistole herum. »Material?« Lohhausen runzelte die Stirn. »Das glaube ich kaum. Verdammt noch mal. Wo bleibt der Kerl mit der Flasche?« »Was denken Sie wohl, warum Nicole nachts im Märchengarten unterwegs war, Sie Schlauberger«, sagte Paul. »Sie hat Unterlagen fotografiert, dokumentiert und sie an mich weitergeleitet.« Lohhausen zog ein Taschentuch hervor, tupfte sich die Nase und lachte laut. »Im Märchengarten …«, sagte er mitleidig. »Ja, klar. Wir haben über Sie gelacht, Mann. Ich weiß genau, warum Nicole nachts im Märchengarten unterwegs war …« »Ah ja? Warum denn?« Lohhausen presste kurz die Lippen aufeinander. »Das binde ich Ihnen bestimmt nicht auf die Nase.« Paul hatte genug. Wozu war er denn hergekommen? Jedenfalls nicht, um sich beleidigen und Nicoles Andenken von diesem Kerl in den Schmutz ziehen zu lassen. Er wollte Lohhausen den Rest geben, nicht mit ihm streiten. Was ging ihn denn noch der Märchengarten an, was interessierte es ihn, was Lohhausen von ihm hielt und ob er ihn überführen konnte. Nicole war tot, und sie musste wegen Lohhausen sterben. Nie wieder würde sie … Nie wieder … Eine weitere Träne folgte der ersten auf der vorgezeichneten Bahn über den Wangenknochen. Nicole … Der Schnaps dieses elenden Barkeepers hatte ihm den Kopf vernebelt, sonst hätte er sich nie auf eine solche Diskussion eingelassen. Paul streckte den Arm aus und zielte. Er nahm alles wahr wie in Zeitlupe. Lohhausen hob den Arm und rief, dumpf und verzerrt: »Hey, hey …« Mindy drehte sich um, Paul sah ihr noch einmal in die ausdruckslosen Augen, ihr würde es nicht so ergehen wie Nicole, auch wenn sie es jetzt nicht zu schätzen wusste, er würde sie … dann ein leichter Schlag … Der Franzose war mit zwei schnellen Schritten bei ihm gewesen und hatte ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Sie fiel zu Boden und er stieß sie mit einem Kick ein Stück weg von Paul. Lohhausen atmete erleichtert aus. »Mann«, sagte er vorwurfsvoll zum Franzosen. Dann ging er zu der goldenen Schüssel und zog sich eine Line. Paul schloss die Augen. »Mindy«, sagte er leise. »Warum machst du denn diesen ganzen Mist mit?« »Pffh«, machte Mindy, als die Tür aufflog und Schimmler mit einer halb vollen Flasche Irgendwas erschien. »Die Polizei ist da«, schrie er. »Die Bu-llen.« Kapitel 13 Der Wolkenbruch schwemmte die Reste der Party weg wie ein Februarregen den schmutzigen Schnee. Louis stand im fahlen Licht des anbrechenden Morgens oben an der Tür zur Terrasse des Schlosses und sah hinaus auf den kleinen See. Unten am Ufer, im strömenden Regen, standen mehrere Gestalten in Plastikumhängen. Die Tropfen klatschten auf die bleierne Oberfläche des Sees, der von zwei Schlauchbooten im Kreuzkurs abgesucht wurde. Zwei Taucher standen im Wasser, das ihnen höchstens bis an die Brust reichte, und gaben mit Neoprenanzügen, Taucherbrillen und Suchlampen ein groteskes Bild ab: Froschmänner in einem im englischen Landschaftsstil angelegten Kunstteich, deren Flossen hilflos wie gestrandete Fische in der Luft zappelten, wenn sie versuchten, abzutauchen. Louis zog heftig an seiner Zigarette und feuerte sie dann müde in den wie eine Wunde nässenden Morgen. »Ja, klasse«, schnauzte ihn ein wasserdicht verpackter Polizist an. »Das ist ein Tatort, Mann.« Louis sah ihn mit leeren Augen an, zuckte mit den Schultern und ging ins Schloss. Eines der Boote wendete und steuerte auf die Gruppe von Leuten am Ufer zu. Der Mann im Bug schwenkte einen Spazierstock über dem Kopf, den er aus dem Wasser gefischt hatte. Als Anna und Rocco in der Nacht das Ufer erreicht hatten, waren sie schnurstracks zu Louis und Julia an die Bar geeilt. Ein heftiger Luftstoß hatte draußen einen Sektkühler von der Balustrade auf den Boden fallen lassen. Es war, als wäre der beginnende Sturm mit ihnen durch die Tür gekommen. Gardinen wirbelten, Kleider und Haare wehten im Wind, der durch die Tür drang. Zuerst stockten nur ein paar, dann immer mehr Tänzer. Wenig später folgten Rocco und Anna einigen uniformierten Polizisten, die sie per Handy angefordert hatten. Die Musik brach ab. »Lohhausen ist oben«, hatte Louis gesagt und mit dem Daumen zur Treppe gedeutet. »Den Gang entlang und hinten links im Salon.« »Und PP?« »PP?« »So ein großer, breiter Kerl, der humpelt.« »Oh«, hatte Louis gesagt. »Der ist auch oben.« »Wie geht’s dir?«, fragte Anna und sah Julia kritisch an. Julia seufzte. »Okay«, brachte sie hervor, aber auf einmal würgte sie etwas in der Kehle und sie hatte Mühe, nicht laut aufzuschluchzen. Anna und Rocco waren nach oben gerannt, trafen im Salon jedoch niemanden mehr an, außer Schimmler, der ihnen keinerlei klare Auskunft geben konnte. »Alle weg«, sagte er mit verwaschener Artikulation. »Kommen aber wieder.« Anna und Rocco hatten daraufhin die anderen Räume durchsucht. Sie trafen ein paar ältere Herren buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen an und schickten sie nach Hause. Im Gang entdeckten sie die goldenen Schalen mit den Resten eines weißen Pulvers. »Wenn gar nichts hilft, kriegen wir ihn wenigstens deswegen dran«, knurrte Anna. Rocco nickte. Wieder unten angekommen, warf er Louis einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich hoffe, die Sache mit dem Koks ist nicht auf deinem Mist gewachsen«, flüsterte er, sodass Anna es nicht hören konnte. »Quatsch. Wo denkst du hin«, flüsterte Louis zurück. »Ich bin doch nicht blöd.« »Hast du was genommen?« »Nein.« »Hm.« Anna und Rocco waren wieder nach draußen geeilt. Zwei Gestalten standen dort neben der Bootsanlegestelle am Ufer: Garcia und McCarthy. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ein Blitz zerriss das Dunkelblau der Nacht. Anna sah, wie sich das Licht in Garcias Zähnen widerspiegelte. Er versuchte zu lachen. Dann dröhnte ein Schlag aus den Wolken und der Regen prasselte herunter. »Hey«, rief Garcia. »Wir haben was gefunden.« Er winkte sie mit langsamen, algenähnlichen Bewegungen zu sich. Binnen Sekunden waren Anna und Rocco bis auf die Haut durchnässt, aber die Tropfen waren nicht kalt. Garcia stand im Regen wie ein Baum, ab und zu erleuchteten Blitze die zerfurchten Rinnen seines Gesichts. Er sah aus wie ein Eingeborener vom Pascagoula River, von den Schlangen im Sumpf abstammend, dem ungewissen Element zwischen fest und flüssig entschlüpft. Die dünnen Haare lagen wie Wasserfälle an seinen Schultern. Die Tropfen perlten von ihm ab wie von geharztem Holz. Vielleicht, weil er sich nie wäscht, überlegte Anna. McCarthy neben ihm sah aus wie ein großer, fetter Milchtropfen, der gerade dabei war, ein Hawaii-Hemd von innen zu durchnässen. »Was gibt’s denn?«, rief Rocco und versuchte, einen gewaltigen Donnerschlag und das Rauschen des Regens zu übertönen. »Da hinten«, sagte McCarthy und zeigte hinter sich. »Da hinten am anderen Ufer.« »Was ist da?«, fragte Rocco ungeduldig. »Da liegt jemand im Wasser.« Anna sah Rocco an. Von dort waren sie doch gekommen. Sollte einem der Jugendlichen etwas passiert sein? Sie hasteten durch den strömenden Regen am See entlang. Immer wieder erhellten Blitze die umstehenden Bäume, deren Kronen vom Wind in wilden Zuckungen durch die Luft geworfen wurden. Ein paar Ruderboote hatten sich losgerissen und tanzten herrenlos auf den schmalen Wellen, mehr vom Wind als von den Wellen getrieben. Das Wasser war schwarz wie Öl. Als sie eine Weile den nassen, schlammigen Weg am Ufer entlang gestolpert waren, sahen sie eine Gestalt im Gras liegen. Sie rührte sich nicht. »Da«, sagte Garcia, der ihnen nur mit Mühe gefolgt war, und streckte seinen wurzelholzartigen Arm aus. McCarthy schwankte irgendwo hinter ihnen in der Dunkelheit. Rocco war als Erster dort. Er drehte den Mann um und sah in das verzerrte Gesicht von PP. Rocco fühlte seinen Puls. Nichts. Er war tot. »Komm, Anna, wir müssen es versuchen«, sagte er. Sie legten PP auf den Rücken und versuchten es mit Herzmassage und Beatmung. »Er ist tot«, sagte McCarthy, inzwischen herangekommen, und tippte mit dem Fuß leicht an den Körper. »Wir haben es schon versucht.« »Hey, lassen Sie das.« Anna stieß seinen Fuß grob zur Seite. Schließlich gaben sie auf. Es war nichts zu machen. Rocco angelte sein Handy aus der Tasche und rief die Spurensicherung an. Dann gab er eine Fahndung nach Lohhausen, Mindy Schneider und dem Franzosen heraus. Möglicherweise, hoffte er, waren sie ja zu Hause. »Sagt mal«, sagte Rocco zu Garcia und McCarthy, nachdem er seine Anrufe erledigt hatte. »Wie kommt ihr eigentlich hierher?« »Du weißt doch«, sagte McCarthy. »Wir haben diese Kugel …« »Erzähl mir doch keinen Scheiß«, fuhr Rocco ihn an. »Was hattet ihr hier zu suchen? Immer wenn in dieser Stadt jemand stirbt oder verunglückt, seid ihr in der Nähe. Das ist doch nicht normal.« »Es ist der Pilz«, flüsterte Garcia. Sturzbäche flossen von seinem Schnurrbart zu Boden, als er sich vornüber zu Anna und Rocco beugte und in die Hocke ging. »Der Pilz ist hier.« »Genau.« McCarthy zog die Augenbrauen hoch. Anna schüttelte es auf einmal vor Kälte. Sie bekam eine Gänsehaut. Wie eine Erleuchtung sah sie die Szene vor sich, die sich hier gerade abspielte. Sie stand im Gewitter bei strömendem Regen mit den zwei irrsten Typen, die sie jemals kennen gelernt hatte, und ihrem Kollegen, dem zweitirrsten Typen, den sie kannte, neben einer Leiche, deren – das konnte man sehen, wenn ein Blitz die Umgebung kurz erleuchtete – bleichen Lippen ein dünnes Rinnsal Wasser entschlüpfte. PPs Haare waren nach hinten gewaschen, Regen klatschte ihm ins verzerrte Gesicht, ein Auge war zur blinden Steinmurmel erstarrt, das andere geschlossen. Sie ertappte sich dabei, dass sie beobachtete, ob er nicht vielleicht doch noch zuckte, wenn ein Tropfen in sein geöffnetes Auge fiel. Nichts. Er hatte es hinter sich. Aber was, verdammt noch mal, hatte sie hier zu suchen? Das war definitiv der falsche Ort, an dem sie sich befand. Das wurde ihr schlagartig klar. Sie hatte schließlich genug eigene Leichen im Keller … Rocco schüttelte sie. »Anna? Alles klar?« Sie sah ihn an, als würde sie aus einer verschlungenen, lichtlosen Höhle zurück an die Oberfläche kommen. Langsam strich sie sich ihre nassen Strähnen aus dem Gesicht. »Ja, ja. Aber ich möchte endlich mal wissen, was das für ein verdammter Pilz sein soll.« Die Männer im Boot, die im Morgengrauen den See absuchten, brachten PPs Stock an Land. Sie hatten weder Papiere noch Geld oder sonst etwas Persönliches bei ihm gefunden und waren jetzt auf der Suche danach. Allerdings hatte die Spurensicherung oben im Salon unter dem Sofa eine Pistole entdeckt. Schimmler wisse nicht, wem sie gehörte, und beteuerte, seine sei es nicht. Anna und Rocco standen am Ufer und sahen dem Boot entgegen. Sie hatten sich halbwegs abgetrocknet und durchsichtige Regencapes bekommen, über die unstet der Regen glitt. Neben ihnen standen ein paar Leute von der Spurensicherung, die den Stock entgegennahmen, und Dr. Mahler. Auch sie hatte ein durchsichtiges Regencape an, unter dem es in fleischlichen, ungesunden Farben schillerte. Ihr Leichenparfumgeruch hielt sich heute in Grenzen, wurde in Schach gehalten von dem Cape, dem Tiefdruckgebiet und dem Regen, die eine Diffusion der Geruchspartikel verhinderten. Ein großer Tropfen hatte ihre Wimperntusche getroffen und einen schwarzen Strich entlang ihrer Wange fast bis zum Mundwinkel gezeichnet. Dr. Mahler war schlecht gelaunt. »Ich hasse es, bei diesem Wetter aus dem Haus zu gehen«, sagte sie. »Ich hasse es, bei diesem Wetter überhaupt etwas tun zu müssen. Können diese Leute nicht an einem anderen Tag sterben?« Rocco zuckte mit den Schultern. Er war müde. Dr. Mahler hatte ihnen erklärt, dass es beinahe unmöglich sei, festzustellen, an was PP letztendlich gestorben sei. Dazu hatte er viel zu viele Verletzungen. Einige davon machten zwar den Eindruck, versorgt worden zu sein – an dieser Stelle nickte Rocco, was Dr. Mahler geflissentlich ignorierte –, wohingegen andere definitiv neu waren. Wahrscheinlich sei er ertrunken, aber ob das unter Gewalteinwirkung geschah, könne sie erst klären, wenn sie ihn auf dem Tisch habe. Auf dem Tisch, dachte Rocco. »So. Wenn Ihre Kollegen dann so weit sind, kann ich den Jungen einpacken lassen, ja?« Dr. Mahler verzog die Lippen zur Grimasse eines Lächelns. »Ja«, sagte Rocco und fragte sich, warum eigentlich immer er mit Dr. Mahler sprechen musste. Nächstes Mal würde er Anna dazu verdonnern. Schließlich war er ihr Chef. »Sie haben Lohhausen aufgegriffen.« Rocco verstand nicht gleich, aber Anna machte keine Anstalten, ihren Satz zu wiederholen. Der Regen prasselte in steter Gleichmäßigkeit auf seine durchsichtige Plastikkapuze. Er kam sich vor wie in einem Zelt, abgeschottet von der nassen Außenwelt. »Er hat in seinem Büro übernachtet, behauptet er. Sie haben ihn mit aufs Präsidium genommen.« »Wen?« »Lohhausen.« Anna verzog keine Miene. »Komm schon, lass uns fahren.« Im Auto quälten sie sich aus ihren Plastikumhängen, die auch von innen feucht geworden waren, da ihre Kleider vom Gewitterregen heute Nacht schon durchnässt waren, bevor die Spurensicherung eingetroffen war. Die Scheiben beschlugen und Rocco schaltete das Gebläse ein. »Ich habe im Büro noch Klamotten zum Wechseln. Du auch?«, fragte er. Anna sagte nichts. Sie warf den Umhang auf den Rücksitz und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Rocco ließ den Motor an. Das Summen des Gebläses erhöhte sich beim Starten um eine Frequenz. Er steuerte den Wagen auf die schmale Zufahrtsstraße vom Schloss zur Landstraße. »Soll ich kurz bei dir vorbeifahren, damit du dir was anderes anziehen kannst?«, fragte Rocco. Anna sagte nichts. Sie strich mit dem Finger über das Handschuhfach und hinterließ im dünnen Staubfilm eine dunkle Spur. Der Dunst auf der Windschutzscheibe wich langsam dem dauernden Ansturm des Gebläses und gab sich in ausweitenden, beinahe gotischen Kirchenfensterbögen widerstrebend die Sicht auf die nasse, dunkelgraue Straße frei. Weit hinten am Horizont vermeinte Rocco ein helleres Grau zu erkennen, das sich von dem tief liegenden, dunklen Wolkenteppich über ihnen abzuheben schien. »Da hinten wird es, glaube ich, besser«, sagte er und blickte mit professionell gerunzelter Stirn und TV-amerikanischer Meteorologenmiene hinauf zum Himmel. Irgendetwas stimmte nicht. Rocco hatte es schon den ganzen Morgen gespürt. Anna hatte kaum etwas gesagt, und wenn er sie etwas gefragt hatte, einsilbige Antworten gegeben, als würde sie das alles nichts angehen. Sie hatte sich nicht über ihn geärgert, sie hatte keinen Ton über die Kokainschalen und über Louis verloren. Eigentlich hatte sie sich nur darum gekümmert, dass Julia nach Hause kam. Ansonsten hatte sie die ganze Zeit – seitdem sie PP im Wasser entdeckt hatten – einen eher geistesabwesenden Eindruck gemacht, so, als würde sie über etwas nachdenken, das in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Fall stand. Aber Rocco war sich sicher, dass es etwas mit dem Fall zu tun hatte. Und er hatte das unbehagliche Gefühl, dass es mit ihm zu tun hatte. »Was meinst du übrigens zu der Sache mit Garcia und McCarthy? Ich glaube ja, dass die da waren, um den Typen auf der Wiese bei der Kapelle irgendwelches Zeug zu verkaufen. Da fällt mir ein: Wo waren die eigentlich alle auf einmal?« Anna atmete tief ein. »Rocco, ich muss mit dir reden«, sagte sie. Sie starrte geradeaus und sah dem letzten Zurückweichen des Wasserdunsts auf der beschlagenen Windschutzscheibe zu. »Ich glaube, dass Peter Paul noch leben könnte …« Rocco schürzte die Lippen und konzentrierte sich darauf, zwischen den auf der Landstraße herankommenden Autos eine Lücke zu entdecken, um einzufädeln. Plötzlich gab er Gas und fuhr mit quietschenden Reifen aus der Seitenstraße. Der Wagen hinter ihm gab Lichthupe. »Pass doch auf«, sagte Anna. »Schon gut. Und?« »Ja, dass Paul noch leben könnte …«, fuhr Anna fort, leicht aus dem Konzept gebracht. »Und ich denke, dass er nicht mehr lebt, ist deine Schuld. Das wollte ich dir sagen. Ich glaube, dass er noch leben könnte, wenn wir uns mehr beeilt hätten. Du hast dir bewusst so viel Zeit gelassen, um die Situation eskalieren zu lassen. Das heißt, du hast bewusst in Kauf genommen, dass jemandem etwas zustößt. Es ist bereits ein Mord geschehen, das war also kein Spaß. Ich mache dich zumindest teilweise dafür verantwortlich, dass er gestorben ist. Und ich muss das zur Sprache bringen. Ich kann da nicht einfach drüber hinweggehen.« Sie warf einen scheuen Blick auf Rocco. Er sagte nichts, starrte stur nach vorn und kaute auf seiner Unterlippe. »Ich bin schon über so viel hinweggegangen. Aber das geht zu weit. Ich werde das in meinem Bericht genau so schreiben. Es tut mir leid.« Sie standen an der Ampel. Der Blinker klickte im Rhythmus seines Lichtzeichens. Der Regen fiel prasselnd auf das Autodach. Rocco schaltete den Scheibenwischer eine Stufe zurück. Er räusperte sich. »Mhm«, machte er. Als hätte Anna nur auf die leiseste Äußerung von ihm gewartet, fuhr sie fort: »Warum, Rocco? Das war doch nicht nötig. Er könnte noch leben, oder? Sag mir, dass ich mich täusche, aber das kannst du nicht, oder? Wir machen einfach immer nur weiter … Wir geben unsere Fehler nicht zu, wir stehen vor Toten, die wir selbst auf dem Gewissen haben … Wir hätten uns nur ein bisschen mehr beeilen müssen … Und …« Sie brachte es nicht über die Lippen, dass sie selbst nichts dafür konnte, weil sie ihm mehrfach gesagt hatte, sie sollten sich beeilen. Hatte nicht jeder Einzelne die Verantwortung?, dachte sie, sagte allerdings nichts weiter. »Und?«, fragte Rocco. Er bog scharf in eine Parkbucht ein, vor der nächsten Ampel in Eglosheim, stellte den Motor ab und beugte sich zu Anna hinüber, den rechten Arm auf die Kopflehne ihres Sitzes gestützt. Sie saß blass da und starrte geradeaus. »Und? Dir hat der Regen wohl das Hirn aufgeweicht. Du willst sagen, du kannst nichts dafür? Dass es meine Entscheidung war?« Er presste die Lippen zusammen. Anna zitterte leicht. Rocco atmete tief ein und beruhigte sich wieder. »Meinst du vielleicht, mir macht es Spaß, Leichen zu sehen? Mit Dr. Mahler im Matsch herumzustapfen und mir blöde Sprüche anzuhören? Ich versuche in erster Linie, Morde aufzuklären, Anna. Verhindern kann ich sie normalerweise nicht. Aber glaubst du im Ernst, ich nehme den Tod eines Zeugen oder eines Verdächtigen billigend in Kauf? Wir haben die Toten nicht auf dem Gewissen, Anna.« »Wir waren zu spät da«, beharrte Anna, zitternd und blass. »Wenn wir nur zwei Minuten früher gekommen wären, dann hätten wir sie noch erwischt, und niemandem wäre etwas geschehen. Da bin ich sicher. Du hast die Sicherheit von Julia und von Peter Paul leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Das ist meine Meinung.« Rocco nickte vor sich hin. »Julia, hm?«, meinte er böse. »In Wirklichkeit geht es dir nur um Julia. Du hattest Angst, dass ihr etwas zustößt, stimmt’s? Aber Louis war ja da … Und Julia wollte uns helfen, ich habe sie nicht dazu gezwungen.« »Es geht mir nicht nur um Julia. Ich meine es ernst, Rocco.« Sie saßen eine Weile schweigend im Auto, wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Der Regen prasselte aufs Dach, an den beschlagenen Scheiben schoss das Wasser in Sturzbächen herunter. Draußen waren kaum die gegenüberliegenden Häuser in ihrem schmutzigen Ruß- und Abgasgrau zu erkennen, das kein Regen der Welt mehr abwaschen konnte. Trostlose Häuser am trostlosen Eingang der Stadt … Rocco startete den Wagen und gab Gas. »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte er leise. »Aber daraus besteht unsere Arbeit. Wir müssen Entscheidungen treffen. Die Frage ist doch, ob sie leichtfertig oder mit Überlegung getroffen werden. Vielleicht war meine Entscheidung zu warten falsch, aber sie war nicht leichtfertig. Ich habe die Situation eben anders beurteilt als du. Glaubst du mir, dass ich meinen Job ernst nehme?« »Du hast die Situation falsch beurteilt«, sagte Anna leise. »Und ich bin mir nicht immer sicher, ob du deinen Job ernst nimmst … Manchmal habe ich den Eindruck, du hast da etwas aus den Augen verloren …« »Und du hast immer alles im Blick, oder wie?«, unterbrach Rocco sie abrupt. »Nein.« Anna schwieg. Es hatte keinen Sinn, weiterzureden. Sie hatte gesagt, was sie sagen wollte. Rocco hatte recht. Man musste sich permanent entscheiden, und manchmal war das, wofür man sich entschied, falsch. Aber dieser ganze Fall war vom ersten Augenblick so vertrackt … Roccos Methoden, wenn man bei ihm überhaupt von Methode reden konnte … Anna hatte den Eindruck, dass sie etwas ganz anderes zu tun hatte. Auf diese Weise würde sie auch nicht von der Vergangenheit loskommen. Sie würde niemals davon loskommen oder eine Art finden, damit umzugehen … Es war hoffnungslos. »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Rocco noch einmal. Wenig später bog er in den Hof des Präsidiums ein und parkte den Wagen. »Und jetzt?«, fragte Anna. Rocco zuckte mit den Schultern. »Wir machen weiter und schreiben dann unsere Berichte, würde ich sagen. Oder sollen wir mittendrin hinschmeißen?« Anna schüttelte den Kopf. »Nicht mittendrin. Wenn das okay für dich ist?« »Okay.« Kaum hatten sie das Präsidium betreten, ließ der Regen nach. Kapitel 14 Lohhausen sah ziemlich verheerend aus. Seine Augen waren blutunterlaufen, darunter zeichneten sich tiefe, schwarze Ringe ab. Die dünnen, ungekämmten Haare standen seitlich vom Kopf ab. Er saß im Hemd auf einem Stuhl im Verhörraum und stützte die Ellbogen auf einen schlichten, rechteckigen Holztisch. Seine Anzugjacke hatte er über die Lehne gehängt. Am Ärmel zog sich entlang der Naht ein langer Riss. Als Anna und Rocco den Raum betraten, hob er müde den Kopf. Die Beamten hatten ihn in seinem Büro aus dem Schlaf gerissen und mitgenommen. »Was soll das?«, fragte er mürrisch. »Warum halten Sie mich hier fest?« »Nette Party muss das gestern gewesen sein«, sagte Rocco statt einer Antwort. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte Lohhausen. »Aber, ja. Es war ganz nett. Weshalb halten Sie mich hier fest?« Anna atmete scharf ein. Nach dieser Nacht war ihr ohnehin knapper Vorrat an Geduld erschöpft. »Mann«, sagte sie. »In Ihrer Nähe sterben einfach zu viele Leute.« Rocco fiel auf, dass er etwas Ähnliches zu Garcia und McCarthy gesagt hatte, und überlegte, ob möglicherweise ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen Lohhausen, den Ex-GIs und dem großen, ominösen Pilz bestehen könnte. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. »Wir haben am Monrepos-See eine Leiche gefunden … einen Toten«, verbesserte Rocco sich, da er sich erinnerte, dass Anna den Begriff ›Leiche‹ nicht leiden konnte. »Einen meiner Gäste?«, erkundigte sich Lohhausen leicht besorgt. »Wie man es nimmt. Es handelt sich um Peter Paul.« Anna sah ihm ins Gesicht und versuchte, irgendeine Reaktion zu registrieren. Lohhausen verzog keine Miene. »Peter Paul«, wiederholte er und zuckte mit den Schultern. »Den Freund – oder Exfreund – von Nicole Dahm.« »Ah, ja. Das war definitiv keiner meiner Gäste«, sagte Lohhausen langsam, besann sich einen Augenblick und fuhr fort: »Allerdings kann ich nicht bestreiten, dass er anwesend war.« »Das ist auch besser für Sie, denn er wurde von verschiedenen Personen gesehen.« Anna rückte einen Stuhl auf die Lohhausen gegenüberliegende Seite des Tischs und setzte sich. »Leugnen wäre also zwecklos. Sie hatten Streit …« »Das ist richtig. Er hat mich bedroht. Meine Gäste, Herr Schimmler und Mindy Schneider, eine meiner Angestellten, können das bestätigen.« »Herr Schimmler kann sich leider nicht mehr an allzu viel erinnern. Und was Mindy Schneider angeht: Wir wissen nicht, wo sie sich zurzeit aufhält«, sagte Rocco. »Haben Sie vielleicht eine Ahnung?« »Tut mir leid.« Lohhausen breitete die Handflächen aus. »War’s das? Ich bin müde und würde gern ein bisschen schlafen.« »Es war noch jemand im Raum, nicht wahr?« Anna ignorierte Lohhausens Frage. »Herr Schimmler konnte uns immerhin sagen, dass er in Begleitung eines Ihrer Angestellten auf die Party kam … Herrn Schaminsky.« Lohhausen runzelte die Stirn. »Der Franzose«, half ihm Rocco auf die Sprünge. »Ach so. Ja«, sagte Lohhausen und lächelte. »Sie wissen, dass wir den Franzosen in Zusammenhang mit dem Mord an Frau Dahm suchen, nicht wahr?«, fragte Anna sanft. Lohhausen verdrehte die Augen. »Ja, ja«, sagte er. »Ich hätte Sie auch bestimmt angerufen. Ich habe nur gedacht …« »Na, was denn?« »Ich habe nur gedacht, dass es keine große Rolle spielt, ob ich Sie sofort anrufe oder ihm noch eine kleine Party gönne, bevor Sie ihn durch die Mangel drehen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er …« »Dass er was?«, fragte Anna. »Na, dass er komplett ausrastet und diesen … Freund von Nicole … – Frau Dahm – ersäuft.« Einen Moment lang herrschte Stille. Lohhausens Blick wanderte zwischen Anna, die ihm gegenübersaß, und Rocco, der bei der Tür an der Wand lehnte, hin und her. Er begann, mit den Fingern einen unsteten Rhythmus auf den Tisch zu klopfen. Über Annas Gesicht breitete sich ganz langsam ein Lächeln aus. »Wir haben, wenn ich mich richtig erinnere, nicht erwähnt, dass Herr Paul ertrunken ist. Rocco?« »Ganz sicher nicht.« Lohhausen unterbrach seinen Rhythmus abrupt. Er zog die Augenbrauen zusammen und schluckte leer. »Ich …«, fing er an, besann sich aber eines Besseren und dachte erst nach, bevor er etwas sagte. »Na, kommen Sie, Herr Lohhausen«, sagte Anna. »Nun mal raus mit der Sprache. Haben Sie ihn zusammen mit dem Franzosen ins Wasser geworfen? Oder waren Sie es allein? Er war Ihnen doch schon lange ein Dorn im Auge. Und besonders schwer kann das nicht gewesen sein. Herr Paul war ja durch die Verletzungen von seinem Unfall ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Ein paar Schläge und Stöße dürften genügt haben, um ihn vollends außer Gefecht zu setzen. Und dann …?« Lohhausen biss sich auf die Lippe. Er sah Anna entgeistert an. »Also, hören Sie mal … Ich weiß genau, was Sie vorhaben … Ihnen geht es doch nur um …« Er überlegte und sein Blick wanderte an der Wand entlang, als suche er etwas Bestimmtes, das dort eigentlich zu finden sein müsste, jedoch nicht da war. »Sie wollen mich ruinieren. Wissen Sie eigentlich, was da auf dem Spiel steht? Der Märchengarten … mein Projekt … Das ist doch ein abgekartetes Spiel. Sie versuchen, meinen Ruf zu ruinieren …« »Mit dem Märchengarten und Ihrem Projekt hat das für mich gar nichts zu tun«, unterbrach ihn Anna. »Darauf können Sie sich nicht wieder zurückziehen, Herr Lohhausen. Und Ihr Ruf ist mir so was von egal. Ich erwarte jetzt eine Antwort von Ihnen, sonst können Sie gleich eine Person Ihres Vertrauens anrufen, die Ihnen einen Schlafanzug und ein paar Klamotten zum Wechseln mitbringt. Klar? Sie haben sich in mehrerer Hinsicht strafbar gemacht: Sie haben uns einen Verdächtigen oder zumindest wichtige Zeugen in einem Mordfall vorenthalten und auf Ihrer Party gab es mindestens eine illegale Droge. Wir haben die Reste sichergestellt. Und es dürfte keine Schwierigkeiten geben, dafür einige Zeugen aufzutreiben. Das reicht, um Sie für einige Zeit hier zu behalten, ohne dass irgendjemand von Ihren Freunden oder ein Anwalt etwas dagegen tun kann. Haben Sie das verstanden? Ich erwarte von Ihnen jetzt endlich etwas mehr Kooperation, sonst verbringen wir hier den ganzen Tag und die ganze Nacht zusammen, wenn es sein muss. Und das wird kein Spaß, das kann ich Ihnen versichern.« Manchmal staunte Rocco über Anna. Sicher, er wäre ganz anders an die Sache herangegangen. Aber sie hatte eine Art, die Dinge klarzustellen … Seine Bewunderung hielt sich angesichts seiner eigenen Differenzen mit ihr jedoch in Grenzen. Gespannt beobachtete er Lohhausen, der zwar nicht wirklich Angst zu haben schien, allerdings ins Grübeln gekommen war. Er starrte Anna an wie das Kaninchen die Schlange, krampfhaft am Überlegen, wie er ihr entrinnen konnte. Sie durften ihn nicht unterschätzen, auch wenn er einen großen Fehler begangen hatte. Rocco war sich ziemlich sicher, dass Lohhausen eine Menge Dreck am Stecken hatte, aber zum ersten Mal dachte er ernsthaft darüber nach, ob er tatsächlich mit dem Mord an Nicole Dahm etwas zu tun hatte. PPs Beschuldigungen im Krankenhaus hatte er nicht ganz ernst genommen und eher unter der Rubrik ›eifersüchtiger Liebhaber‹ abgelegt. »Also gut«, sagte Lohhausen schließlich und seine Spannung löste sich in einem resignierten Abwinken, mit dem er die linke Hand auf den Tisch fallen ließ. »Es nutzt ja nichts.« Er räusperte sich. »Wir waren zu fünft in einem Salon des Schlosses im ersten Stock. Der Franzose, Schimmler und ein Mädchen, und ich mit Mindy Schneider. Sie ist eine meiner Angestellten«, fügte er hinzu. »Mein Barmann – Louis – brachte Herrn Paul zu uns herauf und ging dann gleich wieder. Ich weiß nicht …« Lohhausen schüttelte den Kopf, als versuche er, sich an etwas zu erinnern. »Jedenfalls machte Paul mir heftige Vorwürfe …« »Um was ging es denn?«, fragte Anna. Lohhausen sah Anna mit großen Augen an und streckte sein Kinn vor. »Ja, ja«, sagte er ärgerlich. »Immer mit der Ruhe. Ich komme gleich dazu.« Er holte Luft. »Also: Er machte mir Vorwürfe, ich wäre verantwortlich für den Tod seiner Freundin und ich sollte dafür büßen …« Er lachte müde. »So ein Idiot. Na ja, wir waren alle schon ziemlich betrunken und ich habe mich wohl ein bisschen über ihn lustig gemacht. Es war ja auch einfach lächerlich. Ich meine, ich war drauf und dran, ihn einfach rauszuwerfen. Aber da zieht er auf einmal eine Pistole aus der Tasche …« »Wir haben sie gefunden«, warf Rocco ein. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Leuchten lief über Lohhausens Gesicht und der Blick, den er Rocco zuwarf, konnte möglicherweise ein kleines bisschen Dankbarkeit oder Hoffnung beinhalten. Aber Hoffnung auf was, fragte sich Rocco, auf einen Verbündeten? Rocco beschlich das leise Gefühl, vielleicht etwas Dummes gesagt zu haben, und das konnte er gar nicht leiden. »Weiter«, sagte Anna unbeeindruckt. »Ja, die Pistole … und er bedrohte mich damit. Na ja, dieser Kerl, Paul, ich hatte nicht das erste Mal mit ihm zu tun. Er ist einer der schärfsten Gegner meines Umbauprojekts.« Lohhausen hob beschwichtigend die Hände, als er sah, dass Anna die Augenbrauen hochzog und ihn mahnend ansah. »Das ist die Wahrheit, was soll ich sagen?«, beteuerte er. »Er hat bereits auf alle erdenkliche Art versucht, das Projekt zu torpedieren – Anträge auf Offenlegung, Klagen, um einen Baustopp zu bewirken, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist, Flyer-Aktionen, um die Öffentlichkeit wachzurütteln, kleinere Sabotageakte, die ich nicht beweisen kann«, schob er gleich nach, bevor Rocco oder Anna auf die Idee kommen konnten zu fragen. »Die Öffentlichkeit … Als ob die daran interessiert wäre, den Umbau zu stoppen.« »Na ja. So ganz kalt lassen Ihre Pläne die Öffentlichkeit wohl nicht. Es gab inzwischen mehrere Demonstrationen gegen das Projekt.« Rocco dachte an die Zwerge, die unter Aufsicht ihrer Mütter vor den Kassen des Schlosses demonstriert hatten. Lohhausen zuckte mit den Schultern. »Pfhh«, machte er. »Ein paar harmlose Nostalgiker, nichts Ernstzunehmendes.« »Wann wird es für Sie denn ernst?«, fragte Anna. Lohhausen sah sie an und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Vielleicht, wenn ich persönlich bedroht werde? Dieser Mann jedenfalls hasst mich. Er führt einen persönlichen Rachefeldzug gegen mich. Hat geführt … Jetzt hat er auch noch behauptet, ich hätte ihm seine Freundin ausgespannt. Er hat mich dafür verantwortlich gemacht, dass sie ihn verlassen hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hatte sie einfach die Nase voll von seinem Geschwätz.« »Herr Lohhausen …«, sagte Anna. »Jedenfalls hat ihm der Franzose das Ding aus der Hand geschlagen, bevor er abdrücken konnte, und dafür bin ich ihm, ehrlich gesagt, ziemlich dankbar«, fuhr Lohhausen brav fort. »Leider … leider hat er gesagt – ich sage das nicht gern, aber bevor ich hier verantwortlich gemacht werde für etwas, das ich nicht getan habe … – also, er hat gesagt, er bringe ihn jetzt nach draußen und ersäufe ihn im See wie eine Katze. So war’s.« Er sah Anna an, dann Rocco und nickte, um seine Aussage zu bekräftigen. Seine Kiefermuskeln zitterten ein wenig. »Ja, so war es. Ich weiß noch, wie Schimmler lachte und ehrlich … ich hielt es ebenfalls für einen Scherz. Ich glaube, ich sagte: ›Los, werf den Kerl raus‹, oder so was in der Art. Dann fing Paul auf einmal an, Krawall zu machen, wollte die Pistole erreichen und … da bin ich rausgerannt.« Er hob die Schultern, schürzte die Lippen und sah Anna und Rocco wieder treuherzig an. »Ich bin kein Held. Ich bin nicht kugelfest. Ich bin abgehauen. So sieht’s aus.« Er machte eine Pause. »Als ich draußen war, brach das Gewitter los. Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin in mein Büro gefahren. Das ist alles.« Anna sah Rocco an. Zum ersten Mal seit Beginn des Verhörs. Rocco verzog den Mund. Er wusste nicht, was er von Lohhausens Geschichte halten sollte. Anna offensichtlich auch nicht. Sie war auf den ersten Blick plausibel. Bevor aus dem Labor der Spurensicherung keine weiteren Erkenntnisse vorlagen, war schwer etwas daran auszusetzen. »Und Mindy Schneider?«, fragte Anna schließlich. »Die haben Sie einfach bei diesem angeblich gemeingefährlichen Radikalen zurückgelassen?« Lohhausen setzte einen schuldbewussten Blick auf. »Wie gesagt: Ich habe nie behauptet, ich wäre ein Held. Das war sicher nicht meine rühmlichste Tat. Sicher nicht.« Die letzten Worte sagte er sinnierend, wie zu sich selbst. Rocco musste unwillkürlich lachen. Anna warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Sie mussten Lohhausen vorerst gehen lassen. Zum einen hatten sie keine Beweise, dass er an der Tat beteiligt war. Zum anderen insistierte Roth, dass es nur schwer erklärbar sei, Lohhausen länger als nötig festzuhalten. Die Presse würde sofort einen Zusammenhang mit dem Umbau wittern … Außerdem sei die Gefahr verschwindend gering, dass er untertauchen würde. Das sahen Anna und Rocco allerdings ähnlich: Lohhausen hatte viel zu viel in der Stadt und in sein Projekt investiert, um jetzt einfach zu verschwinden. Für ihn hing alles am Umbau des Märchengartens, dort lag seine Zukunft. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er sich wegen PP die Hände schmutzig machen würde. Aber er würde sich mit Sicherheit mit seinen Anwälten beraten und schleunigst darangehen, eventuelle Spuren – sollte es welche geben – zu beseitigen, die ihn in Zusammenhang mit PPs Tod bringen konnten. Die Suche nach Mindy Schneider und dem Franzosen lief, und um Schimmler vernehmen zu können, musste dieser erst seinen Rausch ausschlafen. Also beschlossen Rocco und Anna ebenfalls, sich ein paar Stunden Schlaf zu gönnen. Es hatte aufgehört zu regnen, als sie auf den Parkplatz kamen, aber es war noch das Rauschen der übervollen Abwasserkanäle und das Tropfen des Wassers von Bäumen, Wasserrinnen, Vordächern und Fenstersimsen zu hören. Wie das Ablaufen der Sintflut, dachte Anna. Die Wolkendecke war hellgrau und an manchen Stellen nicht mehr ganz geschlossen. Wenn für einen kurzen Augenblick die Sonne durchdrang, wurde es unangenehm schwül. Rocco blinzelte und hatte das Gefühl, als habe jemand Sandpapier unter seine Augenlider geschoben. »Tja«, sagte er unentschlossen, als sie an seinem Wagen angekommen waren. »Tja«, sagte Anna. Rocco spielte mit dem Schlüssel in seiner Hand. »Glaubst du ihm?« »Lohhausen? Kein Wort.« Rocco lachte. »Vielleicht … überlegst du es dir ja noch mal«, sagte er dann. »Ich meine, sicher, unsere Methoden mögen unterschiedlich sein, aber, wie gesagt, man muss Entscheidungen treffen, und die sind nicht immer richtig. Wenn man keine trifft, taugt man nicht für den Job.« Entscheidungen treffen, dachte Anna und nickte, sagte jedoch nichts. Wenn jemand wusste, was das hieß, dann sie. »Schlaf gut«, sagte Rocco und öffnete den Wagen mit einem Druck auf den Schlüssel. »Ich … mache es mir nicht leicht, Rocco. Das musst du mir glauben. Ich denke noch mal drüber nach«, sagte Anna, bevor er die Tür zuschlug. »Schlaf gut.« Als er den Wagen startete, musste Rocco schmunzeln. Wenn er Anna eines abnahm, dann war es, dass sie es sich nicht leicht machte. Im Gegenteil. Zu Hause warf Anna ihre Sachen auf den Boden. Sie öffnete vorsichtig die Tür zu Julias Zimmer und sah einen Fuß und weiter oben ein Büschel brauner Haare unter der Bettdecke hervorragen. Julia schlief mit einem leisen Schnarchen. Anna schloss die Tür wieder und zog sich auf dem Weg in ihr Zimmer die Kleider aus, die zäh wie Gummi an ihr zu kleben schienen. Sie warf die Klamotten auf den Stuhl neben dem Schrank und ließ sich ins Bett fallen. Aber sie konnte nicht gleich einschlafen. Zu viel war passiert in der Nacht, ihre Nerven waren angespannt und die Enden flimmerten und zappelten vor ihren Augen wie Hunderte kleiner Elektroden. Auch die Sache mit Rocco ließ ihr keine Ruhe. Sie wälzte sich mit halb geschlossenen Lidern hin und her, ein hellgrauer Lichtschleier drang an ihre Netzhaut, wie bei Leuten, die langsam erblindeten und nur noch Schemen wahrnehmen konnten. Sie spürte einen schlechten Geschmack im Mund, säuerlich, leicht faulig, und ihr fiel ein, dass sie seit gestern Nachmittag nichts mehr gegessen hatte. Nach einiger Zeit, in der sie wie besinnungslos auf dem Rücken lag, unfähig, sich zu bewegen, krabbelte sie noch einmal aus dem Bett, um wenigstens zu gurgeln und die Zähne zu putzen. Dann legte sie sich wieder hin. Sie träumte nicht von PP und dem Regen, der ihm in das eine, aufgerissene Auge tropfte, wie wenn ein wahnsinnig gewordener Augenarzt versuchte, ihm mit zahllosen Pipetten ein Augenmittel einzuträufeln. Und auch nicht von dem Wasser, das ihm als stetiges Rinnsal aus dem Mund gelaufen war. In ihrem unruhigen Schlaf träumte sie von einem Kind mit hohlen Augen. Und von einer Treppe, von der sie insgeheim hoffte, dass sie ihr das Genick brechen würde. Das Quälendste war die Frage, ob sie es gewollt hatte, ob es vielleicht gar kein Schwindel, eine kurze Besinnungslosigkeit gewesen war, die sie überlebt hatte, aber das Kind nicht. Später kam sie kurz zu Bewusstsein und dachte – oder war es auch ein Traum? – ans Krankenhaus. Die langen Nächte im Krankenzimmer, die leisen Schlafgeräusche der anderen Patientinnen, die diffusen Lämpchen, die brannten und in undurchschaubaren Intervallen aufblinkten, und die – unbeobachtet – ihre eigenen Regeln befolgten. Der säuerliche Geruch nach Schweiß, der süßliche Geruch nach Milch und Krankheit … Die langen, schlaflosen Nächte hatten ihr nur geholfen, zu verdrängen, sie hatte ja genug Zeit. Nur langsam und nur manchmal, im Halbschlaf, konnte sie sich überhaupt der Frage stellen, ob sie absichtlich … und für einen kurzen, schrecklichen Moment wusste sie die Antwort. Garcia und McCarthy lösten die Träume vom Krankenhaus ab. Garcia im Regen mit seinen talähnlichen Furchen im Gesicht und seiner Schlangenhaut. Garcia und McCarthy und ihr Pilz. Im überspannten Zustand ihres Gehirns gab es ihn wirklich, er war Realität, der Pilz, der die Stadt langsam in den Wahnsinn trieb. Er lebt unter uns, dachte sie, paranoid im Traum. Die nicht greifbare Bedrohung. Als Rocco nach Hause kam, warf er den Autoschlüssel auf einen kleinen Tisch neben der Tür, auf den er immer alles warf, was er mitbrachte. Dann ging er in die Küche und machte sich einen Espresso. Die Deutschen erzählten ihm immer, dass Espresso, Koffein im Allgemeinen, nicht gut sei vor dem Schlafengehen. Aber was wussten die schon vom Espresso? Er schmunzelte, während er die Kanne zudrehte. Seine Großmutter hatte gesagt, Espresso sei immer gut. Immer. Und so war es auch. Erst einmal einen Espresso. An diese Regel hatte sich seine Familie seit Generationen gehalten und er würde bestimmt nicht derjenige sein, der sie brach. Ein Espresso hat noch niemandem geschadet. Er stellte die Kanne auf den Herd und wischte sich die Hände am Geschirrhandtuch ab. In seinem Kühlschrank war nicht mehr viel Essbares zu finden. Er musste erst Einkaufen gehen, doch das hatte Zeit. Müde fuhr er sich mit der Hand über die Augen. Er setzte sich an den Küchentisch und sah der bläulichen Flamme des Gasherds zu, die mit stoischer Ruhe und einem leichten, zischenden Geräusch das Wasser in der Espressokanne erhitzte, ohne zu wissen, was sie tat. Sie stand in seinen Diensten, aber da sie es nicht wusste, war es ihr egal. War es nicht immer so? Man war irgendjemandes Werkzeug, aber solange man sich dessen nicht vor Augen führte, war man frei. Erst mit dem Wissen kam die Unzufriedenheit … Der Kaffee brodelte in der Kanne, ein paar Tropfen spritzten zum Ausguss oben heraus und hinterließen braune Sprenkel auf der weißen Emaillebeschichtung seines Herds. Er musste kurz eingenickt sein. Langsam stand er auf, holte eine Tasse aus dem Schrank und goss sich ein. Wie ein böswilliger, kleiner Zwerg kam sie ihm vor, der plötzlich Gift und Galle spucken konnte, wenn man ihn falsch behandelte. Ein völlig irrationaler Stolz erfüllte ihn kurz, weil er es so gut verstand, mit ihr und diesem unberechenbaren Gebräu umzugehen. Der erste Schluck war so heiß, dass er die Bitterkeit des Kaffees erst im Nachhinein schmeckte. Er nahm die Kanne mit und setzte sich wieder. Hatte Anna vielleicht recht? War er als Polizist zu leichtfertig? Zu wenig ernst- und gewissenhaft? Rocco zuckte mit den Schultern und schenkte sich nach. Quatsch, dachte er, war sich allerdings nicht sicher, ob er das einfach mit einem Achselzucken würde abtun können. Was war nur los mit Anna? Er nahm sich vor, so bald wie möglich mit Julia darüber zu reden. Anna schleppte irgendeine Geschichte mit sich herum, mit der sie nicht fertig wurde. Er wusste nicht, ob das in einem Zusammenhang mit ihm stand, aber er vermischte ihre Bedenken ihm gegenüber und ihre Probleme automatisch miteinander. Er wollte endlich wissen, was mit ihr los war. Seufzend nahm der den letzten Schluck Espresso und ging hinüber ins Schlafzimmer. Er ließ den Rollladen herunter, warf seine Kleider auf den Boden und legte sich ins Bett. Der Gedanke an Anna ließ ihn nicht los. Er stellte seinen Wecker und drehte sich um. Ich möchte viel lieber wissen, wo Mindy Schneider steckt, dachte er. Kapitel 15 Trübes Morgenlicht drang zum Fenster und zur Balkontür herein. Es hatte die Farbe einer Taube, helles Grauviolett, das schimmerte, als ernähre sich der Vogel hauptsächlich von Verwesendem und den fettigen Resten liegengebliebener Leberkäsbrötchen. Vage hoben sich im Zimmer die Konturen seines Sofas von der Wand ab und die Linien einer noch farblosen Grafik im Rahmen. Auf dem Teppich davor standen ein paar Gläser, auf dem Polster lag das Telefon. Einige Vögel hatten auf dem Geländer des Balkons Platz genommen und stimmten in den Krach ihrer Kollegen ein, die sich in den Vorgärten der Nachbarhäuser verteilt hatten und ihr allmorgendliches Pfeifkonzert abhielten. Als das Display des Telefons aufleuchtete, bläulichweiß in den grauen Morgen, und gleich darauf mit einer nichtssagenden Erkennungsmelodien eines Netzbetreibers klingelte, stoben sie davon, hinunter zu den Büschen im kleinen Garten oder hinauf zu den elektrischen Leitungen der Stadt. Lohhausen hatte sich nie die Mühe gemacht, den Anrufton umzustellen. Wozu auch? Es war bereits das fünfte oder sechste Mal, dass angerufen wurde, ohne dass er abgehoben hatte. Dieses Mal rührte sich nach dem dritten Klingeln etwas. Die Schlafzimmertür wurde aufgestoßen und Lohhausen kam, die Hand vor den Augen, in der Unterhose ins Wohnzimmer und nahm ab. »Ja?«, fragte er mit rauer Stimme und ließ sich aufs Sofa fallen. »Lass mich in Ruhe. Ich hab dir gesagt, lass mich in Ruhe«, zischte er sofort darauf ins Telefon. »Ich kümmere mich um alles und melde mich dann bei dir. So war es abgemacht und …« Er wurde unterbrochen, hörte zu und suchte dabei mit der Hand das Sofa ab, bis er in dem Schlitz zwischen Polster und Lehne eine Schachtel fand. Er öffnete sie, drückte zwei Demerol aus dem Tablettenstreifen und schluckte sie. »Scheiße«, sagte Lohhausen, als sein Anrufer zu Ende gesprochen hatte. Es klang betroffen, aber er lächelte dabei. Mit dem großen Zeh brachte er eines der Gläser, die auf dem Boden standen, zum Wippen, bis es umfiel. Er stand auf, ging zum Schrank, holte eine Flasche heraus und goss sich einen Whisky ein, um die Tabletten hinunterzuspülen. »Keine Panik. Du musst nur ruhig bleiben«, sagte er. »Wir regeln alles so, wie verabredet. Warum sollte sich etwas ändern?« Mit einem gezielten Kick trat er seine zerrissene Anzugsjacke, die in einem Haufen hinter dem Sofa lag. Sie flog in die Höhe und legte sich einen Meter weiter wieder hin. »Ja. So machen wir’s.« Er nickte zur Bekräftigung, als könne sein Gesprächspartner das sehen, drückte den Auflegknopf und warf das Telefon zurück auf die Couch. Lohhausen wartete, bis es einigermaßen hell war und er davon ausgehen konnte, dass die ersten Läden bereits geöffnet hatten. Dann fuhr er mit dem Wagen zum Imbiss beim Forum und trank dort einen Kaffee. Anschließend machte er einen Umweg zur Bäckerei an der Schorndorfer Straße, trank ebenfalls einen Kaffee und kaufte eine Brezel, bevor er durch den Schloss- zum Märchengarten ging. Am Rapunzelturm blieb er kurz stehen und sah nach oben ins hellgraue Morgenlicht. Im Himmel zeichneten sich düster die nassen Steine des Turms und die dunkle Luke ab, durch die normalerweise Rapunzels Zopf hing. Davon war jetzt nichts zu sehen. Lohhausen folgte dem gewundenen Weg nach unten zu den alten Hütten, in denen die verschiedenen Märchen mit Puppen nachgestellt waren. Von den Ästen und Blättern der Bäume tropfte das Wasser der letzten Regennacht, düster und abweisend standen die Hütten am Rand wie eingemummte Hexenhäuschen, aus grauen, verwitterten Steinen zusammengetragen. Die Eingänge waren mit schmiedeeisernen Gittern verschlossen, durch die man einen Blick auf das Geschehen werfen konnte. Lohhausen fragte sich jedes Mal, wie solch ein Konzept überhaupt jemals hatte aufgehen können. Im Innern der Häuschen agierten verlotterte, wie von Motten zerfressene Puppen mit derben, kantig geschnitzten Gesichtern und erzählten mit kaum verständlichen Tonbandstimmen von den düsteren Albträumen der Menschheit. Und trotzdem schleppten die Eltern jeder Generation ihre Sprösslinge in dieses Überbleibsel einer dunklen Welt, der gespenstischen Fantasie aus Inzest, Vergewaltigung, Totschlag, grausamem Mord, animistischem Überleben oder pseudospiritueller Errettung und Wiedergeburt. Er schnaubte verächtlich und steuerte auf eines der Gebäude zu. Er würde die Leute wenigstens bezahlen lassen für diese Unterhaltung. Er würde ihnen aber auch etwas bieten … Shows statt Kasperletheater, flotte Choreografien statt hölzerner Gesichter, luftige Karussells statt Holzbänke in stickigen Bruchbuden. Restaurants, Hotels, Fahrgeschäfte und Buden … und sie würden eine Menge dafür bezahlen wollen. Mit einer gewissen Befriedigung bemerkte er den Bagger, der nicht weit vom Weg geparkt war. Er würde den Anfang machen … Aber bevor es so weit war, hatte er noch eine Sache zu erledigen. Lohhausen öffnete das quietschende Gitter eines Häuschens. Über der Tür war auf ein nahezu verrottetes Holzschild ›Rotkäppchen‹ geschrieben. Auf der Seite stand die Puppe eines Mädchens mit einem vertrockneten Blumenstrauß. Lohhausen war ein bisschen mulmig geworden. Er versuchte, ruhig zu bleiben, und stellte sich vor, wie viele Generationen von Milben wohl in diesem Strauß ein Heim gefunden hatten, aber er spürte auf einmal sein Herz bis zum Hals klopfen. Hinten an der Wand lag ein stoffiges Etwas, gebastelt aus einem räudigen Pelz und Pappmaché, das musste der Wolf sein, der seinen Platz normalerweise im Bett hatte. An seiner Stelle befand sich etwas anderes unter der Decke der Großmutter. Lohhausen besah sich die Szene für einen Augenblick mit abwesendem Blick und streifte dabei ein Paar Handschuhe über. Dann trat er vorsichtig zum Bett und hielt die Luft an, als er mit spitzen Fingern die Decke ein Stück wegzog. Da lag sie. Eine rötliche Strähne, die beim Anheben der Decke hängen geblieben war, fiel zurück auf ihre Schulter und für einen Augenblick dachte Lohhausen, sie schliefe nur, hätte sich bewegt mit flatternden Augenlidern. Aber wie immer in solchen Situationen war es nur Einbildung. Vielleicht war auch nur der Wunsch der Vater des Gedanken. Spätestens als er den riesigen, roten Fleck auf Mindys Bauch sah, war ihm klar: Aus eigenem Antrieb würden sich diese Lider nie mehr öffnen. Mindys Gesicht und vor allem die Lippen waren bleich wie der Mond, ausgeblutet, was ihre dunklen Haare röter erscheinen ließ als sonst. Der Schnitt ging tief und quer über das Etuikleid, das sie auf dem Fest getragen hatte, und ihren Bauch. Als hätte sie jemand ausweiden wollen. Lohhausen wagte nicht, sie zu berühren. Er atmete tief ein und ließ die Bettdecke wieder sinken. Leise, als könnte er das milbenzerfressene Rotkäppchen oder den rüde beiseite geworfenen Wolf stören in dieser Hütte, in diesem einsamen Wäldchen, verließ er den Raum und schloss das Gitter von außen sorgfältig wieder zu. Draußen zog er eine Karte aus seiner Jacketttasche und tippte eine Nummer ins Handy. Von den Blättern und Ästen der umstehenden Bäume tropfte stetig das Regenwasser. »Ich möchte wissen, ob es stichhaltige Gründe dafür gibt, dass Sie andauernd Herrn Lohhausen von der Fairy Tale GmbH belästigen.« Roth saß hinter seinem Schreibtisch, am frühen Morgen mit glänzender Nasenspitze und roten Flecken am Hals, die, wie Rocco vermutete, vom Rasieren stammten. »Ich hatte gestern einen Anruf von seinem Rechtsanwalt und heute halte ich dieses Schreiben hier …« Roth musste seine Kaffeetasse beiseiteschieben, um ein Schreiben auf teuer aussehendem Briefpapier vom Tisch zu nehmen und in die Luft zu halten. »Dieses Schreiben hier in der Hand, in dem unter anderem gebeten wird … Zitat … ›die zunehmend willkürliche und unzureichend begründete Befragung und Verdächtigung unseres Mandanten zu unterlassen‹ … Zitat Ende.« Er nahm einen Schluck aus der Tasse und sah erst Rocco und dann Anna an, die vor seinem Schreibtisch saßen »Also«, fuhr er fort. »Gibt es stichhaltige Gründe, warum Sie Herrn Lohhausen ständig belästigen? Sie wissen um sein Projekt Märchengarten und um die Brisanz des Themas. Was macht es für einen Eindruck, wenn die Polizei ständig einen Mann überwacht, der mit solchen stadtpolitisch und regional wichtigen Aufgaben betraut ist? Der Bürgermeister vertraut ihm, der Stadtrat vertraut ihm, aber die Polizei stellt ihm auf ›zunehmend willkürliche‹ Weise nach und lässt nichts unversucht, ihn in ein schlechtes Licht zu rücken? Wo kommen wir da hin? Herr Marino, Frau Behr, ich hoffe nicht, dass Sie Ihre Position ausnutzen, um hinter meinem Rücken Politik zu betreiben.« »Sie wissen doch, wir haben stichhaltige Gründe«, sagte Rocco. »Herr Paul …« Er glaubte nicht, dass sie Roth wirklich überzeugen würden. »Ich höre?«, ermunterte Roth ihn. »Lohhausen hatte zu beiden Opfern einen engeren Kontakt, als er zunächst zugegeben hat. Es ist durchaus möglich, dass er mit Nicole Dahm ein Verhältnis hatte. Zumindest hat ihr Freund, Herr Paul, das behauptet. Der ist jetzt ebenfalls tot, nachdem er Lohhausen massiv bedroht hat. Von Schaminsky, einem Angestellten Lohhausens, fehlt seitdem jede Spur.« »Warum konzentrieren Sie sich dann nicht darauf, diesen Mann zu fassen? So schwer kann das ja nicht sein, oder? Er wird sich mit ziemlicher Sicherheit noch im Land befinden«, warf Roth ein. »Er war doch schon einer der Verdächtigen im Mordfall Dahm, nicht wahr?« »Ja«, sagte Rocco. Anna setzte sich auf ihrem Stuhl aufrecht hin und räusperte sich. »Herr Lohhausen wird sich auf jeden Fall auf eine Anklage gefasst machen müssen«, sagte sie dann fest. »Auf seiner Party im Monrepos-Schloss wurden harte Drogen konsumiert, mit ziemlicher Sicherheit angeboten vom Gastgeber. Wir haben drei Schalen mit Resten beziehungsweise Rückständen von Kokain beschlagnahmt. Das dürften kaum Gastgeschenke gewesen sein.« Roth sah sie ausdruckslos an. »Die ›Belästigung‹, oder wie seine Anwälte das nennen, hat also kaum etwas mit seinem Projekt und seiner Stellung in der Stadt zu tun, auch wenn Herr Lohhausen schon wiederholt versucht hat, das so aussehen zu lassen. Er ist aus meiner Sicht wegen Besitz, Konsum und Handel von Drogen dran, egal, ob er etwas mit den Morden zu tun hat oder nicht.« Rocco sah zum Fenster hinaus und beobachtete angestrengt eine schwarze Wolke, die den nächsten Regenschauer ankündigte. Roth nahm einen Kugelschreiber vom Tisch, klickte ein, zwei Mal auf die Rückseite und nahm dann seine Tasse. »Na, dann … wir werden sehen«, sagte er. »Unter diesen Umständen erscheint es mir doch gerechtfertigt, ein paar Fragen zu stellen. Nicht wahr?« Rocco und Anna nickten, als Roccos Handy klingelte. Er sah Roth entschuldigend an. Der machte eine großzügige Geste. »Wir sind vorerst sowieso fertig, denke ich«, sagte er und stand auf. Rocco drückte auf die Annahmetaste. »Hallo, Herr Lohhausen …«, sagte er ins Telefon und sah Anna und Roth überrascht an. Dieses Mal gab es kein Entrinnen. Schwere, süße Düfte waberten durch den kleinen Raum, seit Dr. Mahler das Rotkäppchenhäuschen betreten hatte. Vielleicht ist es doch Mugler oder Lancôme, dachte Anna automatisch, sagte jedoch nichts zu Rocco. Beide standen neben der Gerichtsmedizinerin und sahen zu, wie sie sich mit wogendem Busen über den schmalen Leib von Mindy Schneider beugte, die in diesem Duftgewitter verblühter, aggressive Fruchtbarkeit ausstrahlender Regenwaldpflanzen noch ätherischer und zarter wirkte. Es war, als wolle Dr. Mahler Anna mit einem einzigen Schlag vernichten, aus dem Rennen um männliche Aufmerksamkeit katapultieren. Darwin, der Kampf ums Überleben der eigenen Gene, ging es Rocco durch den Kopf. Er wagte nicht mehr einzuatmen und verließ schleunigst die Hütte der Großmutter. Anna folgte ihm. »Auch noch Mindy«, sagte er draußen leise. »Vielleicht hattest du doch recht, Anna. Ich habe Mist gebaut.« Anna zuckte mit den Schultern. »Also, in Bezug auf Mindy Schneider war das wohl kaum vorauszusehen«, sagte sie nüchtern. »Mal sehen, was die Frau Doktor sagt, aber ich denke mal, in diesem Fall können wir getrost von einer Vergewaltigung ausgehen.« »Sah so aus«, sagte Rocco. Mindys Kleid war nach oben geschoben, ihr Slip lag zerrissen im Bett. Ihre Hände waren ins Leintuch gekrallt und konnten bis jetzt noch nicht davon gelöst werden. »Ausgerechnet Rotkäppchen«, sagte Dr. Mahler, als sie aus der Hütte trat. »Wieso?«, fragte Anna. »Das war mein Lieblingsmärchen.« Dr. Mahler lachte rau. »Hm.« Rocco sah sie nachdenklich an. »Was gibt es zu sagen?« »Was wollen Sie wissen? Sie haben es ja selbst gesehen. Spekulationen können Sie, wie üblich, selbst anstellen. Nach allem, was ich sehen konnte, ist sie an der Wunde im Bauchbereich gestorben. Wahrscheinlich wurde sie vergewaltigt, das kann ich aber noch nicht genau sagen … Weiteres wie immer später.« »Wie lange liegt sie denn ungefähr schon da?«, fragte Anna. »Ich würde sagen, mindestens zwölf Stunden«, sagte Dr. Mahler. Sie zog einen Lippenstift aus ihrer Tasche. »Die Jungs bringen mir das Mädchen, sobald sie in der Hütte fertig sind.« Anna versuchte, die Aufschrift auf der goldenen Hülle zu erkennen. »Mhm.« Keine Chance. Keine Aufschrift oder sie war unter den Fingern verborgen. Dr. Mahler zog ihre Lippen nach und verstaute den Stift wieder in ihrer geräumigen Tasche. Lohhausen stand ein paar Meter weiter weg am Wegrand und knipste eine Tablette aus einem Plastikstreifen. Er sah ziemlich mitgenommen aus, bleich, die wenigen Stunden Schlaf konnten seine dunklen Ringe unter den Augen nicht beheben. Rocco und Anna gingen zu ihm. »Mannomann«, sagte er, schluckte die Tablette und zeigte mit dem Daumen aufs Rotkäppchenhaus. »Wie haben Sie sie gefunden?«, fragte Rocco. »Er hat mich angerufen.« »Wer?« »Der Franzose. Er hat mich angerufen und gesagt, er wisse nicht, wohin. Was er jetzt machen solle und so weiter.« »Und Sie?«, fragte Anna. »Ich habe ihn gefragt, was los sei. Alle Welt sucht ihn, habe ich gesagt.« Lohhausen sah Anna an und schüttelte den Kopf. »Was, verdammt noch mal, los sei und wo er sich rumtreibe. Das habe ich ihn gefragt.« »Wo treibt er sich denn rum?« Lohhausen lächelte mitleidig. »Ich hätte es Ihnen schon gesagt, wenn ich es wüsste. Aber ich vermute, dass er nicht sehr weit weg ist.« »Tja, Herr Lohhausen«, sagte Rocco. »Das hier wächst sich langsam zu einem Desaster aus.« »Für Sie, nicht für mich«, erwiderte Lohhausen. »Hören Sie auf, diese Sache mit meinem Projekt in Verbindung zu bringen.« »Wenn ich das richtig einschätze, sind Sie der Einzige, der dauernd Ihr Projekt ins Spiel bringt«, sagte Anna scharf. Rocco atmete tief ein. »Ich möchte, dass Sie den Franzosen jetzt anrufen. Ich habe so das Gefühl, dass er ans Telefon geht, wenn Sie sich melden. Fragen Sie mich nicht, warum.« »Warum sollte ich?«, sagte Lohhausen gelassen. »Ich habe auch das Gefühl, dass er rangeht, wenn ich anrufe. Ich glaube, er denkt, ich bin der Einzige, der ihm noch hilft. Und streng genommen stimmt das wahrscheinlich auch.« Rocco nickte. »Machen Sie einen Treffpunkt mit ihm aus. Gehen Sie auf Forderungen ein, sollte er welche stellen, aber machen Sie ihm klar, dass Sie sich treffen müssen, wenn Sie ihm helfen sollen.« Lohhausen sah Rocco abschätzend an und kniff den Mund zusammen. »Also gut«, sagte er. »Ich helfe Ihnen. Aber danach will ich von Ihnen nichts mehr sehen und hören. Okay?« Rocco lächelte. »Alles klar.« Anna sah Rocco mit gerunzelter Stirn an. Dann nickte sie ebenfalls. »Alles klar«, sagte auch sie. Zwei Angestellte eines Leichenbestatters trugen den Blechsarg für Mindy Schneider an ihnen vorbei in die Hütte von Rotkäppchens Großmutter. Rocco sah ihnen nach. Noch vor wenigen Tagen hatte Mindy vor ihm gesessen und jetzt lag sie mit aufgeschlitztem Bauch in dieser schäbigen Bude. Es fing an, leicht zu regnen. »Ich hoffe mal, für Rotkäppchens Großmutter ist wenigstens ein nettes Appartement drin nach Ihrem Umbau«, sagte Rocco leise. »Sehr witzig.« Lohhausen tippte die Nummer des Franzosen ins Handy. Kapitel 16 Der Franzose hatte Lohhausen vorbeigehen sehen, und später all die Polizisten, Spurensicherer, die aufgetakelte Kuh von der Gerichtsmedizin und die unauffälligen Burschen vom Leichenbestatter, die den Sarg brachten. Von oben hatte man einen guten Blick auf den Weg, der hinunterführte zum Rotkäppchenhaus. Mindys Zimmer nannte es der Franzose für sich, lächelte und bekam dann einen leeren Blick. Der Aufmarsch hatte ihn für kurze Zeit etwas nervös gemacht. Sie konnten nur von einem informiert worden sein: Lohhausen. Der Franzose verstand nicht ganz, warum er das getan hatte, und wartete dennoch ungeduldig auf seinen Anruf. Andererseits würde Lohhausen schon wissen, was er tat. Deshalb hatte er ihn ja angerufen. Insgesamt stand der Franzose der Sache ziemlich emotionslos gegenüber. Sicher, das Ganze wäre vermeidbar gewesen, aber er war es gewohnt, zu reagieren und Entscheidungen aus der Situation heraus zu treffen. Und in diesem Moment … hatte kein Weg daran vorbeigeführt. Mindy musste über die Klinge springen. Über das Wie machte er sich keine Gedanken. Er hatte nur eine kurze, einfältige Freude an seinem klischeehaften Wortspiel, das er ein, zwei Mal vor sich hin flüsterte. Der Franzose lag auf der Couch im Abstellraum des Rapunzelturms, in dem sich seit dem Besuch der Polizei nach dem Mord an Nicole Dahm nichts verändert hatte. Gut, die Bullen hatten ein bisschen aufgeräumt, die Zigarettenkippen mitgenommen und verschiedene Werkzeuge beschlagnahmt. Immerhin hatten sie den Aschenbecher dagelassen, in den er jetzt mit einer lässigen Handbewegung, als wolle er eine einhändige Rückhand spielen, die Asche seiner Selbstgedrehten schnippte. Daneben lagen sein Handy und sein Messer. Eins von der Art, die man mit einer einfachen Bewegung auf- und wieder zuklappen konnte. Eine lange, dolchartige Klinge mit Wellenschliff. Er überlegte kurz, ob er die Schärfe prüfen sollte, ließ es aber. Er wusste, dass es scharf war. Sie würden nie im Leben darauf kommen, dass er hier oben saß, denn der Turm war noch abgesperrt, und wie das so ist in Beamtenhirnen: ›Wo abgesperrt ist, darf man nicht rein.‹ So stellte sich der Franzose das vor. Und deshalb war es ein geniales Versteck. Nur konnte er auf Dauer natürlich nicht hier oben bleiben. Er brauchte Geld und musste verschwinden. Das war der hauptsächliche Grund, warum er Lohhausen angerufen hatte. Der war ihm schließlich noch etwas schuldig. Eine Menge, fand der Franzose. Es begann, leicht zu regnen. Als wäre er erschöpft vom Rauchen, blies er den letzten Zug an die Decke und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. Mit Schwung stand er auf und sah wieder zum Fenster hinaus. Draußen war es grau und nass. Unten, zwischen den Büschen, flatterten ein paar Vögel herum, außer dem leisen Plätschern des Regens und einem nassen Rauschen von der Marbacher Straße, wenn Autos vorbeifuhren, war nichts zu hören. Er bemerkte sein Handy nur, weil es zu vibrieren anfing und dabei mit einem irgendwie insektenartigen Laut über den Tisch ratterte. »Scheißding«, sagte der Franzose leise und nahm ab. Die Sache war schnell geklärt. Lohhausen würde herkommen. Keinen Moment dachte er daran, dass man ihm nicht trauen könne. Warum auch? Er hatte ja gesagt, er würde sich um alles kümmern. Anna hatte mal wieder gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Lohhausen hatte sie und Rocco praktisch überredet, dass er zu dem Treffen mit dem Franzosen gehen würde. Sie beide oder einer von ihnen konnten ja mitkommen und direkt hinter der Tür warten, war sein Vorschlag gewesen. Sollte was schiefgehen, konnten sie sofort hereinkommen und Schaminsky überwältigen. Rocco stimmte zu, warf Anna jedoch einen fragenden Blick zu. Sie zog ihn beiseite. »Was sagt denn dein berühmtes Gefühl bei der Sache?«, fragte sie leise. »Du bist doch der intuitive Typ von uns beiden. Ich finde nämlich, da stimmt etwas ganz und gar nicht.« »Mein Gefühl meldet sich nicht. Noch nicht. Aber danke der Nachfrage.« Rocco lächelte und kratzte sich verlegen am Kopf. Die Ankunft von PP am Schloss, das elektrische Kribbeln den Rücken hinauf und das anschließende Desaster kam ihm in den Sinn. »Ich sehe es so: Das ist die beste Chance, die Sache möglichst schnell und unkompliziert über die Bühne zu bringen, ohne eine Einheit von Polizeibeamten unnötig zu gefährden. Außerdem werden wir so vielleicht ein Geständnis von Schaminsky bekommen, ohne ihn stundenlang verhören zu müssen.« Er sah hinauf in den grauen Himmel. »Lohhausen hat von sich aus angeboten, da reinzugehen, und ich habe nicht das Gefühl, dass er Angst hat, es könne ihm was passieren. Allerdings kann es natürlich sein, dass mein Gefühl sich deshalb nicht meldet, weil ich unbewusst will, dass ihm was zustößt. Dann gäbe es für mein Gefühl natürlich keinen Grund, sich zu rühren.« »Oh, Mann.« Anna verdrehte die Augen. Das war ihr eindeutig zu esoterisch. »Ich glaube auch nicht, dass Lohhausen Angst hat. Aber warum hat er keine? Er ist so sicher …« »Anna. Lass uns das jetzt durchziehen. Ich übernehme die Verantwortung. Wir rufen sicherheitshalber noch einen Rettungswagen und eine Einheit, die in Deckung bleiben und warten soll. Nach deinem Bericht bekomme ich bei der Polizei sowieso kein Bein mehr auf den Boden. Also ziehen wir die Aktion so durch.« »Ist das ein Argument? Das ist doch kein Argument.« Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn du keine besseren Gründe hast, dann lassen wir es.« Rocco hob beschwichtigend die Hände. »Ein kleiner Anfall von Fatalismus. Wird nicht wieder vorkommen, versprochen. Ich habe ja Argumente, die habe ich dir gerade genannt. Ich traue Lohhausen auch nicht über den Weg, das kannst du mir glauben. Wir treffen Vorsorge, Rettungswagen und Polizeieinheit, okay? Und dann gehen wir zusammen mit ihm da hoch.« Er blickte wieder nach oben, wo durch die Bäume ein kleines Stück des Turms zu sehen war, in dem der Franzose saß. Anna sah ihn nachdenklich an und nickte. Sie gingen zu Lohhausen zurück. »Gebongt«, sagte Rocco, was Lohhausen ein leichtes Lächeln entlockte. »Prima«, sagte er. »Dann los.« »Moment, Moment«, sagte Rocco. »So schnell geht das nicht. Ich muss mich erst noch mit der Zentrale in Verbindung setzen. Sie warten bitte mit meiner Kollegin hier. Wir müssen uns auch noch überlegen, wie wir unbemerkt in den Turm kommen. Der Franzose soll uns ja nicht gleich zu Gesicht bekommen, sonst können wir uns den ganzen Zirkus sparen. Vielleicht weiß ja dieser Parkwächter einen anderen Weg. Herr …« Rocco sah Lohhausen an und schnipste mit dem Finger. »Sie wissen doch sicher, wen ich meine … Herrn …« Lohhausen lächelte mitleidig, als würde er Rocco keine Silbe seines Gestammels abnehmen. »Herr Gerhardt weiß sicher einen Weg«, sagte er an Anna gewandt. »Ich gebe Ihnen seine Handynummer.« Gerhardt wusste einen Weg. Sie konnten vom See unterhalb des Plateaus, auf dem die Emichsburg stand, durch einen Gang und über Treppen, die auch von den Besuchern des Märchengartens genutzt wurden, bis ganz nach oben gehen. Der Franzose hatte von seinem Fenster aus keine Möglichkeit, diese Seite des Geländes zu übersehen. Lohhausen sollte auf Roccos Kommando den normalen Weg zur vorderen Tür nehmen, sodass der Franzose ihn von oben sehen konnte. Rings ums Gebäude, in sicherer Entfernung, hatten sich Polizisten und Scharfschützen postiert. Lohhausen stand im Nieselregen am Wegrand und wünschte sich, jetzt eine Zigarette zu rauchen. Er hatte das Rauchen schon vor einigen Jahren aufgegeben, doch gerade war eine Gelegenheit, wo er eine Zigarette hätte brauchen können. Nervös drückte er noch eine Demerol aus der Packung und schluckte sie. Soweit er das übersehen konnte, waren die Polizisten auf ihrem Posten und Marino und seine Assistentin mit Gerhardt auf dem Weg zum unteren Eingang. Er hatte also nicht viel Zeit. Anstatt darauf zu warten, dass sie auf Position waren, ging er schnellen Schritts auf die Tür zum Turm zu und hastete die Treppen hinauf. Das würde ihm ein paar Minuten verschaffen, bevor die anderen oben waren. »Hey, Schaminsky. Aufmachen!« Außer Atem klopfte er möglichst leise, aber mit der ganzen Faust, gegen die Tür. »Schaminsky.« Der Franzose öffnete und stand vor ihm. Er war mindestens einen halben Kopf kleiner als Lohhausen, allerdings viel breiter und massiger. Er kniff die Augen zusammen. Es dauerte einen Moment, bevor er Lohhausen im Zwielicht des Gangs zweifelsfrei erkennen konnte. In der Hand hielt er das Messer. »Kommen Sie rein«, knurrte er. Er ging zurück ins Zimmer und wirbelte das Messer mit leisem Klacken hin und her. »Was soll denn der Blödsinn?«, fragte er und zeigte mit der Messerspitze zum Fenster. »Ich hatte Sie gebeten, mir zu helfen, und nicht, mir das gesamte Ludwigsburger Polizeiaufgebot auf den Hals zu hetzen.« Lohhausen winkte ab. »Das ist Teil des Plans. Vertrau mir. Ich musste sie holen lassen, sonst wäre die Sache womöglich auf mich zurückgefallen. Aber die tappen völlig im Dunkeln.« »Na ja. Schon wieder ein Mord im Märchengarten … Das grenzt die Zahl der Verdächtigen doch ziemlich ein, nicht wahr?« Der Franzose mochte nicht der Hellste sein, aber völlig auf den Kopf gefallen war er nicht. »Hier.« Lohhausen hielt ihm eine Tablette hin. »Nimm erst mal. Das beruhigt die Nerven.« »Lassen Sie mich bloß mit Ihren scheiß Tabletten in Ruhe.« Der Franzose schlug nach Lohhausens Hand, verfehlte sie, und sah ihn aggressiv an. Lohhausen hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Beruhige dich. Es ist alles in Ordnung, kein Grund zur Panik.« Der Franzose atmete tief durch, setzte sich auf die Couch und legte das Messer vor sich auf den Tisch. »Ich bin ganz ruhig«, sagte er. »Aber Ihre Tablette fress ich nicht. Ich will jetzt endlich mal wissen, wie der Plan eigentlich aussieht. Ich brauche Geld und eine neue Identität. ’nen Pass«, fügte er hinzu, als müsste er Lohhausen erklären, was für eine neue Identität nötig war. »Das ist der Plan«, bestätigte Lohhausen. »Nur die Durchführung wird natürlich ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen.« Der Franzose nickte und ging übergangslos vom Sie zum Du über. »Siehst du, und genau das ist ein Problem. Zeit habe ich nämlich nicht, weil du die Bullen gerufen hast. Soll ich vielleicht hier oben sitzen und warten, bis du einen Pass besorgt hast? Willst du mir so lange in einem Körbchen das Essen bringen, wie Rotkäppchen der Großmutter?« Lohhausen ignorierte die offensichtliche Geschmacklosigkeit dieses Vergleichs genauso wie den Wechsel des Franzosen zum Du, auch wenn er es instinktiv ablehnte und den Distanzverlust quasi empfindlich, fast schmerzhaft registrierte. Er verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Das geht im Handumdrehen. Du wirst sehen.« Zum ersten Mal war ihm bewusst, dass er den Franzosen von jeher geduzt hatte. Doch jetzt, nachdem dieser ihn ebenfalls duzte, war das etwas völlig anderes, es hatte das Herablassende des Vorgesetzten zugunsten einer schmutzig-komplizenhaften Vertraulichkeit verloren. Lohhausen war versucht, den Franzosen künftig zu siezen. »Ich habe meine Quellen. Es dauert höchstens … zwei Tage, dann bin ich so weit.« »Zwei Tage?« Der Franzose sprang auf. »Du hast sie wohl nicht mehr alle. Zwei Tage.« Er schüttelte den Kopf. »Du denkst doch nicht allen Ernstes, ich würde hier zwei Tage rumsitzen und auf einen Pass und meine Kröten von dir warten, während es da unten von Bullen nur so wimmelt. Ach übrigens, ein paar Kröten … Dir ist schon klar, dass ich nicht mehr hierher zurückkann, oder? Ich muss mir eine völlig neue Existenz aufbauen. Da ist schon einige Kohle nötig.« »An wie viel hast du denn gedacht?« Der Franzose wurde ruhig und sah Lohhausen mit schmalen Augen abschätzend an. »200.000«, sagte er dann fast fragend. Lohhausen atmete aus und verzog den Mund. »Junge, Junge. Das soll wohl ein Witz sein, oder? Woher soll ich in zwei Tagen so viel Geld nehmen?« Der Franzose runzelte die Stirn. »Das ist mir scheißegal. Du weißt selbst am besten, was auf dem Spiel steht.« Er ging zum Fenster und sah hinaus. »Es geht ja nicht nur darum, meinen Arsch zu retten, sondern auch deinen. Wir sind ja beide irgendwie aufeinander angewiesen, nicht wahr?« Er grinste und sah hinunter. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Vögel, die vorhin in den Büschen herumgehüpft waren, waren verschwunden. Im nassen Braun und stumpfen Grün der Bäume rührte sich nichts. Es war sehr still, bis auf das ewige Rauschen der Marbacher Straße. Lohhausen schwitzte leicht und fragte sich, ob das von den Tabletten herrührte. Er war nervös und sah dem Franzosen wie gelähmt zu, als er zum Fenster ging. Jetzt oder nie, dachte er, bewegte sich aber kein Stück. Sein Plan – sein eigentlicher Plan – war riskant. Er hatte nicht viel Zeit und er konnte es sich nicht leisten, ihn mit Zweifeln oder irgendwelchen begründeten Aussetzern zu gefährden. »Ja, ja«, sagte er beiläufig anstatt einer vernünftigen Antwort. Die Worte lösten seine Starre und ganz mechanisch ging er zum Tisch, nahm das Messer und steuerte zielstrebig auf den Franzosen zu. Der Weg zum See und der unterhalb des Plateaus gelegenen Tür führte in einem Halbbogen durch den Garten und war um einiges weiter als gedacht. Rocco und Anna gingen ungeduldig hinter Herrn Gerhardt her. »Wir müssen uns beeilen, Herr Gerhardt. Wirklich, uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte Rocco angespannt. Anna warf ihm einen neugierigen Blick zu. Sollte er sich tatsächlich Sorgen machen? Möglicherweise hatte er diese Sicherheit verloren, dass alles wie selbstverständlich funktionieren würde. Und möglicherweise war das ihr Verdienst. Sie wusste nicht, ob sie stolz darauf sein sollte. Aber das konnte sie sich später überlegen. »Ja, ja«, sagte Gerhardt. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ich bemühe mich ja, aber ich kann eben nicht mehr so schnell.« »Schon gut«, sagte Anna. Schließlich erreichten sie den Teich, der dalag, als sei er bis zur steil aufragenden Felswand getrieben worden und könne nun nicht mehr weiter, eingeklemmt zwischen Felsen und Wiese, seltsam dunkel, moosgrün mit einer fast türkisfarbenen Tönung auf der einen Seite, auf die mehr Licht fiel. Es war leicht zu glauben, dass jederzeit etwas aus diesem Teich emportauchen konnte, etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Ein Arm, dachte Anna, ein Schwert oder … was weiß ich, eine Riesenschlange? Ein Grindel fiel ihr noch ein, aus einer düsteren Sage, die sie als Kind gelesen hatte. Oder das Unnennbare … Wie auch immer, sie hielt sich möglichst fern vom Ufer. Gerhardt schloss die Tür auf und Anna spurtete hinter Rocco die Treppe nach oben, so schnell sie konnte. Doch Rocco war schneller. Sie befand sich mindestens eine ganze Umdrehung der Wendeltreppe weiter unten, als er oben durch die offen stehende Tür raste. »Lohhausen … Oh, nein …«, hörte sie ihn rufen und rannte so schnell es ging weiter. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie oben ankam. In Gedanken hatte sie sich schon auf die nächste Katastrophe vorbereitet. Auch diese Aktion würde schiefgehen, wie alle in diesem vermaledeiten Fall. Als sie mit gezogener Waffe durch die Tür stürmte, saß Lohhausen neben der gedrungenen Gestalt des Franzosen. Rocco stand wenige Meter hinter ihnen, die Waffe im Anschlag. »Herr Lohhausen, gehen Sie weg von dem Mann. Bitte …«, sagte er laut. Lohhausen blickte auf und sah ihn an, atemlos und wie blind, als sei er eben aus einer dunklen Höhle nach draußen gerannt. Dann ließ er langsam die Hand des Franzosen los, die das blutverschmierte Messer umklammerte. Schaminskys Arm zitterte. Rocco wandte sich zu Anna um. »Ruf den Rettungswagen! Sofort.« Anna kramte ihr Handy aus der Tasche und verständigte die Sanitäter, die draußen warteten. Sie wandte keinen Blick vom Franzosen, dem aus einer klaffenden Wunde, die sich vom Hals herunterzog – die Größe des Schnitts war nicht eindeutig zu erkennen – in rhythmischen Abständen Blut quoll. Mit jedem Pulsschlag schwappte es heraus. Der Franzose versuchte etwas zu sagen, was einen kräftigeren Blutschwall aus seinem Hals zur Folge hatte. »Bleiben Sie ruhig liegen und sagen Sie nichts«, sagte Rocco und kniete sich neben ihn. Lohhausen war aufgestanden und sah Anna schuldbewusst an. »Mann«, sagte sie atemlos. »Ich … ich konnte nichts dafür, bitte glauben Sie mir«, stammelte Lohhausen. »Er ist einfach … Ich hätte das nie gedacht. Er ist einfach auf mich losgegangen. Er nahm das Messer und ich … durch einen glücklichen Zufall konnte ich ihn …« Sein Anzug war voller Blut, unmöglich zu erkennen, ob es nur das des Franzosen war oder auch sein eigenes. »Sind Sie verletzt?«, fragte Anna. »Ich glaube nicht … Ich weiß nicht.« Die Sanitäter kamen herein und schoben Rocco beiseite. Lohhausen nahmen sie gleich mit nach unten zum Rettungswagen. Bei Schaminsky versuchte ein Arzt, die Blutung zu stoppen, während die Trage nach oben geschafft wurde. »Was für ein Desaster.« Rocco ging mit Anna hinüber zum Rettungswagen, in dem Lohhausen behandelt wurde. Er hatte ein paar Kratzer an den Händen und am Handgelenk abbekommen. »Nichts Ernstes«, sagte er, als Anna auf seine bandagierte Hand zeigte. »Was ist passiert?«, fragte Rocco. Lohhausen zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Er ist auf einmal ausgerastet. So habe ich ihn noch nie erlebt. Ich habe ihm gesagt, dass er sich stellen soll, aber er wollte nicht. Ich sollte ihm da raushelfen, hat er gesagt. Aber … Ich hab ihm gesagt, das geht nicht. Na ja, er wusste ja, dass sie – die Polizei – da unten ist. Ich fürchte, da ist ihm die schwachsinnige Idee gekommen, mich als Geisel zu nehmen.« Lohhausen schüttelte den Kopf. »Übrigens habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt, dass er schon ein paar Mal bei mir aufgetaucht ist. Zu Hause, abends. Er wollte Geld von mir, weil er dachte, er könne mich wegen Nicoles Tod belasten. Weil ich sie ein paar Mal besucht habe.« Lohhausen stieß verächtlich Luft aus. »Ich habe Ihnen davon erzählt …« Roccos Handy klingelte. Er verzog unwillig den Mund, sah aufs Display und nahm ab. »Hallo«, sagte er und hob entschuldigend die Hand. Lohhausen kletterte zusammen mit ihm und Anna aus dem Rettungswagen: »Ja«, sagte Rocco. »Mhm.« Er warf Lohhausen einen erstaunten Blick zu und lächelte beruhigend. Drüben am Eingang zum Turm trugen die Sanitäter den Franzosen auf einer Trage zum Rettungswagen. Einer hielt einen Beutel mit einem Tropf in die Höhe. Es gab eine kleine Aufregung, als der Schlauch sich an einem Nagel oder einer Zarge im Türrahmen verhedderte. Der Arzt schnauzte den Sanitäter an. Ein Polizist kam dazu und löste den Schlauch. Im Laufschritt trugen die Sanitäter den Patienten zum Rettungswagen. Wenige Augenblicke später fuhren sie davon. »Vielen Dank.« Rocco legte auf und steckte das Handy ein. Um ihn herum räumten weitere Polizisten ihre Ausrüstung ins Einsatzfahrzeug. Einige standen am Wagen, rauchten eine Zigarette und warteten auf den Befehl zur Abfahrt. Rocco winkte Anna, die etwas abseits stand und ebenfalls telefonierte. »Pass mal auf«, sagte Rocco leise. »Dr. Mahler hat etwas gefunden. Das Glas von Lohhausen. Die DNS stimmt mit der überein, die wir bei Nicole Dahm gefunden haben.« »Welches Glas?«, fragte Anna, offensichtlich ohne die Tragweite der Nachricht sofort zu erfassen. »Ich habe ein Glas aus seinem Büro mitgenommen. Damals, nachdem wir PP im Krankenhaus besucht hatten. Ich habe es Dr. Mahler für eine DNS-Untersuchung gegeben.« Anna kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich hatte ihn gefragt, ob er mit einer Speichelprobe einverstanden wäre, richtig?«, fragte sie. Rocco nickte. »Ich glaube, er hat eindeutig Nein gesagt. Stimmt’s?« Rocco nickte. »Aber das ist jetzt doch nicht wichtig«, sagte er. »Fakt ist, dass die DNS von dem Glas mit dem Sperma, das bei Nicole Dahm gefunden wurde, übereinstimmt. Ist dir klar, was das bedeutet? Lohhausen lügt. Und zwar wie gedruckt.« »Dass der Kerl lügt, wenn er den Mund aufmacht, war mir schon klar. Aber Mord … Das habe ich nicht geglaubt, ehrlich … Als Beweis wird dein Glas allerdings kaum durchgehen.« »Pffh«, machte Rocco. »Den klopfen wir schon weich. Wo ist er überhaupt?« Der letzte Mannschaftsbus der Polizei fuhr gerade ab. Anna und Rocco standen allein vor dem Rapunzelturm. Von Lohhausen war keine Spur zu sehen. Kapitel 17 Lohhausen war einfach in dem Rettungswagen mitgefahren, der den Franzosen ins Krankenhaus brachte. Als Anna und Rocco dort ankamen, war er allerdings verschwunden. Auch zu Hause und in seinem Büro war Lohhausen nicht. Anscheinend war er kurz da gewesen, aber wie es aussah sofort wieder gegangen. Rocco fragte sich, ob Lohhausen wusste, dass er nun unter Mordverdacht stand. Allerdings war das fast unmöglich. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn zur Fahndung auszuschreiben und zu warten. Immerhin konnten sie in der Zwischenzeit die Beweislage verbessern. Beim Franzosen war zwar an eine Vernehmung nicht zu denken. Er lebte noch, lag nach einer Notoperation inzwischen allerdings im künstlichen Koma. Dafür statteten sie der Gerichtsmedizinerin einen Besuch ab. Rocco war wie immer ein wenig schwummrig bei dem Gedanken, doch es musste sein. »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient«, sagte er leise, als Anna ihn zum Eingang der Gerichtsmedizin schleppte. Das Gebäude erinnerte Rocco eher an eine düstere Fabrikhalle als an ein wissenschaftliches Institut. Fabrikhallen, hinter deren Mauern wissenschaftliche Experimente an Menschen durchgeführt wurden, kannte er nur zu gut. Mehrere US-amerikanische Filme berichteten davon … Dr. Mahlers Karnivore schien sich in dem schwülen Klima dieses regnerischen Sommertags ausgesprochen wohl zu fühlen. Sie schillerte in einem ungesunden, fleischlichen Violett, ihr Grün glänzte dunkel und war leicht gefleckt, wie bei einem Raubtier aus dem Dschungel. Vielleicht ist sie gerade gefüttert worden, dachte Rocco, möglicherweise aber auch noch nicht. Er achtete darauf, sich möglichst weit von ihrem potenziellen ›Einzugsgebiet‹ fernzuhalten. »Zweifelsfrei, meine Damen und Herren«, sagte Dr. Mahler gerade und hielt sich eine korallenrote Brille vor die Nase, ohne die Bügel aufzuklappen. »Die DNS an dem Glas, das Sie mir gebracht haben, und des Spermas bei Nicole Dahm sind identisch. Auch bei Herrn Paul haben sich Spuren dieser DNS gefunden. Die Tests bei Mindy Schneider müssen erst durchgeführt werden. Nachdem Herr Lohhausen ja nun wohl als flüchtig gilt, dürfte es wohl ein Leichtes für Sie sein, mir eine legale Probe zu bringen, von was auch immer, Speichel, Haar …«, fuhr Dr. Mahler fort. Rocco versuchte, die Vorstellung, die sich ihm als Nächstes in der Aufzählungskette aufdrängte, gar nicht erst bis in sein wortbildendes Bewusstsein vordringen zu lassen. Anna sah Dr. Mahler ob ihrer offensichtlich Roccos ähnlich laxen Haltung zur Legalität etwas pikiert an, sagte jedoch nichts. »Na ja, er hatte ja Streit mit Herrn Paul«, sagte Rocco. »Gut möglich, dass sie etwas handgreiflich geworden sind.« »Herr Paul hatte Hautpartikel von verschiedenen Leuten unter seinen Fingernägeln. Einer davon ist Herr Lohhausen«, sagte Dr. Mahler ungerührt. »Es gab den Versuch, die Fingernägel zu reinigen. Das ist aber nicht ganz gelungen.« Dr. Mahler seufzte und legte die Brille neben sich. Eine Blüte der fleischfressenden Pflanze begann vage zu schwanken und Rocco fragte sich, ob das am Thema lag. »Ich weiß auch nicht, was das soll«, fuhr Dr. Mahler fort. »Sie hätten ihm die Finger einfach abtrennen können. Aber nein, sie versuchen, die Nägel zu reinigen.« Sie tippte sich an den Kopf. Ihre Haare gaben nur zögernd nach, wie bei Drahtwolle, die man eindrückt. »Vielleicht hatten sie kein entsprechendes Werkzeug zur Hand«, spekulierte Anna. Dr. Mahler sah sie strafend an. »Ich könnte ihnen eine Methode sagen, bei der spezielles Werkzeug nicht unbedingt vonnöten ist.« Anna spitzte beeindruckt die Lippen und nickte. »Ich … ich muss jetzt los. Noch mal ins Krankenhaus«, sagte Rocco. Er war bleich und holte tief Luft. »Kommst du mit?« Anna schüttelte den Kopf. »Wir müssen ja nicht beide hin«, sagte sie. »Ich fange schon mal mit dem Papierkram an, würde ich sagen. Okay?« »O… Okay«, sagte Rocco. Er konnte in dieser Atmosphäre einfach nicht klar denken, geschweige denn verhandeln oder argumentieren. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, Anna würde nicht mit ›dem Papierkram‹ anfangen. Sie wollte endlich mit ihrem Bericht beginnen … Es brannte ihr unter den Nägeln, seine sämtlichen Verfehlungen aufzulisten. Wie viele waren es? Er konnte sich an keine Konkreten erinnern. In Annas Augen waren es wahrscheinlich Hunderte. Rocco wusste ja nicht, dass sie Krankenhäusern gegenüber eine ähnliche Aversion hegte wie er gegenüber gerichtsmedizinischen Instituten. Egal. Er musste hier raus. »Bis später«, stammelte er, zog die Tür hinter sich zu und hastete den Gang entlang nach draußen. Im Krankenhaus bekam Rocco immerhin einige aufschlussreiche Auskünfte über die Art und das Zustandekommen der Wunde des Franzosen. Er stand mit dem Arzt auf dem Gang, in der Nähe der Tür zur Intensivstation, durch die blaubekittelte Schwestern und Pfleger aus und ein gingen, teilweise mit den schweren Krankenhausbetten, die sie mit einem mehr spür- als hörbaren Geräusch über den Linoleumboden schoben. Der Arzt, ein älterer Herr mit kurzgeschorenen, graumelierten Haaren und einer goldenen Brille, die an einer ebenfalls goldenen, dünnen Kette um seinen Hals baumelte, führte ihm vor, wie der Stoß mit dem Messer wahrscheinlich ausgeführt worden war. »So …«, sagte er, hob den Arm, holte aus und führte das imaginäre Messer von oben nach unten auf seinen eigenen Leib zu. Rocco runzelte die Stirn. »Moment mal«, sagte er. »Können Sie das mal an mir demonstrieren?« »Ja, natürlich.« Der Doktor drehte Rocco um, umfasste mit dem linken Arm seinen Hals und simulierte mit dem rechten den Stich unters Schlüsselbein. »Der Täter hat den Mann von hinten gepackt«, führte er gleichzeitig aus, »und ihm das Messer von oben nach unten in die Brust gerammt. Es ist ein sehr scharfes Messer gewesen und es drang tief ein. Normalerweise würde man das Messer bei dieser Haltung in einem ähnlichen Winkel wieder herausziehen, aber in diesem Fall hat der Täter es weiter nach unten gedrückt und mit einer Schwenkbewegung wieder herausgezogen, wahrscheinlich mit der Absicht, die Wunde zu vergrößern und so sein Opfer sicher mit einem Stich zu töten.« »Sie gehen also von einer Tötungsabsicht aus?«, fragte Rocco. »Bei dieser Art Wunde? Auf jeden Fall.« Von wegen Notwehr. Rocco dachte an die Geschichte, die Lohhausen Anna und ihm aufgetischt hatte. Der Arzt bestätigte das: Diese Wunde könne kaum zufällig zustande gekommen sein, indem einem potenziellen Angreifer die Hand umgebogen und damit dann zugestochen worden war. Dafür sei der Stich zu tief und der Winkel zu steil. Rocco schwante Böses. So wie es inzwischen aussah, war Lohhausen zum zweifachen Mörder geworden. Es wurde immer deutlicher, dass er an allen Morden – bis auf den an Mindy Schneider, und wer wusste das schon so genau – mindestens beteiligt gewesen war. Wenn das stimmte, was der Doktor ihm auf dem Gang demonstriert hatte, dann deutete die Verletzung des Franzosen auf einen vorsätzlichen Mordversuch hin. Lohhausens Methoden, die Renovierung seines Vergnügungsparks zu gewährleisten, waren Rocco eindeutig zu rustikal. Er musste ihn schnellstens finden. Rocco informierte Anna per Handy über die neuesten Entwicklungen. Sie war im Büro, aber Rocco ging nicht zurück ins Präsidium. Was sollte er dort? Anna zuschauen, wie sie ihren verdammten Bericht schrieb? Er konnte nichts tun, als zu warten. Also traf er sich auf ein Bier mit Louis. »Einen schönen Arbeitgeber hast du dir da ausgesucht«, sagte Rocco, als sie im Café saßen. »Moment mal«, protestierte Louis. »Ich bin Freiberufler. Selbstständig, klar? Mit diesen Wahnsinnigen habe ich nichts – na, sagen wir mal, nur peripher – zu schaffen.« Rocco nickte resigniert und nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Wo ist deine Kollegin?«, fragte Louis. »Ich meine natürlich, deine schöne Kollegin.« Rocco warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Die schreibt gerade an meinem Todesurteil.« Er erzählte Louis von Annas moralischen Bedenken, was sein Vorgehen im Fall Nicole Dahm anging. Gleichzeitig überlegte er sich, ob er damit nicht schon wieder gegen eine Vorschrift verstieß. Aber das war ihm mittlerweile egal. Er nahm noch einen großen Schluck. Louis lachte. »Schön und integer. Moralische Grundsätze. Diese Frau ist einfach bewundernswert.« »Super. Darf ich dich daran erinnern, dass du nur aufgrund meiner moralischen Grundsätze hier vor einem Bier sitzt und nicht im Bau?« »Na, na«, sagte Louis mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton. Aber er zog es vor, das Thema nicht weiter auszubreiten. »Die kriegt sich schon wieder ein. Sag ihr einen Gruß von mir.« »Vielen Dank für dein Mitgefühl. Ich kann dir nur eins sagen, mein Lieber: Wenn ich bei der Polizei rausfliege, dann ist die Schonzeit für dich vorbei.« »Hey, hey.« Louis tippte sich an die Stirn. Das ging zu weit. »Du vergisst wohl, was ich schon alles für dich getan habe.« »Das ist dann im wahrsten Sinne des Wortes Schnee von gestern, mein Lieber.« Rocco zog ungefähr eine Sekunde lang eine gewisse Freude an seinem Wortspiel. Dann verfiel er wieder dem Trübsinn. Weltverachtende Melancholie ist der bessere Ausdruck, dachte er. »Anna würde mir nie etwas anhängen«, sagte Louis überzeugt. »Hä?«, machte Rocco. »Sollte ich da etwas verpasst haben?« Er dachte kurz darüber nach, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass Anna besonders viel für diese portugiesisch-schweizerische Kröte aus der Halbwelt übrig hatte. Und Louis neigte dazu, sich die Welt immer ein bisschen so hinzudrehen, wie es ihm passte. Rocco schüttelte den Kopf. Ihm fiel ein, dass er eigentlich bei Natale zum Essen eingeladen war. Aber wenn seine Seele schmerzte, war es ihm viel zu anstrengend, mit Natale zu essen. Unerträglich sozusagen. Und seine Seele schmerzte gerade, auch wenn er nicht so genau wusste, warum. Ach, er wusste es, es war einfach alles, ein Konglomerat aus seiner Zuneigung und seinem Ärger Anna gegenüber. Dass sie ihn beispielsweise zwang, sich und sein Handeln zu hinterfragen, was er nie gerne tat. Dass er es trotzdem machte. Dass der Fall so aus dem Ruder gelaufen war. Dass Roth ihn zur Zurückhaltung verdonnert hatte. Dass Lohhausen weiterhin auf freiem Fuß war. Und so weiter und so fort. Ach, er ärgerte sich einfach über alles und beschloss, noch ein Bier zu trinken und Natale abzusagen. Später wälzte Rocco sich in seinem Bett herum und konnte nicht schlafen. Er horchte auf die Geräusche der Nacht, das leise Summen von der Stuttgarter Straße, auf der zu jeder Tages- und Nachtzeit ein paar Autos unterwegs waren. Seine Augen und Ohren waren da draußen und er versuchte, die Geräusche auseinanderzuhalten und im Geist die adäquaten Bilder auf seine Netzhaut zu projizieren. Motorrad, Auto, Motorrad, Auto, das war die einfachste Übung. Ein Seufzen, wie wenn einem Reifen die Luft abgelassen wurde, war das Lösen der Bremse eines LKWs. Lachen, jemand warf eine Flasche auf die Straße, ein Tritt gegen einen Laternenpfahl oder einen Mülleimer. Das Übliche … Irgendwo hörte er ein Käuzchen oder etwas Ähnliches. Wahnsinn, dachte Rocco unbeeindruckt. Mitten in der Stadt … Er drehte sich um. Das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln am Hohenzollernplatz. Ein Schrei, Gelächter … War da nicht ein Sirren? Er drehte sich um. Etwa im Zimmer? Sein Handy leuchtete auf, bevor der Klingelton losging. Wie eine Sprungfeder klappte Rocco im Bett hoch und nahm ab. Seine Augen starrten in die Dunkelheit und fühlten sich an den Rändern leicht brennend an, wie bei jemandem, der eigentlich schlafen sollte, aber hellwach gelegen hatte. Es war kurz nach zwei Uhr nachts. »Marino?«, flüsterte er ins Telefon, obwohl er niemanden stören würde, wenn er laut spräche. Er hörte zu. »Okay. Unternehmt nichts. Ich bin sofort da.« Als hätte er nur darauf gewartet, fand er seine Kleider im Dunkeln, zog sich rasch und leise an und ging. Zwei seiner Kollegen, ein jungenhafter Blonder mit den spärlichen Ansätzen eines Schnauzbarts, und sein älterer, behäbiger Kollege, hatten Lohhausens Büro überwacht. Kurz nach Mitternacht war ihnen ein dünner Lichtstrahl aufgefallen, der nur kurz im Eingangsbereich aufgeleuchtet hatte. Der Blonde war ums Haus gegangen, nach hinten auf den Parkplatz. Dort schimmerte durch einen Spalt in den heruntergelassenen Jalousien ebenfalls ein schwacher Lichtschein. Kurz darauf traf Rocco ein. »Der Mann hat das Gebäude gerade eben wieder verlassen«, sagte der Ältere zu Rocco. »Ich fürchte, er hat uns gesehen.« »Wo ist er hingegangen?«, fragte Rocco. Die beiden deuteten in Richtung Schloss, die Fasanenstraße hinunter. »Okay, dann gehen wir beide langsam hinterher.« Er tippte dem Blonden auf die Schulter. »Und du holst den Wagen, falls er auch einen da unten stehen hat«, sagte er zu dem anderen. Leise, aber nicht gerade unauffällig gingen die beiden die Fasanenstraße hinunter, hinter Lohhausen her. Rocco war sicher, dass es sich um Lohhausen handelte. Wer sonst hatte nachts etwas in diesem Büro verloren? Er vermutete, Lohhausen wollte sich aus dem Staub machen, aber nicht ohne gewisse Papiere. Rocco war es gar nicht so unrecht, dass Lohhausen sie bemerkt hatte. Das würde ihn verunsichern, und solange sie ihn mit einem größeren Abstand verfolgten, glaubte Lohhausen sicher, schnell verschwinden zu können. Somit drohte kaum Gefahr, dass er vielleicht ausrasten und um sich schießen würde. Lohhausen steuerte im Schatten der Häuser und Bäume auf den Schlosspark zu. »Okay«, flüsterte Rocco dem Blonden zu. »Ich glaube, ich weiß, was er vorhat. Er will in den Park, da kann er sich verstecken und an irgendeinem beliebigen Ort wieder über den Zaun oder die Mauer klettern und verschwinden. Gehen Sie zurück zum Auto, alarmieren Sie ein Einsatzkommando. Wir müssen versuchen, den Park zumindest so abzusperren, dass er nicht unbemerkt abhauen kann. Ich gehe hinter ihm her.« Lohhausen verließ den Schatten der Häuser, überquerte schnell die Schorndorfer Straße und kletterte über die Mauer in den Schlosspark. »Los geht’s«, sagte Rocco und rannte los. »Aber ich kann Sie doch nicht allein lassen«, rief der Blonde hinter ihm her. »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, schrie Rocco über die Schulter, und sein Atem und seine Worte klangen unnatürlich laut, fast brutal durch die Nacht. Kaum war er über die Straße und im Dunkel des Schlossgartens gelandet, umfing ihn die Stille wieder. Wo war Lohhausen? Rocco ging in die Hocke und schöpfte Atem. Während er mit dem Blick die gelbbeleuchtete Fassade des Schlosses absuchte, kramte er sein Handy heraus und rief Anna an. Es klingelte höchstens drei Mal, dann war sie am Apparat. »Schläfst du nicht?«, fragte Rocco. »Was ist los?«, erwiderte Anna, anstatt zu antworten. »Ich bin im Schlossgarten. Lohhausen ist hier, und ich glaube, er will runter in den Märchengarten und sich von dort aus dem Staub machen. Ein Einsatzkommando ist auf dem Weg …« »Ich komme«, sagte Anna. Rocco sah für ein paar Sekunden im Licht eine Gestalt am rechten Ende des Schlosses auftauchen. Lohhausen nahm den Weg nach unten zur Emichsburg und dem Märchengarten. »Geh unten rein, von der Marbacher Straße aus«, sagte er ins Handy und legte auf. Er stieß sich von der Wand ab, rannte gebückt nach rechts und dann zwischen der Mauer und den Hecken entlang hinter Lohhausen her. Die Lichter hüllten das Schloss, das Rocco linker Hand liegen ließ, in ein sandiges Gelb. Geländer, Brüstungen, Hecken und Figuren warfen ein nuancenloses, verzerrtes Schwarz als Schatten auf die Fläche des Gebäudes. Rocco starrte gebannt ins Dunkel vor sich, das immer schwärzer wurde, je näher er der Allee mit ihren Bäumen kam, die zur Emichsburg und zum Märchengarten führte. Als er ihr folgte, war es so dunkel, dass er fast nur tastend vorwärts kam. Geräusche irritierten ihn und er wunderte sich, dass Lohhausen schneller vorwärts kam als er, bis ihm einfiel, dass das wahrscheinlich keineswegs der Fall war. Es war nur der Eindruck völliger Einsamkeit, den die Dunkelheit vermittelte, der ihn annehmen ließ, Lohhausen sei schon auf und davon. Nach einiger Zeit gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel. Der feine helle Schotter und der Sand des Weges strahlten förmlich. Es erinnerte Rocco an das biolumineszierende Glimmen der Pilze im Keller von Garcia und McCarthy – und zog sich als vage schimmerndes Band durch die Bäume und Büsche. Er kam wieder etwas schneller voran. Doch plötzlich befürchtete er, dass Lohhausen sich seitwärts in die Büsche geschlagen hatte, um ihm aufzulauern, und er ging wieder langsamer und versuchte auf jedes Geräusch zu achten. Schließlich erreichte er den Rapunzelturm. Auf dem Plateau der Emichsburg war es ebenfalls etwas heller. Er trat ans Geländer und sah hinunter auf den schwarzen See und den graugrün schimmernden Rasen. Nichts … oder doch? War da unten, im Schatten, nicht eine Bewegung gewesen? Rocco hörte ein leises Lachen. Konnte das sein? Ja, da wieder. Ganz deutlich war ein Lachen zu hören. War Lohhausen verrückt geworden? Dann zerriss ein Schuss die Stille, und gleich darauf krachte aus einer anderen Richtung noch einer. Rocco stieß sich vom Geländer ab und rannte den Weg hinunter. Kapitel 18 Alles war lichtlos und hoffnungslos. Wie ein Hängen in der Ursuppe, keine Grenze nach unten und keine Grenze nach oben. Graues Plasma, das sich erst ganz allmählich kristallisierte, herausbildete zu unterschiedlichen Dingen wie zum Beispiel ihm oder einem Weg oder einer Wiese. Und trotzdem blieb das schleimige Element immer Teil dieser Welt. Eine Schnecke zog ihre Schleimspur direkt über ihn hinweg. Sie war so riesig, dass er drohte, darin zu ersticken. Wenn er nur einen Revolver hätte, er würde es ihr schon zeigen. Aber was sollte ein Revolver schon ausrichten? Er würde ein paar Löcher in das riesige, graue Schleimding schießen. Und die Lücke würde sofort wieder geschlossen werden vom fließenden Schleim. Abgesehen davon war es mehr als wahrscheinlich, dass auch der Revolver ihm direkt in der Hand zerfließen würde, war er doch aus demselben organischen Matsch gemacht wie er, wie die Schnecke, die Wiese, der Weg. Fuck. Ag­gre­gatzustände waren hinfällig, jedermann und jedes Ding hatten dieselbe Konsistenz. Individuum war gestern. »Verdammte Scheiße«, fluchte Garcia. »Was ist das für eine Scheiße.« Es war offensichtlich, dass die grandiosen Visionen vorbei waren. Für immer nur noch Dreck. Hirngrau. Die Masse dachte wie er oder dachte er wie die Masse? Das war die falsche Frage, fiel ihm ein. Es musste lauten: Dachte die Masse mit der Materie, mit der er dachte oder dachte er mit der Materie, mit der auch die Masse dachte? Er war Teil der Masse. Sein Hirn zerfloss … Was hatten er und McCarthy da nur genommen? Oder würde noch etwas von dem Zeug, das er da in der Tasche hatte, ihn nicht doch retten können? Dieser schleimige Klumpen Shit auf Basis von … Marx und Engels … Was weiß ich, dachte Garcia und fing an zu schwitzen. Er musste das unbedingt notieren, für ihre Forschung. Morgen … Aber daran scheiterten ihre Experimente meistens, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr wussten, was sie sich notieren wollten, sondern nur noch, dass sie sich etwas notieren wollten … Also, wo war der Stift? Aber da fiel ihm ein, dass ein Stift ihm nichts nutzen würde, denn er wäre aus der gleichen Materie und von der gleichen Beschaffenheit wie er selbst, und auch das Blatt, wenn er denn eines zur Hand hätte – was heißt hier Hand? –, konnte keine sichtbaren Zeichen bewahren, gleich auf gleich … Er musste sich alles merken. Nur wie? Irgendwie fühlte sich alles schleimig an wie der Moder, aus dem man Frösche und Molche und Viecher, halb Fisch, halb Fleisch aus dem Fluss zog, halb Pflanze, halb Tier. »Halb, halb«, murmelte er vor sich hin. Mit zitternden Händen zog er ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sich einen schleimigen Spliff unförmiger Form an, kniete nieder und stützte sich mit den Händen ab, sodass er wie ein niedriger Holzbock quer über dem Weg hockte. Der Rauch zog ihm in die Augen, was ihm ein leises Lachen entlockte. Er hörte schnelle Schritte und im selben Moment rannte ihm jemand in die Seite und flog über ihn. Der Spliff flog Garcia aus dem Mund und er krümmte sich zusammen. Lachend tastete er den Boden ab auf der Suche nach dem rauchenden Mistding, als jemand – Garcia nahm an, es war der Typ, der über ihn gestolpert war – in seiner unmittelbaren Umgebung einen Schuss abfeuerte. »Scheiße«, sagte Garcia und versuchte, in eine Art Anabiose zu fallen, als aus einer anderen Richtung – aber was heißt schon Richtung, wenn man in der Ursuppe schwamm – noch ein Schuss fiel. Wo war eigentlich dieser verdammte McCarthy? Nie war er greifbar, wenn man ihn brauchte. Mit der Routine eines altgedienten Militärpolizisten der US-amerikanischen Streitkräfte konstatierte Garcia, dass es sich um zwei unterschiedliche Waffen handeln musste. Des Weiteren ging er davon aus, dass die Schüsse eigentlich nicht ihm galten, sondern dem jeweils anderen waffentragenden Kontrahenten. Vorsichtig machte er sich also wieder auf die Suche nach seinem Spliff – er hatte das Gefühl, als könne der ihn aus der ausweglosen, allumfassenden Ursuppensache befreien – als er hinter sich ein leises Klicken hörte. »Langsam aufstehen. Hände über den Kopf.« Garcia hustete und versuchte zu lachen. »Ich … ich …«, keuchte er. »Machen Sie schon. Stehen Sie auf.« Mühsam erhob sich Garcia auf beide Beine und kam in das vage Licht, das den Park von der Straße und vom Schloss her schummrig erhellte. »Er ist da lang«, sagte er und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Oh, nein. Sie schon wieder.« Garcia hörte ein genervtes Ausatmen, dann erkannte er Anna, die nahe an ihn herantrat und die Waffe sinken ließ. »Hallo«, sagte er charmant. »Ist an Ihnen gerade ein Mann vorbeigerannt?« »Was heißt vorbei?«, kicherte Garcia. »Was heißt vorbei?« Anna schüttelte den Kopf. »Mann, das heißt, ob jemand bei Ihnen vorbeigekommen ist.« Garcia musste lachen. »Nein«, sagte er. »Es ist anders …« Er wurde unterbrochen. »Anna?«, flüsterte es aus der Dunkelheit. »Rocco?«, fragte sie zurück. »Hast du geschossen?« »Ja. Der erste Schuss kam von Lohhausen. Hoffe ich.« »Ich habe jedenfalls nicht geschossen. Hast du ihn?« »Nein. Ich hab hier deinen durchgeknallten Drogen-Freak.« Sie wandte sich wieder an Garcia. »Ist Ihr Kumpel auch hier auf dem Gelände unterwegs?« »Ja.« Garcia schüttelte den Kopf. »Und was sollte das heißen, ›Er ist da lang‹, wenn doch angeblich niemand hier vorbeigekommen ist?« »Na ja. Er ist ja gar nicht an mir vorbei … er ist in mich hineingerannt. Voll auf mich drauf … Rums. Und hat einen Schuss auf mich abgefeuert«, sagte Garcia und schlug mit der Faust in seine Handfläche, was ihn fast das Gleichgewicht gekostet hätte. »Anna.« Rocco nahm sie am Arm. »Geh du in Richtung Stuttgarter Straße, okay? Ich gehe rüber zum Märchengarten. Irgendwo wird er versuchen, über die Mauer zu kommen. Entweder erwischen wir ihn hier drin, oder die Kollegen schnappen ihn sich draußen.« »Okay«, sagte Anna und ging los. »Und du, rühr dich nicht von der Stelle, klar?«, sagte Rocco zu Garcia. »G-Geht klar«, sagte Garcia und versuchte zu salutieren. Als Rocco weg war, ging er wieder auf die Knie und suchte den Boden nach seinem Piece ab. Sicher war das Ding ausgegangen … Langsam bewegte sich Anna vorwärts, die Waffe im Anschlag. Die Dunkelheit war um diese Zeit am tiefsten, und auch wenn die Beleuchtung des Schlosses und die Straßenlaternen etwas Licht in den Park abstrahlten, war wenig zu erkennen außer die sich dehnenden Schatten der Büsche auf der helleren Wiese. Auf einmal kam es ihr so vor, als könnten alle sie sehr gut sehen, wie sie den Weg entlangging, während sie selbst mit Blindheit geschlagen war. Die Dunkelheit knisterte elektrifiziert an ihrem Ohr, so angestrengt versuchte sie, die leisen Geräusche des Parks und der Autos draußen zu differenzieren und das andere, Wichtige zu filtern. Sie beschloss, den Weg zu verlassen, der sie doch berechenbar machte. Langsam näherte sie sich der Schlossmauer an der Stuttgarter Straße und blieb stehen. Zwischen den Büschen und Sträuchern vermeinte sie, eine dunkle Gestalt zu erkennen, die dicht unterhalb der dunkelgolden glänzenden Statuen stand, die vom Mauersims aufragten. »Nehmen Sie die Hände hoch«, sagte Anna langsam und deutlich. »Sofort.« »Jetzt ist es ziemlich schlecht«, erwiderte die Gestalt, hob aber zögernd die Hände, als würde sie balancieren. Anna trat näher. »Was machen Sie da?« »Bis gerade eben habe ich gegen die Mauer gepisst, ich gebe es zu. Jetzt geht es wohl eher über meine Schuhe.« Die Hose der Gestalt rutschte langsam nach unten und offenbarte einen Hintern, der im vagen Licht bleich leuchtete. Der Mann drehte sich um. »Ach, du Sch…« Es war McCarthy. »Drehen Sie sich sofort wieder um und ziehen Sie Ihre Hose hoch«, befahl Anna. McCarthy gehorchte mit einem leisen Stöhnen. »Was machen Sie hier?«, fragte Anna noch einmal. »Sind Sie allein?« »Garcia muss hier irgendwo stecken«, sagte McCarthy. Anna verdrehte die Augen. »Ja«, sagte sie. »Warum sind Sie hier?« McCarthy hob seine schwach ausgeprägten, blassen Brauen und sah Anna geheimnisvoll an. »Sie wissen doch …«, begann er. »Ach, du meine Güte …«, sagte Anna ahnungsvoll. »Schweigen Sie.« Sie wollte jetzt ganz bestimmt nichts hören von der CIA, irgendwelchen Experimenten, Batman oder riesigen Pilzen mit halluzinogener Wirkung und paranormalen Aktivitäten. »Bleiben Sie hier und verhalten Sie sich ruhig. Klettern Sie nicht über die Mauer.« Als ob McCarthy dazu imstande wäre. »Okay?« »Das hatte ich nicht vor.« McCarthy machte auf Anna einen etwas desorientierten Eindruck. Er war zappelig, es fiel ihm offensichtlich schwer, ruhig stehen zu bleiben. Anna konnte und wollte jetzt nicht beurteilen, ob das an diversen Drogen lag oder daran, dass er sein Geschäft nicht vollständig erledigt hatte. Sie überlegte stattdessen, was zu tun war. Der Park war hier zu Ende, und weit und breit war kein Lohhausen zu sehen. Das konnte nur heißen, dass er entweder über die Mauer geklettert war oder sich auf der anderen Seite des Parks im Märchengarten befand. Dort also, wo Rocco nach ihm suchte. Sie beschloss, ihm zu folgen. Rocco hatte sich schon gedacht, dass Lohhausen versuchen würde, den Park durch den Märchengarten zu verlassen. Dort war es dunkler als im Schlosspark. Und es gab die Möglichkeit, über den Zaun in eine der schmalen Anliegerstraßen und in die Hintergärten der Häuser zu flüchten, die sich direkt an den Märchengarten anschlossen. Rocco schlich zwischen den Hütten und Bäumen hindurch, bemüht, möglichst wenige Geräusche zu verursachen. Andererseits versuchte er wie Anna, die leisen Geräusche der Nacht voneinander zu trennen und zu erkennen. Ein leichtes Kribbeln stieg ihm den Rücken hinauf, und auch wenn er keine Ahnung hatte, wo Lohhausen sich befand, so war es doch ein untrügliches Zeichen, dass er in der Nähe war. Es drohte Gefahr. Das Gefühl war wieder da. Sein untrügliches Gefühl. Oder stellte sie sich lediglich ein, weil es seit jeher ein Ur­instinkt und Selbstschutz des Menschen war, mehr als vorsichtig zu sein, wenn er nachts allein durch die Wildnis streifte? Ach was, dachte Rocco. Es war die Kraft, die Energie, die ihn warnte und schützte. Sie bezog sich auf Lohhausen oder er bezog sie auf Lohhausen. Völlig egal, wie, Hauptsache, es funktionierte. Langsam, aber stetig arbeitete er sich zwischen Märchen, Bäumen und Sträuchern vorwärts. Plötzlich blieb er stehen. Er musste schon ziemlich weit gekommen sein. War da nicht ein Keuchen? Das Klicken eines Schlüssels? Ein dunklerer Schatten vor den dunklen Schatten der Nacht? Das Tor drüben beim Drehkreuz, das einen Ausgang zur Planckstraße markierte, quietschte leise. Rocco rannte los. »Lohhausen«, schrie er. »Bleiben Sie stehen.« Da drüben am Ausgang gab es wieder Straßenbeleuchtung, und von Weitem konnte er ihn sehen. Lohhausen schlug das Tor mit Schwung zu und rannte die Planckstraße hinauf. Als Rocco am Tor ankam, war er bereits ziemlich weit entfernt. Er zerrte das Handy aus seiner Tasche und während er am Tor rüttelte, rief er Anna an. Das Tor war verschlossen. »Er rennt hoch Richtung Schorndorfer«, rief er ins Handy, als Anna abhob. Ihre Antwort nicht abwartend steckte er das Telefon wieder ein und kletterte über das Tor. Lohhausen war um eine Ecke gebogen, trotzdem rannte Rocco los, um ihn einzuholen. Lohhausen würde ja vielleicht versuchen, zu seinem Auto zu kommen, und dann musste er zurück zu seinem Büro. Auf Dauer würde es ihm nichts nützen, sich in den Gärten des Viertels zu verstecken. Rocco war sich sicher, dass sie ihn früher oder später dort erwischen würden. Lohhausen musste zu seinem Wagen. Dort waren seine Sachen, damit konnte er erst einmal aus der Stadt verschwinden … Alles wird sich aufklären, dachte er, während er die Straße hinaufrannte, keuchte und manchmal stolperte, vorbei an den Einfamilienhäusern mit ihren Gärten, vorbei an den ordentlichen Hecken und Zäunen, die diese kleinen Festungen von den Unbilden des täglichen und nächtlichen Lebens abschirmten, die jede eine Welt für sich darstellten, ein Leben, ein Denken, einen Kosmos neben vielen … Lohhausen kam es vor, als sei Weihnachten, und er der einzige Mensch, der sich durch die Kälte, den Matsch und Schnee da draußen kämpfen musste, während alle anderen sich mit ihren Familien um den Weihnachtsbaum oder die Gans versammelten, in Eintracht ein Lied trällerten, die Kinder mit vom Kerzenlicht glänzenden Augen aufs Christkind warteten … das reichte jetzt. Es war Sommer. Im Leben wäre er nicht auf die Idee gekommen, sich in einem dieser Gärten zu verstecken. Waren die Nerven mit ihm durchgegangen? War es nötig gewesen, wegzulaufen? Er war sich nicht darüber im Klaren gewesen, bis er im Büro seine Verfolger bemerkt hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war er noch der Meinung gewesen, er könne seinen Aufbruch – er scheute sich, es Flucht zu nennen – in Ruhe vorbereiten, und müsste nur gegebenenfalls, sollte der Franzose aus dem Koma erwachen, auch tatsächlich gehen. Ansonsten hatte er bis vor ein oder zwei Stunden – sein Zeitgefühl war ihm seit der Jagd durch den Park und den Märchengarten abhandengekommen – noch daran geglaubt, als unbescholtener Bürger sein Projekt fortführen zu können. Aber es hatte ihn aus dem Konzept gebracht, dass Marino aufgetaucht war. Er wollte eigentlich nur testen, ob sie ihn verfolgten, wenn er ging. Es war wie ein Spiel. Würden sie ihm folgen? Würden sie ihm über die Straße, über die Mauer folgen? Er konnte doch jederzeit aus dem Schatten treten und sagen: »Hallo, Marino.« Doch das tat er nicht und plötzlich, auf einen Schlag, hatte sich die Gewissheit eingestellt: Sie wussten alles. Alles? Was konnten sie schon wissen? Ist denn nicht alles zum Wohl der Stadt geschehen?, dachte Lohhausen verbissen, während er in eine Seitenstraße abbog. Was war denn mit den anderen, die sich hatten schmieren lassen, die auf seine Bedingungen eingegangen waren, freudestrahlend … Die nur das Geld witterten … Wer sollte etwas dagegen haben, wenn er ebenfalls davon profitierte? Denen war doch alles scheißegal, solange sie davon profitierten. Sie mussten, sie würden ihn beschützen. Sein grandioser Plan. Diese Stadt war einfach nicht reif für ihn und seine Ideen, konstatierte er verächtlich. Hetzten ihm die Polizei auf den Hals. Ignoranten. Im Laufen drückte er eine Demerol aus der Verpackung und schluckte sie. Er wusste nicht mehr, wie viele es heute schon gewesen waren … Da oben, das musste die Schorndorfer Straße sein. Bald war er oben, bei seinem Auto. Alles würde sich aufklären … Lohhausens Muskeln versagten beinahe, aber er registrierte es nicht. Er atmete schwer und wurde langsamer, als er die große Straße erreichte. Zuerst nahm er nichts wahr als das schwere Licht. Es fuhren keine Autos, es ging kein Wind, die Wolkendecke war aufgerissen, wegen der Straßenbeleuchtung konnte man die Sterne nicht erkennen. Lohhausen wischte sich mit einer automatischen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Nur langsam realisierte er die Polizisten, die auf der Straße auf ihn zukamen. Vor ihnen her ging Anna, die Waffe in der Hand. Sie hatte vom Park aus den Weg durch den oberen Schlossgarten genommen. Wie geblendet blieb Lohhausen stehen. Er sah zurück in die kleine Seitenstraße, aus der er gekommen war, und erkannte Rocco, der auf ihn zujoggte. Er konnte … Aber er konnte nicht mehr. Nur einen kleinen Augenblick, dachte er. Ich brauche nur einen kleinen Augenblick. Lohhausen rang nach Luft, stemmte die Hände in die Hüften und sah aus den Augenwinkeln auf Rocco, der langsam näher kam. Gleich konnte er weiter … »Lohhausen«, hörte er eine Stimme ganz in seiner Nähe. Konnte das sein? Konnte Marino ihm in dieser kurzen Zeit so nahe gekommen sein? Er erinnerte sich an eine andere Gelegenheit, in der die Zeit sich nicht wirklich stringent verhalten hatte. Das Aas … Ach ja, da gab es viele Gelegenheiten … Lohhausen lächelte. Warum ausgerechnet jetzt? »Lohhausen?« »Lassen Sie mich in Ruhe«, hörte er sich sagen. »Lohhausen. Ich nehme Sie fest. Wir verdächtigen Sie des Mordes an Nicole Dahm und Peter Paul und des versuchten Mordes an …« Rocco fiel der Vorname des Franzosen nicht ein. Das brachte ihn kurzfristig aus dem Konzept, aber er fing sich wieder. »Schaminsky. Bitte begleiten Sie mich aufs Präsidium und geben Sie mir Ihre Waffe.« Erst jetzt wurde Lohhausen bewusst, dass er ja noch die Pistole in der Hand hielt. Der Griff war warm und schweißnass. Lächerlich. Er hatte nur einen Schuss abgefeuert. Es waren also noch genug Kugeln vorhanden, um zumindest aus Marino ein Sieb zu machen. Lohhausen lächelte. »Was wissen Sie schon«, sagte er verächtlich. Sein Blick schweifte unstet umher und fiel schließlich auf ein Plakat: ›A fairy tale comes true‹ stand da in großen, weißen Lettern, darunter ein gebogener Streifen aus glitzernden Sternen, der von einem Zauberstab in der Hand eines milde lächelnden, weißbärtigen Zwergs dahingeschwungen worden war. Lohhausen blickte die gelbe Straße hinauf zu Anna, die mit den Polizisten immer näher kam, und seitlich hinüber zu Rocco, der seine Pistole auf ihn gerichtet hielt. »Das nützt Ihnen nichts. Sie können mich nicht aufhalten. Der Umbau wird durchgezogen, ob mit oder ohne mich. Sie können es nicht mehr aufhalten. Ihr habt verloren.« »Es geht nicht um Ihr Projekt, Herr Lohhausen«, sagte Rocco. »Sie haben mehrere Menschen auf dem Gewissen.« »Ihr habt keine Chance«, beharrte Lohhausen lächelnd und ließ die Waffe sinken. Epilog »Zuerst war es ja ganz nett mit Nicole. Aber die Kleine konnte einfach den Hals nicht vollkriegen. Von wegen ›Märchengarten retten‹«, hatte Lohhausen ausgesagt. Seine krummen Deals kamen nach und nach zum Vorschein. Nicole schien ziemlich schnell herausgefunden zu haben, was für ein Spiel Lohhausen spielte. Und sie selbst hatte offensichtlich ein ziemlich riskantes eigenes Spiel gespielt. Anstatt PP und die Gegner des Märchengartenprojekts mit Informationen zu versorgen – so wie es laut PP abgemacht war –, wollte sie selbst ein Stück vom Kuchen abhaben. »Nicole war ein skrupelloses Miststück.« Für Rocco hatten die Worte aus Lohhausens Mund einen seltsamen Klang, so, als säße er in einer unmöblierten Wohnung. Trotzdem hielt er Lohhausens Aussage in diesem Punkt für plausibler als PPs. Bei den Investoren und in der Verwaltung der Stadt verursachte Lohhausens Verhaftung einen mittleren Sturm der Entrüstung. Roth hing einen ganzen Vormittag mehr oder weniger unentwegt an der Strippe, um die Anleger, Baufirmen und höheren Verwaltungsbeamten zu beruhigen. Für gewisse Leute wäre die Liste der Anrufer an diesem Morgen Gold wert gewesen, wüssten sie dann ziemlich sicher, wer alles am neuen Märchengarten mitverdient hatte oder noch mitverdienen würde. Aber außer Roth wusste nur Roths Sekretärin, wer anrief, und die war verschwiegen wie ein Grab. Doch irgendwann war es plötzlich still. Keiner fragte mehr, niemand schien je etwas mit Lohhausen zu tun gehabt zu haben. Die Beweislast gegen ihn war erdrückend. Und doch hatten die Gegner des Umbaus wie Roccos Schwester Laura nichts von seiner Verhaftung, denn auch in diesem Punkt behielt Lohhausen recht: Erst stillschweigend und nach verschiedenen Protesten spärliche Informationen und Erklärungen preisgebend, beharrte die Stadtverwaltung auf der Fortführung des Projekts. Es gebe Expertisen und explizite Marketing-Analysen über die Auswirkungen auf den Tourismus in der Region. Steigende Besucherzahlen, höhere Umsätze, mehr Gewinn … Demnach wäre es Unsinn, das Projekt zu stoppen, nur weil ein paar Nostalgiker in der Stadt dagegen wären. Es existierten gültige Verträge mit Baufirmen und Hoteliers, deren Auflösung um ein Vielfaches teurer kommen würde als die Durchführung der geplanten Maßnahmen, so ein anderes Argument. »Die sind alle zu gierig geworden«, sagte Lohhausen und wieder hatten seine Worte in Roccos Ohren einen seltsamen Klang. Dass ausgerechnet dieser Mann über die Gier der anderen urteilte … »Auch der Franzose. Er wollte immer mehr. Ich wäre ihn nie mehr losgeworden.« Der Franzose habe Lohhausen dabei geholfen, Nicole zu beseitigen, nachdem er sie während eines heftigen Streits gestoßen habe und sie gegen die scharfe Kante seines Glastischs gestürzt sei. Zu zweit hätten sie Nicole anschließend in den Märchengarten geschleppt und an den Rapunzelzopf gebunden. Dann sei der Franzose zu Nicole in die Wohnung gefahren, um die Spuren zu verwischen. »Wir hatten keine Ahnung, dass sie vielleicht noch lebte«, sagte Lohhausen. »Nicht vielleicht«, erwiderte Rocco. »Sie lebte definitiv noch.« Er jedenfalls hätte gedacht, sie sei tot, behauptete Lohhausen achselzuckend. Und seitdem hätte er den Franzosen an den Hacken gehabt. Beinahe jeden Abend sei er bei ihm aufgetaucht, wollte Geld … wollte dabei sein … Lohhausen betonte das ›dabei sein‹ so verächtlich, als hätte Schaminsky gar nicht gewusst, wo er eigentlich dabei sein wollte. Lohhausen sah bleich aus und krank. Seit mehreren Tagen musste er ohne Tabletten und seine diversen anderen kleinen Aufheller auskommen, die ihn bis dahin aufrecht gehalten hatten. Er konsumierte eine Menge Kaffee und hatte wieder angefangen zu rauchen. Nervös tippte er mit den Fingern auf der Zigarettenschachtel herum oder schnipste mit dem Feuerzeug, bis Rocco oder Anna ihm sagten, er solle das lassen. Die Sache mit PP sei auf Schaminskys Mist gewachsen, behauptete er. Der Franzose wäre auf der Party sowieso schon sauer gewesen, weil er zuvor Ärger mit Lohhausens Barmann Louis gehabt hätte. Außerdem war er wohl scharf auf Mindy Schneider gewesen, aber die war mehr an ihm interessiert. Lohhausen lächelte arrogant. »Da kam ihm PP gerade recht«, sagte er. »Wir haben unter seinen Fingernägeln auch Ihre DNS gefunden«, warf Anna ein. »So? Na ja. Wir waren ja alle schrecklich betrunken. Vielleicht … im Eifer des Gefechts hat er mich vielleicht erwischt?« Lohhausen hob die Schultern und zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht habe ich ihn ein bisschen geschubst?«, sagte er später. Ein bisschen geschubst. Rocco ging neuen Kaffee holen. In den Gängen unter Pattonville war nichts zu finden. Absolut nichts, bis auf ein paar Haufen Erde, Blätter und ein Heft oder Katalog, eine Art Verzeichnis verschiedener Abkürzungen und Zusammenstellungen von Medikamenten, Pilzen und Marihuana oder Gras. ›Ingredients and progress‹ lautete die Überschrift. Unter ›Ingredients‹ waren einige Eintragungen gemacht, unter ›progress‹ war nur wenig zu finden, und das Wenige war sehr selten lesbar. Rocco hatte es als gute Idee betrachtet, Annas Bericht und dem zu erwartenden Rüffel von Roth einen weiteren kleinen Fahndungserfolg in Sachen Drogenkriminalität vorauszuschicken, um seine Position zu verbessern. Aber daraus war nichts geworden, nachdem Garcia und McCarthy mitsamt ihrer Drogenzucht wie vom Erdboden verschluckt worden waren. Rocco hatte mit den Kollegen von der Drogenfahndung die Tunnel abgesucht, in denen er mit Anna unterwegs gewesen war. Nichts, bis auf das besagte Heft. Und das hatten sich die Kollegen unter den Nagel gerissen. Vielleicht waren die beiden endgültig abgehauen. Vielleicht hatten sie nur den Standort gewechselt – alte Tunnel und Gänge unter Kasernen gab es sicher dutzendweise – und würden wieder auftauchen, sobald etwas Gras über die Sache gewachsen war. Aus für Rocco unerfindlichen Gründen legte Roth keinen Wert darauf, dass der Sache weiter nachgegangen wurde. Im Gegenteil: Wenn die Sprache auf Garcia und McCarthy kam, winkte er gereizt ab, als hätte er tausend wichtigere Dinge zu tun. Rocco kam das seltsam vor und er entwickelte einige Theorien über den Verbleib der beiden, von denen jedoch keine auch nur als annähernd plausibel war. Und letztlich war es ihm egal. Der erwartete Tadel von Roth nach Annas Bericht fiel nämlich wesentlich weniger heftig aus, als er erwartet hatte. Einerseits vielleicht, weil sie Lohhausen einigermaßen hieb- und stichfest festgenagelt hatten, und Roth das in einer Pressekonferenz gut ausschlachten konnte, um seine ›Law and Order‹- und ›Die Polizei ist nicht korrupt‹-Haltung zu demonstrieren. Andererseits auch, schätzte Rocco, weil Anna ihren Bericht möglicherweise doch nicht so drastisch formuliert hatte, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Anna hatte ihren Bericht tatsächlich abgeschwächt. Manchmal fragte sie sich, warum. War es wieder die Sympathie-Falle gewesen, in die sie getappt war? Sie schmunzelte bei dem Gedanken, obwohl ihr nicht zum Lachen war. Möglicherweise war sie das, aber es war nicht das Ausschlaggebende gewesen. Tatsächlich hatte sie das Gefühl gehabt, aus ihr und Rocco könnte vielleicht doch ein gutes Team werden, nachdem er sie vom Märchengarten aus angerufen hatte, um die Sache mit Lohhausen gemeinsam zu Ende zu bringen. Aber noch viel wichtiger war, dass sie das alles eigentlich nicht mehr interessierte. Anna hatte plötzlich das Gefühl gehabt, als sei bei der ganzen Polizeiarbeit und den Fehlern, die geschehen waren, nicht Rocco, sondern sie selbst das Problem. Sie hatte die Frage, die sie sich in der Nacht am See, neben PPs Leiche, gestellt hatte, nicht vergessen: Was, verdammt noch mal, hatte sie hier zu suchen? Die Überlegung war ihr eigentlich gar nicht plötzlich gekommen, stellte sie im Nachhinein fest. Sie war vielmehr schon längere Zeit vorhanden gewesen, aber Anna nicht bewusst geworden. Es hatte etwas nicht gestimmt und erst in dieser Nacht war ihr klar geworden: Dieser Job war einfach nichts für sie. Damit stellte sich Anna die Frage, was denn überhaupt etwas für sie sein konnte, jedoch fühlte sie sich im Moment zu keiner Entscheidung fähig. Es war eine Kälte in ihr oder besser gesagt, es war einfach nichts mehr in ihr. Sie ließ sich krankschreiben und blieb zu Hause. Rocco versuchte ein paar Mal, sie anzurufen, aber sie ging nicht ans Telefon. Er fuhr mit dem Auto an Annas Wohnung vorbei, in der vagen Hoffnung, ihr oder Julia zufällig zu begegnen. Einmal stieg er aus und klingelte, allerdings öffnete niemand. Nach einigen Tagen rief er Julia auf der Arbeit an und verabredete sich in der Mittagspause mit ihr. »Anna geht es nicht gut«, sagte Julia, als sie sich mittags im Café beim Kino trafen. »Das ist mir klar«, sagte Rocco. »Was hat sie denn? Sie geht ja nicht mal ans Telefon. Und Roth sagt mir auch nicht mehr, als dass es länger dauern könne, bis Anna wieder zum Dienst erscheint.« Julia sah ihn einen Augenblick forschend an, während sie Zitrone auf ihr Kalbsschnitzel natur träufelte. »Sie ist nicht in dem Sinn krank, dass sie mit Schnupfen und Husten im Bett liegt, Rocco«, sagte sie. »Sag mal, ich bin kein kleines Kind«, erwiderte Rocco ärgerlich. »Das ist mir durchaus klar. Aber ich möchte wenigstens wissen, was los ist.« »Ich würde es dir gern sagen, wirklich.« Julia seufzte. »Aber ich darf nicht. Ich habe Anna versprochen, mit niemandem darüber zu sprechen. Ich bin sicher, dass sie dir am ehesten vertrauen würde. Ihr ist früher eine Sache passiert, über die sie noch nicht weg ist, und manchmal frage ich mich, ob sie es je schaffen wird.« Sie schüttelte den Kopf. »Quatsch. Natürlich schafft sie es. Aber das braucht Zeit. Anna hat Depressionen. Sie nimmt Tabletten und versucht gerade, sich im Klaren darüber zu werden, was in Zukunft aus ihr werden soll.« Rocco starrte sie an und wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich schon gedacht, dass Annas Fortbleiben mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Er hatte sich auch gedacht, dass sie möglicherweise psychische Probleme hatte. Und er hatte sich überlegt, was er dazu sagen könnte, wie er darauf reagieren sollte. Doch in diesem Augenblick war alles weg. Sein Kopf war leer. Was sollte er sagen? »Mhm«, machte er und atmete tief ein. »Ich … ich würde ihr gern helfen.« Julia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß«, sagte sie und nahm einen Bissen von ihrem Schnitzel. »Aber das geht nur, wenn sie es zulässt. Du musst eben warten. Wir unterhalten uns manchmal über dich.« Sie lächelte und sah schnell auf ihren Teller. Anna packte ihre Sachen. Sie hatte beschlossen, ein paar Tage in den Norden zu fahren, und fühlte sich schon aufgrund dessen, überhaupt etwas entschieden zu haben, ein bisschen besser. Sie musste einen Friedhof besuchen. Und vielleicht, wenn sie es schaffte, einige Tage ans Meer. Julia schlug vor, sie zu begleiten, aber Anna lehnte ab. Sie müsse sich allein im Klaren werden, wie es weitergehe, sagte sie. Sie spürte, wie in ihrem leeren Raum ein Gefühl heranwuchs, doch sie wusste nicht genau, was es werden würde. Und sie gestand es sich nicht ein, nicht einmal sich selbst gegenüber, aber sie wusste wirklich nicht genau, ob sie jemals wieder zurückkommen würde. Anna schrieb einen Zettel an Julia. Darauf stand: Ich habe Wunden, die schließen sich nicht mehr. Sie steckte ihn in einen Umschlag, klebte ihn zu und warf den Brief nachlässig auf den Couchtisch. Dann nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen, presste die Lippen zusammen und überlegte. Leeres Starren auf die Schwelle der Tür, sie betrachtete die Staubflusen, die sich in der Ecke gebildet hatten, einen schwarzen Strich unten an der weißen Wand, wo Julia ihre Schuhe dagegen geworfen hatte. Schließlich drehte sie um, steckte den Umschlag in ihre Tasche und ging. Sie nahm die Ausfallstraße zur Autobahn, die rechts und links von zurückgesetzten Fabrik- und Verwaltungsgebäuden gesäumt war. Diese Straße zu nehmen war eine gute Idee, wenn man vorhatte, die Stadt zu verlassen. Es hob die Laune, denn diese Straße war definitiv in Richtung Autobahn gebaut. E N D E Lesen Sie weiter ... Alle E-Books finden Sie unter www.gmeiner-digital.de Für unser Gesamtprogramm besuchen Sie uns unter www.gmeiner-verlag.de Sascha Berst Fehlurteil 978-3-8392-4318-3 »Ein Roman aus dem Innern der Justiz vom Gewinner des Freiburger Krimipreises 2013« Freiburg 1992. Die Staatsanwältin Margarethe Heymann wird von einem Mann um Hilfe gebeten. Vor zehn Jahren hat er Strafanzeige gegen mehrere Richter erstattet und seitdem nichts mehr von der Justiz gehört. Sein Vater hatte das eigene Geschäftshaus einem Angestellten übertragen, damit es nicht in die Hände der Nazis fällt. Doch die versprochene Rückübertragung blieb aus. Widerwillig und mit privaten Problemen belastet, nimmt sich die Staatsanwältin des Falles an. Bald stößt sie auf Ungereimtheiten. Michael Krug Henkerspiel 978-3-8392-4350-3 »Zwischen Pflicht und Rechtsempfinden« Rätselhafte Morde an drei Geistlichen halten den Stuttgarter Hauptkommissar Bolz und seinen Ermittlungspartner Palm auf Trab. Da meldet sich ein anonymer Bekenner. Trotz Zweifeln an dieser Selbstbezichtigung heftet sich das Duo an seine Fersen. Für die Ermittler beginnt ein zermürbender Gewissenskonflikt: Wollen sie den Fall noch lösen? 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